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Kalendertage

Der Tag, an ...
von

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15 - Der Tag, an dem ich aus allen Wolken fiel

Die Explosion im Teekontor sollte noch weite Kreise ziehen. Man musste etwas näher ausholen und erklären, dass unser Kontorviertel einen Sonderstatus innerhalb Konohas hegte, kamen wir Händler doch alle aus verschiedenen Reichen. Niemand aus Konoha oder dem übrigen Feuer-Reich handelte hier Waren. Das brachte uns in der restlichen Stadt einen exotischen Ruf ein, der jedoch keineswegs negativ gebraucht wurde. Wir „da oben“ waren einfach „die Anderen“ oder „die Auswärtigen“. Wir waren wie eine kleine Stadt in der Stadt, hatten zum Teil unsere eigenen Regeln und einen Gemeinschaftsvorsitzenden, der direkt mit dem Feudalherren des Feuer-Reiches kommunizierte. Das Kontorviertel war eine Freihandelszone mit vorteilhaften Zollregularien und Steuerfreiheit. Mit dem Ältestenrat oder gar dem Hokage hatten wir demnach nichts zu schaffen. Wenn man es persönlich so gewollt hätte, so hätte man sich hier oben in unserem Viertel sogar verschanzen können, ohne jemals nur das kleinste Bisschen Kontakt zur Konoha-Welt zu haben.

Nun trug es sich aber zu, dass es in einem Dorf voller Shinobi gar nicht gern gesehen wurde, wenn dort eine Bombe am helllichten Tage hochging. Immerhin waren die Eingangstore sorgsam bewacht und die Kontrollen der mitgebrachten Gepäckstücke und Güter hoch. So eine Detonation ließ die Ninja-Bande natürlich sofort rätseln, wer einen Sprengsatz ins Dorf geschmuggelt haben könnte. Mal eben so vorbei an allen Sicherheitsmaßnahmen. Die Frage nach dem Warum war da fürs Erste gar nicht mal so wichtig. Die wurde großzügig nach hinten geschoben. Die Ninja wollten sofort die Lücken im System finden. Und man spürte, wie es in den Straßen im Hintergrund fast unmerklich hektisch wurde. Alle Schlupflöcher und sensible Punkte wurden gefilzt. Es sollte tatsächlich so sein, wie es Tenzô bereits am Anschlagstage mir gegenüber vermutet hatte: Der Sprengsatz wurde erst innerhalb der Stadtmauern zusammengesetzt aus Mitteln, die man sich jederzeit in jedem billigen Baustoffladen kaufen konnte. Doch da das Kontorviertel als Enklave in Konoha lag, war der Fall für die Anbu nicht weiter von Bedeutung. Ich hatte manchmal das Gefühl, dass es die Bande so emsig umtrieb, weil sie ein schlechtes Gewissen hatte. Durch ein nebenbei belauschtes Gespräch zweier Shinobi-Frauen an der Supermarktkasse bekam ich eher zufällig mit, dass Hokage-sama nämlich schon seit Tagen aus seinem Büro zu einem Kagetreffen ausgeflogen war. Da war es der führerlosen Truppe entweder total oberpeinlich, dass sie ihr Dorf in seiner Abwesenheit nicht im Griff hatten. Oder sie fürchteten das absolute Hammerdonnerwetter, wenn ihr Chef wieder im Dorfe wäre. Vielleicht auch beides. Einschätzen konnte ich das nicht. Aber diese eigenwillige Art der Vertuschung und des blinden Aktionismus amüsierte mich, obgleich ich gar nicht mal so genau sagen konnte, warum.

