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Kalendertage

Der Tag, an ...
von

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56 - Der Tag, an dem ich zurückblickte

Die Welt hatte ihr Gesicht radikal verändert. Wenn ich hier oben auf meiner kleinen Holzbank am Waldrand saß, über unser weitläufiges Anwesend blickte und mir den frischen Meereswind um die Nase wehen ließ, konnte ich in mir keinen inneren Frieden finden, ob die neue Welt für mich nun gut oder schlecht war. Auf jeden Fall hatte sie mein Leben wieder einmal kräftig durcheinandergewirbelt. So, wie sich die Reiche gezwungenermaßen eine neue Ordnung hatten suchen müssen, so hätte ich das selbst für mich auch tun sollen. Doch ich hatte es bis jetzt noch nicht geschafft.

Die ganzen kleinen und großen Reiche mit ihren Daimyôs gab es nicht mehr. Der einstige Adel war gestürzt und entmachtet worden und dessen Gebiete hießen nun alle Präfekturen, welche von staatlichen Beamten regiert und verwaltet wurden. Das Ereignis vor knapp zwei Jahren, welches als „Großer Knall“ in den Köpfen der Bevölkerung hängengeblieben war, hatte eine Kettenreaktion ausgelöst und alles bisherige Alte über den Haufen geworfen. Irgend so ein junger Bengel namens Kawaki hatte sich mit dem Sohn des siebten Hokage angelegt und die Welt ins Chaos gestürzt. Der Angriff, der alle überrascht hatte, markierte nicht nur den Untergang der Shinobi-Welt. Viele Gruppierungen unterschiedlichster politischer und wirtschaftlicher Gesinnungen nutzten die Chance auf einen Umbruch und stiegen in diesen Konflikt mit ein. Das Ergebnis war ein wahrer Flächenbrand gewesen. Kakashi hatte schon vor vielen Jahren mit seinem Bauchgefühl recht gehabt, wenn er eine große Unruhe in den einzelnen Reichen heraufziehen sah und er hatte prophezeit, es wäre nur eine Frage der Zeit, wann der besagte „große Knall“ einsetzen würde. Manchmal war mir Kakashis Bauchgefühl unheimlich, denn häufig traf es ein.

Ebenso wie die Reiche verschwanden, so waren auch die Ninjadörfer verschwunden. Konohagakure war ausradiert worden von allen Landkarten. So erzählte man es sich. Nur Wissende fanden noch den Ort, wo es einst gestanden hatte und wo nun kein Stein mehr auf dem anderen stehen sollte. Selbst der berühmte Felsenberg im Norden hätte angeblich seine Wand mit den Hokage-Köpfen eingebüßt. Der Zug, der einst am großen Bahnhof in Konoha gehalten hatte, ratterte nun zwei Jahre nach dem Ereignis auf einer modernisierten Elektro-Strecke einige hundert Meter davon entfernt ohne Zwischenhalt daran vorbei. Konohagakure, das Dorf versteckt unter den Blättern … Der Wald hatte mit seinem undurchdringlichen Laub alles verschlungen und einen Dickicht darüber erwachsen lassen. Er war so dicht und so monoton, dass man sich hoffnungslos darin verirrte, wollte man alte Spuren finden. Selbst Tenzô musste sich verwundert eingestehen, dass seine Holzfähigkeiten sich nicht mehr mit den Gehölzen um das Gebiet von Konoha herum in Einklang bringen lassen wollten. Der Weg war für alle Zeiten versperrt und stand wie ein Sinnbild, dass es kein zurück mehr in die Vergangenheit gab. All das, was berichtet wurde, klebte wie ein dunkler Fleck auf meinem Herzen, den man nicht vergessen, aber auch nicht wiederbeleben wollte. Er sollte ruhen.

Doch wie konnte es ruhen, wenn ich an manchen Tagen den Strand einige Meter entlang zu der Stelle spazierte, wo Kakashi häufig hatte seinen einfachen Liegeklappstuhl aufgestellt, um im Schatten der Palmen zu lesen oder zu dösen? Wie eingebrannt sah ich dann dieses Bild des schicksalhaften Gespräches zwischen ihm und Yuuki vor mir. Kakashi lesend und Yuuki ihm gegenüber stehend. Verzweifelt, sauer und voller Vorwürfe gegenüber Kakashi.

