Zum Inhalt der Seite

Seelenkrank

von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Zu spät

Die darauffolgenden Tage holte ich alles, was ich in der Schule versäumt hatte, nach. Basti hatte sich die Mühe gemacht und fast alles für mich mitgeschrieben. Ich musste oft an Nici denken. Wie es ihr wohl ging? Doch irgendwie hatte ich auch Angst, mich nach ihr zu erkundigen, weil es ja schlimm sein könnte. Ich war doch echt voll der Schisshase und ein noch miserabler Freund. Ich hatte sie betrogen. Mit einem Kerl. Nicht irgendeinem Kerl, mit Juka. Und es war falsch gewesen, diese Grenze zu überschreiten, denn jetzt war ich nicht besser, als meine beschissenen Eltern, die sich seit Jahren gegenseitig betrogen. Dieser Gedanke breitete sich wie Gift in mir aus und ich ertrug es nicht, dieses süße Mädchen so schlecht behandelt zu haben.

Auch, wenn es Juka nicht unbedingt für gut hieß, unternahm ich in den nächsten Tagen viel mit Tim. Die Gründe dafür waren mehr als eindeutig. Ich musste Juka aus dem Weg gehen, auch, wenn mein Körper etwas anderes wollte.

„Hast du dich wieder mit deiner Mum vertragen?“

„Nee, ich hab ihr vor ein paar Tagen mal gesagt, was ich von ihr halte. Daraufhin hat es ihr die Sprache verschlagen und wir reden irgendwie nicht mehr miteinander. Auch egal. Hast du zufällig was von Nici gehört?“

„Nein, war mal dort, da hat sie geschlafen. Ich hoffe sie wird wieder. Ich hab die Kleine echt total liebgewonnen.“

„Nich nur du. Aber ich will mal hoffen, dass das Leben auch ohne sie weitergeht oder?“

„Wie kannst du nur sowas denken? Hast du sie etwa aufgegeben?“

Ich zuckte mit den Schultern.

„Weiß nich…vielleicht. Ich meine, wie lange is sie jetzt schon da?“

„Du hast nen Knall Lukas…ich dachte immer sie ist die Liebe deines Lebens?“

„Manchmal denk ich die, diese Art von Liebe existiert nich…ich meine…ich mag Nici, sehr sogar, aber ich bin nich sicher, ob ich sie liebe…irgendwas fehlt da.“

Tim schüttelte nur mit dem Kopf und gab mir zu verstehen, dass er mir nicht folgen konnte. Deshalb wechselte er das Thema.

„Denkst du, dass du morgen wieder singen kannst?“

„Klar. Ich hab auch schon ein paar Texte fertig. Zwei Deutsche und drei Englische, kannst dir ja mal anschauen.“

„Oder wir treffen uns heute so um zehn Mal alle im Proberaum und wehrten sie aus. Was hältst du davon?“

„Ja das geht auch. Ich geh jetzt erst mal nach Hause. Komm später noch mal zu dir.“

Ich kaufte mir auf dem Heimweg noch zwei Schachteln Zigaretten und machte mich dann auf den Weg zur Höhle des Löwen. Bei dem Gedanken musste ich schmunzeln.

Es war gar keiner da, als ich zu Hause ankam. Ich sprang halbnackt durch die Wohnung und beschloss erst einmal ein heißes Bad zu nehmen. Ich lag fast zwei Stunden in der Badewanne, im Hintergrund hatte ich Musik laufen, The 69 Eyes.

Oben in meinem Zimmer kramte ich erst mal alle Armbänder und Ketten hervor und überlegte, welche davon ich umtun könnte. Ich entschied mich für das Killernietenarmband mit passendem Halsband und eine Kette mit Pentagramm.

Ich aß noch eine Kleinigkeit, schlüpfte in meine Hose und ging zu Tim.

Wir trafen uns mit Flo, Chris und Basti vorm Proberaum.

