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Abgründig

von

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Beinahe lautlos glitt die Tür auf.
 

Sie hatte es fast nicht bemerkt, hatte vor sich hingedöst. Nun hob sie ihren Kopf gerade so weit, dass sie ihn aus den Augenwinkeln durch ihre Wimpern hindurch sehen konnte. Wenn sie den Kopf höher hielt, drückte der Knebel sonst zu arg, außerdem musste er ja nicht gleich mitbekommen, dass sie wach war und ihn beobachtete. Was er wohl heute vorhatte? Sie hatte eigentlich gedacht, dass wieder einmal Besuch da war, hatte gedämpfte Stimmen vernommen, aber vermutlich war der Gast schon wieder gegangen, was sie wegen ihrer Schläfrigkeit nicht mitbekommen hatte. Andernfalls wäre er nicht zu ihr gekommen.
 

Was würde nun also geschehen? Vielleicht konnte sie ihn noch einmal beißen. Aber nein, der Knebel … Er trat einen Schritt in den Raum.
 

„Was …?“
 

Ein erstickter Laut drang an ihre Ohren. Sie hob nun doch den Kopf an und sah, dass der Mann eine Hand vor den Mund geschlagen hatte. Daher der erstickte Laut. Mit der anderen hielt er die Klinke umklammert.
 

Sie riss die Augen auf, als sie erkannte, dass das nicht er war. Ihr Herz begann zu rasen und Furcht ergriff von ihr Besitz. Furcht, und ein Funke Hoffnung. Sie wollte etwas sagen, doch unter dem Knebel drangen nur unverständliche Laute hervor. Sie zerrte an den Fesseln, wollte zumindest ihre Hände frei haben, um sich wehren zu können. Sie wollte …
 

„Schh…“ Der Unbekannte bedeutete ihr, still zu sein. Still sein? Sie war die ganze Zeit über still! Ihr blieb doch gar nichts anderes übrig. Wie konnte er ihr vorschreiben, still zu sein?
 

Er hatte die Hand vom Mund genommen und einen weiteren Schritt in den Raum gemacht. Hektisch blickte er sich um, mit aufgerissenen Augen. Sie waren so weit aufgerissen wie ihre und Angst und Entsetzen spiegelten sich darin. Für einen kurzen Moment war er wie gelähmt, schwankte auf der Stelle und fiel vermutlich nur deshalb nicht um, da er die Klinke immer noch umklammert hielt. Dann plötzlich schien er sich an etwas zu erinnern und er warf einen erschrockenen Blick über die Schulter nach draußen. Sie konnte nicht sehen, was er dort sah. Dann drehte er sich zu ihr zurück und in dem Moment, als sie sich in die Augen schauten, ließ die Panik in ihr etwas nach. Sie merkte, wie sie ruhiger wurde. Zwar pfiff ihr Atem noch immer durch ihre Nasenlöcher, aber das war auch kein Wunder. Sie war geknebelt.
 

Sie konnte nicht sagen, was es war, was genau da in seinem Blick lag. Er hatte schöne Augen, schoss es ihr unvermittelt durch den Kopf, selbst, wenn sie so gehetzt wie jetzt wirkten. Er war etwas kleiner als der andere Kerl und blond. Sie erwiderte seinen Blick, versuchte, ihm zu verstehen zu geben, dass sie ruhig war, dass sie verstanden hatte. Sie verstand zwar eigentlich gar nichts, aber er würde ihr nichts tun. Das lag in seinem Blick. Er würde sie hier rausholen.
 

Er schaute noch einmal über die Schulter in den dahinterliegenden Raum. Nur kurz, dann kam er auf sie zu. Sie sah, dass er zitterte, und sie sah den feinen Schweißfilm auf seiner Stirn. Sein Gesicht war blass. Außer dem ersten, unterdrückten Aufschrei hatte er noch kein Wort gesagt. Jetzt flüsterte er beinahe: „Sei bitte leise, ja?“
 

Sie nickte um ihm zu zeigen, dass sie verstanden hatte. Egal wer dieser Mann war, für sie war er ihr rettender Engel. Sie hielt ganz still, als er sich von der Seite zu ihr hinunter beugte. Sie sah, wie seine Finger bebten, dann verschwanden sie aus ihrem Sichtfeld, als er sich an dem Knoten des Knebels zu schaffen machte.
 

