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Spherium

Puzzleshipping - Bromance
von

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Kapitel 3: Tag 2


 

Kapitel 3 – Tag 2

 
 

*

 
 

Tokyo, Japan, Tag 2

 

Mahaad beobachtete das grüne Taxi. Das hatte er bereits am Vortag getan. Schon da hatte er es nicht dem Zufall zugeschrieben, dass ihnen ein Wagen durch die riesige Stadt gefolgt war. Doch heute war er vollkommen überzeugt von dieser These. Jemand verfolgte sie.

Er zog sich von der Fensterfront zurück, die zwei Seiten des großzügig geschnittenen Raums einnahm – für japanische Verhältnisse war es beinahe riesig – und verließ ihn zügig. Seine Schritte machten ein rhythmisches Geräusch auf dem gewienerten Holzboden.

Die Wohnung war spartanisch eingerichtet – wie aus einem Katalog für teure, moderne Inneneinrichtung entsprungen. Es gab gerade so viel, wie notwendig war. Denn niemand würde hier viel Zeit verbringen.

Das Büro von Aknamkanon war der Ort, an dem es am wahrscheinlichsten war, eben jenen Mann anzutreffen, wenn dieser sich nicht in der Botschaft befand oder anderweitigen politischen Ereignissen beiwohnte. Vor der Tür aus Teakholz blieb Mahaad stehen, schloss die Augen und tat einen tiefen Atemzug, bevor er anklopfte. Als er eintrat, verneigte er sich tief. Ein heiseres, warmes Lachen erreichte Mahaads Ohren keinen Moment später.     
 

»Wie oft müssen wir noch darüber sprechen, Mahaad?«
 

Mahaad erhob sich, um einem amüsiert dreinblickenden Aknamkanon entgegenzublicken.
 

Atem und sein Vater besaßen äußerlich nur eine Handvoll Ähnlichkeiten. Wo Aknamkanon hoch gewachsen und breitschultrig war, da war Atem von kleiner und wenig muskulöser Statur. Atems Frisur war schrill und bunt, Aknamkanons Haare und Bart dagegen längst ergraut … Mahaad hätte diese Liste weiterführen können, tat es aber nicht. Denn so groß ihre äußerlichen Unterschiede waren, die Persönlichkeiten von Vater und Sohn glichen sich dafür wie Sandkörner in der Wüste. Mahaad wusste es nicht anders auszudrücken: Beide waren einfach gut. Gute, anständige Menschen.
 

»Ich bitte um Verzeihung«, entgegnete Mahaad und musste dem Drang widerstehen, sich erneut zu verneigen. Aknamkanon winkte ab. Er saß an einem Schreibtisch, der – wie auch der Rest der Möblierung – ein bisschen fremd in diesem Jahrhundert wirkte. Die gesamte Einrichtung war aus edlem, lasiertem Holz gefertigt worden. Es gab hohe, verschnörkelte Regale, in denen ehrwürdige Folianten standen, und ein Farnengewächs, das in einem verzierten Topf in einer Ecke stand. Alles wirkte entsprechend kostspielig. Lediglich ein Laptop, dessen Lüftung leise surrte, war das einzige Zugeständnis an dieses Jahrtausend.
 

Mahaad lenkte seine Aufmerksamkeit wieder auf Aknamkanon, der ihn mit stiller Erwartung musterte. Wissend, dass ihm das Wort erteilt war, begann Mahaad zu berichten, was ihm aufgefallen war. Er berichtete von dem jungen Mann, der sie Burger World angesprochen hatte und der Mahaad so vage bekannt vorgekommen war, obwohl er überzeugt war, ihm nie zuvor begegnet zu sein … dann dass Taxi, welches ihnen am Vortag gefolgt war … und nun stand erneut ein Taxi vor dem Gebäude. Aknamkanon hörte zu ohne ihn zu unterbrechen. Nachdenklich strich er sich über seinen ergrauten Bart. Als Mahaad seinen Bericht beendete, fragte er: »Dasselbe Taxi?«   
 

»Nein«, antwortete Mahaad. Er hatte die Frage erwartet und setzte hinzu: »Auch nicht der gleiche Fahrer. Ich konnte ihn beobachten, als er ausstieg, um zu rauchen.«
 

