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Kinder des Kreuzes

von

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II

Das erste, was in sein Bewusstsein drang, war ein Brummen. Tief und gleichmäßig glitt es in seine Wahrnehmung gefolgt vom Vibrieren des Bodens unter ihm. Sekunden später folgte ein rasender Kopfschmerz, der ihn scharf die Luft einsaugen ließ. Sein Schädel fühlte sich an, als wäre eine Dampfwalze darüber hinweggefahren. Stöhnend rollte er herum und stieß sich das Knie an einer Metallstange.

„Ah, unser Dornröschen wird wach“, hörte er eine Stimme von irgendwo oberhalb. Er versuchte sie einzuordnen, aber die Kopfschmerzen und der pelzige, saure Geschmack in seinem Mund machten ein gezieltes Nachdenken unmöglich. Er stöhnte erneut und wollte den Kopf heben. Ein Fehler, wie er gleich darauf feststellte, als ein glühend heißes Messer durch sein Rückenmark drang und drohte ihm den Kopf von den Schultern zu fetzen.

„Du solltest besser liegen bleiben, bis das Narkotikum vollkommen verflogen ist. Wir wollen doch nicht, dass dir etwas zustößt“, dröhnte die Stimme wieder. „Na komm, ich helfe dir mal.“

Bevor er etwas erwidern konnte, hatten ihn feste, riesige Hände gepackt und in eine sitzende Position gebracht. Etwas kaltes Glattes wurde an seine Lippen gepresst.

„Hier. Trink das. Dann wird es gleich besser.“

Bitternis spülte den Pelz fort und hinterließ scharfe Klarheit. Klarheit darüber, wer ihm diese Erfrischung verabreicht hatte.
 

Brad riss die Augen auf und starrte in die grinsende Haifischfratze des Riesen.

„Na wird doch wieder“, säuselte der und tätschelte ihm mit seiner Pranke die Wange. „Du siehst gleich viel besser aus, Bradley.“

„Was? Wo? Wer?“

Der Riese grinste noch breiter. „Sind das nicht ein bisschen viele Fragen für den Anfang? Lass uns doch zunächst zu Abend essen. Du musst hungrig sein und wir werden nicht mehr lange Zeit haben, entspannt zu speisen.“

Als die massige Gestalt das Blickfeld freigab, erkannte Brad, woher das stetige Brummen stammte, das im Hintergrund zu hören war.

„Ein Flugzeug“, keuchte er. „Ich bin in einem Flugzeug.“

Er sah an sich herunter und bemerkte, dass seine Kleidung verschwunden war. Stattdessen steckte er in einem dunkelgrauen Overall.

„Was geht hier vor?“

„Willst du nun etwas essen oder nicht?“, wiederholte der Riese sein Angebot etwas ungeduldiger. Die freundliche Fassade bröckelte für einen Augenblick, aber der Mann hatte sich sofort wieder in der Gewalt. Er deutete auf eine Sitzbank auf der einen Seite der kleinen Passagiermaschine und nahm selbst auf ihrem Gegenstück auf der anderen Seite Platz. Ohne Brads Erscheinen abzuwarten, griff er zu Messer und Gabel und setzte sein angefangenes Mahl fort.
 

Unsicher erhob sich Brad und wankte zu dem ihm zugewiesenen Sitzplatz. Dankbar die Bank ohne weiteren Zusammenbruch erreicht zu haben, ließ er sich auf das glatte Leder gleiten. Vor ihm auf dem Tisch stand eine Auswahl an Speisen, aber er rührte sie nicht an. Sein Hunger nach Informationen war größer als der in seinem Bauch.

„Was wollen Sie von mir?“, fragte er gerade heraus. Er hatte beschlossen, sich nicht einschüchtern zu lassen, denn das war es offensichtlich, was der Riese vorhatte. Da er ohnehin in einer unterlegenen Position war, konnte ihm nach Betäubung und Entführung vermutlich nicht mehr viel passieren.

„Du hast Courage, Bürschchen“, grunzte der Riese, der sich selbst Vertigo nannte.“ Das gefällt mir. Endlich mal einer mit Eiern in der Hose.“

Er steckte den letzten Bissen in den Mund, nahm einen Schluck aus seinem Glas und wischte sich den Mund mit einer Serviette ab. Achtlos ließ er das Stück Stoff anschließend auf den Teller fallen.

„So, du hast also Fragen. Na dann schieß mal los!“
 

Er lehnte sich, so weit es ging, in seiner Bank zurück und betrachtete Brad, so wie ein Kind einen Käfer betrachtete, der auf den Rücken gefallen war und mit strampelnden Beinen versuchte wieder auf die Füße zu kommen.
 

