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vergiss-mein-nicht

Magister Magicae 11
von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Trigger-Warnung: Jenseits-Theorien / Leben nach dem Tod Komplett anzeigen

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Krakauer Spelunke

Es war schon dunkel, als sie in Krakau vor einer Taverne standen und das Schild über der Tür lasen. Was auch immer das heißen mochte, was da stand. Vielleicht hatte der Wirt seine Spelunke 'zur Backpflaume' genannt, oder etwas ähnliches. Viel hochtrabender oder fantasievoller waren Kneipennamen ohnehin nie. „Und du bist dir sicher, daß er hier in Polen ist?“, wollte Victor zweifelnd wissen.

„Absolut. Genau jetzt, genau da drin“, versicherte Urnue mit Fingerzeig auf die Tür.

„Woher weißt du, daß er da drin ist?“

„Er ist immer hier drin. Du wirst erschrocken sein, wenn du seinen Zustand siehst. Er ist gerade dabei, sich das Gehirn weg zu saufen. Abend für Abend.“

„Ist er nicht an sein Revier in Moskau gebunden? Er hat doch zu Hause eine Aufgabe.“

„In seiner Verfassung hat der keine Aufgabe mehr, glaub mir. Auch solche Typen können arbeitslos werden.“

Victor warf wieder einen unsicheren Blick auf die Namenstafel über der Tür.

„Nun geh schon rein, Mann!“, verlangte Urnue ungeduldig. „Wenn er nicht da ist, dann trinken wir eben einen Vodka. So oder so lohnt sich der Abend.“

„Sprichst du Polnisch?“

„Nein, wieso?“

„Wie willst du dann Vodka bestellen?“, gab Victor zu bedenken.

„Ich nehme einfach an, daß das Zeug hierzulande genauso heißt.“

„Ich bin doch nicht wegen eines Vodkas den ganzen Weg nach Polen gekommen!“

„Gehst du jetzt rein, oder wollen wir hier Wurzeln schlagen?“ Der junge Mann mit den wild zerwuschelten, schwarzen Haaren schob sich genervt an ihm vorbei und drückte die Tür auf, um vor zu gehen. Es schneite und war arschkalt hier draußen und er hatte jetzt keine Lust mehr, sich den Hintern abzufrieren. Wenn Victor sibirische Temperaturen gewöhnt war, schön. Er, Urnue, war es nicht.
 

Urnue blieb im Eingangsbereich der Spelunke stehen und schaute sich suchend um. Hier stach alles von Zigarettenrauch und schwachem Kerzenlicht, so daß man nur schwer etwas erkannte. Wie erwartet tauchte Victor einen Augenblick später ebenfalls neben ihm auf. Urnue zeigte vielsagend auf einen kleinen Tisch in der hintersten Ecke, wo ein einsamer Mann für sich alleine saß, und ging los. Er hatte Recht gehabt. Der gesuchte Kollege war hier.

Mit einem fast gehässigen „priwjet, Sascha!“ zog Victor einen Stuhl heraus und setzte sich dazu. Urnue tat es ihm gleich.

Der Angesprochene schaute mit trüben, tränenden Augen hoch, brauchte einen Moment, bis er Victor erkannte, dann schnellte er mit einem schockierten „Scheiße!“ von seinem Sitzplatz hoch, als wolle er flüchten.

„Setz dich wieder hin, Sascha“, befahl Victor kühl. Wie immer, wenn er im Profi-Modus war. Bei der Arbeit gab er sich immer überlegen. Logisch, er war ein selbstjuristischer Mörder und knippste Leute ab, auch wenn diese Leute Schwerverbrecher waren.

Langsam sank Sascha auf seinen Stuhl zurück. „A-Akomowarov ... du hier in Krakau?“

„Ja, erstaunlich, nicht? Und was machst du hier? Bist ganz schön runtergekommen, towarisch. So unrasiert und mit dem löchrigen, schmierigen Pulli habe ich dich fast gar nicht erkannt.“

„B-Bist du hier ... um ... um mich abzuknallen?“, ignorierte der Reaper die Frage einfach. Er schlotterte vor Angst am ganzen Körper. Selbst bei dieser furchtbaren Beleuchtung sah man es.