»Der Fahrgast?«
 

»Möglicherweise. Heute hatte ich noch keinen Blick auf ihn; gestern war es ein junger Mann, vermutlich noch ein Teenager. Er …« Mahaad zögerte. Da dieses Gebaren im höchsten Maße ungewöhnlich war, war ihm Aknamkanons Aufmerksamkeit gewiss. Mahaad räusperte sich, bevor er erneut sprach: »Nun, er … Seine Erscheinung war eher ungewöhnlich. Er trug Würfel als Ohrringe.« Mahaad verzog bei der bloßen Erinnerung ein Gesicht, als sei diese ungewöhnliche Modemacke eine Erscheinung einer kurz bevorstehenden Apokalypse. Aknamkanon jedoch amüsierte sich – in der ihm eigenen majestätischen Art. »Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, es könnte auch ein Bekannter meines Sohns gewesen sein. Atem umgibt sich gerne mit Exzentrikern.«
 

Allein die Bemerkung dieser leidigen Angewohnheit Atems ließ Mahaads Gesichtsausdruck gewittrig werden. Mana, schoss es ihm griesgrämig durch den Kopf. Doch er äußerte diesen Gedanken nicht laut. Er wartete eine Entscheidung Aknamkanons ab. Der fuhr sich erneut mit einer Hand über den Bart. Er ließ sich den Bericht abermals durch den Kopf gehen, wog jede mögliche, weitere Handlung ab.
 

»Bisher ist noch nichts geschehen«, sprach Aknamkanon schließlich, »also unternimm vorerst nichts.«
 

»Ja«, antworte Mahaad.
 

»Aber behalte die Lage im Auge. Wenn du denkst, es sei notwendig, dann greife ein.«
 

»Natürlich.« Mahaads Antwort war so steif wie die Körperhaltung eines Soldaten beim Salut.
 

Aknamkanon nahm es unkommentiert hin. Er schien zufriedengestimmt. Dann fiel sein Blick auf die Uhrzeitanzeige des Computers … und er seufzte. Offenbar war es an der Zeit, aufzubrechen. Er erhob sich, der Rechner wurde zugeklappt und etwaig benötigte Unterlagen geordnet. Mahaad machte sich bereit, sich zurückzuziehen, nun das er seine Anweisungen erhalten hatte. Doch als er sich zum Gehen wandte, wurde er zurückgerufen.
 

»Einen Moment noch, Mahaad.«
 

Mahaad blieb unmittelbar stehen. Er musste dem Impuls widerstehen, nicht niederzuknien. »Ja?«
 

»Hat Atem euren Verfolger bemerkt?«
 

»Nein, er hat keine Ahnung«, sagte Mahaad und fügte in Gedanken hinzu, dass dies keineswegs seinem Geschick oder Fähigkeiten zu zuschreiben.
 

Aknamkanon nickte. Inzwischen hatten sich auf dem zusammengeklappten Laptop mehrere Pappordner gestapelt. »Sehr gut. Sofern es möglich ist, sollte dies unverändert bleiben. Denn wir beide kennen meinen Sohn … du möglicherweise sogar besser als ich es tue.« Bei dieser Bemerkung zog ein eigentümlich vergrämter Ausdruck über sein Gesicht. Mahaad wusste, warum.

Aknamkanons berufliche Pflichten spannten ihn sehr ein, dementsprechend begrenzt war seine freie Zeit – auch die für seinen Sohn. Soweit Mahaad informiert war, hatten sie vor drei Monaten zuletzt von Angesicht zu Angesicht miteinander gesprochen.

»Von daher«, sprach Aknamkanon weiter, »wäre es mitnichten von Vorteil, wenn Atem etwas von dem erführe, was wir eben besprochen haben ... Ich fürchte, er fände die Situation eher faszinierend als besorgniserregend.«

 

Mahaad grimassierte. Dieser Gedanke war ihm ebenfalls schon ereilt. Und wie Aknamkanon war auch er zum gleichen Schluss gekommen. Mit Sicherheit würde Atem »Vergnügen« an dieser Sache finden. »Ich verstehe. Natürlich. Ich werde diskret vorgehen.«
 

»Sehr gut.« Aknamkanon nahm Laptop und Unterlagen vom Schreibtisch und offenbarte ein wohlwollendes Lächeln. »Ich danke dir, mein Freund.«
 

Mahaad war so erschüttert ob dieser Dankesworte, dass er sogar vergaß, den Abschiedsgruß zu erwidern, als Aknamkanon das Büro verließ. Er war tatsächlich bewegt.