Das Rätsel des Anschlages hingegen konnte schon zwei Tage nach eben diesem Geschehen auf der nächsten Vollversammlung aller Kontorleiter gelöst werden. Wir trafen uns regelmäßig einmal im Monat. Nun hatte es aber die Situation verlangt, außerplanmäßig zu tagen. Der Leiter des Teekontors und seine ganze Familie hatten ihr Leben lassen müssen. Zwei Mitarbeiter waren schwer verletzt worden und befanden sich immer noch in stationärer Behandlung. Kleinlaut gab der stellvertretende Teekontorleiter dann zu, dass sie schon eine längere Zeit lang erpresst worden wären. Viel Geld wäre schon geflossen. Dem letzten Erpresserschreiben habe man nicht zustimmen wollen, da das Teekontor nicht mehr über die möglichen finanziellen Mittel verfügte und kurz vor der pleite stand. Ein Raunen ging durch unsere Reihen, denn es war eine Information, die uns alle beunruhigte. Auch wir hätten Opfer von Erpresserbriefen werden können. Der Stellvertreter versuchte uns zu beruhigen, dass es sich hier um eine lokale Angelegenheit zwischen dem Kaffee-Reich und dem Tee-Reich handelte. Wir müssten nicht fürchten, mit hineingezogen zu werden. Trotzdem war unser Vertrauen untereinander erschüttert. Man hätte diese Information allein zum Selbstschutz schon zu gerne früher gewusst. Zumindest waren wir froh, dass es „nur“ das Teegebäude getroffen hatte und nicht eines unserer Häuser, obgleich der Schaden durch die Detonation schon sichtbar war. Selbst mein Haus hatte, obwohl es weiter weg stand, hier und da zerbrochene Fensterscheiben durch herumfliegende Trümmer erlitten. Doch der Klopfer des Abends sollte noch kommen: Der Feudalherr des Feuer-Reiches interessierte sich natürlich mächtig für den Vorfall und überlegte, der Kontorgemeinschaft die Unabhängigkeit zu entziehen, wenn sie nicht für ihren eigenen und den Schutz von Anderen bürgen könnte. Im Klartext hieße das, wir müssten uns als Viertel zu Konohagakure eingliedern und hohe Steuern und Zölle abführen. Somit stünden wir in unmittelbarer Konkurrenz zu den anderen Händlern des Ortes und müssten zukünftig knallhart kalkulieren und Preisschlachten führen. Natürlich stießen diese Ideen in den jeweiligen Kontorhauptsitzen nicht auf freudige Ohren. Ganz im Gegenteil: Man überlegte sogar, dass eine oder andere Kontor zu schließen. Meine Leitung hatte sich aus dem Erd-Reich noch nicht gemeldet. Man wollte die Entscheidung des Feudalherren noch abwarten. Mir war mulmig zumute, wollte ich doch aus Konoha eigentlich nie wieder wegziehen müssen. Ich liebte mein neues Zuhause. Und noch mehr liebte ich nun einen hier ansässigen Anbu.

Und genau das war das Stichwort, weshalb mich plötzlich alle Augenpaare anblickten und die gerade noch hitzig diskutierende Gruppe verstummte. Ich hatte jedoch nicht zugehört und vor mich hergeträumt. Eher Albträume, wie ich heulend meine Sachen packen und zurück ins Erd-Reich fahren müsste.

„Die Jibek“, raunte da jemand in die Stille. „Die hat doch schon Draht zu diesen Konoha-Ninjas...“

Äh ja, wie war das Thema doch gleich? Da ich wohl wie ein Fragezeichen in die erwartungsvollen Gesichter schaute, erklärte mit der Vorsitzende noch einmal die Sache. Die Hirngespinste waren folgende, dass man Kompromisse finden müsste. Wenn man die Sicherheit durch eine Zusammenarbeit mit den Konoha-Shinobis gewährleisten könnte, so könnte man vielleicht die Selbstständigkeit des Kontorviertels bewahren. Wie heuerte man denn so einen Ninja an? Ich hätte ja schon einen. Neulich stand nämlich einer mit mir zusammen vor meiner Tür. Und vorgestern nach dem Anschlag hätte ich mit einem weiteren Ninja sehr vertraut geredet. Und was kostete der so als Entlohnung? Würden die solche Missionen übernehmen und unser Viertel bewachen?