„Lukas, Mensch wo warst du denn so lange?“

„Das willst du nicht ernsthaft wissen. Hauptsache ist, dass ich am Leben bin, okay!“

„Wir haben dich alle ziemlich doll vermisst. Wollten die Band schon auflösen, weil deine Stimme gefehlt hat.“

„Ja ja. Ihr hättet das auch ohne mich geschafft. Widmen wir uns erst einmal den Texten.“

Meine Jungs waren von meinen Dichtkünsten sehr beeindruckt, nun mussten wir das ganze nur noch in ein Lied umsetzten und das war nicht gerade leicht. Nach ungefähr zwei Stunden hatten wir eine passende Melodie zu einem der Texte gefunden, es klang sogar richtig gut. Mit den anderen Liedern ging es ziemlich schnell voran und wir waren stolz auf uns. Tim wollte schnell nach Hause zu Alex und auch Chris meinte, dass er noch was vor hatte. Das kam mir sehr gelegen, denn ich musste mit Basti und Flo reden. Auch meine besten Freunde schienen zu merken, dass mich etwas bedrückte. Unruhig rutschte ich auf meinem Sessel hin und her, zündete mir eine Zigarette an und schaute meine Jungs an.

„Maaaaaan Lukas, jetzt mach’s nich so spannend!“, beschwerte sich Flo.

„Ich hab Mist gebaut und ich muss mit irgendwem drüber reden, sonst platz ich…“, begann ich und meine Freunde schauten mich mit einer Mischung aus Neugier und Entsetzen  an.

„Okkkayyy…um was geht es…Drogen?“ fragte Basti besorgt, doch ich schüttelte den Kopf und nahm einen tiefen Zug.

„Basti, an dem Tag, als ich aus der U-Haft entlassen wurde, hast du mich doch mit Juka besucht…naja und ich hab noch lange mit ihm geredet…es war gut…mehr als das…es is anders als mit euch. Ihr seid immer da, versteht mich…mögt mich trotzdem…aber er…fuck, ich hab keine Ahnung, wie ich das beschreiben soll. Egal…lange Rede, kurzer Sinn…wir hatten Sex…noch dazu ziemlich guten…so, jetzt ist‘s raus und ihr haltet mich sicher für den absoluten Oberarsch“, beendete ich meine Rede. Basti spuckte sein Bier über den halben Tisch und Flo verschluckte sich am Rauch seiner Zigarette. Der kleine Rotschopf stand auf und holte einen Lappen, um die Sauerei weg zu wischen. Flo kratzte sich am Kopf und ich vermochte seinen Gesichtsausdruck nicht zu deuten, was mich noch mehr verunsicherte.

„Du…hast Juka gevögelt…wow…das ist krass, aber mich überrascht es jetzt nich…“

„What? Was ist denn bei dir kaputt Flo? Lukas hat Nici betrogen, das ist mehr als großer Mist…vor allem in ihrem Zustand…ich glaub’s nicht. Wie konnte das passieren?“, tadelte mich mein Freund und augenblicklich schossen mir die Tränen in die Augen.

„Glaubst du, das weiß ich nich Basti? Es fühlt sich richtig beschissen an…ich weiß nich, was ich machen soll“, fuhr ich ihn verzweifelt an, doch Flo unterbrach uns.

„Bei mir is so einiges kaputt Bastischatz, aber darum geht’s nich…Lukas, ich hab dir schon Mal gesagt, dass das mit Nici und dir nich wirklich funktioniert und ganz ehrlich Basti, du kennst unseren Chaoten hier…Nici is süß, hübsch, intelligent und vieles mehr, aber sie wird nie zu Lukas durchdringen…das gelingt uns ja schon kaum…“, wisperte Flo seine Worte und das traf mich irgendwie, denn es führte mir nur mehr vor Augen, wie kaputt ich wirklich war, wenn es nicht einmal meinen besten Freunden gelang, an mich ran zu kommen. Wenn ich sie, ohne es mir wirklich bewusst zu machen, von mir stieß. Das war heftig und der Schalter in meinem Gehirn brannte durch. Ich brach zusammen. Schon wieder. Doch Basti und Flo waren bei mir.

„Hey Schnuckelchen…alles wird gut…wir sind da und du kannst noch so viel Mist bauen, wir sind immer da…aber jetzt komm Mal wieder runter. Wir bekommen das hin“, tröstete mich Flo und auch Basti legte seinen Arm um mich. Sie nahmen mich in ihre Mitte.

„Ich bin nich besser als meine verfickten Eltern…ich wollte Nici nie betrügen, das hat sie einfach nich verdient…und gerade jetzt? Wie scheiße muss ein Mensch denn sein? Ich komm darauf einfach nich klar!“, schluchzte ich.

„Aber Mal was anderes…liebst du Juka?“, fragte Basti ruhig.

