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Psycho-Pass | Ω

Wrath of the Wraith
von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Ich muss mich in aller Form entschuldigen bei jenen, die dies hier vielleicht noch lesen, für die lange Wartezeit. Leider ist der erste Versuch dieses Kapitels durch einen Absturz meiner App gelöscht worden und ich musste von vorn anfangen. T_T
Nun ist es dafür aber da und ich gelobe feierlich von nun an kontinuierlicher daran zu arbeiten. Ein wenig Geduld kann dennoch nicht schaden, weil die künftigen Kapitel alle in etwa so lang werden könnten wie dieses.
Nun aber viel Vergnügen und sagt mir, was ihr denkt! Komplett anzeigen

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Ghosts of the Past - Teil 1

Asagi Mall, Shinjuku

22:15 Ortszeit
 

Die Nacht hatte das letzte Abendrot vertrieben und in der Dunkelheit leuchtete die erhellte Fassade der Asagi Mall wie goldenes Glas.

Den Kontrast bildeten die zuckenden roten Warnlichter des Polizeiwagens, aus dem nun Akane Tsunemori und Mika Shimotsuki stiegen und einen ersten Blick auf das in der Ferne liegende Gebäude warfen.

Akane hatte absichtlich weiter davon entfernt gehalten, um die Eindringlinge nicht aufzuschrecken wie Hornissen.

Ein kräftiger Novemberwind trieb finstere Wolken von Süden heran und blies ihr das Haar aus der Stirn, während hinter ihr - fast unsichtbar in der Dunkelheit - die Vollstrecker aus ihrem Transporter stiegen und ihre Waffen nahmen.
 

“Karanomori-san, ich brauche möglichst schnell einen Lageplan des Gebäudes und eine Barrikade aus Komissa-Dronen. Niemand darf das Gelände betreten und wer es verlassen möchte, muss vorher gründlich gescannt werden.”

Sie wartete Shions Antwort erst gar nicht ab und wandte sich gleich an die Vollstrecker.

“Nehmt bitte die Dominatoren UND die Elektroschocker. Nur für den Fall, dass diese Leute einen Weg gefunden haben, Sibyls Urteil auszuweichen.”

“Akane-chan”, meldete sich Shion, “das Gebäude hat drei Eingänge: Einen im Norden, also direkt vor euch sowie einen westlichen und einen östlichen. Es gibt vier Ebenen. Diese Informationen musste ich aber den Bauplänen entnehmen, denn die Kameras im Gebäude sind offensichtlich gehackt worden. Ich bekomme von außen keinen Zugriff darauf.”

“Die Informationen reichen mir bereits”, antwortete Akane und lächelte Shions holographischem Bild an ihrem Handgelenk zu, “Haben Sie vielen Dank.”

Sie vergrößerte das digitale Bild des Einkaufszentrums und versammelte die Mitglieder von Einheit 1 um sich.

“Shimotsuki-san. Ich schlage vor, dass Sie und Hinakawa-kun das Gebäude durch den Osteingang betreten. Kunizuka-san und ich nehmen den Nordeingang, während Teppei-san und Ginoza-san durch den Westeingang hineingehen.”

Mika wollte gerade protestieren und warf einen Blick zu Yayoi, die nur wortlos den Kopf schüttelte. Da gab sie es auf.

Ein jeder nahm seine Position ein und so rückten sie vor.
 

Sie hatten sich dem Gebäude gerade auf zwanzig Meter genähert, als plötzlich durch den Vordereingang eine aufgelöste und panische Gruppe Menschen stürmte.

Es war zu chaotisch, um jemanden zu befragen. Ein ältere Frau stürzte, eine Jüngere half ihr auf. Ein mittelalter Mann drehte sich einmal um sich selbst so als müsse er sich erst orientieren.

Akane schaffte es einen von ihnen anzuhalten, einen Mann Mitte 30 mit Mittelscheitel und Brille.

“Haben Sie keine Angst, wir bringen die Situation unter Kontrolle. Sind die Täter immer noch im Gebäude?”

Der Mann nickte.

“Ja. Es sind viele. Sie kamen ganz plötzlich aus den Geschäften und fingen zu randalieren an. Überall waren Rauch und Lärm und Menschen haben geschrien. Bitte unternehmen Sie etwas.”

“Keine Sorge”, beruhigte Akane, “lassen Sie sich bitte von den Dronen scannen. Alles weitere können Sie uns überlassen.”
 

Akane und Yayoi betraten die Eingangshalle der Asagi Mall, einen langen Saal mit zwei überdachten Säulengängen, die parallel zum Mittelgang links und rechts verliefen.

Am Ende des Saales führte eine breite Treppe auf einen Absatz, von dem aus man in die Geschäfte kam.

Nachdem die Menschen geflohen waren, war der Saal still wie der Tod, so dass das Echo jedes Schrittes in den Ohren dröhnte.

Sie waren fast an der Treppe angelangt als Akane Yayoi mit einem Handzeichen gebot anzuhalten.

Sie hatte sich nicht verhört. Ihre Schritte waren nicht die einzigen, die hier widerhallten.

Durch die verborgenen Gänge im Westtrakt kamen weitere Schritte in ihre Richtung.

Akane hoffte insgeheim, dass es Ginoza und Teppei waren, doch sie wurde enttäuscht.
 

Die Dunkelheit im Westkorridor schien sich plötzlich aufzublähen und in den Saal hineinzuwachsen, ehe Akane bemerkte, dass es ein Mensch war.

Ein Mensch von beachtlicher Größe, der Statur nach männlich. In einem Umhang so schwarz wie Rabenfedern, der ihm beim Gehen gegen die Fußknöchel schlug und mit einer Maske, die sein ganzes Gesicht verbarg und wie die eines Ninjakämpfers anmutete.

Bei seiner Größe konnte man seinen Begleiter fast übersehen. Der schien das absolute Gegenteil des Großen zu sein. Ein Junge auf einem blauen Hoverboard, der Größe nach gerade ein Jugendlicher in einer schwarzen Kapuzenjacke mit blutroten Flammenmustern und einer Maske, die keine Öffnungen für Augen trug, nur einen übergroßen, grinsenden Mund.
 