Da prasselten ziemlich viele Fragen auf mich ein. Und erst jetzt wurde mir bewusst, wie sehr man doch von der eigenen Nachbarschaft bespitzelt wurde. Das Fenster zur Straße war das Tor zur Welt. Ja, Inu hatte vor der Tür gestanden, als Yuuki mich versehentlich ausgesperrt hatte. Und ja, mit Tenzô hatte ich kurz geredet bis ich mich schlotternd mit weichen Knien zu meiner Wohnung hinauf geschliffen und anschließend ausgiebig geduscht hatte. Den Staub auf meiner Haut und in den Haaren hatte ich nicht länger ertragen können. Außerdem war meine Kleidung zerrissen, als mich die Wucht der Explosion über die Straße fegte. Spannend, welche Beziehungsgeflechte da nun hineininterpretiert wurden, nur weil ich mit Konoha-Ninjas sprach. Überrumpelt fuchtelte ich mit den Händen in der Luft, während ich mit hochrotem Kopf die Beobachtungen meiner Nachbarschaft herunterspielte. Nein, ich hätte definitiv keine Missionen oder Ninjas gebucht. Die hätten sich mir quasi aufgedrängt, als es um das Missgeschick meines Sohnes ging. Im Geiste ergänzte ich noch für mich selbst, dass diese Exemplare, mit denen ich gesichtet wurde, eh unbezahlbar wären. Da würde es noch nicht einmal ausreichen, wenn man auf das gesamte Kontorviertel eine Hypothek aufnehmen würde. Und Lust hatten beide auf so einen Eierschaukeljob bestimmt auch nicht. Dazu war das Leben in unserer Straße einfach viel zu langweilig, als dass man sie rund um die Uhr bewachen müsste. Allerdings spielte mir mein Kopfkino die Komödie vor, wie Inu den lieben langen Tag auf meinem Sofa lümmeln würde, schlafend oder lesend, ab und zu einen Kontrollblick hinunter in die Straßenschlucht werfen würde und ansonsten wohl von der Urlaubsmission restlos begeistert wäre. So verschlafen, wie der durch die Gegend zog, täte dem Urlaub sicherlich mal gut. Mit einem leichten Grinsen kehrten meine Gedanken zurück zur Sitzung. Ich könnte mich mal bei den Shinobis erkundigen, wimmelte ich die aufmerksamen Zuhörer ab. Trotzdem wurde ich argwöhnisch beäugt. So verunsichert nach Luft schnappend kannte mich hier gar keiner. Sonst war ich eiskalt und energisch in Krisengesprächen. Was war denn da los? Die Geschichte wollte ich auf gar keinen Fall mit den hier Anwesenden vertiefen. Glücklicherweise wandte man sich von mir als Gesprächsmittelpunkt wieder ab. Unsere Versammlung löste sich nach einem wieder aufkommenden, emotionsgeladenen Wortgefecht zur späten Nachtstunde auf.
 

Als ich aus dem stickigen und viel zu heißen Versammlungssaal heraus an die frische Luft trat, schlug sie mir viel zu kalt entgegen, obwohl es für Ende Oktober mild war. Ein sternenklarer Himmel öffnete sich über mir. Unschlüssig blickte ich die Straße hinab und haderte mit meiner Entscheidung, was ich nun tun könnte. Es hatte sich gut gepasst, dass Yuuki heute bei einem Klassenkameraden übernachten wollte. So hatte ich weder einen Babysitter organisieren, noch die Versammlung frühzeitig verlassen müssen, da ich es hasste, wenn mein Sohn so lange abends alleine daheim wäre. Nun passierte etwas, was ich als Alleinerziehende schon seit Jahren nicht mehr gehabt hatte: Ich hatte kinderfrei!

