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Die Chroniken der Vier Jahreszeiten

Winters Passion
von

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Hochsommer II

Erbarmungslos marschierte die Sonne ihrem Höhepunkt entgegen. Bach und Fluss duckten sich ob der gewaltigen Kraft, die ihre dicken, festen Strahlen mit sich brachten. Bergriesen krümmten sich vor ihren groben Stichen, den rauen Streifen, die wie Geschosse auf sie einprasselten. Baum und Busch wagten sich nicht zu rühren. Sogar die Erde, ausgelaugt von wochenlanger Dürre, knirschte missmutig, als mit jeder Sekunde die Strahlen spitzer wurden und die Sonne höher rückte. Nur noch wenige Minuten und die Hitze würde wie ein Sturm über die gesamte Welt fegen, alles Feuchte von der Erde tilgen und - eines Lauffeuers gleich - alles niederbrennen, das sich ihr in den Weg stellte. Und sie würde erst Ruhe geben, bis auch der letzte Grashalm, das letzte Blatt vertrocknet war. Bis die Wurzeln des ältesten Baumes um Gnade flehten, Orchideen, Dahlien und Lilien ein Ächzen von sich gäben und die Meere in Ehrfurcht erstarrten. Erst dann würde König Mittagssonne zufrieden sein. Wenn die Natur in Ohnmacht fiele, betäubt von Hitze und Trockenheit. In einem Moment absoluter Kontrolle und Allmacht würde die Sonne den Boden in goldene Gewänder tauchen. Grelles Licht schiene auf die ausgedörrte Erde, tränkte sie im Glanze ihrer herrschaftlichen Schönheit, ihres allumfassenden Lichtes. Für wenige Augenblicke würde die Erde majestätische Funken versprühen. Als wären die erlesensten Diamanten und Edelsteine vom Himmel gefallen, würden die Landschaften in strahlendem Glanz der schönsten Farben, die der Sommer zu bieten hatte, eingehüllt sein. Ihre Anmut ließ die Kräfte des Sommers und ihrer Nächsten in einem Licht ohnegleichen erstrahlen. Während die Erben von Frühling, Herbst und Winter ihre Fühler einzogen, jede Ecke, in der Schatten ruhte, aufsuchten, streckten sich die Erben Aestos', badeten im Schein, der Vater Sonne ihnen darbot und stärkten ihre Kräfte für Zeiten, an denen die Strahlen ihre Macht verließen. Geradezu einnehmend war der Anblick der Sommerlinge, wenn ihre nackten Füße den heißen Boden der Mittagssonne berührten, wenn sie das Heu zwischen ihren Zehen spürten und alles Licht dieser Erde die Erben des Sommers durchdrangen. Solange, bis die Sonne genug hatte, weiter ihres Weges zog und dem Nachmittag den Vorrang gewährte, dass der Boden aufatmete, die Erde zu neuem Leben erwachte und Pflanz und Tier aus ihren Verstecken lugten. Der Mittagsschein war nun einmal der Gefürchtetste des Tages, und im Hochsommer würde er keine Gnade walten lassen.
 

Zielstrebig schritten die zwölf Burschen unter der Führung ihres künftigen Generals und der Begleitung ihres Gelehrten auf die Mitte des Übungsplatzes zu. Die Sonne kitzelte ihre braun gebrannten Gesichter, die creme- bis karamellfarbene Haut sättigte sich an ihren Fühlern. Statt Schweißperlen benetzten von Sonnenlicht getragene Brillanten Stirn und Schläfen. Während die meisten Burschen ihr Haar in kurzgeschorenen Wellen trugen, fiel Lathyrus Mähne bis zu seinen Schulterblättern und glänzte im Wettstreit mit den Sonnenstrahlen. Der Blick war stets nach vorne gerichtet, das Gesicht zu einer leicht strengen Miene verzogen - wie es einem künftigen General der königlichen Sommerarmee gebührte.