„In Konoha steht kein Stein mehr auf dem anderen. Viele sind tot oder verletzt. Unsere besten Freunde sind darunter. Ist dir das alles scheißegal? Der Siebte ist verschwunden. Wir haben niemanden, der uns leitet. Und MEIN Hokage sitzt hier und lässt sich die Sonne auf den Bauch scheinen!“

Yuuki hatte den letzten Satz aus der Tiefe seines Herzens herausgeschrien, dass man ihn garantiert über alle Meere und Berge hätte hinweg hören können. Mein Hokage. Obgleich Yuuki doch eine beachtlich Karriere unter Narutos Fuchtel hingelegt und es sogar bis zum Jonin geschafft hatte, so blieb für ihn auf immer und ewig sein Stiefvater der einzig wahre Hokage. Und als dann die Antwort aus dessen Munde zu lange auf sich warten ließ, hatte mein Sohn wutentbrannt auf dem Absatz kehrt gemacht, war ohne ein richtiges Wort der Verabschiedung an mir vorbei gestiefelt und hatte uns für eine sehr lange Zeit verlassen. Erst Monate später war ich heilfroh, ihn lebendig wieder zu Gesicht bekommen zu haben.

Mit Kakashi und seinem Seelenfrieden aber verhielt es sich ganz anders. Der hatte just in dem Moment das offizielle Grübeln begonnen, wie Yuuki ihm einen Vorwurf nach dem anderen an den Kopf geworfen hatte. Seit wir vor sieben Jahren in das Strandhaus gezogen waren, hatte er stets beteuert, die ganzen Dorfangelegenheiten in und um Konoha würden ihn nicht mehr tangieren. Trotzdem hatte er immer mal wieder einen beruflichen Abstecher in die Heimat gemacht und mir hinterher berichtet, was es Neues gab. Die Zeit brachte es dann aber doch mit sich, dass diese Art der Abstecher weniger und weniger wurden. Irgendwann hörten sie fast gänzlich auf. Ein Abschied auf Raten. Das Streitgespräch zwischen Yuuki und ihm jedoch brachten genau das ans Tageslicht, was er vor uns allen und sich selbst zu verbergen versuchte. Es interessierte ihn nämlich unermesslich! Und dass nun sein geliebtes Heimatdorf abermals zerstört worden war, wühlte ihn auf und beschäftigte ihn. Er sprach es nicht aus, wie ruhelos und rastlos es ihn machte. Dass es schmerzte und bitterböse in die Seele einstach wie ein frisch geschliffenes Kunai. Wir sprachen an besagtem Tage, als Yuuki seinem Frust freien Lauf gelassen hatte, gar nicht darüber. Körpersprache sagte mehr aus als tausend Worte. Schweigend hatten wir lange am Strand nebeneinander gesessen, bis er mich mit einem Blick voller Bedauern ansah. Egal, was er in dieser Sekunde zu mir gesagt hätte, es wäre falsch gewesen. Dann war er aufgestanden und schnurstracks zum Haus marschiert. Da gab es eine versteckte Truhe unter den Bohlen des Fußbodens weit hinten in der Ecke des Abstellraumes. Sie war schon so lange nicht mehr geöffnet worden, dass bereits eine dicke Staubschicht darauf lag. Nun wirbelte der Staub auf, wie Kakashi den Deckel anhob, den roten Hut und den weißen Mantel beiseite nahm und seine alte Shinobi-Uniform hervorkramte. Ich wusste, dass er hin- und hergerissen war. Aber ich wusste auch, dass er gehen musste. Das musste man nicht verstehen. Das musste man nur stumm akzeptieren. Einmal Ninja, immer Ninja. Treudoof mit dem Dorf verbunden bis in den Tod hinein. Ich hätte ihn nicht aufhalten können. Und dann war er weg. Das war nun fast zwei Jahre her. Wieder einmal quälte mich die Ungewissheit über den Verleib eines geliebten Menschen.