“Die Kavallerie ist bereits da. Sag ihm, es ist Zeit für das Finale”, befahl der große Geist, indem er durch einen Stimmverzerrer sprach.

Der Kleinere zeigte mit dem Daumen nach oben und war schon auf seinem Board in Richtung Osten aus dem Saal verschwunden.

Nun standen sie einander gegenüber: Akane und Yayoi auf der einen Seite und der große Geist am oberen Ende der Treppe.

Obwohl der Saal durch zehn gläserne Deckenleuchter erhellt wurde, ließ die bloße Präsenz dieses Mannes es in dem Raum dunkler und kälter werden.

Akane schluckte und fand als erste ihre Stimme wieder.

“Wer seid ihr?”

Zwar wusste sie die Antwort schon, doch sie wollte es aus seinem eigenen Mund hören.

“Wir sind Wraith, der Geist im System. Ihr könnt uns jagen, doch ihr könnt uns nicht sehen”, antwortete der Große gebieterisch.

“Dich sehe ich gut genug”, gab Akane zurück, ehe sie ihren Dominator auf den großen Geist richtete und das blaue Leuchten ihre Augen erfüllte.

Kriminalkoeffizient 89.

Kein Objekt zur Vollstreckung.

Auslöser bleibt gesperrt.

‘Was?’ Akane sprach die Frage nicht aus, sie formte das Wort lediglich mit den Lippen.

Als hätte der Mann ihre Gedanken gelesen, antwortete er.

“Der Kriminalkoeffizient erhöht sich, wenn man in dem Bewusstsein handelt ein Verbrechen zu begehen.

Wir begehen keine Verbrechen, Inspektorin.

Wir begehen einen Dienst an der Menschheit.”

Damit ließ er eine kleine Dose die Treppe herunterrollen, von der die zwei bis dahin gar nicht bemerkt hatten, dass sie in seiner Hand gewesen war.

Aus ihren beiden Enden schoß dicker dunkelroter Rauch hervor, der bald den gesamten oberen Absatz eingehüllt hatte.

Akane wich zurück, Yayoi aber steckte ihren Dominator in den Holster und zog ihren Elektroschocker.

“Selbstgerechter Mistkerl”, knurrte sie und stürmte die Treppe herauf.

“Kunizuka-san, greifen Sie ihn nicht allein an!”

Akanes Warnung verhallte und Yayoi war in dem Rauch nicht mehr zu sehen.

Yayoi hatte noch auf der Treppe einen Haken nach rechts geschlagen und konnte ihren Gegner selbst in dem dichten Rauch gut ausmachen.

Und sie hatte Glück. Er blickte noch immer in die Richtung, aus der sie auf ihn zugestürmt war.

Fast zu leicht, dachte sie und zielte mit dem Elektroschocker auf seine linke Schulter.

Dass es nicht fast, sondern viel zu leicht gewesen war, erkannte sie, als sie den erhofften Widerstand nicht fand.

Der Mann wandte die Schulter von dem Angriff ab und drehte sich um sich selbst, wobei er sie mit der rechten Schulter anstieß.

Es war genug, um sie aus dem Gleichgewicht zu bringen.

Yayoi sprang wieder auf.

Der Blick in die andere Richtung war also eine Finte. Er ist gut.

Sie griff erneut an, nur um festzustellen, dass ihr Gegner trotz seiner Größe beachtlich schnell war.

So schnell, um ihre Angriffe anscheinend mühelos zu blocken.

“Wer im Zorn angreift, macht Fehler”, warnte er, “tödliche Fehler.”

Er hatte gerade ihren linken Arm abgewehrt, als Yayoi etwas in seiner rechten Hand aufblitzen sah.

Er zog mit dem rechten Arm durch und Yayoi spürte einen kalten, schneidenden Schmerz in der Kehle.
 

Akane fluchte in sich hinein. Ginoza hatte sichergestellt, dass nur die Vollstrecker Elektroschocker bei sich trugen. “Weil das Kämpfen unsere Aufgabe ist”, hatte er gemeint.

So war Akane dazu verdammt mit ihrem nutzlosen Dominator auf den roten Qualm zu zielen.

Das Aufkeuchen einer Frau ließ sie aufhorchen.

“Kunizuka-san!” Stille.

“Kunizuka-san, geht es Ihnen gut?” Noch immer keine Antwort.

Ginoza-san, Hinakawa-kun… Wo bleiben sie nur?

Sie versuchte sich an ihren Kampf gegen Kogami auf Shambala zu erinnern - für den Fall, dass der große Geist aus dem Rauch hervortreten sollte.

Allerdings konnte sie sich nicht vorstellen, dass Kogami damals vollkommen ernst gekämpft hatte.

“Ich bin… unverletzt”, antwortete Yayoi und war selbst fassungslos über das, was sie da sagte.

Die linke Hand gegen ihren Hals gepresst, hatte sie geglaubt, dass ihr Blut mit dem Rhythmus ihres Herzens hervorsprudeln müsse.

Doch als sie ihre Hand wegnahm, war kaum Blut daran. Es war nur ein Kratzer.

Er hätte mich töten können. Wieso hat er nicht-
 

“Der Ostflügel ist gesichert, Senpai”, unterbrach Mikas Stimme Yayois Gedanken.

Hinter ihr her trottete Sho.

“Shimotsuki-san, Hinakawa-kun! Vorsicht, einer von den Tätern ist vermutlich immer noch-”

Sie brach unvermittelt ab, als direkt vor Mika und Sho der große Geist aus dem Blutnebel trat.

Mika wich gegen die Wand zurück und Sho riss seinen Dominator hoch, doch Sibyls Urteil blieb gleich.

“Hinakawa-kun, nimm den Elektroschocker, der Dominator funktioniert nicht”, rief Akane und zum zweiten Mal in dieser Nacht blieb ihre Warnung ohne Wirkung, denn Sho war erstarrt.
 