 
 

*

 

Der Wagen bewegte sich in einem kriechenden Tempo durch die Innenstadt. Der Berufsverkehr hatte sämtliche Straßen verstopft. Dies machte es leichter, das Taxi nicht aus den Augen zu verlieren, welches sie verfolgte. Mahaad versicherte sich regelmäßig im Rückspiegel. Gleichzeitig war er bemüht, andere Ungewöhnlichkeiten aufzuspüren.
 

»Meinst du nicht, du übertreibst?« Atem hob provokant eine Augenbraue und grinste schief. Wie Mahaad saß er auf der Rückbank des Wagens. Allein der Umstand, dass sie sich auf den Weg zu einer Schule befanden, die einen nicht unerheblichen Monatsbetrag einforderte, hatte ihn nicht davon überzeugen können, sich einen anderen Kleidungsstil anzueignen. Er trug die übliche unorthodoxe Kleidung bestehend aus zu viel Leder, Nieten und Ösen. Das war die Krux an einer privaten Schule, die sich in einem Land befand, wo ein ohnehin schon autoritäres Schulsystem herrschte – man versuchte, den zahlenden Eltern Neuartiges zu bieten.
 

»Ich habe meine Anweisungen«, entgegnete Mahaad, »Wie du sehr genau weißt.« Zumindest teilweise.
 

»Wir wären aber deutlich schneller, wenn wir die U-Bahn nehmen …«
 

»Keine Chance.«
 

Mahaad entging nicht, wie Atem sich ein Stöhnen verkniff und mit den Augen rollte. Er wusste, wie sehr ihn diese ständige Überwachung frustrierte. Aber sie war notwendig. In Ägypten gab es zu viele Unruhen. Das politische System war instabil; mehrere Gruppierungen kämpften um die Vorherrschaft. Bei den wenigsten war Aknamkanon beliebt. Sie wollten seinen Einfluss, den er auf inländische wie ausländische Politik besaß, doch seine Einstellungen wurden als zu liberal und weltoffen verteufelt. Doch falls jemand das richtige Druckmittel in die Hände fiele …
 

Ein weiteres unterdrücktes Stöhnen beendete Mahaads Gedankengang. Atem hatte Augen wie Lippen fest zusammengepresst, mit dem Handballen rieb er sich über die Stirn. 
 

Mahaads Mund wurde schmal. »Wie schlimm ist es?«
 

»Was?«, fragte Atem abwesend. Er zog rasch die Hand zurück. Es war fast überzeugend.
 

»Deine Schmerzen«, präzisierte Mahaad, »Wie schlimm sind sie?«
 

Atem zögerte eine Antwort hinaus. Mahaad sah den Kampf, den Stolz und Loyalität in seinem Inneren ausfochten, sich auch in seinen Augen widerspiegeln. Er wollte es leugnen und gleichzeitig die Wahrheit sagen. Er entschied sich für Letzteres.
 

»Ich nahm an, diese Kopfschmerzen kämen vom Jetlag. Daher hatte ich gehofft, sie wären spätestens heute vorüber. Aber bestenfalls sind sie über Nacht nicht schlimmer geworden.«
 

»Eine Erkältung?«
 

»Ich denke nicht. Abgesehen von den Kopfschmerzen geht es mir gut.« Atem fuhr sich mit einer Hand über die Stirn, als wolle er sicherstellen, dass sein Schädel noch nicht geborsten war.
 

»Soll ich den Fahrer bitten, an einer Apotheke anzuhalten?«
 

»Ach …« Atem gewann sich ein spöttisches, gleichwohl leicht schmerzverzerrtes Lächeln ab. »Verstößt das nicht gegen deine Anweisungen?«
 

Mahaad strafte ihn mit einem frostigen Blick ab. Atem kniff den Mund zusammen, dann fummelte er aus seiner Hosentasche einen zerknitterten Tablettenblister. Er hielt ihn Mahaad zur Inspektion hin. Drei Tabletten waren bereits aus der Zehnerpackung herausgedrückt worden. Aspirin. Als Mahaad nickte, verstaute er den Blister wieder.

Sie fuhren weiter ohne ein Wort zu verlieren. Atem hatte sich dem Seitenfenster zugewandt und beobachtete, wie Passanten an ihnen vorbeihasteten. Schüler in ihren Schuluniformen, Büroangestellte in ihren Anzügen und Kostümen. Fahrradkuriere schlängelten sich mit waghalsigen Manövern durch den Berufsverkehr.
 