Der Wind blies heute kräftig und schob die letzten hellen Tage eines durchwachsenen Sommers hinaus. In zwei Wochen wäre Kakashis Geburtstag. Schon wieder ein Runder. Da wurde mir erst gewahr, dass ich ihn nun schon zehn Jahre lang an meiner Seite wissen konnte. Ich schloss die Augen und lauschte in den Wind hinein. Dann erzählte er mir Geschichten von schöneren Zeiten bis mir stumme Tränen über die Wangen liefen. Das störte mich hier oben am Hügel keineswegs, denn wer sollte es auch schon sehen? Doch der Wind war mir stets wohlgesonnen, denn er trocknete die Tränen auch gleich wieder für mich. Watte bauschige Wolken trieben am blauen Himmelstuch und nahmen bizarre Formen an. Kakashi hatte mal erzählt, ihm würde es helfen und trösten, in die Wolken zu starren, wenn er traurig war. Ich hatte das auch versucht. Aber dann dachte ich wieder an Kakashi und wurde zunehmend trauriger. Mir half es also nicht. Da waren mir heftige Gewitter lieber. Stundenlang konnte ich bei geöffneter Verandatür auf das wilde, tosende Meer starren. Wie die Wellen in der Schwärze der Nacht an den Strand klatschten und dann lang ausliefen. Manchmal bis an die Pfähle unseres Hauses heran. Dann verlor ich mich in den Blitzen, erschauderte beim Donnergrollen und hoffte auf einen violetten Blitz, der mir Kakashi nach Haus bringen würde. Doch die Blitze blieben stets grell und weiß.

Der Wind frischte noch stärker auf. Ich verstand auch nicht, warum er mir nicht zur Abwechselung mal eine schöne Geschichte erzählen konnte. Dabei gab es doch so vieles, an was es sich zu erinnern lohnt. Heute brachte er nur die Geräusche der näheren Umgebung zu mir. Aus der Ferne hörte ich das Telefon unten in unserem Haus klingeln. Da ich mich häufig auf unserem weitläufigem Grundstück aufhielt, hobbymäßig herum gärtnerte oder einfach nur die Natur genoss, hatte ich es irgendwann einmal auf die größte Lautstärke eingestellt. Die weit geöffneten Fenster taten ihr übriges, dass das Telefon die halbe Umgebung beschallte. Das hieß zwar nicht, dass ich dann zeitnahe den Hörer abnehmen konnte, doch das Klingeln würde mich erinnern, später den Anrufbeantworter abzuhören. Das Mobilteil mitzunehmen, hatte ich längst aufgegeben. Dazu war die Reichweite einfach zu gering. Es klingelte eben gerade nur kurz. Also würde wohl Asa das Gespräch angenommen haben. Sie brütete unglaublicher Weise in ihrem Zimmer über einem Referat für die Schule. Die Abschlussprüfungen standen bevor und sie wollte nicht wieder auf dem letzten Platz landen wie damals vor sieben Jahren, als sie die Akademie abgeschlossen hatte. Sieben Jahre war das schon wieder her? Unglaublich! Asa war gewachsen und aus dem Rabaukenkind war eine hübsches Mädel geworden. Hochgeschossen und ein fein gezeichnetes Gesicht wie ihr Vater. Nur die graue Haarfarbe war nicht ihr Ding, weshalb sie oft ihre Haare in vielen Farben färbte. Dabei hatte sie sich dann irgendwann mal auf Rottöne eingeschossen. Und es hatte sich doch noch alles für sie zum Guten gewendet, wie ich es damals gehofft hatte. Tatsächlich hatte sie eine allerbeste Freundin gefunden, durch die sie die Schulzeit als ertragbar gefunden hatte. Allerdings war sie nun im Alter von fast siebzehn immer noch recht planlos, was sie mit ihrem Leben anstellen könnte, weshalb sie die Aufnahme an der Fachhochschule bestehen wollte. In Konoha wäre ihr solch eine Lebensplanung bestimmt nie eingefallen. Wie die Dinge sich wohl ändern konnten.

Nun aber blickte ich den Hang hinunter zu unserem Strandhaus, wo die Eingangstür klappte und sich eben jene erwähnte Asa auf den Weg zu mir herauf machte. Sie war barfuß und trippelte über den Rollsplitt, denn die neue Weltordnung hatte uns als positiven Effekt eine asphaltierte Landstraße beschert. Es war nach dem „Großer Knall“ sehr viel Geld in die Infrastruktur investiert worden. Das war auch bitter notwendig gewesen, sollten die vielen Reiche zu einem stabilen Staat zusammenfinden. Meine Holzbank stand genau an der Stelle, an der ich beim allerersten Mal mit Ûhei am Waldrand Rast gemacht hatte. Asas Vorteil jedoch war, dass der Weg hier herauf mittlerweile befestigt war. Ich hatte mich damals noch durch das mit Unkraut überwucherte Areal schlagen müssen.