„Keine Ahnung…dieses Wort befindet sich nich in meinem Wortschatz…ich bin unfähig zu lieben…es is so krass gerade und dieses Gefühl, mir selbst weh zu tun is stärker denn je…ich will mir Schmerzen zufügen, damit das Chaos in meinem Kopf besser wird…“, redete ich weiter und es überraschte mich selbst,  dass ich das vor meinen Freunden das erste Mal so wörtlich kommunizierte.

„Das wirst du aber nich tun, mein Schatz. Das lass ich nich zu…Basti, können wir zu dir? Ich fürchte wir können den Süßen hier heut unmöglich allein lassen.“

„Klar, keine Frage. Ich bestell uns ein Taxi“, antwortete der Rotschopf und zückte sein Handy.

„Womit hab ich euch nur verdient“, flüsterte ich mehr zu mir als zu meinen Freunden.

„Weil du toll bist. Süß, liebevoll, manchmal etwas verrückt…hast nen dezenten Hang zum Dramatischen…du magst uns, dir isses egal, wer wie viel Kohle hat…du siehst das Gute im Menschen und nich zu vergessen, du bist ein verflucht guter Musiker.“

Flo gab mir einen Kuss auf die Wange und wenige Minuten später traf auch schon unser Taxi ein.

Der Freitag, an dem wir unser kleines Konzert gaben, rückte immer näher und ich war total von der Rolle.

Es war Donnerstag und ich lag in meinem Zimmer auf dem Bett. Tim hatte mir erzählt, dass er Nici besucht hatte und es gar nicht mal so schlecht um sie stand. Ich brachte es dennoch nicht fertig sie zu besuchen. Doch sollte ich nicht krank sein vor Sorge und ihr jeden Tag Beistand leisten? Das war doch wieder Mal ein eindeutiger Beweis, dass mir Nici eigentlich egal war und das, was ich für sie empfand war nicht das, was man Liebe nennen konnte. Vor allem nicht nach allen, was mit Juka passiert war. Ich erhob mich vom Bett und wollte gerade raus gehen, um frische Luft zu schnappen, da stieß ich fast mit Jojo zusammen, die gerade total verheult durch die Eingangstür stolperte. Sie schaute mich nicht an.

„Hey Kleine, was ist denn los?“

„Ich habe gerade mitbekommen, wie Mutti und Klaus über dich geredet haben, wenn das wirklich alles stimmt dann.....dann hasse ich dich!“

„Warum? Was haben sie denn über mich erzählt?“

„Ich habe nur etwas von Gefängnis mitbekommen...und ...und was von Drogen.“

„Warte mal kurz hier, ich komme gleich wieder. Okay!“

Ich eilte die Stufen hinunter. Meine Mum stand mit Klaus im Hausflur. Ich platze zwischen das Gespräch der beiden.

„Warum musstest du das in Johannas Nähe erwähnen? Bist du jetzt froh, dass sie stinksauer auf mich ist? Du weißt ganz genau, dass ich nie wollte, dass sie davon etwas mitbekommt.“

„Konnte ich denn wissen, dass deine Schwester zuhört? Außerdem stimmt es doch, was ich gesagt habe oder etwa nicht?“

„Ich habe mein Leben wieder im Griff, wahrscheinlich besser, als du das deine. Es ist doch das Beste, wenn ich ausziehe. Dann bist du mich wenigstens los und das dann für immer.“

Ich hatte keine Lust jetzt noch groß eine Auseinandersetzung mit ihr zu führen und verschwand wieder nach oben, um mich um Jojo zu kümmern.

„Also stimmt es doch! Hab ich Recht?“

„Ja. Aber das hat auch seinen Hintergrund und den wird sie nie verstehen.“

Jojo umarmte mich und ich nahm sie auf den Arm.

