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Spherium

Puzzleshipping - Bromance
von

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Kapitel 2: Tag 1 (2)


 

Kapitel 2 – Tag 1 (2)

 
 

*

 
 

Domino, Japan, Tag 1

 

»Es …« Yugi schluckte, doch der Widerstand in seiner Kehle hielt sich hartnäckig. Seine Stimme klang rau und belegt, als er weitersprach. »Atems Grab wurde zerstört?«
 

»Ja«, sagte Marik. Yugi musste sich konzentrieren, um ihn zu verstehen. Die Telefonverbindung war lausig. »Ja, ich habe es zwar nicht mit eigenen Augen gesehen, aber Ishizu beteuert, dass ihre Kontaktperson verlässlich ist. Also …«

 

»Ich verstehe schon …« Yugi lächelte verkrampft, bis ihm klar wurde, dass Marik ihn nicht sehen konnte. Sein Lächeln fiel umgehend in sich zusammen. Er lehnte sich gegen eine Wand, weil er das Gefühl hatte, jeden Moment den Halt zu verlieren. Er hörte das gurgelnde Geräusch einer Toilettenspülung.
 

Marik hatte ihm alles erzählt, was Ishizus Informant ihnen übermittelt hatte. In Ägypten hatte es ein gewaltiges Unwetter gegeben, wie es dort bestimmt seit einigen Jahrhunderten nicht mehr vorgekommen war. Sogar der Nil war angesichts der völlig unerwarteten Wassermassen über die Ufer getreten. Und offensichtlich hatten die verheerendsten Auswüchse direkt über dem Tal der König getobt. Mehrere Gräber waren beschädigt worden, aber unglücklicherweise waren ausgerechnet die Schäden an Atems Grabkammer irreparabel.
 

»Danke«, sagte Yugi, als ihm auffiel, dass er sehr lange kein Wort verloren hatte. Jetzt hatte er seine Stimme wieder im Griff. »Dass du mir das sagst. Und dass du trotz des Wetters rausgefahren bist.«
 

»Nicht der Rede wert«, winkte Marik ab.
 

»Trotzdem«, hielt Yugi dagegen, »Du hättest das nicht tun müssen. Es war bestimmt gefährlich …«
 

Marik machte ein Geräusch, das Yugi nicht ganz einordnen konnte. Es klang beinahe trotzig. »Jetzt hörst du dich wie Ishizu an.«
 

Er lachte; Yugi versuchte es ebenfalls, aber brachte lediglich einen krächzenden Laut zustande. Plötzlich war ihm ein düsterer Gedanke gekommen, der jeden Ton im Keim erstickte. Der Gedanke war so schrecklich, dass Yugi sich nicht traute, ihn auszusprechen. Zu groß war die Angst davor, dass es der Wirklichkeit entsprach.

Mariks Lachen verebbte nach kurzer Zeit bereits wieder und eine unangenehme Pause entstand zwischen ihnen. Marik schien nicht zu wissen, was er noch sagen sollte, und Yugi haderte mit seinen eigenen Worten. Er hatte immer noch Angst vor Mariks Antwort.

Als Marik jedoch Anstalten machte, ihr Gespräch zu beenden, war der Wunsch nach Gewissheit größer als seine Angst.
 

»Warte«, sagte er hastig in jenem Moment, als Mariks Daumen bereits über dem Knopf zum Beenden des Telefonats schweben musste.
 

»Ja?«
 

»Sag mal«, begann Yugi, dessen Stimme wieder rau und verräterisch brüchig wurde, »Es geht ihm doch trotzdem gut, oder? Atem, meine ich. Ich weiß, dass die Grabkammern eigentlich essentiell für das Leben nach dem Tod sind. Wenn jetzt also …«
 

Mariks Antwort ließ lange auf sich warten. Yugi hörte seine Atemzüge. Als er sprach, klang jedes Wort gewählt.
 

»Mach dir keine Sorgen«, sagte er, »Atem befindet sich bereits auf der anderen Seite. Dort kann ihm nichts mehr zustoßen.«
 

Yugi entging der Unterton nicht, in dem Marik sprach. Aber er konnte dessen Bedeutung nicht ermessen. »Ja«, sagte er, »Ja, du hast recht. Danke, Marik.«
 

»Nicht dafür«, sagte Marik.
 