Nun stand ich hier auf der Straße nahe meines Zuhauses, wo ein kuscheliges Bett mich rief. Aber noch mehr rief mich die Altstadt von Konoha, die ich bis auf wenige abendliche Geschäftsessen noch nie erleben durfte, weil ich stets allein zuhause hockte und Yuuki hütete. Ich hatte keine Ahnung, wohin man sich so allein als Frau nachts herumtrieb. Es würde mir wenig Freude bereiten, in einer Lokalität zu landen, wo man nur deshalb angebaggert wurde, um als One-Night-Stand zu enden. Das war einfach nicht mein Stil. Mit Stolz konnte ich von mir behaupten, eine treue Tomate zu sein. Und wenn das mit Inu wirklich etwas werden sollte, dann brauchte es nicht mit so einem Fehltritt anfangen, mich abends irgendwo abschleppen lassen zu müssen. Ich schlenderte noch etwas unentschlossen die Straße hinab, aus unserem Viertel heraus und erreichte einen kleinen Aussichtspunkt. An dieser Stelle führte die Serpentinenstraße hinunter nach Alt-Konoha. Fröstelnd lehnte ich an dem Geländer, sah die hübsch funkelnden Sterne über mir und das Glitzern der Stadt unter mir. Die Glocke der Nachtwache schlug elf. Na los, Sherenina! Füße vertreten und irgendwo etwas trinken ist doch für den Anfang super! Nein, ich wollte kein Abenteuer. Ich wollte nur ein bisschen unter Leute kommen und vielleicht durch Zufall Gesellschaft zum belanglosen Quatschen finden. Also ging ich weiter die Straße hinab. Nun aber mit festerem Schritt, denn das Frösteln ließ auch bei meinem strammen Marsch nicht nach. Für solch einen späten Nachtspaziergang im Herbst war ich einfach nicht passend gekleidet. Unter meinem Übergangsmantel versteckte sich nur eine schlichte Bluse mit passendem Rock. Dazu Strumpfhose und kniehohe, absatzlose Stiefel. Ich war ja davon ausgegangen, nur zur Versammlung, aber nicht ins Dorf zu gehen. Eine Handtasche hatte ich auch nicht dabei. Mein halbes Leben, bestehend aus Schlüsselbund, Portmonee und Handy, verstaute sich in den Manteltaschen.