Er war ein Genie wann immer es an das Entschlüsseln von Hologrammen und grafischen Codes ging, doch er war kein Kämpfer - mental und physisch nicht fähig einem überlegenen Gegner zu trotzen.

In diesem Wissen stand er vor dem riesigen vermummten Mann wie eine Maus im Angesicht einer Schlange.

“Sho!”

Akane stürmte los, bereit, den Mann mit ihrem Dominator nieder zu schlagen, wenn es sein musste.

Dieser war Sho nun so nahe, dass der in seinen Händen zitternde Dominator beinahe die Brust des Mannes berührte.

Akane sah den großen Geist Shos Dominator einfach mit der Hand herunterdrücken.
 

“Mach dir nichts daraus, Junge”, sprach der Geist zum Vollstrecker, “beim nächsten Mal vielleicht.”

Er tätschelte Shos rotes Haar und schritt einfach durch den linken Gang davon.

Akane und Yayoi kamen gemeinsam bei Sho an.

“Kunizuka-san. Sie und Shimotsuki-san verfolgen ihn. Aber seien Sie vorsichtig.”

Yayoi nickte. Sie musste Mika zweimal ansprechen, ehe diese aus ihrer Starre erwachte und ihr folgte.

Sho starrte auf seinen zu Boden gerichteten Dominator.

“Onee-chan… es… es tut mir leid, ich wollte-”

Akane berührte ihn lächelnd am Arm.

“Sshh, es ist nicht deine Schuld, dass du Angst hattest. Ich verrate dir etwas: die hatte ich auch.”
 

“Was in drei Teufels Namen ist denn hier nur los?”

Beim Klang dieser neuen Stimme fuhren Akane und Sho herum.

Ein älterer Herr war eben aus dem linken Säulengang in die Eingangshalle getreten und kratzte sich an seinem halbkahlen Kopf.

“Sind Sie von der Polizei, junge Dame? Ich wollte nur ein Geschenk für meine Enkelin kaufen und schon spielt alles verrückt. Erst dachte ich ja, jemand hätte ein Gewinnspiel gewonnen, aber dann liefen alle davon und ich dachte, es wäre vielleicht das Klügste mich zu verstecken, bis alles vorbei ist. Ist es das denn nun?”

Akane wollte gerade etwas Beruhigendes erwidern, als ihr Yayois Ausruf zuvorkam.

“Bleiben Sie stehen!”

Ein weiterer unkostümierter Mann rannte in den Raum, offenbar in wilder Flucht und hielt - so wie er Akane erblickt hatte - ein längliches Objekt drohend in die Höhe.

Ein Objekt an dessen oberem Ende ein Schalter war.

Akane riss bereits ihren Dominator hoch.

Kriminalkoeffizient 112.

Objekt zur Vollstreckung.

Vollstreckungsmodus: Non-lethal Paralyzer.

“Hören Sie mir zu! Sie können nicht entkommen. Legen Sie bitte den Zünder auf den Boden und treten Sie zurück.”

Ein blauer Blitz zuckte aus dem linken Gang hervor und traf den abgelenkten Mann unvermittelt.

Es gab keinen Schrei. Durch den Paralyzer krampfte sich der Körper des Mannes so sehr zusammen, dass sein Daumen den Auslöser des Zünders fand und kleine Sprengladungen an den Verankerungen der Deckenleuchter aktivierte.

Durch den Lärm der berstenden Leuchter hörte Akane ihre eigene Stimme kaum.

“Gehen Sie da weg”, brüllte sie dem alten Mann zu, der direkt unter dem letzten der Leuchter stand.

Der Alte hatte sich bei den repetierenden Explosionen beide Hände gegen die Ohren gepresst, als ihn plötzlich etwas von der linken Seite traf und er das Gleichgewicht verlor.

Als er mit zugekniffenen Augen die Schwerkraft spürte wie sie ihn zu Boden riss, hörte er das Krachen von Glas und das folgende Klimpern umherspringender Splitter.

Doch der Aufprall auf den Boden und der erwartete Schmerz kamen nicht.

Jemand hatte mit einem kräftigen Arm hinter seinem Rücken den Sturz abgefangen.

Als er seine Augen öffnete, blickte der alte Mann in sein eigenes verdutztes Gesicht, das sich im schwarzen v-förmigen Visier eines Helmes spiegelte.

Der Mann, dem dieser Helm gehörte, richtete sich auf und zog den Alten mühelos auf die Füße.

“Geht es Ihnen gut”, fragte eine ebenfalls durch einen Stimmverzerrer verfremdete Stimme.

“J-Ja. Danke”, antwortete der alte Mann, noch immer verwirrt von dem Anblick des Anderen.
 

Akane hatte all dem mit hämmerndem Herzen zugesehen.

Der Maskierte trug einen Ganzkörperanzug wie ihn Motorradfahrer tragen und ebenso wie bei dem Jungen auf seinem Board waren Anzug und Helm schwarz mit roten Flammen verziert.

“Sind Sie auch von der Polizei”, erfragte der alte Mann leutselig.

Ein Schmunzeln erklang über den Stimmverzerrer.

“Nein, mein Herr. Ich bin bloß ein besorgter Bürger. Gehen Sie nach Hause, hier ist alles wieder gut.”

Sobald der alte Mann sich zum Gehen abgewandt hatte, widmete der Maskierte seine ganze Aufmerksamkeit Akane.

Sie konnte sich nicht erklären, weshalb sie derart aufgeregt war.

“Also bist du der wahre Wraith”, fragte sie.

“Wraith ist ein Name, der für alle steht, die unsere Überzeugungen teilen”, erwiderte der Fremde,

“Markus Kapitel 5, Vers 9: Und er fragte ihn: Wie heißt du? Und er antwortete ihm und sprach-”

“Mein Name ist Legion, denn wir sind viele”, vervollständigte Akane.

Der Maskierte vollführte eine dramatische Verbeugung.