Sie verabschiedeten sich voneinander; Marik schlug vor, bald mal wieder nach Japan zu reisen, weil es hier viel leichter war, an die neuen Spieletrends und bessere Duel Monsters Karten zu kommen. Yugi freute sich darüber. Das tat er wirklich.

Sie legten gleichzeitig auf. Auf dem Display leuchtete kurz Mariks Anruferkennung auf, bevor der Startbildschirm wieder eingeblendet wurde. Yugi lächelte unwillkürlich, als seine Freunde ihm von dort entgegenwinkten. Dann wurde der Bildschirm schwarz und Yugi sah bloß noch sein eigenes Spiegelbild, welches ihn erneut an Atem erinnerte. Er spürte ein zu vertrautes Kribbeln in seiner Nase und wie seine Augen ganz feucht wurden. Der Versuch, das Unvermeidliche noch aufzuhalten, war im Grunde sinnlos. Trotzdem ärgerte er sich darüber.  

Frustriert stopfte er das Handy in eine Tasche, dann ging er in den nahegelegenen Toilettenraum, um sich das Gesicht zu waschen. Er wollte nicht, dass seine Freunde sich noch mehr um ihn sorgten.

 
 

*

 
 

Luxor, Ägypten, Tag 1

 

»Du hast Yugi angelogen.« Die Stimme seiner Schwester klang unmissverständlich vorwurfsvoll.
 

»Ich weiß«, sagte Marik. Es war zwecklos, es zu leugnen. »Aber ich konnte ihm die Wahrheit nicht sagen. Das hätte ihn fertiggemacht.«
 

Ishizu schwieg. Ihr ausdrucksloses Gesicht war stoisch auf Marik gerichtet. Es machte Marik nervös, ließ ihn seine Entscheidung allerdings nicht bedauern oder gar bereuen. Er hatte Yugi gegenüber nicht ehrlich sein können. Er machte einen verächtlichen Laut und warf sein Handy achtlos auf den Küchentisch. Dann verließ er die Küche.
 

»Marik!«, rief Ishizu ihm schneidend nach. 
 

Marik beachtete sie so gut es ging nicht. Er setzte seinen Weg fort, unterschätzte jedoch die Hartnäckigkeit seiner Schwester. Eilig lief sie ihm nach.
 

»Marik!«, sagte sie erneut.
 

Dieser fuhr plötzlich herum. »Was hätte ich ihm denn sonst sagen sollen?! Dass das Wohlbefinden einer Seele im Jenseits auch von den Grabbeigaben und Opfergaben abhängig ist? Und dass die wenigen Gaben, die die letzten dreitausend Jahre überstanden haben, nun vernichtet wurden?!« Der Zorn entstellte Mariks Gesicht so fürchterlich, dass Ishizu einen Schritt zurücktrat. Marik bemerkte es nicht. »Klasse Idee. Hätte Yugi bestimmt super verkraftet.«
 

»Aber-«
 

»Ishizu, lass es gut sein!«, schnitt Marik ihr das Wort ab und sah sie verärgert an. Seine Schwester blickte unverwandt zurück, hatte jedoch den Anstand, weitere Widerworte für sich zu behalten. Marik schloss die Augen und atmete tief ein. Er fühlte den Ärger in sich brennen. Rasend floss die Wut durch seine Adern, Venen und Arterien. Was für großartige Götter sie doch hatten, dachte er verächtlich. Hatten sie Yugi und Atem nicht schon genug Prüfungen auferlegt? Hatten die Beiden nicht genug geopfert, um den Schaden zu reparieren, den die Götter aufgrund ihrer Fahrlässigkeit selbst mit heraufbeschworen hatten? Atem hatte es seine Erinnerungen und sein Leben gekostet und Yugi seinen engsten Freud. Marik wusste nicht, wen von beiden es schlimmer erwischt hatte.

Er kehrte in sein Zimmer zurück, wo er eine Jeans und ein T-Shirt achtlos aus seinem Kleiderschrank zerrte. Die Hose zog er sich dort an, das T-Shirt im Gehen, während er die Garderobe im Flur anpeilte.
 

»Wo willst du hin?« Seine Geschwister waren ihm gefolgt. Marik dachte an zwei Küken, die ihrer Mutter folgten, und daran, wie unangebracht dieser Gedanke war. Trotzdem traf er zu.
 