Victor musste kurz belustigt grinsen. „Mal sehen.“

„Ich weiß, daß du ehemalige Motus-Leute jagst! Das hat sich rumgesprochen! Deshalb bist du doch hier, oder? Du willst mich umlegen!“

„Sei so gut und rede etwas leiser“, meinte Victor gelassen. „Eigentlich will ich nur ein paar Antworten von dir, für´s Erste. Ich sag mal so: viele Leute sind hinter dir her. Wenn du mir hilfst, werde ich keiner mehr davon sein.“

Sascha nickte abgehackt und mit offenem Mund. Die Panik stand ihm immer noch deutlich ins Gesicht geschrieben. „Wie ... habt ihr mich gefunden?“

„Ich habe noch ein paar alte Kontakte von früher“, meinte Urnue. „Ich versuche, Dragomir ein nützlicher Getreuer zu sein.“

„Verstehe“, erwiderte der Betrunkene nur. Er wusste, daß Victor Dragomir Raspochenko Akomowarov von seinen Freunden und Unterstützern 'Dragomir' genannt wurde. Auch das hatte sich herumgesprochen. Da musste er nicht dumm nachfragen.

Victor strich sich die langen Haare hinter das Ohr. „Du bist doch ein Reaper. Du sammelst verstorbene Seelen ein und begleitest die Toten ins Jenseits.“

„Nicht mehr. Ich war mal einer. Ich hab´s aufgegeben“, gestand er.

„Kann man das einfach aufgeben? Ich dachte, das läge in eurer Natur.“

„Oh, wenn man immer rotzbesoffen ist, findet man keine Seelen mehr, die man eskortieren könnte. Das Gespür leidet sehr darunter. Also wenn mir nicht zufällig eine direkt vor die Füße fällt ...“

„Und wer kümmert sich dann um deine Toten?“

„Wer halt gerade da ist. Gibt genug andere Reaper.“

Victor nickte verstehend. „Kannst du mit den Toten reden?“

„Natürlich. Oft hab ich mir gewünscht, ich könnte es nicht. Die haben nämlich immer ziemlichen Terz gemacht, wenn ich sie ...“

„Ich meine auf der anderen Seite. Wenn sie dann ins Jenseits eingegangen sind. Nicht nur auf dem Weg da hin.“

Sascha schüttelte den Kopf. „Ich hab im Jenseits nichts zu suchen. Ein Reaper liefert die Seelen nur an der Pforte ab.“

„Kennst du jemanden, der es kann?“, wollte Victor ganz unverblümt wissen.

Der Reaper kratzte sich nachdenklich am Kopf. „Das ist nicht so einfach wie du dir das vorstellst, weißt du? Die Toten bleiben ja nicht im Jenseits. Wie soll man noch Kontakt mit denen aufnehmen, wenn sie gar nicht mehr da sind? Das Jenseits ist ja nur eine Zwischenstation, von da geht´s weiter.“

„Wohin?“, hakte Victor nach.

„Du fragst zuviel. Ihr Normalsterblichen solltet sowas nicht wissen. Beschäftigt euch lieber nicht zu sehr mit dem Jenseits, das müsst ihr noch früh genug.“

Der Gestaltwandler schnaubte verächtlich. „Gut, wie ich sehe, bist du mir doch keine Hilfe. Und auch sonst niemandem mehr. Dann kann ich dich ja auch umlegen“, entschied er und rückte mit dem Stuhl nach hinten, als wolle er aufstehen.

„Nein! Nein! Warte!“, hielt Sascha ihn panisch zurück. „Ich erzähl´s dir ja!“

Victor lehnte sich wieder nach vorn und verschränkte demonstrativ wartend die Unterarme auf der Tischplatte.

„Es gibt einen Kreislauf, verstehst du? Man kommt wieder.“

„Du meinst ... Wiedergeburt?“, warf Urnue ungläubig von der Seite ein.

Der Reaper nickte. „Ja, Wiedergeburt. Darum ist es nicht möglich, mit den Toten zu sprechen. Sie sind einfach ziemlich schnell keine Toten mehr. Du wirst auch niemanden finden, der das kann. Mit dem Jenseits kommunizieren, meine ich.“

Victor spielte mit der Zungenspitze nachdenklich in seinen Schneidezähnen herum und sagte zunächst nichts dazu. Weil er nicht wusste, was. Er konnte es sich also abschminken, an Ruppert oder Anatolij jemals eine Entschuldigung verlieren zu dürfen. Selbst wenn er ihre Reinkarnationen irgendwo auf der Erde finden sollte, würden sie von nichts mehr wissen. Wirklich schade. Und seine ganze Arbeit kam ihm plötzlich nutzlos vor. Wozu sollte er die ganzen Motus-Funktionäre abschießen, wenn diese Wichser alle wiederkamen? Naja, vielleicht waren sie in ihrem nächsten Leben etwas rechtschaffener. Aber er brauchte dennoch eine neue Theorie hinsichtlich des Unbekannten, der Cord und Third Eye an die Polizei verpfiffen hatte.