»Wirst du meinem Vater davon erzählen?«
 

Die Frage ereilte Mahaad keineswegs überraschend. Auch er hatte sich darüber bereits Gedanken gemacht. Schweigend sah er Atem an, doch der erwiderte nicht den Blick. Er beobachtete das Geschehen außerhalb des Wagens.
 

»Vater hat genügend Dinge um die Ohren, die seine volle Aufmerksamkeit fordern. Ich möchte vermeiden, dass er sich von einer solchen Banalität ablenken lässt.«
 

Mahaad ließ es sich durch den Kopf gehen. Atems Argumentation war durchaus plausibel.
 

»Einverstanden«, erklärte er schließlich, »Ich werde ihm nichts erzählen … solange es die Situation nicht erfordert … und du mir versprichst, mich zu informieren, falls du dich nicht besser fühlst.«
 

Weil Atems Gesicht sich auf der getönten Scheibe spiegelte, entging Mahaad nicht der widerstrebende Ausdruck, der sich darauf abzeichnete. Seine Lippen kräuselten sich.

Es hätte nicht deutlicher sein können, dass er sich niemals an diese Abmachung halten würde.
 

*

 
 

Luxor, Ägypten, Tag 2

 

Marik hatte nicht bemerkt, wie viel Zeit vergangen war. Als er von der Inspektion der Grabkammer zurückgekehrt war, hatte er seinen Geschwistern einen kurzen Abriss dessen gegeben, was er festgestellt hatte, und sich dann unmittelbar in die Bibliothek zurückzuziehen. Fortan hatte er seine Umgebung ausgeblendet. Und das, wie er viel später feststellte, ausgesprochen erfolgreich.  
 

Die Bibliothek war Bestandteil ihres Clans, seit sich dieser in den Dienst des Pharaos gestellt hatte. Über die vergangenen drei Jahrtausende hinweg hatten hier allerlei Schriften einen Unterschlupf gefunden. Sie umfasste Protokolle überlieferter Rituelle, Abhandlungen zu magischen Prozessen und Anwendungen sowie einen umfassenden Codex zu den Verhaltensweisen eines Clanwächters sowie – seit Marik sich der Verwaltung angenommen hatte – mehrere Ausgaben von Marvel-Comicheften, einige aus Japan mitgebrachte Mangas und die ersten drei Bände von Harry Potter.

Auch war die Bibliothek inzwischen umgezogen. Aus einen dunklen Verlies in den Katakomben eines stillgelegten Brunnenschachts in ein halbwegs komfortabel eingerichtetes Zimmer in ihrem Anwesen nahe Luxor.
 

An diesem Ort verbrachte Marik viel Zeit, gewöhnlich um sich den deutlich zeitgenössischeren Werken hinzugeben. Doch heute hatte er sich andere Literatur herausgesucht. Zahllose Bücher hatte er aus den Regalen geholt. Schwere, in ledergebundene Folianten, die man schon vor Jahrhunderten verfasst hatte. Teilweise waren die Seiten noch aus Papyrus, die Texte mit Hand geschrieben und kaum noch dechiffrieren. Marik musste sich tief über die Bücher lehnen, um sie lesen zu können. Es war schon einige Jahre her, dass er Altägyptisch gelesen hatte. Seine Kenntnisse waren eingestaubt. Er musste sich konzentrieren; nicht selten bewegten sich seine Lippen, um Worte zu formen, die im Kontext gesehen vielleicht Sinn ergaben. Er suchte nach einer Erklärung. Es musste einen Grund geben, weshalb Atems Grabkammer von innen heraus in Schutt und Asche gelegt worden war. Davon war er überzeugt. Er meinte sogar, schon einmal von einem solchen Phänomen gelesen zu haben. In einem dieser Bücher hatte etwas dazu gestanden. Nur war es Jahre her, dass er sich zuletzt damit beschäftigt hatte.

Nachdem er das zehnte Buch durchforstet und noch kein Ergebnis hatte, begann Marik, sich wirklich zu ärgern. Sein Gesicht verzerrte sich zu einer ungeduldigen Grimasse. Frust war etwas, womit Marik eher schlecht umgehen konnte. Er wusste das. Er konnte es nicht ändern.