Mein Streifzug durch die Kälte trieb mich zuerst in ein Nachtcafé. Es war nett dort, klein und übersichtlich. Eine bunt zusammengewürfelte Ansammlung an Tischen und Stühlen und die Teelichter als einzige Lichtquellen machten es urgemütlich. Unaufdringliche Hintergrundmusik plätscherte beruhigend vor sich hin. Die Lokalität war gut besucht, dennoch herrschte keine Hektik oder Gedränge, dass stets irgendwer irgendwo herumrannte. Man lümmelte um die Tische und unterhielt sich bei einem leckeren Getränk in der Hand und ein wenig Fingerfood zum Naschen. Für den Anfang meines Ausfluges befand ich dieses Café als guten Start. Ich suchte mir einen freien Tisch in einer Ecke, bestellte einen Pott Kaffee und beobachtete eine Weile einfach nur die Szenerie. Hier war viel ziviles Publikum anwesend. Nur vereinzelt sichtete man mal eine Person in Ninja-Uniform. Der Kaffee wärmte mich innerlich wieder auf. Entspannt lehnte ich mich zurück und durchforstete mein Handy. Seit dem Anschlag war ich weder dazu gekommen, alle Nachrichten zu checken, noch meine Bibliotheksausbeute zu begutachten. Dabei hatte ich es kaum erwarten können, endlich mal die Texte zu lesen. Doch ich hatte sie zwangsweise ganz verdrängt. Das wollte ich nun nachholen. Da hatte sich so einiges an Nachrichten und Anrufen angesammelt. Und zu meinem großen Erstaunen entstammten viele entgangene Anrufe und Sprachnachrichten von Inus Anschluss. Erst wollte ich mich freuen, hatte mein Plan doch funktioniert, Inus Neugier herauszufordern. Dann aber schoss es mir eiskalt den Rücken herunter, als hätte ich einen Eimer Eiswasser über den Kopf bekommen. Hoffentlich hatte der nicht gedacht, Yuuki und ich wären bei der Explosion ums Leben gekommen, weil ich mich nicht mehr gemeldet hatte. Ohje, zu solch Auswüchsen der Fantasie hatte ich das Spiel nicht treiben wollen. Das war dann doch dumm von mir gewesen. Andererseits, sagte ich zu mir selbst, konnte ja auch niemand ahnen, dass sich kurz nach unserem Chat unsere Straße in eine Art Schlachtfeld verwandelt hatte. Da konnte ich nur hoffen, Tenzô hätte ihm berichtet, es ginge uns gut, falls sie sich deren Wege gekreuzt hätten. Ich seufzte und orderte bei der Bedienung eine Flasche Sake, weil sie keinen Rotwein auf der Getränkekarte hatten. Den ersten Schluck leerte ich auf Ex, dann durchforstete ich meine Fotogalerie der geknipsten Buchseiten. Leider war es schon so, wie ich es fast befürchtet hatte. Viele Bilder waren zu dunkel oder verwackelt. Enttäuscht löschte ich sie sofort wieder runter von meinem Handy. Doch das, was ich da noch zu lesen bekam, genügte mir, um mich immer kleiner auf meinem Stuhl werden zu lassen. Die Legende von der Kannabi-Brücke. Und sie erzählte mir definitiv viel mehr, als meine Nerven gerade vertragen konnten. Je mehr ich da so las, desto mehr schwante mir ganz Übles, wer oder was sich da ausgerechnet in meinem Leben und in meinem Herzen eingenistet hatte. Die Sakeflasche war schnell geleert. Ich spürte einen aufkommenden Schwindel, hatte ich zuvor noch nicht viel gegessen. Die alkoholbedingte Hitze stieg mir zu Kopf. Außerdem musste meine aufsteigende Nervosität damit zusammenhängen, dass ich mich auf einen Schlag hundeelend fühlte. Abwechselnd wurde es mir heiß und kalt. Mein Magen zog sich zusammen. Der Brustkorb schmerzte stechend. Doch es war mir gleich. In dem Moment hatte ich einfach nur das gnadenlose Verlangen, mich hemmungslos ins Koma zu saufen, obwohl ich so etwas nie tat. Ich bestellte eine zweite Flasche, bezahlte aber sogleich und machte mich aus dem Lokal hinaus auf die Straße.

Die Temperatur war gefühlt noch einmal drastisch gesunken, aber der Alkohol im Blut gaukelte wohlige Wärme vor. Ich warf den Kopf in den Nacken und starrte zu den Sternen. Sie verschwammen vor meinen Augen, weil sich in ihnen Tränen sammelten. Ja, da oben wäre ich jetzt auch zu gerne. Ganz weit weg von den vielen Problemen, die man immer ständig hatte. In absoluter Stille könnte man da oben funkeln und alles aus der Ferne betrachten. Ich konnte meine Gefühle, die in mir tobten, nicht beschreiben. Der Sake machte mich bekloppt in der Birne. Sollte ich heulen oder lachen, weil ich so verarscht worden war? Boah, ich kam mir so verarscht vor! Warum, dass konnte ich nicht genau definieren. Ich fühlte mich einfach so. Die zweite Flasche trank ich viel zu hastig zur Hälfte leer. Ich verschluckte mich und hustete einen Teil wieder aus. Dann torkelte ich einfach weiter. Ganz ohne Ziel. Immer an der Wand lang. Unterwegs begegnete ich einigen wenigen Passanten, die ebenfalls Mühe hatten sich auf den Beinen zu halten. Einem von diesen wich ich unbeholfen mit einer halben Pirouette aus und landete hart an einem Bretterzaun. Man sah mich verwundert an, lallte ein „'tschuldigung!“, weil man mir den Weg versperrt hatte, und ließ mich mit meinem Ballett des sterbenden Schwans allein zurück. Dort auf dem Holz verweilte ich, bis der Schmerz auf der Wange verging und die Straße vor meinen Augen ihren Wellengang beendete. Wie eine schiefe Leiter lehnte ich nun am Zaun, konnte kaum die schweren Lider oben halten und war wenig motiviert, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Erst sich nähernde Schritte von Unbekannten setzten mich in Bewegung. Ich mochte nicht von Fremden angequatscht werden. Längst wusste ich schon gar nicht mehr genau, in welchem Stadtteil ich gelandet war. Hier war ich noch nie gewesen, und falls ich irgendwann mal wieder nüchtern wäre, würde ich bei Tage diesen Straßenzug wohl auch gar nicht mehr wiedererkennen.

