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Lorem Ipsum

Sommerwichteln '17 "Fremde Ufer"
von

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Das schrille Quietschen, mit dem sich die Tür öffnete und gleich darauf wieder schloss, erzeugte in dem gekachelten Raum einen unangenehmen Widerhall. Geölte Scharniere und ein Türgriff, der nicht so beängstigend locker im Schloss saß, als dass er bei der winzigsten falschen Berührung abzufallen drohte, waren allerdings das kleinste Problem, das ihn hier erwartete, hatte er den Eindruck.

Seufzend fiel die Tür hinter Scott ins Schloss und ließ den Krach aus der Bar zu einem zusammenhanglosen Mischmasch werden, das aus entferntem Geleier eines Countrysongs, der aus einer uralten Musikbox dröhnte, und dem Gestammel der beiden einzigen Einheimischen bestand, die an der Theke saßen und mit dem Wirt über irgendeinen belanglosen Mist stritten. Dagegen wirkte das abgeranzte Männerklo mit dem leise vor sich hinplätschernden Urinal schon fast wie ein Zen-Garten.

So gut es ging, wich Scott den undefinierbaren Pfützen aus, die sich unter dem überlaufenden Urinal angesammelt hatten und von dort aus Fjorde in Miniaturform auf dem gefliesten Boden bildeten. Fjorde aus das-wollte-eigentlich-niemand-so-genau-wissen. In genau so einer Pfütze würde er sterben. Aber nicht heute.

 

Zum ersten Mal in seinem Leben war Scott dankbar, dichte Schuhe zu tragen. Und geimpft zu sein. Es war ja nicht so, dass er erwartet hätte, in einer Hinterwäldler-Bar eine sterile Toilette aufzufinden, aber das hier toppte alles, was er bisher so gesehen hatte - und das war immerhin eine schon nicht mehr überschaubare Menge an Toiletten, die in seinen zweiundzwanzig Lebensjahren zusammengekommen war. Das hier war quasi die verkeimte und schlecht beleuchtete Essenz aller Toiletten auf diesem Planeten.

Überraschenderweise gab die Tür zur Kabine mit der einzigen noch funktionierenden Toilette nicht den kleinsten Laut von sich, als Scott sie aufdrückte. Ohne hinter sich abzusperren, betrat Scott die mit Graffiti übersäte Kabine. Er fühlte sich eigenartig sicher hier an diesem schmutzigen Ort. Wahrscheinlich, weil er sich kaum vorstellen konnte, dass außer ihnen Dreien besonders viele von Außerhalb hier vorbeikamen.

Wie wohl die Bewertung dieser Bar ausfallen würde, wenn jemand auf die Idee käme, eine zu verfassen?

Wenig besuchte, dafür aber authentische Bude am Straßenrand, mit charmanten einheimischen Besuchern. Das Essen ist spärlich und kaum zu identifizieren, aber immerhin gibt es hier keine Mäuse oder Ratten. Wi-Fi ist erstaunlich gut und in den Toiletten stellen aufstrebende Künstler ihre verheißungsvollen Werke aus. Absoluter Geheimtipp! Trotzdem nur 3 ½ von Fünf Sternen, weil die Musikbox bloß vier Songs spielt.

Scott lachte leise vor sich hin. Er betätigte die Spülung, die mit lautem Getöse ein Rinnsal Wasser in die Schüssel spülte und zu seinem Entsetzen auch nach einigen Augenblicken nicht mehr damit aufhören wollte. Wenn das Ding jetzt überlief, nutzten ihm auch seine dichten Schuhsohlen nichts mehr... Verzweifelt zerrte Scott mit beiden Händen an der Spülung, bis sie endlich doch mit einem finalen gequält klingenden Aufheulen stoppte. Seine Erleichterung darüber maß in etwa so viel wie die Menge an Wasser, die beinahe den siffigen Raum geflutet hätte. Die Katastrophe war erfolgreich abgewendet.

Scott löste sich mühevoll von dem Anblick der Toilette, die nun bis kurz unter den Rand mit klarem Wasser gefüllt war. Seine Blicke blieben an den Graffiti hängen, die dicht aneinander gereiht die Wand mit den zersprungenen Kacheln zierten. Für so eine kleine Bruchbude wie diese hier waren es erstaunlich viele Graffiti. Es gab kaum noch einen freien Flecken, der die Originalfarbe der Kacheln besaß. Teilweise war auch schon übereinander gekritzelt worden, weil der Platz einfach zu eng wurde. Den Seitenwänden der Kabine war es auch nicht besser ergangen. Und selbst der Toilettenpapierspender war nicht verschont geblieben.

