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Abgründig

von

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Lange sprach keiner von ihnen ein Wort. In David rumorte es, alles fiel durcheinander. Im einen Moment fühlte er sich wie leergefegt, im nächsten wusste er nicht, welchen Gedanken er zuerst verfolgen sollte, so viele davon rasten durch seinen Kopf.
 

Gabriel schwang seine Beine, die über der Armlehne des Sessels gebaumelt hatten, zurück auf den Boden und setzte sich auf. Er beugte sich vor, streckte seinen Arm aus und griff über den Tisch nach David. David schreckte zusammen, fuhr zurück und entging so Gabriels Hand. Sein Herz schlug auf einmal doppelt so schnell wie davor, während er auf die Finger starrte, die vor ihm in der Luft verharrten. Der Maler runzelte die Stirn.
 

„Dein Glas … Es ist leer. Ich wollte …“ Gabriel ließ den Arm sinken und senkte den Blick. „Ich hab dir doch schon gesagt, ich bin nicht wie er. Ich werde dir nichts tun.“ Er schnalzte mit der Zunge. „Auch wenn ich durchaus ernst meine, was ich vorhin gesagt habe. Aber …“ Jetzt fixierte er David mit einer derart eindringlichen Miene, dass dieser gar nicht anders konnte, als den Blick zu erwidern. „Ich werde mich hüten, das letzte Bisschen deines Selbst, das du dir bewahrt hast, zu zerstören. Also bitte …“ Gabriel presste für einen kurzen Moment seine Lippen aufeinander. Einen Moment, in dem er ungewohnt verletzlich wirkte. „Verschließ dich nicht vor mir. Weis mich nicht ab.“
 

David atmete schwer, seine Brust hob und senkte sich merklich. Jetzt brachte ihn dieser Maler schon wieder komplett durcheinander, auch ohne seine spöttische Art. Das war … verwirrend. Dieses ständige auf und ab der Gefühle! Wie sollte man so etwas aushalten? Wenn David jetzt in Gabriels dunkle Augen blickte, fühlte er sich irgendwie schuldig. Er suchte nach den passenden Worten. „Ich …“ Er senkte den Kopf, sah seine Finger, die um das leere Wasserglas gekrampft waren. Er zwang sich, locker zu lassen, und brachte es mit einiger Mühe fertig, das Glas leise auf dem Tisch abzustellen. „Entschuldige, Gabriel, ich … weiß nicht, was ich sagen soll.“ Seine Stimme klang eigentümlich belegt und wie aus weiter Ferne. „Ich bin so durcheinander.“
 

„Das ist dann wohl meine Schuld.“ Gabriel zeigte schon wieder ein schiefes Grinsen und weckte David damit aus seiner Passivität, zumindest ein wenig. David hob die Augenbrauen und war sich sicher, dass wenigstens seine Skepsis ob dieses Ausspruchs in diesem Moment deutlich wurde. Er brauchte etwas Zeit für sich, Zeit zum Durchatmen.
 

„Gabriel, kann ich kurz mal dein Bad benutzen?“
 

„Sicher. Da lang.“ Gabriel deutete auf die Tür, die hinter der Küche von dem geräumigen Wohnbereich abging. Mit einem leicht schwammigen Gefühl in den Beinen stakste David darauf zu und atmete auf, als er die Tür hinter sich schloss. Das hatte er davon, dass er solch unüberlegten, spontanen Ideen nachging. Warum war er wirklich hergekommen? Doch nicht wegen eines entgangenen Espressos.
 

Es musste wegen Gabriel sein. Da war etwas an diesem Menschen, das sein Interesse weckte. Eine Art Neugier, wobei er diese nicht so recht einzuordnen wusste. Und genau so wenig war ihm klar, was Gabriel umgekehrt von ihm wollte, von ihm erwartete. Der Maler hatte von Lust gesprochen … David war zwar nicht komplett blöd, aber so richtig konnte er sich das nicht vorstellen; das ergab doch keinen Sinn.
 

Um überhaupt irgendetwas zu tun, ging David schnell auf die Toilette und wusch sich anschließend die Hände. Dann klatschte er sich ein paar Handvoll Wasser ins Gesicht und hoffte, dadurch ein wenig klarere Gedanken zu bekommen. Es war wohl besser, wenn er erst einmal wieder nach Hause ging. Er war schon viel später dran als sonst und hatte zudem einen längeren Heimweg als nur von der Innenstadt nach Hause.
 