„Hast du wieder deine melancholischen fünf Minuten?“, zog sie mich schon auf, noch ehe sie die Bank erreicht hatte. „Keine Sorge, Papa kommt zurück. Ich kann immer noch sein Chakra spüren.“

Asa und ihr grenzenloser Optimismus. Aber Gai hatte das bei seinen unzähligen (eher spontanen) Besuchen auch jedes Mal gesagt. Ebenso Tenzô, von welchem Kakashi stets behauptet hatte, dass er der einzige wäre, der ihn immer und überall finden würde. Das Chakra wäre immer noch zu spüren, hatte Tenzô bestätigt. Aber warum kam er dann nicht nach Hause? Wo war der überhaupt? Schulterzucken bei allen Beteiligten. Und mir wurde wieder bewusst, dass ich kein Chakra spüren und somit nicht zu diesem Ergebnis kommen konnte. Obgleich meine Sorge um Kakashi unendlich und das Thema heikel war, strahlte Asa wie der Sonnenschein und ließ sich ihr frohes Gemüt niemals zunichte machen. Ich sollte mir eine Scheibe davon abschneiden.

„Gai hat angerufen, ob er mal wieder vorbei kommen kann. Du sollst zurückrufen!“, richtete mir Asa nun den Inhalt des Telefonats aus. „Das solltest du schon vor drei Tagen.“

Tadelnde Blicke trafen mich, denn sie hatte recht. Gai nervte schon seit drei Tagen herum. Damit tat ich ihm Unrecht, denn Gai war seit unserem Umzug hierher ans Meer ein sehr gern gesehener Gast in unserem Hause. Auch wenn Gai eine anstrengende Persönlichkeit hatte, so konnte er den lieben langen Tag dein Alleinunterhalter spielen, ohne dass er es so recht bemerkte. Allerdings hatte ich in den letzten Tagen viel Arbeit in der Stahlfirma, weil wieder einmal mehr unsere Auftragsbücher von Beamten gefilzt worden waren. Es war nervenaufreibend. Man wollte genau wissen, wann und zu welchen Konditionen ehemalige Shinobi-Dörfer mit Stahl beliefert worden waren. Früher waren das gute Geschäfte. Heute aber unterstellte der neue Rechtsstaat kriegstreiberische Geschäftspraktiken und vermuteten gar Beihilfe zu Kriegsverbrechen. Als Kawaki und Boruto die Welt in Schutt und Asche gelegt hatten, brachen weltweit die Aktienkurse ein. Heilfroh war ich, dass meine Firma nicht den berühmten Dreck am Stecken hatte. Trotzdem schlingerte die Firma wie ein ruderloses Boot auf dem Ozean der Weltmärkte und entkam nur knapp dem Konkurs. Wochenlang hatten verbeamtete Krawattenträger in den Büroräumen Akten durchwühlt, aber nichts gefunden. Nur die harte Arbeit, neue und stabile Absatzmärkte aufzutun, lenkte mich von meinem Schmerz ab, verlassen zu sein. Ich fragte mich immer wieder und wieder, was ich in meinem Leben verbrochen hätte, dass erst Kenta fortging und nie wiederkehrte und nun Kakashi auf sich warten ließ.
 

Und plötzlich begann es in unserem Haus zu spuken. Ja richtig, zu spuken! Es begann mit solch albernen Dingen, bei denen ich erst dachte, es wären die ersten Anzeichen von Demenz. Immerhin zählte ich seit diesem Sommer schon volle fünfundvierzig Lebensjahre. Da konnte man sich schon Gedanken über das Alter und die ersten Wehwehchen machen. Ich sah ein Fenster sperrangelweit offen stehen. Dabei war ich mir hundertprozentig sicher, ich hätte es zuvor geschlossen. Die Zeitung lag auf dem Tisch zusammengefaltet. Aber hatte ich sie nicht extra offen liegen lassen, weil ich einen Artikel nochmal nachlesen wollte? Ich entwickelte mich zu einem Kontrollfreak. Ich schaute mindestens fünfmal nach, ob ich beim Weggehen die Haustür tatsächlich abgeschlossen hatte. Ich überprüfte 10mal den Herd, ob er abgeschaltet war und rannte ebenso oft zum Bügeleisen. Man könnte ja nie wissen... Dann ein anderes Mal war die Milch im Kühlschrank leer, obgleich ich gerade erst frische Milch gekauft hatte. Noch an der geöffneten Kühlschranktür verdächtigte ich Asa und Yuuki und rief ärgerlich nach ihnen. Ihr Durst auf Milch wäre ja nicht schlimm, aber sie hätten wenigstens eine neue Tüte kaufen können. Die beiden aber beschworen sogar, die Milch nachts nicht heimlich ausgetrunken zu haben. Keiner konnte sich einen Reim darauf machen. Und als Asa dann auch noch im Mülleimer die flach gefaltete Tüte fand, wurde es uns unheimlich zumute. Yuuki ließ uns mit unseren Spukgeschichten allein. Er hatte vor einem halben Jahr ein Studium in der Hauptstadt begonnen und war nur sporadisch an Wochenenden zu Besuch. Er packte seine frisch gewaschene Wäsche zusammen, sagte noch, es gäbe gar keine Gespenster, und machte somit das Poltergeistproblem zu meinem Persönlichem.