Sie hörte seinen schnellen Atem und fürchtete schon, dass er im nächsten Moment zusammenklappte. Doch er hielt sich auf den Beinen und nach einer kurzen Zeit, die ihr wie eine Ewigkeit vorkam, lockerte sich das Stück Stoff in und um ihren Mund und fiel schließlich auf ihre Brust. Ohne dass sie es bewusst tat, schnappte sie nach Luft. Sie sog einen langen Atemzug in ihre Lungen, so viel und tief wie möglich. Deswegen merkte sie nicht gleich, dass er auch ihre Fesseln gelöst hatte, mit denen ihre Hände über ihrem Kopf am oberen Bettende befestigt gewesen waren.
 

Sie konnte es kaum glauben. Dieser Kerl kam einfach hereinspaziert, um sie zu befreien.
 

„Wer …?“, wollte sie mit rauer Stimme wissen, doch er bedeutete ihr sogleich, den Mund zu halten. Ihre Finger kribbelten, nachdem sie von dem Seil befreit waren, doch es dauerte einen Moment, bevor sie ihre steifen, schmerzenden Schultern dazu brachte, ihre Arme in eine normale Position zu bringen.
 

Sie kam sich schwach vor, ungelenk, und das war sie auch. Wie lange hatte sie hier gelegen? Auf diesem Bett in diesem Zimmer. Zwei Tage? Zwei Wochen? Noch länger? Sie hatte jegliches Zeitgefühl verloren, aber jetzt gerade, in diesem Moment, spielte das keine Rolle. Raus hier, nur raus.
 

Während ihre Gedanken so durcheinander fielen, realisierte sie erst nach einer Weile, dass der Mann sich nun auch an ihren Fußfesseln zu schaffen machte. Sie spürte die Rauheit des Seils schon gar nicht mehr, aber sie sah, dass er sich mit fahrigen Bewegungen vergeblich an dem Knoten abmühte. Er warf ihr einen schnellen Blick zu und wieder blieb dabei für einen kurzen Augenblick die Zeit stehen. Wenn sie vielleicht etwas klarer im Kopf gewesen wäre, hätte sie den Ausdruck in seinen Augen deuten können, so aber machte die Welt einfach einen Hopser und lief dann, als wäre nichts gewesen, unbeirrt weiter. Ihr Retter hielt in seinem Tun inne, nahm langsam die Hände von ihren immer noch verschnürten Knöcheln und holte tief Luft.
 

So kurz vor dem Ziel … Mit aller Energie, die sie aufbringen konnte, warf sie sich nach vorne. Sie zwang ihre eigenen, steifen Finger dazu, aus ihrer Lethargie zu erwachen und machte sich in dem Moment selbst an den Fesseln zu schaffen, in dem auch der Mann wieder seine Hände danach ausstreckte. Sie spürte seine kalte Haut, als sich ihre Finger berührten, und zuckte unwillkürlich zurück. Nur ein kleines Stück, aber es konnte ihm nicht entgangen sein. Er zitterte noch immer, das konnte sie jetzt deutlich erkennen. Trotzdem nahm er ihre steifen Finger kurz in seine Hände, drückte sie sanft und sie hatte tatsächlich das Gefühl, dass dadurch etwas Leben in ihre geschundenen Gliedmaßen zurückkehrte. Dann ließ er sie wieder los, stand leise auf und warf einen Blick zurück in den angrenzenden Raum. Es war ihr egal, was dort war. Sie durfte nur keine Zeit verlieren. Verbissen machte sie sich an den Fesseln zu schaffen. Sie zerrte an dem Knoten, nutzte ihre Fingernägel, die jetzt viel länger waren, als sie sie normalerweise trug, und irgendwann konnte sie fühlen, wie das Seil ein wenig nachgab. Der Mann kehrte zu ihr zurück, aber sie hatte es fast schon geschafft. Mit einem letzten, verbissenen Ruck riss sie an dem Strick, dann glitt er mit einem leisen Geräusch auf die Bettdecke hinab und blieb dort wie die leere Haut einer Schlange liegen.



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