“Inspektorin Akane Tsunemori. Eine Freude, Ihnen endlich persönlich zu begegnen. Ich hoffe doch, Sie haben unser Präsent erhalten.”

Die Flasche… ich wusste, sie war von euch!

Akane richtete ihren Dominator auf den Maskierten.

Fehler.

Ungültiges Objekt.

Auslöser bleibt gesperrt.

“Was soll die Puppe in der Flasche”, verlangte Akane zu wissen, “Sag mir: Was will Sibyl?”

Ihr Gegenüber schwenkte den Zeigefinger wie ein Lehrer, der eine aufsässige Schülerin tadelt.

“Aber, aber… Inspektorin, Sie enttäuschen mich. Dass Sie sich von einem Verbrecher helfen lassen würden. Nein. Sie müssen sich Ihren hübschen Kopf schon selbst zerbrechen.”

Akane fühlte wie ihr die Ohren heiß wurden, aber mehr aus Ärger denn aus Verlegenheit.

“Ich sage nur: Es zählt allein, was Trimalchio sprach. Kapitel 26 bis 78.”

Akane schüttelte den Kopf, als sie spürte wie sich die Zahnräder in ihrem Geist erneut in Bewegung setzten, um das eben Gehörte zu entschlüsseln.

“Du wirst ausreichend Gelegenheit haben uns alles zu erzählen, und zwar im Verhör.”

Inzwischen war auch Sho mit seinem Elektroschocker an Akanes Seite getreten.

“Sie kommen besser widerstandslos mit”, empfahl Sho und versuchte so bedrohlich wie möglich zu klingen.

“Aber, mein Junge, das ganze Leben ist Widerstand. In Sibyls Welt ist das so wahr wie nirgendwo sonst. Bis zum nächsten Mal, Inspektorin.”

Akane wollte Sho gerade den Angriff befehlen, als der Maskierte seine Handfläche öffnete, in der sich zu Akanes Überraschung eine augapfelgroße schwarze Kugel befand.

Er ließ sie fallen und im ersten Augenblick glaubte Akane, er hätte eine Bombe gezündet.

Ein Kreischen wie von hundert Messern auf Porzellantellern fuhr durch den Raum, gepaart mit einem Lichtblitz, der sich wie eine glühende Klinge in ihre Augen bohrte.

Akane zwang sich aufrecht zu stehen und mit noch tränenden Augen und pfeifenden Ohren richtete sie ihren Dominator auf den Ausgang ohne etwas erfassen zu können.

“Karanomori-san, behalten Sie die Außenkameras im Auge, er darf nicht entkommen!”

“Tut mir leid, Akane-chan. Seine Blendgranate muss ebenfalls infrarotes Licht ausgesendet haben. Es hat die Kameras erledigt, ich kann nichts sehen.”

“Verdammt”, entfuhr es Akane aus zusammengebissenen Zähnen.

“Tsunemori!” Das war - wenn sie es durch das noch immer dominante Pfeifen auf den Ohren richtig hörte - Ginozas Stimme.

Sie wandte sich ihm zu und sah, dass neben ihm und Teppei auch Yayoi und Mika zurück waren - allerdings mit leeren Händen, was ihre Laune keineswegs verbesserte.

“Es tut mir leid, Inspektorin”, erklärte Yayoi, “wir haben den gesamten Osttrakt durchsucht, aber von den beiden fehlt jede Spur.” Das sagte sie mit einem Gesichtsausdruck als wolle sie es selbst nicht glauben.

“Wir müssen das Beste aus dem machen, was wir haben. Kunizuka-san, suchen Sie bitte zusammen mit Hinakawa-kun die Außenbereiche um die Asagi Mall nach dem Maskierten ab. Er kann trotz seiner Blendgranate nicht weit gekommen sein.”

Yayoi nickte knapp und machte sich zusammen mit Sho auf die Suche.

Die nur vom Knistern der offenen Stromleitungen an den zerstörten Kronleuchtern unterbrochene Stille nutzte Ginoza.

“Tsunemori, wir sollten uns den dritten Stock ansehen. Teppei und ich waren vorhin dort. Diese Leute sind zwar keine Geister, aber sie haben uns aussehen lassen wie eine Bande Spinner, die Geistern nachjagt.”

“Gut”, erklärte Akane, “Teppei-san, bringen Sie und Shimotsuki-san doch den Verdächtigen in den Wagen und warten dort auf uns.”

Sugo Teppei salutierte und legte sich den noch immer paralysierten Mann einfach über die Schulter. Mika wirkte einen Augenblick als wolle sie sich beschweren so abkommandiert zu werden, trottete dann aber folgsam hinter Teppei her.
 

Es mochte an der späten Stunde liegen oder an dem arbeitsreichen Tag, der all dem hier vorausgegangen war, dass Akanes Spürsinn einen Moment brauchte, um aus dem Bild im dritten Stock etwas Verwertbares zu machen.

Vor ihr und Ginoza lagen am Boden der weiten Halle lauter Umhänge, Handschuhe, Kutten und Masken verstreut. Wenn sie die Zahl der Masken schätzen sollte, hätte sie grob zwei Dutzend gesagt. Was in ihr einen unheilvollen Gedanken weckte.

“Wenn sie die Kostüme hier einfach liegen lassen, dann heißt das ja… “

“...dass sie als ganz normale Besucher hier hereingekommen sind”, vervollständigte Ginoza, “Jemand muss die Kostüme hier bereits platziert haben. Die angeblichen Geister haben sich hier wie Schauspieler vor einem Bühnenauftritt umgezogen, ihre Show geliefert und sind zusammen mit den anderen verängstigten Menschen aus dem Gebäude geflohen.”

“Das allerdings bedeutet auch, dass die drei Geister, die wir heute Abend gesehen haben, permanente Mitglieder von Wraith sein müssen”, folgerte Akane,

“Dass all diese Leute sich spontan versammeln und so etwas tun können ohne dass sich ihr Farbton trübt, ist nur möglich, wenn es eine einmalige Sache war. Der einzige Unschuldige, der zuletzt noch hier gewesen war, müsste der alte Mann gewesen sein.”
 