Es mochten wohl keine fünf oder gar sechs Tage vergangen sein, seit wir heimgesucht wurden, als ich des Nächtens in meinem Bett lag und noch lange beim Schein der Lampe las. Obgleich ich tot müde war und die Augen mir bei jeder Zeile zufielen, fand ich keinen Schlaf. Die Temperaturen waren für Mitte September noch recht sommerlich und schwül.

Mit einem Schlag war ich hellwach. Da war ein Geräusch gewesen. War es im Flur? In der Küche? Auf jeden Fall war ich nicht allein. Entweder hatte mein Hausgeist nun Gestalt angenommen oder ein Einbrecher trieb sein Unwesen. Panik ergriff mich, denn ich war so allein in unserem Haus völlig schutzlos. Yuuki war in Keishi und Asa war mit Freunden auf Achse. Na toll! Einbrecher im Haus und kein Ninja weit und breit! Verzweifelt grabbelte ich nach meinem Handy und tippte an die Kinder, Tenzô und Gai eine verängstigte Nachricht. Wenn ich jetzt nun Opfer eines Gewaltverbrechen werden sollte, dann wollte ich doch noch eine letztes Lebenszeichen an die Welt hinterlassen haben.

Da! Da war es wieder! Es klang wie ein Kratzen oder eher ein Tapsen.

Ich weiß bis heute nicht, was mich aus dem Bett trieb, aber ich tat es. Besonders langsam schob ich die Schiebetür ein Stück weit auf, um selbst keine Geräusche zu machen. Durch den Spalt lugte ich in den Flur. Nichts! Absolute Stille und Dunkelheit. Vielleicht mochte ich mich geirrt und die Geräusche mit einem Tier draußen im Gebüsch verwechselt haben. Oder ich wurde langsam närrisch. Trotzdem zog es mich voran. Es tapste wieder. Nun war ich mir sicher, dass ich diese Geräusche von früher kannte. Doch noch konnte ich sie nicht zuordnen. Zielgerichtet ging ich zum Wohnbereich, wo die Stehlampe in der Ecke brannte, und bekam Gewissheit.

„Was macht ihr denn alle hier?“, fragte ich perplex, als ich auf acht Hunde traf.

Die Ninken lümmelten auf dem Fußboden überall herum und freute sich nun sehr, mich nach langer Zeit wieder zu sehen. Ihre Pfoten und Krallen hatten das Tapsen und Kratzen auf den Holzbohlen verursacht. Ich hingegen war fassungslos und starrte und starrte.

„Haben wir dich geweckt? Das tut mir leid.“

Wie in Zeitlupe drehte ich meinen Kopf in Richtung Wohnküche und glotzte meinen vermeintlichen Hausgeist wie das achte Weltwunder an. Alles und nichts an Gedanken jagte mir durch den Kopf. Man wünschte sich immer von ganzem Herzen, dass Vermisste unversehrt wieder auftauchten. Aber wenn sie dann tatsächlich vor einem standen, dann konnte man das erst gar nicht glauben. Da war Kakashi einfach so wieder da. Stand da ganz relaxt in der Küche, als wäre er niemals eine halbe Ewigkeit weg gewesen und schenkte sich ein Glas Wasser ein. Seine Uniform samt Rucksack stand mitten auf dem Küchentisch. Müde sah er aus, aber anscheinend mit sich und der Welt zufrieden. Hastig trank er das Glas in einem Zuge aus und kam dann langsam auf mich zu. Betretenes, verlegenes Schweigen seinerseits. Fassungslosigkeit meinerseits. Zwei Jahre hatten wir uns nicht gesehen. Nichts voneinander gehört und kein Lebenszeichen vernommen. Und alles, was er mich fragte war, ob er mich aufgeweckt hätte? Meine Starre wich. Schnappatmung folgte.