Neugierig geworden versuchte Scott so viel zu entziffern, wie nur möglich. Viele der Sprüche waren der übliche unlustige Bullshit, den man eben so an Toilettenwänden fand. Deine Mutter-Zeug, diverse Löcher, die man in die Wände gebohrt hatte (um sie dann wiederum in die Graffiti einzubinden), und Zeichnungen, von denen tatsächlich ein paar ganz interessant waren. Das Konglomerat aus aufgerissenen Augäpfeln, die von oben auf denjenigen herabblickten, der vor der Toilette stand, war schon ziemlich cool, auf eine beunruhigende paranoide Art und Weise.

Das obere Drittel beider Seitenwände war von diesem Gewirr an Augen bedeckt, die in alle Richtungen blickten, und nicht einmal die Toilettentür, die etwas niedriger hing, war ausgelassen worden. Es zog sich wie eine Bordüre über die gesamte obere Kante, wo die Wand zur Decke überging und – Scott legte den Kopf in den Nacken – heiliger Sensenmann, selbst die Decke war vollkommen damit zugemalt. Man wurde also rundherum von diesen Augen angestarrt, von denen einige sogar in unregelmäßigen Abständen an langen, verworrenen Sehnen bis knapp auf Augenhöhe hinab baumelten. Ihre teilweise fiebrigen Blicke aus Stecknadelgroßen Iriden weckten auf der Stelle Scotts Fluchtinstinkt, obwohl er sich kurz vorher hier noch so sicher gefühlt hatte.

Wer immer auch der Künstler von den Augen war, hatte scheinbar sehr viel Zeit hier verbracht.

 

Nur mit Mühe konnte Scott seine Blicke endlich von den Augen lösen. Er tat einen Schritt rückwärts, wobei ein Satz, der direkt vor ihm zwischen ein paar dieser Gruselaugen prangte, schließlich doch wieder seine Aufmerksamkeit erregte. Der Satz war so normal unter all den blöden Witzen, über die nur Zwölfjährige lachen konnten, und den irren Augen, dass er ihn lesen musste.

In leicht nach rechts geneigter Schrift stand dort in Rot

 

Bring mich zum Lachen

 

Darunter war eine Telefonnummer notiert, die, wenn man die Schriftart und den benutzten roten Stift berücksichtigte, zu dem Satz obendrüber gehören musste. Die Herausforderung nahm er an, dachte Scott grinsend. Hektisch suchte er seine Hosentaschen nach seinem Handy ab, bis ihm einfiel, dass es irgendwo im Auto unter einem der Sitze auf dem Boden lag, weil es ihm aus der Hand gefallen war, als sie über den mit Schlaglöchern übersäten Parkplatz geholpert waren.

„Shit“, fluchte Scott. Witzig wäre es ja gewesen, aber jetzt rauszurennen und dann wieder zurück zur Toilette zu laufen, würde seine beiden ungeduldigen Begleiter womöglich dazu verleiten, ihn einfach so zurückzulassen.

Leise vor sich hinmurmelnd versuchte Scott sich die Telefonnummer einzuprägen. Was gar nicht so einfach war, wenn man selbst schon ein paar Bier und diverse andere

Sachen zu sich genommen hatte.

„3, 7, 7-“

„Was zur Hölle machst du da?“

 

 

Scott schob die Kabinentür einen Spalt weit auf und erwiderte den vorwurfsvollen Gesichtsausdruck des jungen Mannes vor der Tür mit einem entschuldigenden Grinsen.

„Ich versuche, mir 'ne Telefonnummer zu merken.“

„Auf dem Männerklo... ja...“

Scott warf einen schnellen Blick hinter sich und las die beiden nächsten Zahlen. „Ist ganz witzig, echt.“

„Du bist schon seit einer dreiviertel Stunde hier drinnen.“

„Seit einer dreiviertel Stunde? Was laberst du, ich habe hier bloß-“ die Wand angestarrt... „4, 6-“ Gott, die Nummer war so schrecklich lang. Zu lang für sein übermüdetes Gehirn, das damit beschäftigt war, in seinem Körper den Abbau von Alkohol und anderen spaßigen Dingen zu organisieren. Scott fiel etwas ein. Er riss die Kabinentür wieder ein Stück auf und streckte seine Hand nach draußen. „Gib mir mal dein Handy.“

„Du rufst nicht mit meiner Nummer bei diesem Perversen an!“ Der geforderte Gegenstand wurde in die ausgestreckte Hand gelegt, die auf der Stelle wieder hinter der sich langsam schließenden Tür verschwand.