„Wer sind Sie? Was wollen Sie von mir? Und wo bringen Sie mich hin?“

Vertigo schnalzte mit der Zunge. “Schon wieder so viele Fragen auf einmal. Aber ich will mal nicht so sein. Also zunächst einmal: Wir sind auf dem Weg nach Europa. Genauer gesagt nach Deutschland. Davon hast du ja sicherlich schon mal gehört. Wir haben dort eine Einrichtung für Kinder und Jugendliche wie dich. Menschen mit...besonderen Fähigkeiten. Du hast doch besondere Fähigkeiten, nicht wahr, Bradley?“
 

Brad starrte sein Gegenüber an. Hinter seiner Stirn arbeitete es. Woher wusste Vertigo, ja woher wusste irgendjemand davon? Er hatte nie darüber gesprochen. Mit niemandem. Wer hätte ihm auch glauben sollen? Die Zukunft voraussehen, das war doch etwas für Zigeuner und Scharlatane. Billige Tricks, die den Leuten vorgaukelten, was sie sehen wollten. Er hatte es ja anfangs selbst nicht geglaubt.
 

Angefangen hatte es kurz nach seinem 12. Geburtstag. Es waren zunächst kleine Dinge. Déjà-vus, so dachte er zunächst. Dinge, die passierten und bei denen er sicher war, dass er sie schon mal erlebt hatte. Der Hund, der bellend hinter der Straßenecke hervorschoss. Der Eiswagen, der vorbeifuhr und an der Ecke hielt, weil ein Mädchen mit seiner Mutter aus dem Haus gelaufen kam. Aber diese Vorfälle häuften sich. Er schreckte nachts hoch, weil er seine Mutter rufen hörte, nur um genau diesen Ruf drei Tage später zur Mittagszeit zu vernehmen. Es war zufällig, nicht vorhersehbar und es hatte ihm Angst gemacht.

Es hatte Tage gegeben, da wollte er seiner Mutter alles beichten. Doch die war beschäftigt gewesen. Mit Arbeiten, mit seinem Vater, mit seinem kleinen Geschwisterchen, das bald kommen sollte. Und dann der Tag, als sie ins Krankenhaus musste und ohne Baby zurückkam. Danach war sie nur noch eine leere Hülle gewesen. Ein Kleid mit einem blassen Gesicht. Brad war nicht zur Beerdigung gegangen. Sein Vater hatte ihn dafür verprügelt und er hatte geschwiegen.
 

„Du weißt, wovon ich spreche“, drängte sich Vertigos Stimme in seine Zurückgezogenheit. „Du hast die Gabe der Zukunftssicht, mein Junge. Ich weiß es, denn wir haben dich beobachtet.“

„Beobachtet?“ Das fühlte sich unangenehm an. Hatten sie etwa gesehen wie... er brach den Gedanken ab und versuchte die Bilder, die in seinem Kopf emporstiegen zu verdrängen. Doch sie ließen sich jetzt, da er die Erinnerung einmal herauf beschworen hatte, nicht wieder wegsperren.
 

Als ihm klar geworden war, was vor sich ging – so hatte er zumindest gedacht – hatte er versucht, die Gabe zielgerichtet einzusetzen. Er hatte sich in seinem Zimmer eingeschlossen, die Vorhänge zugezogen und hatte versucht zu sehen. Und er war nicht ansatzweise vorbereitet gewesen auf das, was ihn erwartete. Es war, als wäre er nackt in einen Schneesturm hinaus getreten. Millionen und Abermillionen von Bildern waren auf ihn eingestürzt und hatten gedroht seinen Geist in Stücke zu reißen. Mit letzter Kraft war es ihm gelungen sie auszuschließen. Als er erwacht war, lag er mit eingenässter Hose zusammengekrümmt auf dem Boden seines Zimmers, während sein Vater an die Tür hämmerte und ihn anbrüllte, sofort die Tür aufzumachen. Brad hatte nie wieder versucht, die Zukunft zu sehen. Stattdessen hatte er alle Energie darauf verwendet, die verhassten Visionen aus seinem Kopf zu verbannen. Seit dem waren nur noch Ahnungen geblieben. Dinge, die am Rande seines Bewusstseins kratzten und denen er versuchte, nicht allzu viel Beachtung zu schenken, um nicht wieder die Tür zum Wahnsinn zu öffnen.
 

„Was...“, krächzte er und griff dankbar nach dem Glas Wasser, dass Vertigo ihm reichte. Er kippte es in einem Zug hinunter. „Was ist mit meiner Kleidung geschehen?“

Vertigos blonde Augenbrauen hoben sich zu einer überraschten Miene. Dann lächelte er. „Wir haben sie zurückgeschickt. Einer unserer Männer hat sie zum Haus deiner Eltern gebracht. Sie werden dich nicht vermissen.“
 

Brads Atem setze aus. Seine Hände krallten sich in die Tischplatte. Ihm war schwindlig und er fühlte Übelkeit seine Kehle hinaufkriechen. Sein Gegenüber lächelte wissend und wissend war auch Brad. Er wusste es, weil er es gesehen hatte. Vor ein paar Tagen hatte er einen Traum gehabt, wie er dachte. Ein beunruhigend lebhafter Traum, aber so absurd, dass er ihn als Fantasiegespinst abgetan hatte.