„Was …? Wieso...?“, stotterte ich los, fand dann aber schnell die Sprache wieder. „Wenn du jetzt mit dieser bescheuerten Ausrede kommst, du hättest dich auf dem Pfad des Lebens verlaufen, dann knall' ich dir ein paar!“

Ich war so richtig sauer. Immerhin war das Kakashis längste Verspätung, die er jemals in seinem ganzen Leben zustande gebracht hatte. Na, auf die Begründung war ich mächtig gespannt. Mein ganzer Körper bebte vor Wut. Die Fäuste so fest geballt, dass sie schon weiß wurden. Noch etwas mehr Druck im Kiefer und ich hätte mir wohl selbst die Zähne zerbrochen.

Stattdessen wurde ich umarmt und umklammert wie der letzte, rettende Strohhalm im reißenden Strom.

„Du hast recht mit allem. Aber es ging nicht anders, dass ich solange weg war. Und ich werde auch nie wieder so lange weg sein. Versprochen!“

„Du warst doch schon die ganzen letzten Tage hier im Haus, oder?“, nuschelte ich, weil ich mir nun den Spuk erklären konnte.

„Hm...“, bejahte er kurz und knapp.

Und dann beschlossen wir, dass die Welt viel freundlicher und versöhnlicher aussehen würde, wenn man noch die letzte halbe Nacht darüber schlafen würde.
 

Dafür gab es dann beim Frühstück viel mehr zu erzählen. Genauso, wie man es hatte in den Tageszeitungen und in den Nachrichten verfolgen können, so hatte es auch dort draußen in der Wirklichkeit ausgesehen. Zerstörte Orte, Anschläge und Unruhen hatten die Monate nach dem „großen Knall“ beherrscht, bis sich alles wieder langsam beruhigte. Konoha gab es wirklich nicht mehr. Die Verluste waren erschreckend hoch. Da gab es nicht mehr viel zu retten oder zu trösten. Kakashi hatte das alles sehr nachdenklich erzählt, an seiner Kaffeetasse genippt und hinaus geschaut. Seine Augen ruhten auf den heute sehr ruhigen Wellen des Meeres. Das Wasser war so blau wie Kornblumen.

„Wie dem auch. Ich habe recht schnell gesehen, dass sie alle auch alleine klarkamen. Ein jeder mit seinem Schicksal. Und so habe ich dann in dem ganzen Wirrwarr die Gelegenheit beim Schopfe gepackt und …“

Er stockte und holte tief Luft. Es schien ihm nun sehr schwer zu fallen, mir seine Entscheidung mitzuteilen.

„... und dann habe ich meinen Namen einfach mit auf die Liste geschrieben.“

Mir wurde mulmig.

„Was für eine Liste?“, fragte ich vorsichtig.

Ein Räuspern. Ein ernster Blick.

„Die Liste der gefallenen Shinobis, Nina.“

Mein Frühstück blieb mir im Halse hängen.

„Du hast was...?“

Das konnte doch nicht wahr sein! Wie kam er denn auf so eine verrückte Idee? Wir sprachen noch lange sehr ausführlich und behutsam über seinen unverrückbaren Beschluss und ich verstand. Die Welt um uns hatte sich verändert. Sie drehte sich einfach weiter und weiter ohne Rücksicht auf einzelne Befindlichkeiten oder vergangene Ären. Manches kam und manches ging. Kakashi meinte, es hätte ihn sehr verändert und geprägt, als er sich auf das neue Abenteuer namens Familie eingelassen hatte. Und dafür war er unendlich dankbar. Es war eine anderes Leben, ein anderer Abschnitt, mit dem er sehr gut leben konnte und in welchem er sich besser als gedacht zurecht fand. Vor allem hatte es Zukunft. Zu Beginn hätte er schon mit sich gezweifelt, ob er jemals etwas anderes als „Ninja“ hinbekommen könnte. Zum Glück wurde er eines besseren belehrt. Er hätte zwei Kinder, die selbstständig zurecht kämen und eine Frau an seiner Seite, die so ziemlich alles aushalten und ertragen könnte. Da war der Absprung aus dem alten Leben einfacher als befürchtet. Kakashi erinnerte mich daran, dass Shinobis mehr Feinde als Freunde hätten und mit seinem Namen auf der Totenliste, würde ihn wohl hoffentlich niemand mehr suchen und Rache nehmen wollen. Und schon gar nicht nach fast zwei verstrichenen Jahren. Der Abschnitt war zu ende. Das war zumindest das Wunschdenken.