“Sie haben uns sogar eine Botschaft hinterlassen”, sagte Ginoza und deutete auf die vor ihnen liegende Wand.

An dieser prangte - passenderweise mit Graffiti geschrieben - ein roter Zug japanischer Schriftzeichen:

Yamanote 742 1030pm
 

“Die Yamanote-Linie”, fragte sich Akane laut, “und das hinter 1030 sind zwei westliche Buchstaben, P und M. Das müsste die Uhrzeit sein. Also 22:30. Das war vor zehn Minuten.”

Sie aktivierte ihren Communicator.

“Karanomori-san. Können Sie bitte herausfinden, welcher Zug heute mit der Yamanote-Linie 742 unterwegs war?”

“Ich fürchte, das muss ich gar nicht mehr, Akane-chan. Die Yamanote-Linie 742 war ein Materialtransport für das Amt für öffentliche Sicherheit. Er wurde heute um 22:30 umgeleitet und ausgeraubt, weil jemand das Streckennetz gehackt hatte. Die Kameras haben wieder Menschen in Kostümen mit Geistermasken gefilmt.”

“Aber wieso sollten sie einen Materialtransport überfallen? Diese Transporte führen Dominator, die sie nicht benutzen können, Ersatzteile für Drohnen, mit denen sie nichts anfangen können…”

“Wenn es nur das wäre”, unterbrach Shion, “Sie haben schließlich ein halbes Dutzend Antriebsgeneratoren für strategische Drohnen gestohlen und leider auch zehn voll funktionsfähige EMP-Granaten.”

Bittere Schwärze wie kalter Kaffeesatz setzte sich in Akanes Magen ab.

“Was können sie damit schlimmstenfalls anrichten”, traute sie sich zu fragen.

“Schlimmstenfalls könnten sie in ganzen Straßenzügen sämtliche Scanner, Drohnen und Kameras ausfallen lassen ebenso wie den Empfang der Dominator stören”, erklärte Shion, “Hoffen wir aber, dass sie nicht darauf kommen.”
 

Ginoza schnaubte vor kaum gezügelter Entrüstung.

“Hoffen wir nicht, dass sie darauf kommen? Weswegen sollten sie all das denn überhaupt durchgezogen haben?

Sie haben uns an der Nase herumgeführt. Die ganze Randale im Einkaufszentrum war ein Köder für uns, um ihren richtigen Coup durchführen zu können. Wir sind diesem Area Stress Level hinterher gerannt wie ein Hund hinter seinem Stöckchen.”

“Ginoza-san hat Recht”, gestand Akane nicht ohne Reue, “Sie haben uns ausgetrickst. Die erste Runde geht an die Geister. Ich übernehme vor der Direktorin die Verantwortung für alles.”

“Tsunemori…” Aus Ginozas Mund klang Akanes Name fast wie eine Warnung.

“Nein, Ginoza-san. Es ist Aufgabe der Inspektorin die Verantwortung zu tragen.”

“Falsch. Es wäre Aufgabe der Inspektorinnen Verantwortung zu übernehmen.”

"Wie dem auch sei. Wir haben zumindest einen mutmaßlichen Mittäter in Gewahrsam, den wir verhören können, um genauere Informationen zu bekommen. Das ist immerhin mehr als nichts. Überlassen wir also den Rest hier den Drohnen und kehren zum Hauptquartier zurück.”
 

Akane verfluchte ihr Glück an jenem Tag, als sie aus der Asagi Mall heraus traten und der Himmel just in diesem Moment all seine Schleusen öffnen musste.

Trotzdem sie alle es unversehrt und in Rekordzeit zum Amt für öffentliche Sicherheit zurück geschafft hatten, waren sie bei ihrer Ankunft nass bis auf die Knochen.

Als Ginoza zu ihr in das Büro kam, war sie immer noch damit beschäftigt sich das Haar trocken zu rubbeln, sorgte damit aber eher dafür, dass es aussah als hätte sie mit feuchten Händen ein offenes Stromkabel angefasst.

“Die wichtigsten konnten entkommen.”

Ihre Stimme klang dumpf durch das Handtuch, mit dem sie sich das Gesicht rieb.

“Sie sind nicht einfach entkommen”, entgegnete Ginoza, “sie sind wie vom Erdboden verschwunden. Fast so als seien es wirklich Geister.”

Sein Ausdruck wurde weich, als er Akanes frustriertes Gesicht hinter dem Handtuch auftauchen sah.

“Na ja. Wenigstens einen konnten wir schnappen.”

Dabei blickte Akane zu ihm auf.

“Was wissen wir über ihn?”

“Shoichi Yakuda. 38 Jahre alt. Ledig, alleinstehend, keine Kinder. Er war Sicherheitsmanager in der Asagi Mall, das heißt, er hat die Computersysteme kontrolliert und Drohnen gewartet.“

“War”, fragte Akane.

“Ja. Vor zwei Monaten wurde seine Schwester Opfer einer Geiselnahme. Sie kam zwar unverletzt frei, doch ihr Farbton trübte sich daraufhin. Um ihr bei der Therapie beizustehen, vernachlässigte Yakuda seinen eigenen Farbton. Mit dem Ergebnis, dass sein Kriminalkoeffizient den Grenzwert für Sicherheitsbeamte der Asagi Mall überschritt.”

“Welcher ist das?”

“60. Ihm wurde fristlos gekündigt.”

Ginoza sah wie Akanes Augenbrauen sich zornig zusammenzogen.

“Wieso schickt man solche Mitarbeiter nicht in die Therapie? Das Sibyl-System finanziert solche Therapien, die Unternehmen müssen nicht einmal dafür zahlen.”

“Nein, aber sie müssen den Ausfall eines Mitarbeiters für mehrere Wochen oder gar Monate kompensieren. Ihn auszutauschen ist einfacher. Seit seiner Kündigung war Yakudas Kriminalkoeffizient nicht mehr gemessen worden.”

