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Kinder des Kreuzes

von

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IV

Drei Jahre später.
 

Der Junge, der kopfüber an der Teppichstange des kleinen Hinterhofs hing, hatte die Augen geschlossen. Er war klein für sein Alter. Seine Füße steckten in abgewetzten Schuhen, die Hose, die zwei Nummern zu groß war, wurde von Hosenträgern an ihrem Platz gehalten. Die ebenfalls zu weite Schiebermütze war von seinem Kopf in das von der Sonne ausgedörrte Gras gerutscht und hatte den Blick auf einen leuchtend orangeroten Schopf freigegeben. Er lauschte den Geräuschen seiner Umgebung. Denen, die man hören konnte wie das Zirpen der Grashüpfer und das Gedudel eines Radios, das irgendwo aus einem der Fenster drang, und denen, die nur er vernahm. Leise Stimmen, flüsternd, schimpfend, lachend, weinend, glücklich, verzweifelt, schamlos, aufgebracht, angewidert.
 

Hoch über ihm wurde ein Fenster geöffnet. Jemand rief seinen Namen. Er öffnete die Augen und sah seine Mutter ihren Kopf aus dem schmalen Küchenfenster stecken.

„Komm hoch, das Essen ist fertig!“
 

Er ignorierte sie und versuchte, die Stimmen wieder einzufangen, aber der Zauber des Augenblicks war verflogen. Seine Mutter wiederholte ihren Ruf. Sie klang müde und ungeduldig. Mit einem Seufzen löste er die Beine von der Metallstange und kam nach einer geschickten Drehung unten mit den Füßen zuerst auf. Er fischte seine Mütze vom Boden und drückte sie wieder tief in die Stirn, sodass man sein Gesicht nur halb erkennen konnte. Er mochte es nicht, wenn die Leute ihn anstarrten.

Er eilte vorbei an den Aschetonnen und öffnete die Tür ins Treppenhaus. Der Geruch von Kohl und Bohnerwachs schwappte ihm entgegen. Er blieb stehen und wartete, bis sich seine Augen an die fehlende Helligkeit gewöhnt hatten und die Hoftür hinter ihm ins Schloss fiel. Im gelb-braun-karierten Halbdunkel schwang er sich an dem dicken, von unzähligen Händen polierten Holzgeländer empor, immer zwei der ausgetretenen Stufen auf einmal nehmend.
 

Auf dem ersten Treppenabsatz hielt er plötzlich an und spitzte die Ohren. Ein Wagen war vorgefahren und hatte direkt vor dem Haus gehalten. Das war ungewöhnlich. Er duckte sich und spähte durch die Streben des Geländers in den Hausflur. Mehrere Schatten zeichneten sich vor dem Glaseinsatz der zweiflügeligen Haustür ab. Über ihm schellte es in einer der Wohnungen. Hin und her gerissen blieb er an seinem Platz und starrte die Schatten an. Es waren viele. Bestimmt fünf oder sechs Männer. Das konnte eigentlich nur Ärger bedeuten. Als der Türsummer betätigt wurde, ließ er das Geländer los und flüchtete über die Treppe nach oben. Dabei ließ er wohlweislich die knarrenden Stufen aus.
 

Ein wenig außer Atmen kam er im obersten Stockwerk an. Seine Mutter war gerade dabei, ihre Haare ordentlich festzustecken. Sie strich ihre Schürze glatt und schenkte ihm ein kleines Lächeln, das ihre Augen nicht erreichte.

„Geh und wasch dir die Hände“, sagte sie und schob ihn in Richtung des kleinen Badezimmers. „Ich komme gleich nach. Es hat jemand an der Tür geläutet.“

Er erstarrte in der Bewegung. Im Treppenhaus waren nun schwere Schritte zu hören. Stiefel malträtierten die ächzende Treppe. Ein drohendes Gewitter, dass sich unaufhaltsam die Stufen hinauf wälzte. Sein Herz klopfte, er wagte nicht zu atmen. Mit letzter Kraft riss er sich aus der Umklammerung seiner Furcht und stürzte ins Badezimmer. Der vertraute, leicht muffige Geruch von abgestandenen Wasser und harter Seife lag in der Luft. Es war kühl hier. Er drehte das Wasser auf und hielt die Hände darunter. Auf dem Flur waren jetzt Stimmen zu hören. Er schloss den Hahn und lauschte.
 