Er musterte sein Gesicht im Spiegel über dem Waschbecken. Es sah aus wie immer – er sah aus wie immer. Vielleicht hatte er leichte Schatten unter den Augen, aber ansonsten war ihm sein aufgewühltes Inneres überhaupt nicht anzusehen. Gut so. Und abgesehen von der Sache eben, von Gabriels wenig überraschend unberechenbarem Verhalten, war da immer noch die Sache mit diesem Bild. Das Gesicht des Mädchens verfolgte ihn beinahe wie ein Geist, spukte ohne locker zu lassen in seinem Kopf umher. Er musste etwas dagegen unternehmen. Nur was? Er war sich doch sicher, dass die Gestalt auf Gabriels Bild und das Mädchen auf dem Zeitungsfoto ein und dieselbe Person war. Was sollte er also tun, damit sie endlich aus seinen Gedanken verschwand?
 

David trocknete sich Gesicht und Hände ab und kehrte zu Gabriel zurück, nun wieder etwas mehr Herr seiner Sinne und mit einem festen Vorsatz. „Es ist schon spät, ich sollte aufbrechen“, meinte er halblaut und ging gleich hin zur Garderobe, um sich Mantel und Schuhe anzuziehen. Wer wusste schon, was passierte, wenn er sich noch einmal setzte?
 

„Wie jetzt, auf einmal?“ Gabriels Verwunderung war kaum zu überhören. David vernahm ein Rascheln und spürte dann den Maler hinter sich. „Es ist noch nicht mal sieben.“
 

„Ich muss morgen wieder zur Arbeit.“ Er zog seinen Mantel an. „Außerdem brauche ich frische Luft.“
 

David hörte ein Schnauben. „Also doch.“ Plötzlich langte Gabriel an ihm vorbei und schnappte sich seinerseits eine Jacke vom Haken. „Ich komme mit.“
 

„Aber …“ Es war nur ein kurzer Moment, in dem David inne hielt. Dann stieß er einen tonlosen Seufzer aus und widmete sich seinen Schuhen. „Tu, was du nicht lassen kannst.“ Er schlüpfte in die Lederschuhe und ging in die Hocke, um sie zu binden. Aus dem Augenwinkel erhaschte er kurz einen Blick auf Gabriels geknickten Gesichtsausdruck, doch als er den Maler sprechen hörte, war von Enttäuschung nichts zu hören.
 

„He, du hast doch bestimmt noch nichts zu Abend gegessen. Wir könnten irgendwo hingehen?“
 

David hatte keinen Hunger. Er wollte auch nicht, dass Gabriel in die Nähe seines Zuhauses kam. Er erinnerte sich wieder an die Aufdringlichkeit, die ihn gleich zu Beginn an dem Maler gestört hatte. Deswegen hatte er sich nicht auf ihn einlassen gewollt. Allerdings hatte er zu Beginn auch noch nicht gewusst, wer der Maler war. Er rief sich ins Gedächtnis, dass das auch immer noch so war – David dachte dabei vor allem an das Bild der verschwundenen Frau. Allerdings durfte gerade er sich nicht wegen möglicherweise sozial fragwürdigen Verhaltens beschweren. Es war durchaus möglich, dass Gabriel nicht allein sein wollte und dies auf übereifrige Weise, die David vielleicht auch nur so penetrant vorkam, weil er selbst das glatte Gegenteil davon war, zu verhindern gedachte.
 

„Jetzt guck nicht so missmutig.“ Gabriel hatte Jacke und Stiefel angezogen und trat an David heran. „Sonst muss ich mir doch eine andere Art überlegen, deine Gefühlswelt anzuregen.“ Er grinste hintergründig.
 

Vielleicht, wenn er sich noch ein bisschen mehr ins Zeug legte, würde Gabriel es tatsächlich schaffen, David wütend zu machen. Vorerst schwieg David aber und akzeptierte sein Schicksal.
 

Sie verließen Gabriels Loft und unter freiem Himmel, der mittlerweile von einer Vielzahl Sternen gesprenkelt war, merkte David doch, wie sich die angespannte Nervosität, die ihn am Denken hinderte, von ihm löste. Hier befand er sich nicht mehr in Gabriels Refugium. Ihn anregen? Das hatte Gabriel doch gerade eben gesagt. Schon wieder so ein Spruch, der ihn aus dem Konzept brachte. Aber genau das durfte er sich nicht gefallen lassen, oder besser, er durfte nicht drauf eingehen. Er war kein Typ für Konfrontation, also war Weghören und Ausweichen für ihn die passendere Wahl.
 

„Da vorn um die Ecke und dann ein Stück geradeaus ist ein Italiener.“ Gabriel deutete in besagte Richtung. „Lust auf Italienisch?“
 

„Nicht besonders.“
 

„Mmh, also … Nicht direkt auf dem Weg in die Innenstadt, in einer Seitenstraße, gibt’s nen Koreaner, der ganz passables Essen serviert.“
 

„Koreanisch?“ David hatte noch nie Koreanisch gegessen. Er war sich sicher, dass sein Unmut deutlich in seiner Stimme zu hören war.
 