„Könnt ihr euch nicht ein einziges Mal verstehen?“

„Nein. Sie hat mich zu sehr verletzt. Ich hab auch versucht ihr das zu erklären, aber sie wollte einfach nicht wahrhaben, dass sie so einen miesen Charakter hat. Mir soll es auch egal sein.“

„Willst du echt ausziehen?“

„Ich weiß es nicht. Am liebsten schon, aber ich will dich nich allein lassen.“

Doch da stellte sich doch auch noch die Frage, wohin ich eigentlich ziehen wollte?  Zu meinem Vater? Das kam nicht in Frage, denn da konnte ich auch genauso gut hier wohnen bleiben. Jedoch ein paar Tage Abstand wären wirklich nicht schlecht. In meinem Zimmer grübelte ich, wie es jetzt weitergehen sollte. Meine Mutter und ich hatten uns seit unserem letzten Streit nicht mehr wirklich unterhalten und sie wurde mir immer fremder. Es kam mir schon fast so vor, als ob ich gar keine Mutter mehr hätte. Das war die bittere Realität, doch was sollte ich dagegen tun? Wie oft hatte ich schon versucht mit ihr zu reden? Wie oft hatte ich ihr schon beweisen wollen, dass ich sie doch mochte, aber alles ohne Erfolg. Komischerweise stellte ich immer öfter fest, dass mich diese Dinge nicht mehr so störten, wie vor einem Jahr. Ich hatte mich daran gewöhnt und langsam war sie mir auch egal.

Meine Schwester hatte heute ihren Papa-Tag und bat mich, sie zu begleiten. Nach einigen Minuten des Zögerns willigte ich schließlich ein.

Die Wohnung lag nicht sehr weit von unserem Haus entfernt. Ich klingelte. Sonja, die Freundin meines Vaters öffnete uns die Tür.

„Ist Papa da?“, fragte Jojo.

„Ja er ist oben. Kommt doch mit rein.“

Ich war noch nie mit in der Wohnung gewesen, hatte Sonja aber schon ein paar Mal gesehen und mich auch mit ihr unterhalten. Sie hatte mir viel von ihrer Tochter erzählt. Sie hieß Jennifer und war 14 Jahre alt. Die Wohnung war nicht besonders groß und ein bisschen spießig eingerichtet mit Möbeln von IKEA. Mein Dad freute sich, als er Jojo sah. Meine Anwesenheit schien ihn jedoch weniger zu begeistern.

„Kann ich euch was zu Trinken bringen?“, fragte Sonja.

„Nein danke“, sagte ich. Jojo wollte einen Orangensaft. Mein Vater fragte mich, ob er mal mit reden könne, bevor er mit Johanna und Sonja seinen Ausflug startete. Wir setzten uns hinaus auf den Balkon.

„Wie läuft es zu Hause? Kommt Johanna klar?“

„Denk schon, sie is‘n taffes Mädel.“

„Naja, mir liegt viel an ihr…sie hat erwähnt, dass sie manchmal in der Schule nicht so ganz mitkommt.“

Ich lachte traurig, denn auch wenn es mich irgendwie freute, dass sich mein Vater um Jojo sorgte, fragte er nicht einmal nach, wie es mir ging.

„Ich werde mal mit ihr reden und sehen, was ich tun kann.“

Nach einem Moment des Schweigens redete er weiter und versuchten einen auf perfekten, fürsorglichen Vater zu machen.

„Wobei wir ja aufpassen müssen, dass sich deine Schwester nicht zu viel von dir abschaut. Oder was war das mit dem Gefängnis?“

Ich wollte meinem Dad nicht auf die Nase binden, dass ich mein Drogenproblem wieder mal nicht in den Griff bekommen habe. Er schien mir anzusehen, dass es sich um etwas Ernsteres handelte.

„Du bist schon so ein Pflegefall. Sag schon, was ist passiert?“

Ich seufzte und beschloss ihm die Wahrheit zu sagen.

„Ich bin jetzt als vorbestrafter Junkie bei der Polizei registriert. Zufrieden?“

Mein Vater schüttelte nur mit dem Kopf und musterte mich mit einem strengen Blick.

„Um ehrlich zu sein, kann ich deine Mutter da schon verstehen. Ich meine, ich war in deinem Alter auch nicht einfach, allerdings hatte ich nie was mit Drogen zu tun.“

„Das brauchst du mir nicht zu sagen, außerdem weiß ich selbst, dass ich Mist gebaut hab. Immerhin macht ihr beide Fortschritte und sorgt euch wenigsten um Jojo.“

Mein Dad sah mich mit einem seltsamen Blick an, den ich nicht so recht deuten konnte.