Ich war beeindruckt von soviel Konsequenz, einen ganzen Lebenslauf ad acta zu legen, musste aber noch lange darüber nachdenken. Es war so unglaublich und so unerwartet.
 

Gegen Nachmittag schlendert wir hinunter in unser Dorf. Ich wollte noch ein paar Lebensmittel für ein wirklich gutes Essen einkaufen. Immerhin hatte ich mich vor ein paar Tagen durchgerungen, Gai anzurufen und ihn mal wieder zu uns einzuladen. Vermutlich würde auch Tenzô aufschlagen, nachdem ich letzte Nacht ja diese ominöse Nachricht per Handy an alle verschickt hatte. Auch Asa würde heute nach Hause kommen. Yuuki kam generell fast immer am Wochenende heim. Da brauchte man etwas mehr als sonst an Vorräten. Außerdem, so hatte ich verkündet, könnte man gleich mal Kakashis runden Geburtstag im kleinen Kreise feiern, nachdem er seine Freunde um die Feier zu seinem Vierzigsten gebracht hatte. Mein Freund seufzte und fragte nur, ob er seinen Geburtstag nicht auch einfach ebenso wie sein altes Leben begraben könnte. Aber darauf ließ ich mich gar nicht erst ein und winkte lachend ab. Fröhlich gingen wir nebenher. Irritiert schielte ich immer mal wieder aus dem Blickwinkel hinüber zu meinem Freund und konnte ein Kichern nicht unterdrücken.

„Is' was?“

„Es ist halt total ungewohnt, dass du nicht so voll vermummt neben mir gehst“, gab ich zurück.

In der Tat hatten wir für Mitte September noch angenehm warme Temperaturen, so dass eine knielange Hose und ein T-Shirt völlig ausreichten. Kakashi hatte sich diesem angepasst: Komplett in zivil und sein Gesicht unverhüllt. Nur die Körperhaltung war geblieben. Verträumter Blick, Hände in den Hosentaschen und mit dem Kopf in den Wolken. Man musste es meinem Freund schon anerkennend überlassen, es geschafft zu haben, seit unserem Umzug hierher im Dorf quasi unsichtbar gewesen zu sein. Ob ihn nun jemand erkennen würde, würde sich nun zeigen. Wir klapperten meine gewohnte Route ab. Postfach, Reishändler, Obst- und Gemüseladen, Sakebrauerei und zum Abschluss noch ein Abstecher zum Hafen. Im Schatten von Bäumen warteten wir auf die Rückkehr der Fischer. Die Strömung und die Gezeiten trieben die Boote derzeit am Tage übers Meer. Schon bald würden sie mit frischem Fang zurück sein. Vollbepackt machten wir uns auf den Rückweg. Und keiner hatte etwas bemerkt oder nachgebohrt.

Zuhause wartete schon der nächste Klopfer auf mich. Tenzô war bereits eingetroffen, gab dann aber kleinlaut zu, sich nicht über meine Nachricht gewundert zu haben. Ich sollte nicht sauer auf ihn sein. Über meinem Kopf glühte das Fragezeichen. Sauer auf Tenzô? Niemals! Der Schlag traf mich dann aber, wie das Rätsel über Kakashis zwischenzeitliche Unterkunft aufgelöst wurde. Es fiel mir wie Schuppen von den Augen, als ich erfuhr, dass Tenzô nicht nur eingeweiht gewesen war, sondern meinen Freund auch beherbergt hatte. Manchmal war es schon eine Qual für Tenzô gewesen, das Geheimnis für sich zu behalten, besonders dann, wenn ich phasenweise so gelitten hatte. Nein, ich war nicht sauer. Tenzô war ein guter Freund, wenn nicht so gar der beste und loyalste überhaupt.

„Wusste Gai auch Bescheid?“, interessierte es mich nun aber doch.

„Nö, der quatscht zu viel“, war die lakonische Antwort und dementsprechend rastete Gai dann auch voller Freude aus, als er am Abend pünktlich zum Essen zu uns kam und seinen Lieblingsrivalen wohlbehalten und munter vorfand. Ein wahrer Redeschwall seitens Gais setzte ein. Ohne Punkt und Komma. Ich kann die Anekdote nicht für mich behalten, dass Gai Kakashi auf den ersten Blick überhaupt nicht erkannte hatte, so ganz ohne Uniform. Das war ein Brüller.