Gabriel hatte seinen Schritt Davids angepasst. Die Hände tief in den Jackentaschen vergraben, schlenderte der Maler mit langen Schritten neben ihm her. Die Stiefel klapperten leise, während Davids Schuhe bei jedem Auftreffen auf dem Boden ein kurzes „Klack“ verursachten. Ab und an blickte der Maler in den Himmel hinauf, dann wieder flüchtig zu David. David sah das aus dem Augenwinkel.
 

Wenn er mit Gabriel etwas essen ging, so überlegte er, konnte er sich hinterher von dem Maler verabschieden und allein nach Hause gehen. Den Maler so auf offener Straße loszuwerden, würde vermutlich weitaus mehr Diskussion erfordern.
 

„Irgendwo müsste es auch einen Mexikaner geben, ich weiß nur nicht genau, wo. Oder wär dir deutsches Essen lieber? Rouladen, Schweinebraten?“
 

Bloß das nicht, dachte David. Das brachte ihm schon immer seine Mutter. Natürlich sagte er das Gabriel nicht. Er ließ lediglich ein „Kein Schweinebraten“ verlauten.
 

„Was dann?“
 

David wunderte sich, dass Gabriel gar nicht ungeduldig zu werden schien. Oder genervt. Schließlich machte er es ihm nicht gerade leicht. In der Hoffnung, dass seine Überlegung, entweder mit Gabriel essen zu gehen oder von ihm bis nach Hause begleitet zu werden, richtig war, antwortete er diesmal: „Such du dir was aus. Mir ist alles recht, außer deutsche Hausmannskost.“ Bei diesen Worten sah er Gabriel grinsen, aber der Maler fragte nicht weiter nach, was es mit seiner Abneigung gegen Braten auf sich hatte.
 

Sie landeten schließlich in einer ruhigen Pizzeria und David war sich sicher, dass Gabriel darauf geachtet hatte, keinen zu vollen, angesagten Laden auszusuchen. Zu seiner Pizza Americana, einem fettig-glänzenden Teigfladen mit Hackfleischbelag und gelben Maistupfern, trank Gabriel mehr als ein Glas Rotwein, während David sich, während er seinen Salat verspeiste, an Wasser hielt. Außer leicht geröteten Wangen schien der Alkohol kaum Einfluss auf Gabriel zu haben, wie David feststellte.
 

Jetzt, wo er schon einmal hier war, bemühte er sich wirklich, loszulassen und den Abend in dem kleinen Lokal, in dem im Hintergrund unaufdringlich italienische Schlager dudelten, zu genießen. Und es gelang ihm sogar einigermaßen. Womöglich lag das zu einem großen Teil auch an Gabriel, der ihm trotz seiner Unberechenbarkeit ein Gefühl von Vertrautheit vermittelte.
 

Eine ausgedehnte Unterhaltung führten sie nicht und als sie fertig gegessen hatten und die Pizzeria verließen, schaffte David es tatsächlich, sich von Gabriel mit einem Händedruck zu verabschieden und den Weg nach Hause unbegleitet einzuschlagen.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von: abgemeldet
2018-03-06T19:48:08+00:00 06.03.2018 20:48
Gott, dieses ständig präsente Gefühl, dass gleich mächtig was schief geht, steckt echt zwischen jeder Zeile. Ich frage mich ehrlich, ob Gabriel irgendwann die Fassung verliert und sein wahres Gesicht zeigt. Allerdings geht es um David und vielleicht ist der ja doch eine Art Ventil, dass diese Machtdynamik, die Gabriel bei seinen anderen Opfern auslebt, unterdrückt. Man, man ... so viele Fragen. Mir gefällt übrigens sehr, dass du so regelmäßig hochlädst. Dann muss ich nicht immer so lange warten. =)
Jedenfalls ist es schon sehr toll, wie gefestigt deine beiden Charaktere sind. Die lassen sich wirklich gut nachfühlen. Selbst bei Gabriel habe ich nicht mehr so viele Probleme, auch wenn mir seine Ziele noch immer nicht ganz klar sind. Ich glaube immer noch, er will David nur nahekommen, um ihn dann in seinen Keller zu sperren, aber dafür muss er ja auch erstmal die Frau loswerden, schätz ich. Wenn er das nicht schon längst getan hat.
Hach ... sehr spannend, diese Geschichte. *fuchtelt herum*
Antwort von:  michischreibt
06.03.2018 21:09
Das hört sich ja echt so an, als hätte ich bislang alles richtig gemacht ;) Ich hoffe, ich kann dieses Level mit den noch folgenden Teilen aufrecht erhalten. Weiterhin viel Spaß beim Lesen! LG Michaela


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