“Wo ist er jetzt”, wollte Akane wissen.

“Im Verhörzimmer. Bisher hat noch niemand mit ihm gesprochen. Wir dachten, dass du das vielleicht übernehmen möchtest.”

Ein dankbares Lächeln erhellte nun Akanes Gesicht.

“Wenn Sie mich begleiten, Ginoza-san.” Mit einem verschlagenen Zug um den Mundwinkel fügte sie hinzu: “Immerhin muss jemand für meine Sicherheit sorgen.”

Und Ginoza fragte sich - übrigens nicht zum ersten Mal - ob diese Frau inzwischen Gedankenlesen gelernt hatte.
 

“Shoichi Yakuda.”

Der halbkahle, runde Kopf des Mannes zuckte bei der Erwähnung seines Namens hoch und traf den Blick von Inspektorin Akane Tsunemori, die sich ihm gegenüber an dem schwarz lackierten Tisch niederließ.

Hinter ihr, direkt neben der Tür, wachte Ginoza.

“Bitte”, flehte Yakuda, “ich hab nichts Anderes gemacht! Ich hab nur die Kameras ausgeschaltet und die Knallkörper an den Deckenleuchtern gezündet. Es war nicht geplant, dass dabei jemand verletzt wird.”

“Es ist ja niemand verletzt worden. Ich interessiere mich nicht dafür, was Sie getan oder nicht getan haben, Yakuda-san. Ich interessiere mich eher dafür, was Sie wissen. Noch ist Ihr Kriminalkoeffizient nicht weit über 100 Punkte gestiegen. Ich kann Ihnen helfen, wenn Sie mit uns zusammenarbeiten.”

Der Mann schluckte und unterdrückte ein Schluchzen, bevor er einmal kurz nickte.

Akane lehnte sich erleichtert zurück.

“Erzählen Sie mir bitte wie Wraith Sie kontaktiert hat.”

Shoichi Yakuda brauchte beide Hände, um sein Wasserglas ruhig zu halten.

Er leerte es in einem Zug, bevor er sprach.

“Das erste Mal haben sie mich eine Woche nach meiner Kündigung kontaktiert. Im CommuField sprach mich jemand an, der sich Spectre nannte.”

“Haben Sie seinen Avatar gesehen?”

“Er hatte keinen Avatar, nur ein einfaches Logo, auf dem ‘voice only’ stand. Er fragte mich, ob ich denen eine Lektion erteilen wolle, die mich dafür bestraft haben ein Mensch zu sein.”

Dabei blickte er zu Akane hoch als suche er Absolution für etwas, das er falsch gemacht hatte. Sie nickte ihm als Antwort ermutigend zu.
 

“Ich wollte wissen, wer die sind. Er sagte, sie seien Visionäre, die Menschen wie mir eine Stimme geben wollen. Und, und… ich war wütend, verstehen Sie? Deshalb habe ich zugestimmt.”

“Zugestimmt wozu?”

“Sie nannten es eine ‘Spontan-Party’ in der Asagi Mall. Von mir wollten sie, dass ich die Kameras und Drohnen im Gebäude abschalte. Ich habe unter der Bedingung zugesagt, dass niemand verletzt wird.”

“Haben Sie die Gesichter von irgendeinem der Geister gesehen?”

“Nur von denen, die sich hinterher verkleidet haben. Einige von denen kannte ich persönlich. Die fanden wohl, es sei eine witzige Idee mitzumachen. Die anderen drei habe ich erstmals im Wartungstrakt der Drohnen getroffen.”

“Wer sind die drei?“

“Ich habe keine Ahnung. Der Kleine auf seinem Board, der Große und der mit dem Helm waren schon verkleidet, als ich sie das erste Mal sah. Sie gaben mir den Zünder für die Mini-Sprengsätze an den Leuchten und sagten, ich solle auf ihr Kommando Kameras und Drohnen ausschalten und als Finale die Leuchter zum Absturz bringen.”

“Was haben die drei Ihnen zum Raubüberfall auf die Yamanote-Linie gesagt”, fragte Akane, in dem sie sich vorbeugte.

“Was, wozu? Ich weiß nichts von einem Überfall. Bitte, die haben mir nichts weiter gesagt.”

Akane stand auf und verbeugte sich knapp.

“Danke, Yakuda-san. Eine Stress-Therapie wird Ihnen sicher helfen in die Gesellschaft zurück zu finden. Ich glaube, dass Sie ein guter Mensch sind.”

Der untersetzte Mann verneigte sich im Sitzen gegen sie und bedankte sich mehrfach, als Akane und Ginoza den Raum verließen.
 

“Kurz und schmerzlos formuliert: Wir wissen gar nichts.”

Ginozas Frustration brachte Akane zum Lächeln. Es erinnerte sie an die Zeit, als er noch Inspektor gewesen war.

“Da steh ich nun, ich armer Tor und bin so klug als wie zuvor”, zitierte sie.

“Was?”

“Das ist aus Goethes Faust. Es trifft die Situation ganz gut. Obwohl wir doch schon mehr wissen als vorher. Besonders, was er über die erste Begegnung mit diesem Spectre erzählt hat, ist wichtig. Wraith will Menschen wie ihm also eine Stimme geben…”

“Ich denke, ich weiß, was du meinst”, sinnierte Ginoza, als Akane bereits wieder ihren Communicator aktivierte.

“Karanomori-san, gleichen Sie doch bitte-”

Akane hielt inne, als sie am anderen Ende der Verbindung ein Rascheln und Poltern hörte und sich Sekunden später eine atemlose Shion in ihren Schreibtischstuhl warf.

“Akane…chan… Hatte noch gar nicht… mit dir gerechnet. Ist das Verhör schon vorbei?“

“Ja, es verlief besser als erwartet. Karanomori-san, können Sie etwas für mich nachschauen?“

“Schon dabei.” Das Klicken eines Feuerzeugs war zu hören, gefolgt vom gierigen ersten Zug an der Zigarette.