„Anderen Jugendlichen in deinem Alter geht es noch viel schlechter Lukas und die kommen im Leben auch klar. Machst du uns etwa Vorwürfe? Willst du sagen, dass wir für deine Missetaten verantwortlich sind?“

„Warum sollte ich das tun? Dafür kann ich niemanden verantwortlich machen, aber ich kann euch für euren Egoismus und eure Missachtung verantwortlich machen. Als du noch zu Hause gewohnt hast, hat es dich komischerweise nich gekümmert, was Jojo macht und jetzt? Erst, als du erfährst, dass sie Probleme in der Schule hat, läuten deine Alarmglocken und auf einmal spielst du hier den perfekten Vater und unternimmst sogar etwas mit deiner Tochter. Und Mutti ist nich anders. Ich hab einfach die Schnauze voll.“

Er erwiderte lange nichts. Dachte er etwa über meine Worte nach? Wohl kaum. Dann seufzte er.

„Tja, was soll ich dazu noch sagen? Du hast schon immer deinen eigenen Kopf gehabt und da kann ich wohl nichts machen. Es tut mir leid, dass das Verhältnis zwischen uns nicht besser ist.“

War das alles, was er dazu zu sagen hatte? Ich konnte das nicht fassen und das bestätigte mir wieder mal, dass ich ihm auch jetzt mehr oder weniger egal war.

Er verschwand wieder ins Wohnzimmer. Ich rauchte eine Zigarette und plötzlich vernahm ich eine zaghafte Stimme hinter mir.

„Du bist also Lukas.“

Jennifer trat auf den Balkon. Sie war echt süß,  groß, schlank und ihre Haare reichten bis zur Schulter. Ihr schmales Gesicht wurde halb von ihren blonden Haare verdeckt. Sie trug am linken Arm ein Nietenarmband und am rechten vier oder fünf Lederarmbänder. Um ihren Hals hing eine Kette mit einem kleinen Totenkopf. Sie erinnerte mich ein bisschen an die putzige Punkrockerin Avril Lavigne.

„Ja, ich bin Lukas und du Jennifer, stimmt’s?“

Sie grinste mich etwas verlegen an.

„Ja. Fände es aber cooler, wenn du Jenny zu mir sagst.“

„Klar Jenny.“

Ihr stieg eine leichte Röte in die Wangen.

„Du siehst echt abgefahren aus.“

Ich musste lachen. Das hatte schon lange keiner mehr zu mir gesagt.

„Naja, wenn du das sagst.“

„Bist du jetzt öfter hier?“

„Kommt drauf an.“

„Eigentlich sind wir ja so ‚ne Art Geschwister oder?“

Ich musste lächeln. Jenny gefiel mir irgendwie.

„Ja schon. Schlimm?“

„Nee, im Gegenteil. Ich wollte schon immer so einen großen Bruder haben.“

„Aber ich habe ja auch noch eine richtige Schwester.“

„Ja, Johanna, die kenn ich bereits…sie ist 12 oder?“

„Genau.“

„Ich kann das ja eigentlich auch nicht von dir verlangen, aber schön wäre es trotzdem.“

Wir lächelten uns an.

„Wenn du willst können wir heut Nachmittag auch was zusammen machen, wenn du nichts anderes vorhast.“

„Cool, meinst du das ernst?“

„Ja klar, meinst ich frag dich nur zum Spaß? Wir könnten noch einen Kumpel abholen und dann ins Schwimmbad gehen oder an den See. Ich kenne da einen ganz in der Nähe!“

„Ja cool. Ich pack nur noch ein paar Badesachen zusammen, dauert nicht lange.“

„Ach, da muss ich ja auch noch mal nach Hause. Ich bin einer halben Stunde wieder hier. Okay?“

„Ja, bis gleich.“

Ich rief Flo unterwegs an und fragte, ob er Lust hätte mit schwimmen zu kommen.

„Natürlich, immer doch.“

„Ich hole dich so in einer halben Stunde ab.“

„Jo. Bis dann.“

Ich wartete im Wohnzimmer auf Jenny. Sie sagte ihrer Sonja noch Bescheid, dass sie mit mir schwimmen gehen wollte.

„Aber pass mir ja auf Jenny auf.“

„Klar mach ich das. Ihr müsst euch keine Sorgen machen.“

„Okay dann bis später.“

Flo brauchte mal wieder eine halbe Ewigkeit, bis er endlich fertig war.

„Ja, also, das ist Jenny, Jenny, das ist der Flo.“

Beide begrüßten sich mit einem Lächeln.