»Ich will mich vergewissern«, sagte Marik bloß, stieg in seine Stiefel und nahm seinen Helm von der Anrichte. »Ich zweifle nicht an der Auskunft deines Informanten, Ishizu, aber vielleicht irrt er sich ja, was den Zustand des Grabes betrifft.«
 

Er eilte zur Eingangstür hinaus, bevor man ihn aufhalten konnte.

 
 

*

 
 

Domino, Japan, Tag 1

 

»Wartet mal, Jungs.« Jounouchi packte Honda und Otogi am Kragen und zog sie zurück, als diese dazu angesetzt hatten, auf Atem loszustürmen. Beide echauffierten sich.
 

»Hey, was soll das?«, fragte Honda gereizt, während Otogi ihm einen vernichtenden Blick zuwarf.
 

Jounouchi würdigte ihnen keine Antwort. Konzentriert beobachtete er Atem. Er fühlte sich, als hätte man ihn in ein Paralleluniversum verfrachtet. Es war ihm kein zur Gänze unbekanntes Gefühl. Als er damals vom bösen Bakura in Atems Erinnerungen verbannt worden war, war das Gefühl sehr ähnlich gewesen. Es war vergleichbar mit einem fremden Puzzleteil, dass man gewaltsam in ein sonst zusammenpassendes Bild gedrückt hätte. Es fühlte sich einfach verkehrt an.

Unwillkürlich lockerte sich sein Griff. Otogi nutzte die Gelegenheit und riss sich los. Grimmig richtete er seine Jacke und schoss einen verächtlichen Blick in Jounouchis Richtung. »Spinnst du? Warum hast du uns aufgehalten?«
 

»Kommt euch das nicht auch komisch vor?«, entgegnete Jounouchi ohne sie anzusehen.
 

»Dein Verhalten?«, konterte Otogi bissig, »Ja, ein wenig. Andererseits warst du noch nie besonders berechenbar, also was soll’s.« Er winkte lässig ab.

 

Jounouchi machte eine abfällige Handbewegung in Otogis Richtung, was diesen verbiestert grollen ließ. Sein Augenmerk war weiterhin vollständig auf Atem gerichtet. Jounouchi kannte beide Erscheinungsformen Atems. Er kannte Atem in der Yugi-Fassung – mangels eines besseren Begriffs dafür – und er kannte Atem in seiner originalen Erscheinung, als er Pharao von Ägypten gewesen war. Dieser Atem war eine Mischung aus beiden Formen. Er war sonnengebräunt wie vor dreitausend Jahren, hatte aber auf die antike Garderobe bestehend aus Tunika, Umhang und überbordenden Goldschmuck verzichtet. Es war seltsam, ihn Jeans und Hemd tragen und aus einem modernen Wagen mit verspiegelten Scheiben aussteigen zu sehen. Aber das war nicht der Grund, weswegen Jounouchi die anderen zurückgehalten hatte.
 

»Ist euch aufgefallen, dass er nicht allein ist?«
 

Verdutzt blickten Honda und Otogi ihn an, dann zurück. Beide bemerkten erstmalig, dass Atem von einem kleinen Tross Menschen begleitet wurde, die ihm aus dem Fahrzeug gefolgt waren. Einer der zwei Männer, ein großer Mann mit einer ähnlichen sonnengebräunten Hautfarbe wie Atem und langen, braunen Haaren, hielt den anderen die Tür auf, als sie Burger World betraten. Seiner sauertöpfischen Miene nach zu urteilen, war er nicht glücklich. Atem schien sich darüber zu amüsieren. Er sagte etwas zu ihm; aber es schien die Laune des Mannes nicht zu heben.  

Otogi beobachtete das Schauspiel. Er runzelte die Stirn. »Wer ist das?«

 

Neben ihm japste Honda erschrocken nach Luft. »Scheiße, sind das nicht …« Er beendete den Satz nicht. Er und Jounouchi tauschten einen fassungslosen Blick aus.

