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Lorem Ipsum

Sommerwichteln '17 "Fremde Ufer"
von

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Zum tausendsten Mal hatte Scott die Bilder aus der Toilette herangezoomt und dann so lange darauf gestarrt, bis das Display erloschen war. Mittlerweile kannte er so ziemlich alle Details aus dem Augen-Graffiti. Jede gezackte Ader, die wie elektrisierte Würmer aus den Augenwinkeln hin zur Mitte krochen, jede Falte in den unzähligen Iriden. Ihm war sogar aufgefallen, dass nicht alle Augen menschlich waren. Einige hatte längs geschlitzte Pupillen, andere waagerecht geschlitzte und weitere waren weder menschlich noch tierisch, hatte er den Eindruck. Es gab auch Augäpfel, die komplett weiß waren, andere schwarz, bei den nächsten schienen die Adern wie laublose Äste, die die Augen fest im Griff hatten, oder die Iris war einfach ein schwarzer Abgrund. Sie waren allerdings in der Minderheit und sollten wohl Gimmicks sein, dafür, dass man sich weiter mit dem Gesamtwerk beschäftigte. Jedenfalls würde er es so tun, wenn er vorhatte, so ein Bild zu malen. Was der Künstler damit bezweckt hatte, hatte er ihm noch nicht verraten. Die Antwort auf das Wie? war er ihm noch immer schuldig, obwohl seitdem bereits mehr als zehn Stunden vergangen waren.

Scott drehte sich in seinem Bett auf die Seite. Sein Wecker hatte ihn schon vor vier Stunden daran erinnert, dass es Zeit war, aufzustehen, was unnötig war, denn er hatte keine Sekunde geschlafen. Immer, wenn er kurz vorm Einschlafen gewesen war, fiel ihm etwas anderes ein, was er meinte, in dem Bild erkannt zu haben, nur um gleich darauf sein Handy vom Nachtschrank zu holen und die Bilder durchzugehen.

Jetzt war es früher Nachmittag und er war völlig fertig. Weniger wegen des fehlenden Schlafs, sondern mehr wegen der noch immer unbeantworteten Frage. Nicht einmal der einsetzende Hunger hatte Scott aus dem Bett getrieben, und auch Bens halbes Dutzend Anrufe hatte er bis jetzt gekonnt ignoriert. Für nichts.

Entmutigt legte Scott sein Handy zur Seite. Wer hatte Sonntagmittags so viel zu tun, dass er nicht einmal eine einzige Frage beantworten konnte? Erst recht nicht, wenn man praktisch dazu aufgefordert worden war, sie zu stellen?

 

 

„Vielleicht arbeitet die Person Sonntags?“ Gedankenverloren stocherte Scott mit der kleinen Plastikgabel in der eckigen Packung mit den dampfend heißen Nudeln herum.

„Schön blöd“, murmelte Ben, der neben Scott auf dem niedrigen Mäuerchen saß und eine Zigarette rauchte, während er gelangweilt den Worten seines Kumpels lauschte.

„Warum blöd, kann ja auch was wichtiges sein, was er oder sie tun muss.“

„Ich meinte auch dich“, fiel Ben Scott ins Wort. „Heute ist Dienstag. Du wartest seit Sonntag auf eine Antwort und redest seitdem von nichts anderem mehr.“ Ben stieß eine Rauchwolke aus und sah ihr zu, wie sie sich verflüchtigte. „Es war nur 'ne Nummer aus dem Männerklo, die irgendein gelangweilter Typ dort an die Wand gekritzelt hat. Er hat vermutlich noch nicht mal damit gerechnet, dass dort jemand auftaucht, sich die Nummer tatsächlich notiert und ihm dann schreibt.“

Scott hatte aufgehört, in den Nudeln nach Kanton Art zu stochern. „Wie kommst du darauf, dass es ein Er ist?“

„Oh bitte“, lachte Ben trocken auf. Er sah seinen Freund an, der eine Gabel voll Nudeln mit dunkler Soße in der Hand hielt. Die Soße tropfte auf Scotts Hose und bildete dort ölige Flecken, und Scott schien das noch nicht mal wahrzunehmen.

„Willst du mir echt weismachen, dass eine Frau ins Männerklo spaziert und dort ihre Telefonnummer an die Wand schreibt? In welchem Universum ist so etwas jemals passiert?“

„Ich sagte nur, dass es möglich wäre.“ Scott klang angefressen. Er stach die Gabel in den noch nicht mal zur Hälfte gegessenen Nudelberg und stellte den Karton zur Seite.

Ben seufzte auf eine Art, die deutlich machte, dass er langsam Mitleid mit diesem riesen Hornochsen bekam, der sich seit mehr als fünfzehn Jahren sein Freund nannte. „Vielleicht ist die Nummer ja auch nicht mehr vergeben“, räumte er, wenn auch widerwillig, dem Frieden zuliebe ein.