„Wollen wir wirklich ins Schwimmbad, Lukas? Vielleicht ist da ja auch die tolle Jessica“, ärgerte mich mein bester Freund und ich streckte ihm die Zunge raus.

„Mir egal. Wir können auch zum Baggersee, da isses eh viel schöner.“

„Gut. Hast du was zum Trinken mit?“

„Jo. Holst auch noch was, sonst wird es knapp. Ich hab nur zwei Bier.“

Flo ging noch was holen.

„Ist Flo in deiner Klasse?“

„Jepp. Flo, ich hab mal noch Basti und so Bescheid gesagt, die woll‘n eventuell nachkommen.“

„Klar.“

„Kann ich mir vorstellen. Ich wusste gar nicht, dass es hier in der Nähe einen Baggersee gibt“, sagte Jenny.

„Tja, jetzt weißt du‘s.“

Wir lachten. Flo kam auch wieder zurück, mit vier Dosen Bier.

„Das dürfte für uns reichen. Jenny will ja sicher auch was oder?“

„Wenn du mich schon so lieb fragst, sag ich nicht nein.“

Wir zogen los, fuhren ein Stück mit dem Bus und waren relativ schnell am Baggersee. Die Sonne knallte richtig heiß und zu unserem Glück war der See nicht ganz so überfüllt wie befürchtet. Basti und Tim kamen eine halbe Stunde später mit dem Auto und obwohl Tim fuhr, hatte er was zum Kiffen dabei. Mein Leben war so armselig.

„Wow, du hast ja viele Tattoos.“

Jenny bewunderte meine Tätowierungen am Unterarm, auf der Wade und auf dem Rücken. Ich bin schon immer ein Fan von Tattoos und Piercings gewesen. Gepierct war ich in der Zunge, in beiden Brustwarzen, in der Unterlippe und in der Nase.

„Das muss doch irre viel Kohle gekostet haben oder?

„Na es ging. Das auf dem Rücken war am teuersten und das hab ich von meiner Oma zum fünfzehnten bekommen.“

Ich zündete mir eine Zigarette an und öffnete uns dreien ein Bier. Tim drehte einen Joint. Hoffentlich verplapperte sich Jenny nicht bei ihrer Mutter.

„Kommt jemand mit ins Wasser?“, fragte Flo.

„Kannst ja mit Jenny schon mal vorgehen, ich komm gleich nach.“

Mir entging nicht, dass Jenny irgendwie mit Flo flirtete und er schien es auch zu genießen, jedoch war ich mir nicht sicher, ob er das auch so ernst nahm.

Ich begab mich nun auch ins kühle Nass, weil es in der verdammten Sonne nicht auszuhalten war. Mit meiner Luftmatratze trieb ich auf dem Wasser. Flo kam zu mir geschwommen, ohne, dass ich es mitbekam und kippte die Luftmatratze um, sodass ich mit einem Patsch ins Wasser fiel. Verdammt war das kalt. Meine Augen suchten Flo, nachdem ich aufgetaucht war. Fies grinste er mich an. Ich zeigte ihm meinen Mittelfinger, schwang mich wieder auf die Luma und paddelte zu ihm. Er versuchte mir zu entfliehen, doch ich war schneller und tauchte ihn unter, bis er mich um Gnade anbettelte. Als wir uns ausgetobt hatten, legten wir uns wieder auf die Decke.

„Haben wir nicht auch heut noch mal Bandprobe Flo?“, fragte Basti.

„Ja, wegen morgen.“

Was? Ihr habt eine eigene Band?“

„Ja, sind auch gerade dabei, eine eigene Platte zu machen. Morgen haben wir ein Konzert. Wenn du willst kannst du auch kommen. Bist herzlich eingeladen“, sagte Flo zu Jenny, um sich entweder sein nächstes One-Night-Stand zu sichern oder ihre Euphorie anzustacheln.

„Das wäre echt klasse. Brauch man da eine Eintrittskarte oder so was?“

„Naja, normalerweise wird an der Tür Eintritt kassiert, aber wenn du schon früher mitkommst, kannst auch so rein. Einlass ist erst ab 20 Uhr“, gab ich zur Antwort.