Otogi folgte ihrem stummen Austausch, bevor er die Arme verschränkte und missbilligend schnaubte. Er hatte das Gefühl, etwas zu verpassen. »Könntet ihr mir mal erklären, was hier los ist?« Er reckte das Kinn in die Richtung, wo die Kassenschalter waren. »Wer sind diese Typen?«
 

Jounouchi sah ihn skeptisch an, bevor es auf seinem Gesicht dämmerte. »Ach, richtig, du warst ja nicht dabei, als der böse Bakura sein Rollenspiel aufgezogen hat.«
 

Otogi kräuselte pikiert die Lippen, verkniff sich allerdings einen Kommentar, damit Jounouchi weitersprach. »Wir sind dort einigen von Atems Priestern begegnet, die damals die Besitzer der Millenniumsgegenstände waren.«
 

»Ja und? Was willst du damit … Oh, verdammt …« Otogis Augen weiteten sich. Sein Mund stand offen und er drehte den Kopf zu Atem und dessen Begleitern. »Du meinst, diese Typen sind …«
 

»Atems Hohepriester – so sieht’s aus, Kumpel. Siehst du den Typ mit dem kahlrasierten Schädel und den unheimlichen Augen? Das ist Shada, der Vorfahre von Shadee. Der Spinner hat mal versucht, Anzu umzubringen«, setzte Jounouchi erklärend hinzu, »Aber der andere Yugi hat ihn aufgehalten. Und der Typ da, der mit den langen Haaren und der Sonnenschein-Mentalität, das muss Mahaad sein. Wir haben ihn nie gesehen. Aber der schwarze Magier basiert auf ihm und seiner Ka-Bestie.«
 

»Ja, Mann, die Ähnlichkeit ist nicht zu übersehen«, kommentierte Honda.
 

Alle drei sahen einander an. Otogi hatte das Gesicht verkniffen, Honda kaute auf seiner Unterlippe und Jounouchi raufte sich durch die Haare. Es war nicht nur Atems Begleitung, die ihn störte. In erster Instanz wunderte er sich, warum Atem hier war. Nicht nur hier in der irdischen Welt – auch wenn das bereits eigenartig genug war – sondern hier, bei Burger World. Der Atem, den Jounouchi kannte, wäre schnurstracks zum Spieleladen gegangen. Dort war es am wahrscheinlichsten, Yugi zu treffen. Denn Atem würde nach Yugi suchen. Aber der Atem, der da an der Kasse stand und bei einem jungen Mädchen in Uniform und einem zahnspangenbesetzten Lächeln seine Bestellung aufgab, zeigte kein Anzeichen davon, auf der Suche nach Yugi zu sein.
 

Plötzlich riss Jounouchi weit die Augen auf. Yugi! Scheiße!
 

Beunruhigt blickte er über seine Schulter. Noch war er nicht zu sehen. Er musste noch telefonieren. Aber sein Gespräch würde sich nicht endlos hinziehen. Er würde zurückkommen … und auf einen Atem treffen, mit dem etwas nicht stimmte. Jounouchi hatte kein gutes Gefühl bei der Sache.  
 

»Hier läuft was schief, Jungs«, sagte er düster. Er legte Honda und Otogi jeweils eine Hand auf die Schulter. »Lasst uns Yugi holen und von hier verschwinden.«
 

»Was?!«, fragte Honda so laut, dass sich einige Gäste in ihrer unmittelbaren Nähe empört umdrehten. Er beachtete sie nicht. »Bist du übergeschnappt? Da drüben steht unser Freund, Mann. Unser Freund, von dem wir glaubten, dass wir ihn nie wiedersehen werden.«
 

»Ja, das weiß ich auch. Aber ich sag‘ euch, hier ist was faul. Der Atem, den ich kenne, würde seine Zeit nicht damit vergeuden, in einem Fastfood-Laden Burger zu kaufen, sondern nach Yugi suchen.«
 

Honda öffnete den Mund, brachte aber keinen Ton zustande. Er starrte Jounouchi mit weit aufgerissenen Augen an. Schließlich fand er die Sprache wieder.
 

»Willst du damit sagen, dass da ist nicht Atem?« Fassungslos zeigte er auf Atem.
 

Jounouchi zuckte nichtssagend mit den Schultern. »Keine Ahnung. Ich weiß nur, dass es keine gute Idee ist, Yugi auf diesen Atem treffen zu lassen. Ihm ging es gestern echt beschissen.«
 

»Verstehe. Das wird ihn natürlich komplett umhauen.« Honda seufzte und kratzte sich am Hinterkopf. »Was machen wir jetzt?«
 

»Tja«, sagte Jounouchi gedehnt, während er überlegte. Eigentlich war er nicht der Denker ihrer Truppe, aber extreme Situationen erforderten extreme Maßnahmen. »Wir müssen herausfinden, was mit Atem los ist. Und wir müssen dafür sorgen, dass Yugi ihn nicht sieht. Hm … vielleicht könnte-«
 

»Ryou«, sagte Otogi plötzlich.
 