„Die Nachricht kam aber an.“ Scotts Hand griff instinktiv nach seinem Handy, doch Bens unabsichtlich verständnisloser Blick ließ ihn innehalten. Er sah später nach. Einen Moment ärgerte er sich darüber, dass er sich Ben gegenüber schon verpflichtet fühlte, zu beweisen, dass er nicht übertrieb, aber langsam gingen ihm die Ideen aus, wie er seinem Freund klarmachen konnte, dass es ihn echt interessierte, wer sich so viel Zeit genommen hatte, um eine Toilettenkabine so sorgsam zu bemalen. Da musste einfach mehr dahinter stecken, als Ben zuzugeben bereit war.

„Meine Mittagspause ist vorbei. Wenn ich zu spät komme, zieht mir Paps das wieder vom Lohn ab...“ Ben erhob sich von seinem Sitzplatz. Er setzte sich die weiße Mütze mit dem roten chinesischen Schriftzug auf den Kopf und schwieg einen Moment nachdenklich. „Ich gehe jede Wette ein, dass sich irgendeiner dieser Hinterwäldler dort 'nen Scherz mit einem seiner Hinterwäldlerfreunde erlaubt hat. Das ist alles. Ende der Geschichte.“

Scott zwang sich, das aufmunternde Lächeln zu erwidern, das ihm sein Freund zuwarf, doch im gleichen Moment sah er an Bens dunklen, fast schwarzen Augen, dass er es ihm nicht abkaufte, und ließ es sein.

„Morgen Abend bei dir? Wir müssen es immerhin ausnutzen, so lange du Sturmfrei hast.“ Ben legte den Kopf leicht schief und wartete geduldig auf die Antwort. Zu seiner Erleichterung nickte Scott.

„Bring bitte nicht wieder alle Reste aus dem Restaurant mit“, witzelte Scott und klang schon fast wieder so, wie Ben ihn kannte.

 

 

Ein heller Ton kündigte die eingehende Nachricht an. Natürlich dann, als Scott gerade unter der Dusche stand.

Wird später. Ben

Scott wischte die nassen Flecke vom Display, die seine Finger dort hinterlassen hatten, und feuerte das kleine Gerät ungehalten zurück auf die schmale Ablage über dem Waschbecken.

Er ärgerte sich kurz darüber, dass er bei dem Sprint aus der Dusche heraus und zu seinem Handy hin, fast auf den Fliesen ausgerutscht wäre. Das wäre Bens absoluter Triumph gewesen, wenn er ihn hier tot mit vom Sturz aufgeschlagenem Schädel und dem Handy in seinen erkalteten Fingern vorgefunden hätte, auf dem tausend Nachrichten eintrudelten, nur eben nicht von der Nummer aus der Bar. Scott würde es ja nicht mehr mitbekommen, weil er dann immerhin tot wäre, aber in der Kommentarspalte seiner Traueranzeige würde sich Ben das Ich hab's dir ja gesagt sicherlich nicht verkneifen können. Und er ärgerte sich darüber, dass Ben somit recht behalten würde, dass er langsam aber sicher so tief in dieser Sache stach, dass nur noch seine Zehen zu sehen waren.

Scott zuckte zusammen, als die nächste Nachricht einging. Er dachte einen Moment darüber nach, sie einfach zu ignorieren und sich endlich den Schaum aus den Haaren zu waschen, der ihm in die Augen lief – schließlich standen die Chancen schlecht, dass es ausgerechnet jetzt die erwartete Nachricht sein würde – aber er konnte der Versuchung doch nicht widerstehen und schlich (dieses Mal vorsichtiger) zu seinem Handy hin.

Schon passiert. Danke verkündete das Pop-Up auf dem Display.

Ratlos las Scott die Nachricht ein weiteres Mal.

Schon passiert?

Er sah auf die Nummer und jubelte innerlich. Endlich!

 



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von: abgemeldet
2017-12-27T16:31:42+00:00 27.12.2017 17:31
Oh, Scott. Scotty. Scottylein. So verzweifelt wegen einer Handynummer an einer unbedeutenden Wand. Scott muss sich echt viel von dem Augenbild versprechen, wenn er nach drei Tagen noch immer verrückt danach ist und es in- und auswendig zu kennen scheint. Wird man verrückt, je länger man das Bild ansieht? Bei Scott sieht es ganz danach aus! Er ist wirklich verrückt, aber wenigstens hat er jetzt eine Antwort bekommen, wenn auch eine enttäuschende Nachricht. Als ich die Geschichte das erste Mal gelesen habe, dachte ich, dass di Nachricht bedeutet, dass sich schon jemand anderes vor Scott gemeldet hatte und die zwei Personen schon etwas Lustiges erlebt hatten. Ich denke, wenigstens zum Teil war das richtig.


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