An seinen Händen traten Adern, Venen und Sehnen hervor. Er schlug das Buch zu, holte aus und fegte es mit einer Armbewegung schwungvoll vom Tisch. Es flog in einem hohen Bogen durch den Raum, ehe es an eine Wand klatschte. Nur wenige Zentimeter von Rishids Gesicht entfernt, der mit hochgezogener Augenbraue auf ein kläglich am Boden liegendes Buch niederblickte.  
 

»Darf ich fragen, was dir …« Er las den Titel. » … Ahmoses drittes Theorem zum Jenseits getan hat?«
 

»Es hat mir die falschen Antworten gegeben«, sagte Marik frustriert.
 

»Hast du denn die richtigen Fragen gestellt?« An Rishids Lippen zupfte die vage Andeutung eines verkümmerten Lächelns, bevor er die unzähligen Bücher bemerkte, die Marik um sich herum aufgetürmt hatte. Er studierte die Schriften auf den Rücken und Einbänden. »Wonach suchst du?«
 

»Nach etwas, dass mir erklärt, was los war …«, gab Marik frustriert zurück. »Das war kein Unwetter, das Atems Grabkammer zerstört hat. Jedenfalls kein gewöhnliches. Da ist was anderes passiert.«
 

»Was ist deine Vermutung?«, fragte Rishid sofort. Marik kam nicht umhin, ihn für seine Loyalität zu bewundern. Er verbarg seine Zweifel nicht. Das konnte er gar nicht, denn sie existierten nicht.   
 

»Die Schäden im Grab waren größer als die außerhalb«, erklärte Marik, »Deswegen glaube ich, dass die Verwüstung sich von innen nach außen bahngebrochen hat.«
 

»Von innen? Aber wie?«
 

Marik zuckte mit den Achseln. »Keine Ahnung.«
 

»Und das Unwetter?«, fragte Rishid weiter, »Du sagtest, es sei kein gewöhnliches Gewitter gewesen …«
 

»Das nehme ich jedenfalls an.« Marik lehnte sich zurück, wobei er die Füße gegen die Tischkante stemmte. Er wippte auf den Hinterbeinen seines Stuhls vor und zurück. »Ich schätze, was auch immer die Schäden ausgelöst hat, hat auch das Unwetter heraufbeschworen. Es war somit nicht der Grund der Zerstörung, sondern bloß eine Begleiterscheinung der echten Ursache.«
 

Rishid gab einen langgezogenen, nachdenklich Laut von sich. Marik wusste, dass diese Art der Artikulation bei seinem Bruder jede mögliche Bedeutung haben konnte … von einer Bekundung seines Interesses an einem Thema bis hin zu einem versteckten Hinweis darauf, dass er längst die Lösung des Rätsels parat hatte und man ihn nur noch danach fragen musste. Er sah ihn abschätzig an. »Fällt dir dazu was ein?«
 

»Hm …«, machte Rishid.
 

Marik fiel es schwer, nicht die Augen zu verdrehen. »Raus mit der Sprache.«
 

»Hm …«
 

»Rishid …!«, knurrte Marik warnend. Manchmal, ja, nur manchmal, da glaubte er wirklich, sein Bruder täte dies alleinig, um ihm damit gehörig auf den Keks zu gehen.
 

Rishid schwieg einen Augenblick. In seinen Augen ruhte ein eigenartig distanzierter Ausdruck, als wären seine Gedanken in eine fremde Welt eingekehrt. Dann sagte er: »Ra.« Mehr nicht.
 

Marik wollte schon aus der Haut fahren und ihm einige nicht sehr angemessen Worte an den Kopf schleudern, als ihm klar wurde, dass Rishid ihm diesmal tatsächlich eine Antwort gegeben hatte, gleichwohl deren Informationsgehalt nicht unbedingt seinen Ansprüchen genügte.
 

»Ra«, wiederholte er hohl, »Der Gott Ra
 

»Genau der«, sagte Rishid und plötzlich sah er Marik abschätzig an, »Erinnerst du dich nicht?«
 

»Erinnern?« Marik klang verblüfft. Er zog eine Augenbraue hoch. »Woran soll ich mich erinnern?«
 

Rishid gab ihm keine Antwort. In seinen dunklen, warmen Augen zeichnete sich eine Mischung aus Trauer und Skepsis ab. Er wandte den Blick ab und tat einen schwerfälligen Atemzug.