„Wir kommen wegen Ihres Jungen“, sagte einer der Männer gerade. „Wir wollen uns mit ihm unterhalten.“

„Oh, hat er etwas angestellt?“ Die Stimme seiner Mutter klang besorgt. Er sah sie förmlich vor sich, wie sie an ihrem Schürzenband nestelte. Das tat sie immer, wenn sie nervös war.

„Noch nicht“, antwortete der Mann und ein oder zwei andere lachten. „Jetzt holen Sie ihn her.“

Der Ton des Mannes gefiel ihm nicht. Er presste die Kiefer aufeinander. Was sollte er tun?

„Er...er ist im Badezimmer“, sagte seine Mutter jetzt. „Warten Sie, ich hole ihn.“

„Nicht notwendig“, entgegnete der Mann und einen Moment später bewegten sich schwere Stiefel auf die Tür zu, hinter der er stand. Die Tür wurde aufgestoßen und ein Mann in einer schwarzen Uniform betrat den Raum.

„Hab ich dich, Bürschchen“, knurrte er, packte ihn an der Schulter und schubste ihn nach draußen.
 

Zwei ebenfalls mit einer Uniform bekleidete Männer standen breitbeinig an der Wohnungstür, zwei weitere hatten sich an den Eingängen zu Küche und Schlafstube postiert. Mitten im Flur stand derjenige, der mit seiner Mutter gesprochen hatte. Als sie ihn kommen sah, wollte sie zu ihm laufen, doch der Mann hielt sie am Handgelenk zurück.
 

„Bitte...mein Junge...“, stammelte sie. „Tun Sie ihm nicht weh.“

„Das hängt ganz von ihm ab“, erwiderte der Mann. Er ließ seine Mutter los und gab seinen Männern ein Zeichen. „Wir sind hier fertig. Einpacken und abrücken!“

Der Uniformierte neben ihm verstärkte den Griff an seiner Schulter und schob ihn durch den Flur Richtung Tür.“

„Nein, das können Sie nicht. Das dürfen Sie nicht!“, rief seine Mutter. Sie wollte sich auf den Mann an seiner Seite stürzen, aber der Kommandoführer schubste sie grob gegen die Wand und baute sich vor ihr auf. Der Finger seiner behandschuhten Hand bohrte sich fast in ihr Gesicht.

„Wenn Sie wissen, was gut für Sie ist, bleiben Sie jetzt ganz ruhig“, zischte er. „Und zu niemandem ein Wort.“

„Lassen Sie meine Mutter in Ruhe“, fauchte der Junge und wollte sich aus der Umklammerung des Mannes an seiner Seite winden. Vergeblich.

Der Anführer drehte sich zu ihm herum. Ein hämisches Grinsen stand in seinem Gesicht. „Sonst was, Kleiner? Was willst du den schon gegen mich und meine Männer ausrichten?“
 

Er bäumte sich noch einmal gegen den Griff und starrte sein Gegenüber mit zusammengebissenen Zähnen an. Der Mann hatte Recht. Mit körperlicher Überlegenheit konnte er hier nicht glänzen. Aber das hieß nicht, dass er wehrlos war. Es gab durchaus etwas, das er tun konnte. Er hatte es schon manchmal...nun zugegebenermaßen schon oft getan. Meist bei seiner eigenen Mutter. Wenn er beispielsweise beim Mittagessen schon hören konnte, wie sie plante, mit ihm über seine Schulnoten zu reden. Oder wenn sie ihn zwingen wollte, sein Zimmer aufzuräumen oder eine andere, unangenehme Arbeit zu verrichten.
 

Es gab da diesen Punkt in ihrem Kopf. Wenn er dort sanft drückte, etwa so wie wenn man testete, ob eine Birne schon reif war, bekam sie Kopfschmerzen. Dann musste sie sich hinlegen und er hatte seine Ruhe. Es funktionierte jedes Mal und er hatte sich abgewöhnt, deswegen ein schlechtes Gewissen zu haben. Auf diesen Punkt konzentrierte er sich jetzt, aber statt eines sanften Druckes bediente er sich lieber der Vorstellung eines scharfen Messers.
 