„Wie entsteht denn dann die Verbindung zwischen einem magisch begabten Menschen und seinem Genius Intimus?“, fragte Urnue neugierig weiter.

„Bitte, ihr solltet das wirklich nicht ...“

„Beantworte seine Frage!“, befahl Victor streng. Wenn es ums Durchsetzen seines Willens ging, war er immer noch ganz der Vize-Boss.

Sascha seufzte unglücklich. „Na schön. Soweit ich das richtig verstanden habe, gehen die Seelen der beiden einen Vertrag miteinander ein, bevor sie in die irdische Welt kommen. Damit sie sich nach der Geburt hier gegenseitig wiederfinden.“

„Soweit du richtig verstanden hast?“

„Wie gesagt, auch wir Reaper haben im Jenseits nichts zu suchen. Ich war noch nicht dort, um es nachzuprüfen. Jedenfalls noch nicht in diesem Leben. Es ist nur das, was wir Reaper glauben und uns von Generation zu Generation überliefern.“

„Dann sind das alles nur Mutmaßungen? Die ganze Wiedergeburts-Theorie?“

„Wie gesagt, es ist noch keiner dort gewesen, um es nachzuprüfen. Aber es ist plausibel, oder nicht? ... Und jetzt droh mir nicht wieder mit Erschießung!“, fügte er schnell an, als Victors Augenbraue bedrohlich nach oben rutschte. „Ich sag dir ja schon alles, was ich selber weiß!“

Victor starrte ihn noch einen Moment durchdringend an, dann seufzte er nachgiebig. „Gut. Lass uns einen trinken.“

„Bin dabei“, nuschelte der Reaper, der schon gehörig vorgeglüht war, erleichtert und gönnte sich schnell einen Schnaps, während Victor sich fragend nach dem Tresen umschaute und nach einem Kellner Ausschau hielt. Sascha hatte eine ganze Flasche ... naja, inzwischen nur noch eine halbe ... auf dem Tisch stehen, um sich selber nachgießen zu können. Und die würde er nicht mit Victor teilen.

Victor musterte wieder die Erscheinung, die der Reaper inzwischen bot. Wie hatte er sich in den paar Jahren verändert! Sein Gesicht war vom Alkohol aufgedunsen und voller Bartstoppel. Seine Haare waren herausgewachsen und fettig. Seine Sachen waren abgetragen und schmierig. Aus ihm war schlicht und ergreifend ein Assi geworden. Ein asozialer Säufer. Victor kam nicht umhin, leicht den Kopf zu schütteln. „Seit du meinen Kumpel Anatolij geholt hast, habe ich dich nicht mehr gesehen. Was ist mit dir seitdem nur passiert?“

„Anatolij?“, überlegte Sascha. Er hatte in seinem Leben so viele Seelen eingesammelt und auf die andere Seite begleitet, er konnte sich bei weitem nicht mehr an alle erinnern. Wozu auch?

„Wir haben in Moskau eine Rotkappe gejagt, weißt du noch? Furchtbar. Es war so ein wahnwitziger Plan, eine Rotkappe lebend fangen zu wollen. Aber Auftrag war Auftrag, was hätte ich tun sollen?“

„Ah, achso! Stimmt“, überkam es den Reaper da. „Sie hat im Park noch einen Passanten erschlagen, bevor du sie gefangen hast. Ich erinnere mich. Der Boss war damals mächtig gefickt, weil du das Opfer einfach hast liegen lassen.“

„Ich habe es nicht einfach liegen lassen! Ich habe den Notruf verständigt, damit jemand Anatolij holen kommt und er ordentlich bestattet wird.“

„Na, jedenfalls sind dadurch polizeiliche Ermittlungen wegen Mordes ins Rollen gekommen. Und das hat Vladislav gar nicht gefallen.“ Sascha kippte sich noch einen Schnaps in die Rübe. „Du hast diesen Anatolij gemocht, was?“

„Er war ein langjähriger Freund von mir.“

„Warum bist du hier, Victor? Du tauchst hier auf und fragst mich all dieses Zeug über das Jenseits. Suchst du etwa nach deinem Freund? Hattest du gehofft, ich könnte dir helfen, nochmal mit ihm zu sprechen?“

„Nicht nur mit ihm“, gestand der Gestaltwandler gedrückt.