»Wir haben damals Ra gefälscht … für das Battle City Turnier. Wir wollten damit-«
 

»-Kaiba und Atem täuschen, ja …«, beendete Marik den Satz. Er konnte sich erinnern … zu seinem größten Bedauern. »Ich wollte ihr Vertrauen gewinnen. Also habe ich eine falsche Identität angenommen … und damit sie keinen Verdacht schöpften, hast du dich als Marik ausgegeben. Dafür brauchtest du natürlich den geflügelten Drachen des Ra … Aber ich wollte dir meine Karte nicht geben, also haben wir eine Kopie angefertigt.«
 

Rishid nickte, wobei die Bewegung so langsam war, als liefe sie in Zeitlupe ab. Sein Blick war merkwürdig leer geworden. »Schließlich habe ich die Karte gespielt, in meinem Duell mit Jounouchi. Zunächst nahmen wir an, es sei geglückt, denn Ra erschien, aber dann …«
 

»… kam das Unwetter.« Marik hatte die Augen weit aufgerissen. Er konnte die Situation noch deutlich vor sich sehen. Bevor Rishid Ra beschwor, da war der Himmel über Domino klar gewesen. Man hatte sogar die Sterne sehen können – allerdings nur, weil Kaiba es nicht hatte lassen können, dass Turnier auf einem protzigen Luftschiff auszurichten, welches weit über dem künstlichen Lichtermeer der japanischen Metropolregion geschwebt war. Aber dann, als Ra auf das Feld berufen wurde, hatte sich der Himmel plötzlich zugezogen. Schwarzen Wolken hatten die Sterne verhangen und aus Ras goldenem Körper waren Blitze gen Boden niedergefahren. Es waren eigenartige Blitze gewesen und wie zielgerichtet sie auf Rishid und Jounouchi zugeschossen waren … Marik wusste noch, was er damals gedacht hatte, als er dort oben auf dem Deck ausgeharrt hatte, den Millenniumsstab fest hinter seinen Rücken haltend. Um ihn herum waren Schreie und Rufe ausgebrochen. Panik. Nur Marik war ruhig geblieben. Denn sein Geist hatte sich an ein altes Buch erinnert, welches er noch als Junge gelesen hatte. Eine alte Überlieferung, wonach …
 

»Du bist ein Genie!«, sagte er und sprang so schnell auf, dass er seinen Stuhl nach hinten umwarf. Er rannte durch von Regalen flankierte Gänge.

Jetzt wusste er, welches Buch er brauchte. Er blieb in einer hinteren Reihe stehen, riss zielstrebig ein Buch aus einem Regal und war an seine Ausgangsposition zurückgekehrt, bevor Rishid überhaupt einen Schritt getan hatte.

Marik blätterte das Buch durch. Das war es. Nach diesem Buch hatte er gesucht. Er schlug die Seiten um, immer mehrere auf einmal. Gleich, dachte er begierig. Gleich hatte er die Stelle, nach der er …

»Da!«, rief Marik und musste sich einen triumphalen Jubelschrei samt hochgestreckter Faust verbeißen, als er die Seite fand. Auf ihr stand nicht viel. Nur ein paar Zeilen. Doch mit jedem Wort, das Marik lass, da spürte er, wie sein Puls in die Höhe schnellte. Wie sein Herz lauter und kräftiger in seiner Brust schlug und sein Atem wurde abgehackter. Wenn das stimmte … wenn das wirklich stimmte, was dort geschrieben stand, dann … Seine Gedanken drehten sich. Überschlugen sich. Eine Freude, von der er vor ein paar Stunden noch nicht einmal zu hoffen gewagt hatte, sie in nächste Zeit überhaupt zu empfinden, flutete seinen Verstand. Plötzlich war er euphorisch. Voller Zuversicht. Endlich würden die Dinge sich ins Gute verkehren. Nicht für ihn. Sein Leben verlief längst wieder in geoordneten Bahnen. Aber für Yugi, denn … Er ist wieder da. Er ist wieder da.
 

»Wer ist wieder da?«
 

Marik hatte nicht bemerkt, dass ihm diese letzten Worte laut entfahren waren und Rishid ihn sorgenvoll ansah. Vielleicht glaubte er, Marik sei verrückt geworden … oder wenigstens verrückter, als er es zuvor gewesen war. Aber das hätte ihn kaum weniger tangieren können.
 

»Atem«, sagte er hastig, »Atem ist zurück.«
 

Und bevor Rishid auch nur einen Ton hervorbrachte, da drückte Marik ihm das Buch vor die Nase.
 