Der Mann ihm gegenüber schwankte kurz. Seine Hand schnellte an seinen Kopf und er zog die Stirn kraus. Dann schnaubte er wütend, machte einen großen Schritt und versetzte ihm eine schallende Ohrfeige.

Sein Kopf wurde herumgeschleudert und ein schreckliches Pfeifen überlagerte mit einem Mal die Geräusche seiner Umgebung. Ihm wurde schwarz vor Augen und er schmeckte Blut in seinem Mund.
 

Wie durch Watte hörte er seine Mutter rufen: „Nein! Mein Junge!“
 

Es gab ein Handgemenge, gefolgt von einem dumpfen Schlag und einem erstickten Laut. Mit letzter Kraft zwang er sich die Augen zu öffnen und sah, wie seine Mutter langsam am Türposten nach unten rutsche. Ihr Hinterkopf hinterließ eine breite Blutspur auf dem hellen Holz. Ihre Augen waren weit aufgerissen, ihre Lippen bewegten sich. Leise, unendlich fern flüsterte sie seinen Namen.
 

Er wollte sich losreißen, zu ihr kommen, doch sein Körper gehorchte ihm nicht. Hilflos musste er zusehen, wie das Licht in ihren Augen erlosch. Regungslos kauerte sie auf dem Boden, in ihren Händen noch seine geliebte Mütze.
 

Und er? Er wurde fortgetragen von dem Ort, den er jahrelang sein Zuhause genannt hatte. Manchmal war es ihm wie ein Gefängnis vorgekommen mit seinen engen Räumen, zu kleinen Mauern, engstirnigen Menschen. Er war wütend gewesen. Wütend auf seine Mutter, die ihn einsperrte und er hatte es genossen, dass sie manchmal Angst vor ihm hatte. Angst vor dem, was er konnte. Vor dem, was er mit ihrem Kopf anstellen konnte. Aber das hatte er nie gewollt.
 

Er registrierte nicht mehr, dass er in den Fond des Wagens gelegt wurde. Hörte nicht, dass das Ziel der Fahrt der Flughafen war. Spürte nicht die Nadel in seinem Arm, die ihn ruhig stellen sollte. Das Einzige, was er noch in sich spürte, war sein Wunsch nach Rache.
 


 

Zeitungsmeldung am Abend desselben Tages
 

Aus noch ungeklärter Ursache kam am heutigen Nachmittag ein Wagen auf der Autobahn von der Fahrbahn ab und stürzte eine ungesicherte Böschung hinunter. Zeugen berichten, dass sich nur einer der Insassen, ein etwa 14-jähriger Junge aus den Flammen retten konnte. Er wurde vom Fahrer eines zweiten Fahrzeugs, das kurze Zeit später am Unfallort hielt, in Obhut genommen und wird seitdem vermisst. Sachdienliche Hinweise zum Unfallhergang und dem Verbleib des Jungen bitte an die örtliche Polizeidienststelle.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von: abgemeldet
2019-01-08T16:59:25+00:00 08.01.2019 17:59
Oh Himmel, du brichst mir das Herz .__.

Eltern, die irgendwie in Mitleidenschaft gezogen werden, machen mich immer auf so eine seltsame Weise traurig. Bei Brad war es schon nicht schön, aber der Mord an Schuldigs Mutter geht mir gerade echt an die Nieren :< Nichtsdestotrotz war auch dieses Kapitel faszinierend! Ich glaube, ich hätte gern noch mehr von Brads Anfängen bei Rosenkreuz erfahren, aber der Zeitsprung ist dramaturgisch elegant gewählt, hehe.

Ich bin ehrlich hin und weg *_* du machst mich zwar völlig fertig, aber deine Geschichte hat mich komplett gegangen genommen :D
Antwort von:  Maginisha
08.01.2019 19:39
Zumal ihr Tod ja eigentlich nur Zufall war. Kollateralschaden nennen die sowas wohl. :(


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