»Was?«, fragten Jounouchi und Honda gleichzeitig.
 

»Ryou«, wiederholte Otogi. Er hatte sich nicht an ihrem Gespräch beteiligt, sondern Atem und dessen Begleitung im Auge behalten. Jetzt deutete er auf sie … und auf Ryou. Auch er hatte Atem bemerkt und trat an ihn heran. Als er die Gruppe erreichte, tippte er Atem auf die Schulter, der sich fragend umdrehte.
 

Honda, Jounouchi und Otogi hielten gemeinsam die Luft an. Sie verfolgten die Begegnung wie einen spannenden Film. Ryou sprach mit Atem. Die Entfernung machte es unmöglich, die gewechselten Worte zu verstehen, aber Jounouchi entging nicht, wie Mahaad und Shada Ryou argwöhnend beäugten. Jounouchi gefiel das nicht. Ryou sah dem Grabräuber sehr ähnlich. Er befürchtete, dass sie ihn für den bösen Bakura hielten, und war bereit einzugreifen, falls sie etwas Krummes versuchten. Doch nichts geschah. Atem und Ryou unterhielten sich einfach nur. Ryou musste Atem etwas zeigen, denn dieser betrachtete nachdenklich einen Gegenstand, den Ryou in Händen hielt. Schließlich schüttelte er den Kopf; Ryou verbeugte sich dankbar, kehrte ihm den Rücken zu und ging zurück zu seinen Freunden. In seiner Hand hielt er seine eigene Brieftasche. Er machte sein sehr ernstes Gesicht.
 

»Das ist Atem«, sagte Ryou, als er die anderen erreichte.  
 

»Bist du ganz sicher?«, fragte Jounouchi.
 

Ryou nickte. Aber die Tatsache schien ihn nicht zu erfreuen. Wenn überhaupt dann beunruhigte sie ihn. Er saugte nervös an seine Unterlippe. »Das ist Atem«, erklärte er noch einmal, »Aber er hat sich nicht an mich erinnert.«
 

»Wie meinst du das?«

 

»Als ich Atem sah, habe ich mich gefragt, warum er nicht bei Yugi ist. Also wollte ich herausfinden, was los ist. Ich habe mit ihm gesprochen, aber er schien mich überhaupt nicht wiederzuerkennen …« Ryou pausierte. Da die Anderen ihn lediglich sprachlos ansahen, die Münder weit offenstehend, nutzte er den Moment, um tief Luft zu holen, um sich zu wappnen. Dann sagte er: »Er hat keine Erinnerungen an mich. Und wenn meine Vermutung stimmt, dann dürfte er sich auch nicht an euch erinnern. Oder Yugi. Ich glaube, er hat seine gesamten Erinnerungen an uns verloren.«
 

Die anderen starrten ihn bloß an. Niemand war in der Lage, ein Wort zu verlieren.
 

Ryous Lippen verzogen sich zu einem merkwürdigen, gequälten Lächeln. »Ich weiß nicht, wie ihr das seht … Aber ich schätze mal, er hat wirklich ein ziemlich schlechtes Gedächtnis …«
 

»Wer hat ein schlechtes Gedächtnis?«
 

Yugi hatte sein Telefonat beendet und war zurückgekehrt. Er sah ein wenig blass aus, doch ansonsten schien es ihm einigermaßen gutzugehen. Neugierig sah er seine Freunde an, die rasch nervöse Blicke austauschten.

Honda war der erste, der schließlich sprach. »Ach, Ryou hier hat nur eben festgestellt, dass unser Jou ständig vergisst, wie oft du ihn schon bei Duel Monsters fertiggemacht hast.« Er grinste schief, legte eine Hand auf Yugis Schulter und bugsierte ihn so zum Ausgang. »Was hältst du davon, wenn wir zu dir gehen und du dort Jou noch einmal besiegst … Ich will sehen, wie ihm in den Hintern getreten wird!«
 

»Wie bitte?« Yugi sah reichlich verwirrt aus, folgte Honda aber nichtsdestotrotz hinaus. Ryou lief ihnen hinterher, warf aber einen nervösen Blick über die Schulter, bevor er hinausging. Otogi machte ebenfalls Anstalten, aber Jounouchi hielt ihn auf.
 