Langsam schlossen sämtliche Lokalitäten der Stadt. Nur wenige Geschäfte und Bars hatten durchgängig geöffnet. Vor einem kleinen Kiosk überlegte ich ernsthaft, ob einen dritte Flasche Hochprozentiges noch angemessen wäre. Trotz benebelten Verstandes zog ich ohne neuen Getränkevorrat davon. Die halbvolle Flasche in meiner Faust musste als Wegzehrung für die letzten Nachtstunden ausreichen. Wenn ich es noch recht mitgezählt hatte, schlug die nahe Uhrglocke der Nachtwache dreimal. Drei Uhr nachts, und ich war völlig fertig, unterwegs im Nirgendwo, weit weg vom warmen Bett. Ja, mein Bett zum Rausch ausschlafen wäre super. Da könnte man im Liegen auch viel besser Achterbahn fahren. Die Male, an denen ich in meinem Leben besoffen gewesen war, konnte man an einer Hand abzählen. Es waren keine schönen Erinnerungen, weshalb ich den Zustand des Betrunkenseins stets vermied. Und jetzt war ich es. Voll wie zehn Haubitzen. Nur wegen solch eines Idioten und meiner akuten Blauäugigkeit. Ich torkelte gegen einen Zaunpfosten. Der bohrte sich dumpf in meinen Magen und hätte beinahe den ganzen Mageninhalt dazu gebracht, Bekanntschaft mit dem Straßenbelag zu machen. Dieses blöde Karussell fahren im Kopf nervte mich. Das war wohl auch der Grund, weshalb ich mich auf einem großen flachen Stein zur Ruhe bettete. Wie auch immer, war ich an einen Park gelangt, durch dessen Mitte der Fluss floss. Der Fluss, über dessen Wasseroberfläche ich kürzlich erst mit Inu zusammen gelaufen war. Inu … Warum heulte ich jetzt eigentlich los? Große flache Steine säumten das Flussufer. Zum Teufel, wie ich hierher geraten war. Nun lag ich da mit dem Rücken auf dem eiskalten Fels, hatte die längst leere Flasche als Flaschenpost auf Reisen geschickt und verlor mich in den Sternen. Wie schön sie hier in der Dunkelheit erst erstrahlten. Da sah ich Sterne, wie ich sie seit meiner Kindheit nie wieder gesehen hatte, weil die Dörfer und Städte nachts durch die moderne Bebauung immer heller wurden und den Glanz der Sterne raubten. Um mich herum drehte sich weiterhin alles. Keinen Schritt könnte ich noch weitergehen. Ein wehrloses Opfer für jeden, der hier vorbeikäme. Da wurde mir ein bisschen mulmig zu Mute. Ich wollte auf gar keinen Fall überfallen oder gar missbraucht werden, nur weil ich hier so in der Gegend herum lag. Das hatte ich mir zwar durch den Suff selber eingebrockt, aber ich schob bekanntlich die Schuld sehr gerne anderen zu. Und das war alles Inus Schuld, weil er gar nicht Inu hieß. Ohne Inu hätte ich mich nicht besaufen müssen. Mir fehlten Tränen zum Weiterheulen.