Ein Mann in einer Uniform hatte an der Tür seiner Eltern geklingelt. In der Hand hielt er ein zerknittertes, blutbespritztes Kleiderbündel. Als seine Mutter die Tür öffnete und die Kleidung sah, schlug sie die Hände vor den Mund und schrie. Sein Vater erschien daraufhin an der Tür. Der Uniformierte sagte etwas und die beiden traten zurück, um ihn ins Haus zu lassen. Die Tür schloss sich wieder. Kurz darauf hörte man zwei Schüsse.
 

„Bastard!“, brüllte Brad und sprang auf, um sich auf Vertigo zu stürzen. „Sie haben sie umgebracht.“

Der Riese versetzte ihm einen Stoß vor die Brust, der ihn auf den Hosenboden plumpsen ließ. Tränen verschleierten seinen Blick. Er hatte nicht die Kraft, noch einmal aufzustehen.

„Technisch gesehen stimmt das wohl.“, gab Vertigo zu. „Wir können uns keine Zeugen leisten. Aber weißt du, was die Polizei denken wird, wenn sie die Leichen deiner Eltern und deine blutige Kleidung im Haus findet und du verschwunden bist? Denk einmal darüber nach, Bradley.“
 

Vertigo überließ Brad seinen düsteren Gedanken. Seine Welt war aus den Fugen geraten und er saß hier in den Scherben. Zurück konnte er nicht. Man würde ihn einsperren. Ihm nicht glauben. Das Einzige, was blieb, war nach vorne zu sehen. In die Zukunft. Ein bitteres Lächeln schlich sich auf seine Lippen. Die Zukunft. Welche Ironie. Das, was ihm am meisten Angst machte, was nun das Einzige, was ihm noch blieb.
 

Ein Ruck ging durch die Maschine, als sie tiefer ginge. Wolken zogen vor den runden Fenstern vorbei. Eine Bergkette kam in Sichtweite. Majestätische, schneebedeckte Gipfel mit tiefen, zerklüfteten Tälern. Dunkle Waldstücke, die sich weit die Hänge hinauf zogen. Täler in denen Minuaturstädtchen in rot und weiß leuchteten. Ein großer, glasblauer See, auf dem sich kleine, weiße Boote tummelten, tauchte auf und verschwand hinter ihnen, als das kleine Flugzeug zum Landeanflug ansetzte. Eine kurze Piste, mitten im Niemandsland der großen Berglandschaft, ein winziger Hangar und Dutzende schwarz uniformierter Wachen, die am Rand des Flugfeldes patrouillierten. Neben dem Kontrollturm stand ein Geländewagen bereit. Es rumpelte, als die Räder den Boden berührten.
 

Vertigo schob sich in Brads Gesichtsfeld. Er nickte ihm zu. „So, mein Junge, wir sind da. Willkommen bei Rosenkreuz.“



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von: abgemeldet
2019-01-08T16:17:30+00:00 08.01.2019 17:17
Das war ein Schocker! - und genial geschrieben!

„Danach war sie nur noch eine leere Hülle gewesen. Ein Kleid mit einem blassen Gesicht.“ Das hat mir gerade echt den Boden unter den Füßen weggezogen. Die Formulierung ist so unglaublich passend, dass es wehtut, und in diesem Kapitel tut so Vieles weh. Ich bin hier irgendwie schon komplett emotional investiert xD Du schreibst so spannend, dass ich überrascht war, dass ich am Ende des Kapitels angekommen bin, obwohl ich es doch eigentlich erst vor einem Augenblick begonnen hatte xD Vertigo ist herrlich unsympathisch und ich bin gespannt, was da noch unter seiner Fassade lauert. Ach Brad ... Das war echt eindrucksvoll! :3
Antwort von:  Maginisha
08.01.2019 19:31
Huch, du warst ja fleißig beim Lesen. ;)

Ja, Vertigo ist ein echtes Ekel. Inspiriert wurde er zum Beispiel von Col. Miles Quaritch aus "Avatar" zum Beispiel und vom Kingpin. Ich meine, ich brauchte in der ursprünglichen Geschichte jemand, der einfach noch schlimmer als Schwarz war. ;)
Von:  Usagi_Jigokumimi
2018-07-18T18:55:57+00:00 18.07.2018 20:55
>>Bitternis spülte den Pelz fort und hinterließ scharfe Klarheit. Klarheit darüber, wer ihm diese Erfrischung verabreicht hatte.<< Beste Stelle ever!!!!

Mir würde nach Entführung und Betäubung noch Tod einfallen, aber Hermine Granger meinte auch sschon, dass es schlimmeres gibt! :D

Was?! Damit hab ich jetzt nicht gerechnet! Die haben seine Eltern umgebracht! Was?! Ich bin hier gerade... WAS?! Ich kann gerade nichts anderes sagen...

Achso und die Beschreibung, wo er die Visionen zu lässt, diese Schneesturm-Metapher, sehr cool gewählt!

Puh... Na toll, ich kann jetzt nicht gleich weiter lesen! Grr... Aber ich bin fasziniert! Du hast nen wirklich tollen Schreibstil!
Antwort von:  Maginisha
18.07.2018 21:39
Ja, Weiß Kreuz ist kein so richtig nettes Anime. Zu viele tote Leute und so. Aber die Hauptdarsteller sind sexy. Auch die bösen. :P


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