»Wie viel Geld hast du noch?«
 

Otogi antwortete nicht. Er hob lediglich eine Augenbraue.
 

»Los, jetzt rück schon raus mit der Sprache!«, forderte Jounouchi. Sie hatten keine Zeit für diese Diskussion.
 

»Ein wenig habe ich schon noch«, antwortete Otogi vage.
 

»Reicht es für ein Taxi?«
 

Otogi sah ihn verdutzt an. »Was?«

 

»Reicht es für ein Taxi?«, wiederholte Jounouchi eindringlich. Er kämpfte mit dem Drang, Otogi am Kragen zu packen und kräftig durchzuschütteln.
 

»Denk schon«, antwortete Otogi schulterzuckend. Daraufhin klopfte Jounouchi ihm bekräftigend auf die Schulter.
 

»Gut«, sagte er, »Weil ich nämlich eine Aufgabe für dich habe.«

 
 

*

 

»Dieser Junge war eigenartig«, stellte Mahaad fest, als sich der Wagen wieder in Bewegung setzte.
 

»Das ist Japan«, entgegnete Atem. Mahaads Urteil überraschte ihn nicht. Deswegen schenkte er ihm nur so viel Beachtung, wie es der Anstand gebot. »Hier ist vieles anders.«
 

»Darauf wollte ich nicht hinaus.« Der penetrante Geruch von Fast Food, der sich im Wagen ausgebreitet hatte, schien Mahaad schneller gereizt zu machen als sonst. Wenig überraschend hatte er es nicht gestattet, direkt bei Burger World zu essen, weswegen Burger, Pommes und Softdrinks nun eine Stadtrundfahrt frei Haus erhielten. »Dieser Junge … er kam mir bekannt vor.«
 

Dieses Mal antwortete Atem nicht. Schweigend blickte er zum Fenster hinaus. Am Straßenrand zogen gewaltige Wolkenkratzer aus verspiegeltem Glas vorbei, doch Atem schenkte ihnen kaum Beachtung, obwohl sie ihn am Vortag noch fasziniert hatten. Er wusste, worauf Mahaad hinauswollte. Denn ihn hatte das gleiche Gefühl befallen. Irgendwie war ihm dieser Junge bekannt vorgekommen, obwohl er sich vollkommen gewiss war, ihm nie zuvor begegnet zu sein. Noch in Burger World hatte er versucht, ihn einzuordnen. Aber das hatte seine Kopfschmerzen bloß verschlimmert.

Als Mahaad sich abwandte, um den Straßenverkehr im Rückspiel im Auge zu behalten, presste Atem eine Hand gegen seine Stirn und die Zähne fest zusammen. Sie verfolgten ihn nun schon seit ihrer Ankunft. Er hatte nicht erwartet, dass der Jetlag so heftige Auswirkungen haben würde. Noch in der Nacht – und ohne Mahaads Wissen – hatte Atem eine Schmerztablette genommen, doch entweder wirkte sie nicht oder sie wirkte und er hatte ihren Zweck missverstanden. Denn wenn überhaupt so waren die Schmerzen bestenfalls unverändert geblieben. Er schloss die Augen und versuchte, sie zu vergessen.

 
 

*

 
 

Tal der Könige (Luxor), Ägypten, Tag 1

 

Das Tal der Könige lag nicht weit vom Wohnhaus der Familie Ishtar entfernt. Trotzdem waren im Osten bereits die ersten Anzeichen des bevorstehenden Sonnenaufgangs zu erahnen, als Marik es erreichte. Dort war der Himmel pastellfarben. Wie Ishizu es vorausgesagt hatte, herrschte eine für diese frühe Stunde ungewöhnliche Geschäftigkeit. Archäologen und Arbeiter wuselten emsig über das Areal. Es hatte etwas von einem sehr betriebsamen Ameisenhügel.
 