Wieder und wieder fielen mir die Augen zu. Aber wenn ich hier einschlafen würde, so würde ich mir den Kältetod holen. Die Wirkung des Sakes verursachte bei mir depressive Anflüge. Ich beweinte mich selbst tränenlos, dass ich mein liebes Kind nie wieder sehen würde, wenn ich hier erfror. Das fand ich selber total bescheuert und ermahnte mich, mich endlich zu erheben, aber mein Körper wollte nicht gehorchen. Als ich mich dann doch müde aufraffen wollte, fiel ich plump zur Seite und auf die Nase. Also deckte ich mich grobmotorisch mit meinen Mantel zu, als wäre er eine wärmende Decke. Ziemlich verheddert das Ganze. Dann weinte ich wieder ein bisschen vor mich her. Ich wollte Inu hassen und am liebsten in tausend Stücke zerreißen. Warum hast du mir das nicht gesagt, Inu? Warum das ganze Theater? Und dann dachte ich wieder an so viele andere Dinge, die den aufkommenden Hass löschten. Da waren die ganzen Bilder in meinem Kopf. Sie erzählten mir im Rückwärtslauf jede einzelne Szene noch einmal und noch einmal. Nun fügten sie sich ganz anders zusammen. Und plötzlich war ich ganz am Anfang, wo wir uns das allererste Mal begegnet waren. Wo die Zeit plötzlich still stand und ich komplett in seinen dunklen Augen versunken war. Ja, es stimmte. Sie waren dunkelgrau. Und seine Narbe quer über das Auge hatte ich damals gar nicht wahr genommen, weil ich so ertrunken in diesen Augen war. Es hatte schon begonnen zwischen uns, noch bevor wir es wussten. War es ihm auch so ergangen?

Im Sake musste eine Substanz vermischt worden sein, die definitiv nicht in Sake hineingehörte, denn ich hatte plötzlich Halluzinationen. Eine kalte feuchte Nase schnupperte an mir herum und stubbste mich an. Vermutlich hielt mich die Nase für Tod und wollte sich vergewissern, dass noch ein Hauch Leben in mir steckte. Müde blinzelte ich aus schmalen Schlitzen den Rest der Nase an. Ein Mops. Wo kam der denn her? Streunte der hier herum? Aber das war kein gewöhnlicher Mops. Das musste eine alkoholbedingte Illusion sein. Ja, bestimmt! Sein rechtes Vorderbein hatten einen weißen Verband. Anstelle eines Halsbandes trug er ein Ninja-Stirnband um den Kopf und eine blaue Weste mit einem Henohenomoheji auf dem Rücken. So etwas konnte nur eine Halluzination sein. Das unscharfe Bild vor meinen Augen fokussierte ich mit viel Mühe auf sein Gesicht. Möpse guckten immer etwas grimmig mit ihrer platten Nase, aber der hier besonders. Vermutlich weil die Nachtzeit nicht die Seinige war. Dass es ein Traum sein musste, wollte ich mir dann definitiv glaubhaft einreden, als der Hund auch noch zu sprechen anfing. Leider nicht zu mir, sondern in eine andere Richtung.

„Ich hab sie gefunden!“, rief er in die Dunkelheit hinein.

Mit wem sprach der Hund? Wieso konnte der überhaupt sprechen? Argh, mein Kopf schmerzte schon bei dieser kleinen Denkleistung. Ich würde es bestimmt gleich erfahren, war ich eh außer Gefecht gesetzt und bewegungsunfähig. Flucht unmöglich. Ich musste ziemlich erbärmlich aussehen. Der Hund setzte sich dicht neben mich hin und kratzte sich mit der Hinterpfote am Ohr. Musste das sein? Vielleicht hatte der Flöhe und ich hätte dann auch welche? Igitt, ich wollte keine Flöhe. Ich atmete einmal tief durch, es klang aber nur nach einem schwer seufzenden Schnaufen.

„Das hast du gut gemacht, Pakkun!“, hörte ich dicht hinter mir eine ruhige Stimme.