„Mache ich nicht, keine Panik.“

Ein Klicken aus der Kabine ließ den davor Wartenden, der sich gerade eine Zigarette anzündete, aufhorchen. „Hast du ein Bild von deinem-“

„NEIN!“ Ein weiteres Klicken erklang. „Ich schicke mir nur selbst das Bild mit der Nummer, Himmel-noch-mal, Ben.“

„Was ist daran so interessant?“ Das klang schon etwas versöhnlicher. Scott musste einen Schritt nach vorne machen, als sich die Tür nach innen öffnete und sein Kumpel den Kopf durch den Spalt schob. Bens Augen scannten den Wörterhaufen an der Wand über der Toilette ab. Seine misstrauisch zusammengezogenen Augenbrauen machten klar, was er von den blöden Sprüchen und den dazugehörigen Bildchen hielt.

„Das da“, half Scott Ben mit ausgestrecktem Finger zum Bring mich zum Lachen auf die Sprünge.

„Wegen diesem Scheiß bist du hier seit fast einer Stunde im Männerklo und lässt mich draußen mit Gretchen alleine vor dieser Bruchbude stehen?!“ Ben schnippte die Zigarette in die Toilettenschüssel, wo sie mit einem protestierenden Zischen erlosch. „Weißt du, was für Gestalten hier herumlungern?“

Scott, der sich etwas mehr Begeisterung erhofft hatte, seufzte. Er gab Ben das Handy zurück, der ihn allerdings nicht beachtete. Er hatte den Kopf in den Nacken gelegt und starrte mit offenem Mund die gezeichneten Augen an der Decke an.

Deshalb stehe ich hier schon die ganze Zeit.“ Scott konnte sich das Lächeln nicht verkneifen. Mit jeder Minute, die er länger hier war, gefiel ihm das Konzept mit den Augen besser und besser. „Die Augen gehören wohl auch zur Nummer“, erklärte Scott nicht ohne Stolz über seine Entdeckung seinem andächtig schweigenden Gegenüber. „Manche der Sehnen sind in dem gleichen Rot angemalt.“ Sein ausgestreckter Zeigefinger malte an verschiedenen Stellen Kreise in die Luft.

Ben, der sich langsam von dem Anblick über ihm löste, sah sein selig lächelndes Gegenüber ungläubig an. Mehr als den Kopf zu schütteln, fand er nicht angebracht. Scott war übergeschnappt. Endgültig. „Das ist absolut krank.“

„Das ist Kunst...“

„Äh, ja, Mann, die Entdeckung schlechthin“, murmelte Ben leise. Scott, der die Augen an der Decke fasziniert betrachtete, entging der Spott seines Kumpels. Er nickte bekräftigend.

Als Ben den Mund öffnete, um seinem Freund, den er bereits seit Ewigkeiten kannte, zu sagen, was er von der Sache hielt, fiel ihm eine Stimme von der Eingangstür her ins Wort.

„Ich störe euch ja nur ungern, aber draußen steht eine ziemlich wütende, junge Lady, die nach den beiden Idioten fragt, von denen einer eigentlich nur kurz aufs Klo wollte.“

Weil Scott wohl nicht mehr Herr seiner bekloppten Sinne war und wie eine Statue vor dem Klo stand und die Decke anstarrte, streckte Ben den Kopf aus der Kabine und warf dem Wirt einen entschuldigenden Blick zu. „Lässt sie sich irgendwie besänftigen?“

Der Wirt wiegte seinen Kopf bedächtig von einer Seite zur anderen. „Könnte knapp werden, so geladen wie die ist.“

„Wir sind gleich fertig mit-“ Ben gestikulierte mit einer Hand über sich in der Luft, was der Wirt natürlich nicht sehen konnte. „Mit Zeug eben...“

Der Wirt wedelte mit der Hand. Das war das internationale Zeichen dafür, dass er nicht mehr wissen wollte als nötig. „Was auch immer“, sprach's und verschwand wieder nach draußen.

Ben stieß Scott in die Seite. „Komm jetzt, Mann, du hast dein Bild und deine Nummer. Gretchen wartet und ich habe auch langsam keine Lust mehr, noch länger hierzubleiben. Ich will wieder zurück in die Zivilisation. Mich ungesund ernähren, zu wenig schlafen und so.“

Wie in Trance folgte Scott seinem Freund nach draußen in den Schankraum, wo sie von Gretchen begrüßt wurden, die inzwischen bei den beiden Einheimischen an der Theke saß und einen Cocktail vor sich stehen hatte.