Marik ließ sein Motorrad am Rand des Tals stehen und bewältigte den Rest des Weges zu Fuß. Atems Grabkammer lag zwischen zerklüfteten Felswänden. Normalerweise waren hier nur sehr wenige Forscher unterwegs, was zweifelsohne Ishizus Einmischungen zu verdanken war. Sie musste irgendeine Sondergenehmigung erwirkt haben, die Ruhestörer fernhielt. Doch diese schien aufgrund des Unwetters außer Kraft gesetzt worden zu sein, denn bereits der Weg zur Grabkammer war ungewöhnlich stark frequentiert. Zwischen den in knöchellange, traditionellen Gewänder gekleideten Arbeitern wuselten vereinzelt Archäologen und Restauratoren in khakifarbenen Shorts und Hemden umher. Niemand von ihnen schien großartig Notiz von Marik zu nehmen, worüber er dankbar war, denn so hatte er Gelegenheit, die in den Felsen geschlagene Grabkammer von außen zu inspizieren. Da er erst am Vortag hier gewesen war, um die Geschenke zu übergeben, erwartete er, die Beschädigungen auf Anhieb zu erkennen. Doch er konnte nichts entdecken. Die Grabkammer schien äußerlich völlig unversehrt zu sein. Sie sah genauso aus wie am Vortag – eine fest im Felsen verankerte Gruft. Das war eigenartig. Als Ishizu Marik eröffnet hatte, dass Atems Grabkammer im Zuge des Unwetters beschädigt worden war, hatte er damit gerechnet, dass das Unwetter die umliegenden Felswände abgetragen oder ein Blitz eingeschlagen hatte. Aber dies war ganz offensichtlich nicht der Fall.

Marik schob sich an einen Schwarm Arbeiter vorbei, dir vor der Grabkammer Kriegsrat hielten, und trat ein. Endlich fand er die Beschädigung, von der Ishizus Kontaktmann gesprochen hatte. Die Innenräume waren komplett zerstört – als hätte man die gesamte Kammer einmal um die ganze Achse gedreht. Alles lag in Schutt. Einige tragenden Säulen waren in der Mitte umgeknickt wie Streichhölzer. Dadurch hatten die wenigen, die noch standen, die Last der Decke nicht mehr vollständig tragen können. Tiefe Risse zogen sich durch das Gestein; teilweise war die Decke eingestürzt und man hatte sie provisorisch mit Holzbalken stabilisiert, damit sie den umherstreunenden Arbeitern nicht auf die Köpfe fiel.
 

Marik spürte die Enttäuschung wie einen Stein in seinen Magen sinken und dort schwer liegen bleiben. Ishizus Informant hatte Recht. Die Schäden waren nicht zu reparieren. Aber vielleicht waren die hinteren Kammern in einem besseren Zustand. Das Unwetter hatte sie womöglich gar nicht erreicht.

Der Eingangshalle schloss sich die Kammer der Spiele an, wo bewaffnete Steinsoldaten einen labyrinthartigen Weg zur zentralen Königskammer bewachten. Vor dreitausend Jahren hätte man darin theoretisch Atems Körper beigesetzt, aber dieser war aufgrund des Bannes, mit dem Zorc und Atems Seele in das Puzzle gesperrt worden waren, vernichtet worden. Trotzdem … wenn sie halbwegs unbeschädigt war, dann war Atems Friede im Totenreich womöglich doch noch gewährleistet.
 

Aber Mariks Hoffnungen schrumpften, als er die Kammer der Spiele betrat. Auch dieser Raum war beschädigt worden. Hier waren die stützenden Säulen ebenfalls zerbrochen und die Decke einsturzgefährdet. Hinzu kam die Zerstörung der schmalen, steinernen Stege, die über eine endlose Schlucht geführt hatten. Sie waren verschwunden – genauso wie die schakalköpfigen Wächterstatuen, die auf ihnen platziert worden waren. Marik hatte so eine ungefähre Ahnung, welches Schicksal ihnen widerfahren war, und trat näher an den Abgrund. Er war so tief, dass man den Grund nicht sehen konnte.

Ernüchtert machte er einen Schritt zurück. Bei dieser Schwere der Beschädigung gab es wenig Hoffnung, dass die Königskammer nichts abbekommen hatte. Tatsächlich schien der Schaden hier sogar noch größere Ausmaße angenommen zu haben.

Dies ließ Marik stutzen. Irgendetwas stimmte hier nicht. Stirnrunzelnd nahm er die Kammer erneut in Augenschein. Wenn das Unwetter für die Zerstörung des Grabes verantwortlich gewesen war, dann hätten die Beschädigung außen und in der vorderen Kammer wesentlich gravierender sein müssen als im Inneren des Grabes. Aber das Gegenteil war der Fall. Die Schäden in der Kammer waren größer. Als hätte man sie nicht von außen, sondern von innen verwüstet …
 

Plötzlich riss Marik die Augen auf. Die Erkenntnis traf ihn wie ein Stein in den Nacken. Das Unwetter hatte das Grab nicht zerstört.
 