Asa hingegen meinte nur:

„Siehst du, Nina! Ich hab's dir ja immer wieder gesagt!“

Yuuki brachte in seiner stillen, zurückhaltenden Art sogar nur ein „Hi, Kakashi!“ im Vorbeigehen und ein verstecktes Lächeln heraus, nachdem er seine Reisetasche über der Waschmaschine entleert hatte. So unterschiedlich konnten Reaktionen der Freude ausfallen. Ein bunter Blumenstrauß der Möglichkeiten.
 

Es wurde recht schnell dunkel am Strand. Der Sommer verabschiedete sich. Die Sonne schickte letzte Strahlen über den Horizont und erschuf ein diffuses Licht. Dazu rauschte das Meer fast schon melancholisch. Wir hatten ein kleines Lagerfeuer errichtet, Fisch und Gemüse gegrillt und ziemlich viele Sakeflaschen vernichtet. Ein Teil des Geschirrs hatte ich ins Haus getragen. Vom Küchenfenster beobachtete ich die drei Shinobis, wie sie da um das Feuer saßen, ziemlich angeheitert waren und über Dinge sprachen, die ich bis hier herauf nicht hören konnte, weil der laue Wind ungünstig stand. Vielleicht waren es Geschichten von früher, alte Kamellen, die man gerne aufwärmte. Kleine Legenden hörte man viel lieber als als nüchterne Wahrheiten, weil sie so schön schillerten und glänzten. In Erzählungen wurden Missionen zu Heldentaten. Vergessen waren da Wut, Schmerz und Trauer. Ob das Zeitalter der Shinobis tatsächlich vorbei wäre, hatte ich vorhin am Feuer laut vor mich her gedachte und eine kleine Diskussion entfacht. Kakashi, Gai und Tenzô einigten sich dann darauf, dass die Geschichten und Riten bestimmt immer noch weitergegeben würden. Ein jeder Shinobi hätte seinen eigenen persönlichen „Weg des Ninja“ in sich. Diesen trug man in der Seele und im Herzen und würde ihn bis zum Ende weitergehen. Doch diese Philosophie würde verblassen und immer weniger werden. So wie früher würde es wohl nicht mehr werden. Aber es wäre doch auch sehr spannend, was noch kommen würde, befanden sie dann doch gemeinsam. Das wäre nunmal der Lauf der Dinge.

Ich fragte mich, wie ich mir das Trio dort so ansah, ob sie es wohl noch in dem betrunkenen Zustand zum Schlafen ins Haus schaffen würden. Oder würden sie dort einfach am Strand versacken? Es war egal. Es scherte niemanden. Die Sonne war nun gänzlich untergegangen. Die Silhouetten der Drei verschwammen mit der Dunkelheit. Wenn das Feuer erstmal runter gebrannt wäre, würden sie gänzlich von der Nacht verschluckt werden.

Aus dem Radio dröhnte ein Lied. Es traf das Szenenbild und meine Stimmung so gut, dass ich den Lautstärkeregler bis zum Anschlag aufdrehte. Lauthals sang ich die ersten Zeilen mit. Und das klang ganz schön schräg, weil mich der Song sentimental machte und meine Stimme zum Versiegen brachte. Stumme Tränen schluckte ich runter.
 

„Und niemand vermisst uns

und auch die Nacht vergisst uns schon.

Was du hörst sind nur Echos

und die bleiben für immer!“*
 

Da gab es eine versteckte Truhe unter den Bohlen des Fußbodens weit hinten in der Ecke des Abstellraumes. Sie war schon so lange nicht mehr geöffnet worden, dass bereits eine dicke Staubschicht darauf lag. Den Schlüssel dazu trugen die Wellen fort.
 


 

*) Anmerkung: Die Liedzeilen stammen von Bosse.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  MiezMiez
2023-11-20T09:17:28+00:00 20.11.2023 10:17
Hallo sakemaki,
deine Fanfiction ist dir super gelungen. Genau so würde sich ein Zivilist in der Welt der Ninja fühlen.
Anscheinend ist Sherenina auch recht resistent was ihren Alkoholkonsum angeht. Sie jammert nach jedem Absturz rum, aber tut es dann wieder.:-D
Schreib weiter so.
Liebe Grüße
MiezMiez


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