„Echt cool. Kommst du mich da abholen, weil ich doch auch gar nicht weiß, wo das ist.“

„Entweder ich oder Flo holen dich ab, weil ich eigentlich vorher noch mal zu Tim muss. Flo, du weißt doch wo mein Dad wohnt. Könntest du Jenny so halb sieben mitbringen?“

„Na klar, das dürfte doch kein Problem sein.“

„Ich finde das echt lieb von euch.“

„Naja, du bist ja schließlich meine Halbschwester. Da darf man so was schon mal machen.“

Flo und ich brachten Jenny noch nach Hause und von dort gingen wir gleich zum Proberaum, weil morgen echt alles klappen musste.

Alles war hektisch, doch wir bekamen dann doch alles auf die Reihe und waren sogar sehr zufrieden mit uns. Mein grünhaariger Freund kam am Ende zu mir und schloss mich in seine Arme.

„Wie geht’s dir mein Schatz?“

Ich zuckte mit den Schultern.

„Geht schon…ich komm klar“, antwortete ich.

„Versprochen?“

„Versprochen“, nickte ich und Flo drückte mir noch einen Kuss auf die Wange, bevor er ging.

Ich hatte etwas zu viel getrunken. In meinem Kopf drehte sich alles, als ich den Heimweg antrat. Die Nacht war schön, der Wind wehte angenehm warm und am Himmel konnte man keine einzige Wolke sehen. Nur die Sterne, die wie kleine Kristalle blinkten.

Ich legte mich im Park auf die Wiese und schaute hinauf zu den Sternen. Wie sehr wünschte ich mir jetzt, dass mein Leben nicht so verflucht kompliziert war. Wie hatte das passieren können? Und dann schweiften meine Gedanken wieder zu dem schönen Japaner, doch bevor mein Kopfkino einsetzte, erhob ich mich wieder. Nicht jetzt. Das ertrug ich nicht.

Es war spät, als ich zu Hause ankam. Alle schienen schon zu schlafen. Bevor ich mich ebenfalls schlafen legte, warf ich noch einen kurzen Blick zu meiner kleinen Jojo hinein. Sie hatte die Decke weggestrampelt. Vorsichtig schlich ich zu ihr, deckte sie wieder zu und gab ihr einen Kuss auf die Wange.

Ich war zwar müde, konnte jedoch nicht einschlafen. Mein Kopf war viel zu sehr damit beschäftigt, die ganzen Ereignisse der letzten Monate zu sortieren. Oder eben auch nicht.

Als ich erwachte, war es bereits mittags. Ich zog eine Hose an, setzte mich auf mein Sofa und zündete mir eine Zigarette an. Als meine Tür aufging zuckte ich zusammen, weil ich nicht bemerkt hatte, dass jemand die Stufen herauf gekommen war. Es war leider nur meine Mum. Was sie wohl wieder wollte?„Na hast du gestern wieder Sauforgien mit deinen tollen Freunden veranstaltet.“ „Hatte Bandprobe, wegen heute Abend.“ „Wie schön…jetzt wirst du also Rockstar?“, bemerkte sie zynisch.

„Sieht ganz so aus.“

„Wie war es gestern bei deinem Vater?“

„Ganz okay.“

„Meinst du das eigentlich ernst, als du gestern gesagt hast, dass du ausziehen willst?“

„Vielleicht.“

„Wohin willst du denn ziehen?“

„Keine Ahnung, das is ja das Problem.“

„Das kannst du mir nicht antun, Lukas. Was ist außerdem mit Johanna? Ich denke, du hängst so an ihr?“

„Warum kann ich dir das nich antun? Sonst hast du dich nie interessiert, ob es mir gut oder schlecht geht. Jetzt fragst du mich sogar, was ich noch vorhabe. Ich weiß wirklich nicht, wohin das führen soll. Fällt dir etwa jetzt auf, dass ich dein Sohn bin? Willst du jetzt das nachholen, was du in den vielen Jahren versäumt hast?“

„Lukas, ich weiß, dass ich einen großen Fehler gemacht habe. Kannst du dich denn nicht in meine Lage versetzen? Magst du mich denn nicht ein bisschen?“

„Ich weiß es nicht, ich weiß es wirklich nicht. Früher habe ich dich sehr gemocht. Ich musste immer heulen, wenn ich etwas angestellt habe, wo ich genau wusste, dass es dich ärgern würde. Du hast mir immer verziehen. Aber du hast dich verändert. Jetzt nutzt du jede Gelegenheit, um mich runter zu machen. Ob es meine Klamotten sind, meine Musik oder allgemein mein Auftreten. Immer hast du etwas an mir auszusetzen. Ich kann nichts für meine Meinung und ich will mich auch nicht verändern. Wenn du mich wirklich magst, dann musst du mich so akzeptieren, wie ich bin und nicht anders.“