»Das darf nicht wahr sein! Verdammt!«
 

Er machte kehrt und rannte aus der Grabkammer.


Nachwort zu diesem Kapitel:
So! Bevor mich jemand wegen geschichtliche Unkorrektheit steinigt ... Mein Wissen über das antike Ägypten ist nicht so gigantisch. Gerade beim Totenkult steige ich nicht ganz durch, weswegen ich mich stellenweise auf die künstlerische Freiheit berufe ... aber hey, Yu-Gi-Oh! ist ohnehin nicht bekannt für seine geschichtliche Genauigkeit (oder Logik). Komplett anzeigen

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Kommentare zu diesem Kapitel (3)

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Von:  Kemet
2017-09-24T03:06:51+00:00 24.09.2017 05:06
Ich mag Deinen lebendigen Schreibstil, das ist schon einmal Fakt. Auch bin ich Atemu-kommt-wieder-Fanfics nicht abgeneigt.
Insgesamt also...
Jonouchi scheint hier etwas zum Kopf der Bande zu avancieren, was wohl mit daran liegt, dass Yugi momentan nicht so kann wie er will. Dieses versteckte Potenzial zu nutzen, ist gelungen. So wie die ganze Fanfic.
Mit Logik oder geschichtlicher Richtigkeit hat die Serie wenig zu tun, so eben auch nicht die Fanfic. Sei es drum, denn ginge man nach den Fakten, müsste man so einige Dokumentationen einschlägiger Sender verbieten und die Autoren nochmals lernen schicken. Mach Dir also nichts draus.
Ich finde die Fanfic gelungen und freue mich auf weiteren Input.

LG
Von: ShioChan
2017-09-17T20:35:39+00:00 17.09.2017 22:35
Tolles Kapitel. :)
Und schon wieder ein Cliffhanger. XD Ich lese auch ohne so was weiter, wenn mir eine FF gefällt. XDD

Jedenfalls tut Yugi mir leid. Zu erfahren, dass die Grabkammer seines besten Freundes zerstört wurde...
Aber ich hoffe es trifft bald auf den "neuen" Atemu.

Naja so ganz unkorrekt warst du gar nicht. Zwar ist es laut Totenkult der alten Ägypter, der Körper der erhalten bleiben muss, um ein Leben nach dem Tod zu gewähren, aber wiederum hat Atemu keinen Körper mehr, was das alles eh schon schwieriger macht. Doch am wichtigsten für ein Leben nach dem Tod war es, nicht vergessen zu werden, weshalb es das schlimmste für einen Pharao war, wenn sein Name aus der Geschichte gelöscht wurde, weshalb es sogar Priester gab, die einen Pharao verehrt hatten, der bereits Jahrzehnte tot war. Ob diesem Fall trifft das wohl eher für Atemu zu. Er wurde ja nicht vergessen... :)
Die Grabbeigaben waren in diesen Fall nur dazu da, damit der Pharao auch nach dem Tod ein Leben in Wohlstand Leben konnte. :) aber ich denke bei ygo lässt sich das besser so erklären, wie du es geschrieben hast. Anders hätte ich es auch nicht logisch erklären können. :) Also mach dir darüber keine Gedanken.

Ich bin schon sehr gespannt, wie das Aufeinandertreffen der Beiden werden wird. :)

Ach so, falls es dir hilft:
Ich habe mich früher sehr für das alte Ägypten interessiert bzw ich interessiere mich immer noch dafür, und habe deshalb sehr viele historische Romane und Fachbücher über das antike Ägypten gelesen. Falls du Also mal einen Rat brauchst oder so, dann kannst du gerne fragen. Ich werde dann versuchen, dir sie frage zu beantworten. :)

Frei mich schon auf das nächste Kapitel.

LG
Shio~
Von:  YuuShindo22
2017-09-17T19:28:35+00:00 17.09.2017 21:28
wah da haut es einen doch um o_o
das gesamte kapitel zeereist einen fast schon das herz qwq
oh bitte lass, Atem sich an alles wieder erinnern *_*
LG
Yuu


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