Akane ertappte sich dabei wie sie sich die Lippen leckte.

“Sie haben das Profil des verhafteten Yakuda vorliegen. Vergleichen Sie es doch bitte mit den bisherigen Wraith-Sichtungen. Ich wüsste gern, ob Personen mit ähnlichem Profil damals schon beobachtet wurden.”

“Das könnte eine Weile dauern”, erklärte Shion, derweil man bereits das Klappern der Tastatur hörte, “Schnappt doch etwas frische Luft in der Zwischenzeit.”

“Oh ja”, murmelte Akane halblaut und Ginoza konnte nur annehmen, dass die Luft, die sie zu schnappen vor hatte, alles andere als frisch sein würde.

“Ich hoffe, es stört dich nicht, wenn ich mich anschließe.”

Einen Moment lang erblickte Ginoza Scham in Akanes Augen, ehe sie es mit einem Lachen kaschierte.

“Nicht doch. Kommen Sie, Ginoza-san.“
 

Auch er schämte sich ein wenig, da er ihr immerhin nur nachfolgte, um auf ihre Gesundheit zu achten.

In seinen Erinnerungen hörte er Kagari glucksen und zu den Anderen etwas von “Oberhenne” flüstern.

In jenen Tagen, da er noch Inspektor gewesen war, hatte er sich darüber geärgert. Nun wünschte er, er würde es noch ein Mal aus Kagaris Mund hören.

Er wurde durch einen Tumult im Büro von Einheit 1 aus seinen Gedanken gerissen und hörte Wortfetzen von Mika wie “nichtsnutziger” und “Krimineller”.

Akane betrat das Büro als erstes und sah Sho, der auf seinem Bürostuhl zusammen gesunken war, Mika, die mit den Fäusten in den Hüften gerade dabei gewesen war ihm eine Standpauke zu geben und Sugo Teppei, der - nach Ordnung suchend - zwischen den beiden stand. Yayoi war abwesend, was Akane nicht überraschte.
 

“Geht es Ihnen gut, Shimotsuki-san“, fragte Akane höflich, nur um gleich eine Breitseite von derselben zu bekommen.

“Es ginge mir vielleicht gut, wenn dieser Köter” - dabei zeigte sie mit dem Finger auf Sho - “seinen Job gemacht hätte anstatt zu schlottern wie ein Waisenknabe.”

Ginoza fiel auf, dass Akane die Hand, die sie hinter ihrem Rücken hielt, zur Faust geballt hatte.

“Sie hätten seinen Elektroschocker nehmen und selbst kämpfen können, Shimotsuki-san. Ihre Ausbildung beinhaltete immerhin den Umgang mit solchen Waffen. In Extremsituationen wäre es also ratsam auch Tätigkeiten zu übernehmen, die nicht in ihr unmittelbares Aufgabenfeld fallen.”

Akane holte tief Luft.

“Und unterstehen Sie sich jemals wieder einen der Vollstrecker als Köter zu bezeichnen.”

Mika war einen Augenblick sprachlos über Akanes Ausbruch, dann sah sie aus als wolle sie etwas erwidern, ließ sich schließlich aber in ihren Stuhl zurückfallen und setzte den Bericht fort, an dem sie gearbeitet hatte.

“Teppei-san, bitte kümmern Sie sich um Hinakawa-kun”, bat Akane, ehe sie zusammen mit Ginoza ihren Weg an die frische Luft fortsetzte.
 

“Ich weiß nicht, was ich mit ihr machen soll”, gestand Akane ehrlich ratlos, als sie an Ginozas Seite draußen stand und den ersten Zug einer Zigarette genoss seit sie zur Asagi Mall aufgebrochen waren.

“Ihr seid euch im Grunde sogar ähnlich”, erklärte Ginoza, während er sich an die Wand des Gebäudes lehnte und die Lichter der Stadt beobachtete, “Ihr beide habt geliebte Menschen durch ein grausames Verbrechen verloren. Während du dich entschieden hast das Gesetz zu schützen und darauf zu warten, dass die Gesellschaft eine Bessere wird, hat sie sich entschieden alle faulen Stellen auszulöschen. Ich kann nicht beurteilen, welche Entscheidung die Bessere ist.”

Akane musste schmunzeln, als sie sah wie Ginoza sich die Brille mit dem Finger hochschob, die er schon lange nicht mehr trug.

“Sie meinen, ich sollte nachsichtiger mit ihr sein?”

“Das habe ich nicht gemeint. Sie wird keine Gelegenheit ungenutzt lassen an deinem Thron zu sägen. Außerdem musst du zugeben, dass deine Art mit den Vollstreckern umzugehen unter allen Einheiten des Amtes ihresgleichen sucht. Früher war ich es, der dich dafür getadelt hat, dass du zu nett zu ihnen warst. Heute ist es Mika auf ihre eigene Art.”

“Ihre Art war mir aber lieber, Ginoza-san”, gab Akane zurück und wurde mit einem seltenen Lachen von Ginoza belohnt.
 

Sie verbrachten einige Augenblicke kameradschaftlichen Schweigens, ehe Akane ihre Gedanken wieder dem vorliegenden Fall zuwandte.

“Machen Ihnen die EMP-Granaten nicht auch Sorgen?”

Ginoza nickte.

“Jedenfalls dann, wenn sie sie wahllos einsetzen wollen, um Scanner und Drohnen auszuschalten. Das könnten sie überall tun, ohne dass wir vorgewarnt wären. Unser Vorteil ist, dass sie es nicht jederzeit tun können. Wenn sie die Mitglieder für ihre Aktionen immer kurz vorher und spontan rekrutieren, um deren Psycho-Pass zu schonen, müssen sie zunächst eine ausreichend große Gruppe zusammen bekommen. Die Zeit, die sie dafür brauchen, können wir nutzen, um ihnen auf die Spur zu kommen.”

“Sie denken da an das Gleiche, woran ich auch denke”, wollte Akane wissen.