„Es ist ja nicht immer dein Auftreten, das mich stört. Ich finde deine Art, wie du manchmal bist einfach furchtbar. Ich komme damit nicht mehr zurecht.“

„Das beruht wohl auf Gegenseitigkeit. Dir waren die ganze zwei Jahre nur wenige Dinge wirklich wichtig und ich habe nicht dazu gehört. Ich musste in meinem Leben schon soviel durchmachen und du weißt kaum die Hälfte davon. Du hast dich noch nie darum gekümmert, wie ich meine Freizeit gestalte. Nur, wenn dir jemand wieder erzählt hat, dass er mich beim Kiffen gesehen hätte oder ich gleich ganz drogenabhängig bin, da hast du wieder einen Grund gehabt mich runter zu machen. Denkst du mir gefällt so ein Leben? Ich hätte mir gewünscht, als ganz normaler Junge aufzuwachsen, mit meinen Freunden abzuhängen und auch manchmal eine kleine Meinungsverschiedenheit mit meinen Eltern zu haben. Aber das Verhältnis zwischen uns ist nicht mehr normal, findest du das auch?“

Meine Mum antwortete nicht gleich. Ihr standen die Tränen in den Augen, weil sie wusste, dass ich die Wahrheit sagte. Ich konnte mir das alles jetzt nicht mehr verkneifen. Es musste einfach raus. Vielleicht war es auch gut so, ich war mir jedoch nicht so ganz sicher.

„Lukas.....ich weiß das alles selber, doch ich wollte es nicht wahr haben. Ich dachte immer du wärst glücklich. Am liebsten will ich alles rückgängig machen. Ich kann dich auch verstehen, so eine Mutter hast du nicht verdient und Johanna auch nicht. Ich habe mir immer so sehr Kinder gewünscht, doch ich wusste nie, wie viel Verantwortung eigentlich dahinter steckt. Es tut mir so wahnsinnig leid. Ich weiß einfach nicht, wie ich das wieder gut machen kann.“

Ich war fassungslos. So hatte ich meine Mum noch nie erlebt. Ich war irgendwie glücklich und traurig zugleich. Trotzdem konnte ich ihr nicht verzeihen, denn der Schmerz saß zu tief und ich glaubte, dass wusste sie genauso gut wie ich.

„Das hättest du dir früher überlegen sollen. Ich kann jetzt nicht einfach so tun, als sei nichts gewesen. Ich wünschte mir, du könntest sehen, wie es in meinem inneren aussieht…aber das wirst du wohl nie. Wenn es dich beruhigt, ich habe mich schon längst damit abgefunden.“

Die Tränen rannen ihr jetzt über die Wangen.

„Nein, bitte. Das darfst du nicht! Ich würde mir sonst ewig Vorwürfe machen!“

Ihre Stimme klang weinerlich und verzweifelt.

„All die Jahre bin ich nie an dich rangekommen und jetzt soll ich alles einfach so vergessen? Alles, was du mir an den Kopf geknallt und somit meine Gefühle verletzt hast, einfach verdrängen? Nein…das geht nicht.“

„Aber warum nicht? Wir können uns doch aussprechen, du kannst mir von deiner Musik erzählen und ich werde dich versuchen zu verstehen…“

Was? Das hätte ich mir vor wenigen Monaten noch gewünscht, aber jetzt sträubte ich mich mit ihr darüber zu reden, weil es eher erzwungen war. Jetzt war ich derjenige, der keine Gefühle zeigte. Ja, meine Mum sollte spüren, dass sie mich verloren hatte.

Ich schüttelte mit dem Kopf und schaute sie mit durchdringlichem Blick an.

„Du stellst dir das so einfach vor! Wir beide haben es endlich geschafft…geschafft unser Verhältnis so kaputt zu machen, dass es mir egal ist. Es ist zu spät und du kannst das nicht mehr zurückholen.“

Ich war entsetzt von mir selbst, doch so war es doch? Das tiefste innere meiner Seele hatte gesprochen.

 

 

 



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (0)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.

Noch keine Kommentare



Zurück