Ich kannte diese Stimme. Ich liebte diese Stimme. Dann wurde alles Weiß. Es umschlang mich schützend und wärmend wie Daunenfedern. Als würde ich mich als Raupe eben in einen Kokon verpuppen, verlor ich mich in einem Traum aus Crepe de Chine Seide. Wie ein kostbares Paket wurde ich sorgsam eingewickelt. Arme schoben sich unter meinen Kniekehlen und Schulterblätter, dann wurde ich hochgehoben.

Ausgerechnet jetzt wurde ich gefunden, wo ich aussah wie ein Häufchen Elend und das jämmerlichste Bild abgab, was man sich vorstellen konnte. Ich wollte nicht gerettet werden! Ich war schon groß und könnte ganz bestimmt auch allein nach Hause laufen. Jawohl! Bestimmt. Irgendwann später mal … Wenn das Karussell die letzte Fahrt beendet hätte. Und das sah auch gar nicht so aus, dass ich hier erfrieren würde. Mein bescheuerter Stolz war nach wie vor ungebrochen.

Ausgerechnet hier wurde ich gefunden. Mitten in der Nacht in einem Park, wo sich um diese Uhrzeit zu dieser Kälte niemand mehr draußen vor der Tür herumtrieb. Eigentlich noch nicht mal Hunde, außer dem Mops. Der saß auf seinem Hinterteil und beobachtete skeptisch, wie sein Herrchen mich liebevoll auf den Armen trug. Kam wohl nicht so oft vor.

Ausgerechnet von ihm wurde ich gefunden. Und es war noch nicht einmal ein dummer Zufall, sondern er hatte ganz gezielt nach mir gesucht. Dabei wollte ich doch ganz furchtbar wütend auf ihn sein und ihn gar nicht wiedersehen. Das war natürlich dummes Zeug, weil es nur so eine impulsive Wut aus der Situation heraus war. Ganz oberflächlich ohne jeglichen Tiefgang. Eine Emotion, für die man sich am nächsten Tage wieder selber tadelte und die einem leid tat.

Und was aber machte ich? Ich versuchte ganz sauer zu sein. Auf ihn, weil er mich so verarscht hatte. Am liebsten wollte ich ihn zum Teufel jagen. Und mit den Fäusten auf ihn eintrommeln. Und die Augen auskratzen. Und ganz böse Wörter an den Kopf schmeißen. Und …

… ganz automatisch meine Arme um seinen Hals schlingen. Mein Kopf ruhte an seiner Halsbeuge, als würde es auf der ganzen großen weiten Welt gar keinen anderen Platz für mein Haupt zum Ruhen geben. Mein Kopf gehörte einfach dahin. Völlig selbstverständlich. Tief vergrub ich mein Gesicht an seinem Westenkragen. Ich war so froh, dass er wieder da war, auch wenn es mir verborgen blieb, wie er es in der kurzen Zeit nach Konoha zurückgeschafft hatte.

„Du machst wieder Sachen, Nina-chan.“, flüsterte er sanft, dass nur wir es hören konnten. „Mach das nie wieder! Hörst du? Nie wieder!“, mahnte es eben so leise, aber mit tiefem Ernst.

„Was? Dass ich besoffen bin?“, nuschelte ich.

„Dass du dich nicht meldest.“

„Machst du auch nie.“ lallte ich beschwerend. „Und du hast mich die ganze Zeit angelogen. Du. Hast. Mich. Verarscht! Und. Ich. Hasse. Dich! Hasse. Dich...“

Bei jedem Wort knuffte meine kraftlose Faust ihn gegen die Schulter, was er ignorierend über sich ergehen ließ. Erst da merkte ich, dass wir uns längst in Bewegung gesetzt hatten. Zusammen hüpften wir erst blitzschnell über die Steine und den Fluss, dann durch die Baumwipfel und über die nächtlichen Dächer einer verschlafenen Stadt. Und genauso wie Konoha schlief, schlief ich unterwegs auch ein. Sicher und geborgen.

Mein Anbu hieß Kakashi.



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