“Das Commu-Field, ja. Wenn Yakuda dort das erste Mal angesprochen wurde, ist es sehr wahrscheinlich, dass sie auch die übrigen Mitglieder dort anwerben. Das Commu-Field ist der sicherste Weg so etwas zu tun ohne gleich in das Visier von Sibyl zu geraten. Es wird wohl wieder einmal Zeit sich dort einzuschleusen.”

“Gut. Ich werde Hinakawa-kun bitten mir einen neuen Avatar zu basteln. Der alte wird dort inzwischen zu auffällig sein.”

“Wir hatten wirklich noch niemanden, der sich so drastisch von Makishima oder Kamui unterschieden hat.”

Akane nickte.

“Ja. Die beiden waren bereit brutale Gewalt anzuwenden, um ihre Ziele zu erreichen. Wraith dagegen scheinen peinlich genau darauf zu achten, dass bei ihren Aktionen kein Mensch verletzt wird und nicht einmal ein Farbton zu Schaden kommt. Die einizige verbleibende Frage ist: Was ist ihr Ziel? Worin besteht ihr Endspiel? Makishima wollte Sibyl bloßstellen, der Gesellschaft die Wahrheit sagen. Damit wäre die Gesellschaft wie wir sie kennen zerbrochen und ein heilloses Chaos wäre ausgebrochen. Kamui wollte nur die seinen rächen, indem er das System richtet. Aber was wollen Wraith? Mit ihren Graffitis, Aufständen und auch mit EMP-Granaten können sie das System nicht stürzen, das muss ihnen doch klar sein.”

“Vielleicht haben sie so etwas wie ein Endspiel gar nicht”, vermutete Ginoza, “Ihre Aktionen sollen womöglich nur die Öffentlichkeit wachrütteln - so lange, bis ihr Zorn auf das System wächst und die Menschen es dann selbst demontieren. Sibyl ist von Menschen erschaffen worden und Menschen können es auch wieder zerstören.”

Akane wollte gerade etwas erwidern, als sich Shion über ihren Communicator meldete.

“Die Auswertung ist beendet, Akane-chan. Glückwunsch, du hast wieder voll ins Schwarze getroffen. So gut wie alle Mitglieder, die bei den vergangenen Aktionen verhaftet wurden, hatten ein ähnliches Profil wie Yakuda. Auch ihr Farbton hatte sich wegen eines traumatischen Erlebnisses getrübt, woraufhin sie ausgegrenzt oder zurückgelassen wurden.”

“Ich wusste es. Danke, Karanomori-san. Sie können dann Schluss machen für heute.”

“Sehr verbunden”, bedankte sich Shion in einem nicht unironischen Singsang.

“Wraith lassen diese Leute absichtlich verhaften”, folgerte Ginoza, “Aber wieso?”

“Aus zwei Gründen, nehme ich an. Auf diese Weise kommen diese Menschen in Therapie und ihr Farbton trübt sich nicht noch weiter. Zum Anderen ist es wieder eine Botschaft. Wraith zeigt dadurch, dass Sibyl nicht von außen bedroht wird. Das System erschafft seine Gegner selbst. Dadurch, dass diese Menschen ausgestoßen und allein gelassen werden, wächst ihre Bereitschaft gegen das System zu kämpfen. Eine glückliche Gesellschaft leistet keinen Widerstand. Wogegen auch?”

Wie um einen Schlussstrich unter ihre Ausführungen zu ziehen, reckte sich Akane und konnte ein lang zurück gehaltenes Gähnen nicht länger unterdrücken.

“So. Jetzt noch die Berichte und dann-”

“Nein”, widersprach Ginoza und legte ihr seine künstliche Hand auf die Schulter, “Du bist seit heute früh auf den Beinen. Du wirst jetzt nach Hause fahren und dich ausschlafen.”

“Aber Sie sind auch seit heute früh auf, Ginoza-san”, entgegnete Akane und klang dabei fast wieder so wie die junge, schmollende Akane von damals.

“Mag sein, aber ich habe mein Quartier gleich hier. Du musst immer noch nach Hause fahren. Also noch einmal: du fährst nach Hause und schläfst dich aus. Morgen wieder zur gleichen Zeit.”

Akane straffte sich, salutierte und antwortete

“Jawohl, Inspektor Ginoza”, nicht ohne ihm die Zunge heraus zu strecken.

Erst als sie in ihrem Wagen saß und ihre Adresse einprogrammiert hatte, um sich vom Autopiloten fahren zu lassen, bemerkte sie, wie müde sie tatsächlich war. Die Lichter der vorbeiziehenden Gebäude und Laternen vermischten sich mit dem Grün des vorbeiziehenden Parks und Akane war eingeschlafen, noch ehe sie zu Hause ankam.
 

So konnte sie auch nicht mehr den auffälligen Mann bemerken, der mitten im Park stand und die vorbeifahrenden Autos beobachtete - einen Mann im grauen Trenchcoat und einer Zigarre in der Linken.

Ein Jugendlicher schlenderte an ihm vorbei und beäugte ihn kritisch.

“Alter, es ist finstere Nacht. Wieso trägst du eine Sonnenbrille?”

Der Mann wandte sich dem Jüngeren zu und zog die Sonnenbrille mit zwei Fingern herunter.

“Krass”, antwortete der Andere mit einem Kopfschütteln und ging weiter.

“Mann, der Drogen- und Alkoholmissbrauch hier nimmt ja geradezu Überhand”, sagte der Mann laut zu sich selbst, “Wird Zeit, dass hier jemand für Ordnung sorgt.”

Mit einem tiefen Zug von seiner Zigarre und einem breiten Grinsen, aus dem der Rauch hervor quoll, spazierte der Mann in die Nacht.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Assassinsgirly
2018-02-26T15:26:17+00:00 26.02.2018 16:26
der Mit dem V Helm kam mir verdächtig bekant vor (erste Staffel bei Makischma ) ist kann das sein das sich darunter Shinya Kogami verbiergt?


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