»Lies das, dann verstehst du es.«
 

Rishid las … und seine Augen flogen so weit auf, dass Marik sich zu jedem anderen Zeitpunkt ganz köstlich darüber amüsiert hätte. Aber nicht jetzt.
 

»Verstehst du?«, fragte er eindringlich. Er wollte Rishid am Kragen packen und ihn schütteln. Ihm sofort eine Antwort entlocken. »Verstehst du, was das bedeutet …?«

 

»Ich …« Rishids Stimme war rau. Er zögerte, dann nickte er. »Ja. Ja, ich verstehe es … und ich glaube es.«
 

Marik hätte einen Luftsprung machen können. Doch dafür hatte er keine Zeit. Jetzt mussten sie handeln. Ein Plan musste her, zügig. Denn womöglich blieb Atem nicht viel Zeit.

 
 

*

 
 

Domino, Japan, Tag 2

 

»… Tja, und das war’s«, sagte Otogi, »Seit Atem von dieser Schule zurück ist, habe ich ihn nicht mehr gesehen. Ich denke auch nicht, dass sich heute daran noch was ändert.«
 

Jounouchi klemmte sich das Telefon zwischen Schulter und Ohr, um auf seine Armbanduhr zu blicken. Es war kurz nach 21 Uhr. Vermutlich hatte Otogi recht. Wenn er bis jetzt nicht wieder in Erscheinung getreten war, dann würde er es auch heute wohl nicht mehr tun.
 

»Alles klar, Mann«, entgegnete Jounouchi und nahm das Handy wieder in die Hand. »Danke für deine Hilfe, du bist ein echter Freund.«
 

»Ja, ein Freund, dem du jetzt 100.000 Yen schuldest.«
 

Jounouchi verschluckte sich und hustete. »Bitte, wie viel?«, krächzte er ins Telefon.
 

»Was glaubst du, wie viel ein Taxi für anderthalb Tage kostet?«
 

Jounouchi konnte Otogis durchtriebenes Grinsen und seine hochgezogenen Augenbrauen vor sich sehen und er fasste das Telefon fester, weil seine Hand vor unterdrücktem Zorn bebte. »Du mieser, geldgieriger-«
 

»Aber was soll’s«, unterbrach ihn Otogi leichthin, »Ich verrechne es dir mit dem Hochzeitsgeschenk, dass du mir machen wirst, sobald Shizuka und ich heiraten. Also, man sieht sich.« Und er legte auf, bevor Jounouchi ihn durch die Telefonleitung hindurch erwürgen konnte. Er starrte sein Handy verächtlich an, sein Griff so fest, dass es verwunderlich war, dass das Display nicht zersprang. Dieser dreckige …

Jounouchi tat einen tiefen Atemzug. Jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt, um sich über diesen arroganten Mistkerl aufzuregen. Er würde ihm später eine runterhauen.
 

Er steckte das Handy zurück in eine Jackentasche und lehnte sich gegen die Fassade eines Elektronikgeschäfts. Die angrenzende Straße war verstopft und lärmig. Die letzten Berufspendler fuhren nach Hause. Jounouchi versuchte, den Krach auszublenden und einen Plan zu entwickeln. Das war nicht gerade sein Spezialgebiet. Seine Entscheidungen fällte er eher aus dem Bauch heraus, aber jetzt, da brauchte er eine richtige Strategie.

Otogi hatte Atem seit ihrer Begegnung in Burger World „beschattet“ und tatsächlich ein paar Informationen zusammengetragen. Er wusste jetzt, wo Atem lebte und auf welche Schule er ging … und dass er quasi nie unbeobachtet war. Ständig wurde er von einem Schwarm seiner ehemaligen Hohepriester – vor allem diesem Mahaad – umschwirrt. Das machte es fast unmöglich, mal mit ihm zu sprechen oder überhaupt an ihn heranzukommen.

Nein, es musste eine Möglichkeit geben. Jounouchi schlug sich heftig mit der flachen Hand gegen die Stirn. »Na los, denk nach! Denk! Denk! Denk!« Er zog eine Grimasse, während er sich das Hirn zermarterte.

Atem ging zur Schule. Das war ein ziemlich befremdlicher Gedanke. Schließlich waren sie früher zusammen auf der High-School gewesen …
 

»Oh!«, entfuhr es ihm plötzlich und er hielt, die Hand kurz vorm nächsten Schlag, inne. Die Augen hatte er weit aufgerissen. Natürlich!