 

„Ihr habt ja Nerven“, zischte die junge Frau die beiden Rückkehrer an. Sie hielt den kleinen Papierschirm aus ihrem Glas anklagend auf Ben und Scott gerichtet. „Will ich wissen, was ihr so lange auf dem Klo gemacht habt?“

Die beiden Einheimischen, die auf den Barhockern neben Gretchen saßen, schüttelten unisono den Kopf.

„Frag das den Irren hier neben mir.“ Ben machte eine schnelle Handbewegung zu Scott hin, der weder Gretchen noch sonst viel um sich herum richtig wahrzunehmen schien. „Der Verrückte musste sich ja noch unbedingt die Nummer von irgendeinem Perversen aus der Männertoilette abfotografieren.“

Der unglaublich riesige Fleischberg, der neben Gretchen an der Theke saß und ein Bier trank, unterdrückte mühsam ein Kichern, das seine überdimensionalen Schultern zum Beben brachte.

„Du hast sie wohl nicht mehr alle“, stieß Gretchen verblüfft aus. Sie wartete, bis Scott sie ansah. „Haben dir deine Eltern nicht beigebracht, dass man so etwas nicht macht?“

„Eigentlich... nicht“, gab Scott ehrlich zu. „Können wir uns beeilen? Ich hab noch was vor.“

„Jetzt wartet ihr schön auf mich.“ Gretchen wandte sich von ihren beiden Freunden ab und ihrem Cocktail zu. Geräuschvoll trank sie durch den neonrosa Strohhalm, der in dem knallgelben Getränk stach. „Der schmeckt echt gut“, lobte sie das Getränk.

Der Wirt grinste verlegen. „Wir haben nicht so viel Gelegenheit, die mal zu mixen, sonst wäre er sicher noch besser.“

„Das gibt 'nen Stern mehr in der Bewertung“, murmelte Scott vor sich hin und schlenderte zur Tür.

 

„Du willst doch nicht wirklich diese verdammte Nummer anrufen?“ Ben ließ sich auf den Beifahrersitz fallen. Er wandte sich nach hinten zur Rückbank. Scott saß da und starrte gebannt auf das leuchtende Display in seinen Händen.

„Zu spät“, antwortete Scott abgelenkt und sah dabei zu, wie die Häkchen die Ankunft seiner gesendeten Nachricht bestätigten. Das „Wie?“ in dem Textfeld verschwand, als sich Bens Hand über das Display legte.

„Ganz ehrlich, man muss kein Genie sein, um zu wissen, dass bei Nummern, die in Toiletten an der Wand stehen, nichts Gutes herauskommt.“ Bens Stimme klang beschwörend, als wolle er sicher gehen, dass die Worte auch wirklich hinter Scotts sturer Stirn ankamen, der den Blicken seines Freundes vehement auswich und auf dessen Hand starrte, die noch immer das Display verdeckte.

„Hör auf mit dem Mist“, fügte Ben noch hinzu, ehe er die Hand von Scotts Handy nahm.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von: abgemeldet
2017-12-27T16:31:08+00:00 27.12.2017 17:31
Ich melde mich schwer verspätet in den Kommentaren zu deiner Story. Das tut mir echt leid, es ging in meinem Schreibwahnsinn für meine Bachelorthesis unter. Aber jetzt bin ich da, ich bin da.
 
Ich hatte dir ja schon geschrieben, dass deine Geschichte spitze ist. Jetzt, wo ich sie noch einmal lese, finde ich sie immer noch spitze! Dein Schreibstil ist so herrlich detailreich und hebt sogar Dinge hervor, die woanders sehr schnell unter den Tisch fallen. An diesem Kapitel mag ich die ausführlichen Gedanken von Scott, besonders die zur Landschaft in der Toilette. „Fjorde aus das-wollte-eigentlich-niemand-so-genauwissen.“ Und das Gespräch mit Ben. Ehrlich gesagt, war ich Bens Meinung, dass man besser keine Nummer von der Toilettenwand anruft. Aber ich wollte genau wie Scott wissen, was hinter dem gruseligen Gemälde an der Wand steckt. Ich meine, wie kommt man darauf viele, viele Augen an die Wand zu malen, auf einer schlecht besuchten und gepflegten Herrentoilette? Ich war erleichtert, dass Scott den Künstler stellvertretend für uns alle anschrieb. Ich hätte es nicht getan. Nie-mals.
 
Als besonderes Leckerlie des Kapitels möchte ich die geile Bewertung des Lokals hervorheben. 3 ½ Sterne sind da echt noch gut gewählt. 4 ½, wenn man den Stern für Gretchens Drink dazu zählt.


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