In diesem Moment tauchte eine Kellnerin auf. „Czego chcesz?“, fragte sie.

Victor schaute sie kurz verwirrt an, weil er kein Polnisch verstand. Aber was sollte sie als Kellnerin schon von ihm wollen? Mehr als nach seiner Bestellung fragen konnte sie ja wohl schwerlich. „Äh ... Vodka?“, versuchte er sein Glück. Er hoffte, das Zeug würde hier in Polen wirklich genauso heißen, wie Urnue es behauptet hatte.

„vódka!“, bestätigte sie und nickte.

Victor griff nach Saschas Schnapsflasche und zeigte sie der Kellnerin. „Eine ganze Flasche bitte.“

„Und ein zweites Glas“, warf Urnue von der Seite ein und hielt das von Sascha hoch.

Victor sah ihn verdutzt an. „Du trinkst Vodka?“

„Willst du etwa die ganze Flasche alleine saufen?“

Die Kellnerin schaute etwas hilflos vom einen zum anderen.

„Glaubst du, sie hat uns verstanden?“, meinte Victor verunsichert.

„butelka i dwie szklanki“ [eine Flasche und zwei Gläser], übersetzte Sascha also für die beiden.

Da nickte die Frau lächelnd und verschwand wieder.

„Du sprichst Polnisch?“, wollte Victor wissen.

„Ach, wenn man Tag ein, Tag aus, in einer polnischen Kneipe sitzt, bekommt man die nötigen Vokabeln schon mit, um nicht zu verdursten. ... Wie dem auch sei, an deinen Kumpel – wie hieß er? Anatolij? – kommt du jetzt nicht mehr ran. Aber wenn es dich beruhigt, er war nicht böse auf dich, als ich ihn hinüber gebracht habe. Er war ein bisschen schockiert, als er gehört hat, was aus dir geworden war. Das du für eine Truppe wie die Motus arbeitest und so. Aber er hat dir keine Vorwürfe gemacht, daß er von einer Rotkappe erschlagen wurde. Dafür konntest du ja nichts.“

„Ich hätte ihm gern gesagt, warum ich für die Motus gearbeitet habe“, gab Victor in gedrückter Stimmung zu. „Ich hab mir das ja nicht ausgesucht.“ Er winkte verächtlich ab und schmunzelte traurig. „Jetzt kann ich´s dir ja erzählen. Jetzt ist die Motus sowieso Geschichte und Vladislav ist auf meinen Kopf aus. Jetzt ist es kein Geheimnis mehr. Ich bin damals vom Geheimdienst bei euch eingeschleust worden, um euch auffliegen zu lassen. Das hätte ich Anatolij gern gesagt, daß ich nicht aus Überzeugung zum Mörder und Sklavenhändler geworden bin, sondern als V-Mann da reingeschlittert bin. Innerlich bin ich ein rechtschaffener, gerechtigkeitsliebender Mann geblieben. Ich bin sicher, Anatolij hätte das verstanden.“

Sascha lachte trocken. „Du läufst mit einer Knarre rum und schießt so viele ehemalige Motus-Fritzen über den Haufen, wie du nur finden kannst. Das verstehst du also unter rechtschaffen und gerechtigkeitsliebend?“

„Nun ... seit damals ist viel passiert“, lenkte Victor lächelnd ein. „Damals war ich´s noch. Mein Gerechtigkeits-Begriff hat sich vielleicht nur etwas gewandelt.“ Dann wurde er kurz abgelenkt als die Kellnerin mit seiner Flasche Vodka kam. Sie stellte die zwei Gläser auf den Tisch und goss ihm und Urnue auch gleich noch die erste Runde ein, bevor sie wieder verschwand. „Aber jetzt erzähl doch mal, was aus dir geworden ist, Sascha. Wann bist du so abgestürzt?“

„Gesundheitliche Probleme. Ich hab mir eine Schießerei geliefert und mir wurde dabei das Bein weggeschossen.“

„Ganz weg?“, wollte der Gestaltwandler erschrocken wissen und widerstand gerade noch dem Drang, unter die Tischplatte zu schauen, um nachzusehen.

„Nein, nicht ganz weg. Aber mein Bein ist seither steif. Mit Alkohol erträgt man die Schmerzen besser. Und da ich mit einem steifen Bein als Söldner eh nicht mehr viel machen kann ...“ Er ließ den Satz unvollendet und spülte ihn nur mit einem weiteren Schnaps herunter, was im Prinzip auch ein angemessenes Statement zu seiner aktuellen Lage war.



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