Atem konnte schlecht die einzige Person sein, die diese Schule besuchte. Dort musste es noch andere Menschen geben, Mitschüler und Lehrer. Atem war also nicht völlig abgeschottet. Er hatte Kontakt zu anderen Personen … in der Schule.
 

Jounouchi rief sich alles in Erinnerung, was ihm Otogi darüber erzählt hatte. Es war keine öffentliche Schule. Man besuchte sie nur, wenn man der Nachwuchs von Leuten war, die Jounouchi gern als großkotzige Mistkerle bezeichnete.  
 

Und wie es der Zufall so wollte, kannte Jounouchi den großkotzigsten Mistkerl, den diese Welt zu bieten hatte. 


Nachwort zu diesem Kapitel:
Huhu!
Ist hier noch jemand? :P

Zunächst ein fettes Dankeschön an all diejenigen, die so liebe und helfende Kommentare dagelassen haben. Es tut mir leid, dass ich nicht jedem von euch einzeln danke ... Leider fällt mir diese Form der Kommunikation aufgrund meiner Erkrankung nicht immer leicht. Ich kann also auch für die Zukunft in dieser Hinsicht kaum Besserung versprechen. Aber ihr sollt wissen, dass ich mich wirklich, wirklich sehr über eure Rückmeldungen freue. Und sollten Fragen oder Unklarheiten, die nicht absichtlich eingebaut wurden, aufkommen, beantworte und korrigiere ich diese gerne. :)

Als nächstes ... Möp, ich habe keine Ahnung, wie lange ich für das nächste Kapitel brauchen werde. ^-^" Komplett anzeigen

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Kommentare zu diesem Kapitel (3)

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Von:  Dragamin
2018-04-13T20:34:21+00:00 13.04.2018 22:34
Hab deine Story eigentlich nur durch Zufall gefunden, aber ich mag die Geschichte. ist nicht persönlich gemeint aber mir sind die meisten Storys dieser Art meistes zu vorhersehbar und/oder schnulzig.
Deine sticht heraus.
eine Story nach der eigentlichen Story - sie hat eigenen Charakter. ;) hoffe du kannst das neu Kap bald hochladen
gruß Draga
Von: ShioChan
2018-04-06T17:26:36+00:00 06.04.2018 19:26
Yay es geht weiter. *_____*
Ich hab mich so gefreut, als ich das gesehen habe... leider bin ich aufgrund Zeitmangels erst jetzt zum Lesen gekommen. Aber ich mag deinen Schreibstil wirklich sehr. Es macht einfach Spaß zu lesen, was du dir ausgedacht hast.

Es ist interessant zu lesen, wie du die Charaktere interagieren lässt und das du dabei auch deren Verhältnis zueinander im alten Ägypten berücksichtigst... in dem Fall auf die Szene mit Akunumkanon und Mahaado bezogen.

Wie Marik verkrampft versucht hat dieses Buch zu finden, war cool und Rishids Reaktion. XD Ich konnte mir das richtig bildlich vorstellen.
Aber warum hat Atemu nicht mehr viel Zeit? O___o Das wird noch spannend.

Auch finde ich die jede cool, dass Ootoki Atemu einen ganzen Tag gefolgt ist. XD Und dann Jonouchis Reaktion auf dessen Rechnung oder der Bemerkung, dass er Shizuka heiraten will. Ich kann mir richtig vorstellen, wie jonouchi da kurz vorm ausflippen war. XD

Ich ahne, welchen reichen und großkotzigen Mistkerl Jonouchi meint. XD Und irgendwie ahne ich auch dessen Reaktion auf die Hiobsbotschaft, wenn er ähnlich reagieren wird, wie im Film. Haha xD

Ich hoffe ja, das Yugi bald auch in den Genuss kommt Atemu wieder zu sehen. Und ich bin schon sehr gespannt, wie er reagieren wird...

Überanstreng dich nicht. Schreib, wenn du Zeit hast. :) Ansonsten gute Besserung.

Ich freue mich schon auf das nächste Kapitel.
LG
Shio~
Von:  Glamorous91
2018-04-02T17:32:08+00:00 02.04.2018 19:32
Juhu es geht weiter ♡
Icz bin gespannt wie Yugi reagiert wenn er bemerkt das Atemu wieder da ist.


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