Es war das erste Mal, dass er die künftigen Soldaten des Sommerreiches anleiten sollte. Seine stahlblauen Augen, die den wolkenlosen Himmel widerspiegelten, zeigten keinen Anflug von Nervosität. Dabei war es die Anspannung, die seinen gesamten Körper so erhaben erscheinen ließ. War es eine Ehre, seinem Vater zur Hand zu gehen, zeugte es gar von Vertrauen und Achtung, dass er dem ältesten Sohn die Verantwortung übertrug, so graute ihm davor, seiner bevorstehenden Rolle nicht gerecht zu werden. Dass er Versagen könnte, dass er seinen Vater, ja sogar den König enttäuschen könnte. Er presste die Lippen zusammen, kämmte sich grob mit den Fingern die Strähnen vom Gesicht und blieb stehen, dass es ihm seine Hintermänner gleich taten. Nur flüchtig ließ Lathyrus die Augen zu jenem Baum hinüber wandern, dass er die zarte Gestalt unter den schwer herabhängenden Blättern erblicken konnte. Das Gesicht der Sommerprinzessin war ihren Begleiterinnen zugewandt. Von Weitem sah er die weichen Lippen zu einem Lächeln verzogen. Er wusste, wie zart eine Berührung dieser roséfarbenen Lippen sein konnte. Wie sie auf seiner Stirn Trost und Ruhe spendeten. Schon als Wiesenkind war die Prinzessin für ihre Fürsorge und beispiellose Hingabe gegenüber ihres Volkes bekannt gewesen. Dass Lathyrus nicht zuletzt wegen seiner Stellung in der Zweigfamilie die ein oder andere Liebkosung mehr genießen konnte, hatte ihn noch nie gestört. Manchmal gab er sich den stillen Träumereien hin. Stellte sich vor, ihr einzigartiges Leuchten gelte nur ihm. Natürlich wusste es Lathyrus besser. Die Liebe der Sommerprinzessin galt dem gesamten Sommervolk. Nicht, dass es etwas an seinen eigenen Gefühlen ändern würde. Steigerte es lediglich die Verehrung für König Ginkos älteste Tochter. Verzehrte sich sein innerstes Leuchten nur umso mehr nach Prinzessin Myoso - der schönsten und anmutigsten Prinzessin von allen. Neben den wilden Frühlingsprinzessinnen stach ihre zarte, bleiche Erscheinung umso eindrucksvoller hervor. Weniger eine streng distanzierte Bleiche, wie sie das Wintervolk trug, ähnelte ihr Teint einem reinen, unschuldigen Leuchten - von Makellosigkeit durchzogen, dass es ihn mit Ehrfurcht zurückließ. Unentwegt könnte er sich solch Schwärmereien hingeben und mit jedem Tag, der verging, wuchs der Drang, Prinzessin Myoso jene Gefühle zu gestehen, welche er kaum noch zügeln konnte.

Ganz zaghaft konnte er ihren Mund bewegen sehen. Die Worte wurden von der trockenen Hitze einfach verschlungen. Kein Lüftchen wehte ihre liebliche Stimme in seine Ohren. Kein Hauch vermochte die Stille der Erde zu ihm hinüber zu tragen. Prinzessin Myso nickte ihren Dienerinnen zu, neigte den Kopf, dass ihre tiefen, warmen Augen in seine Richtung blickten. Das ganze Gesicht begann zu strahlen, die Prinzessin lächelte ihm zu und ließ ihr innerstes Leuchten nach außen. Es kostete Mühe, die eigenen Gefühle zu unterbinden, die womöglich in einem starken Moment tiefsten Verlangens ausgebrochen wären. Das Schürfen von über ein Dutzend Stiefeln ließ ihn innehalten. Leichter Gram stieg in ihm auf, als er sich gewahr wurde, scheinbar nicht der einzige zu sein, der Prinzessin Mysos Aufmerksamkeit aufgefallen war und dass womöglich jeder Bursche denselben Gedanke hegte wie Lathyrus es tat. Alle zwölf Burschen, der Gelehrte eingeschlossen, waren der Liebenswürdigkeit der Sommerprinzessin verfallen. Mit einem Räuspern drehte sich Lathyrus um und forderte jeden Einzelnen auf, seine Blicke auf ihn zu richten. Da er ganz vorne an einer beginnenden Erhöhung stand, überragte er die anderen um einen halben Kopf. Ihre Gesichtsmuskeln waren so angespannt, wie Lathyrus selbst, welcher mit Bedacht die folgenden Worte wählte. "Heute werdet ihr eine Technik erlernen, die nur mit äußerster Gewissenhaftigkeit angewandt werden darf. Schließlich", er ließ die Augen zu kleinen schmalen Schlitzen werden, "ist dies eine Technik, deren Ausübung im direkten Angriff verboten ist. Der König", sprach er weiter, als er nun die absolute Aufmerksamkeit der Burschen gewonnen hatte, "verbietet jedwede Machtdemonstration. Weil sie so gefährlich ist, darf sie niemals im Kampf als Waffe eingesetzt werden." Einige eifrige Burschen sahen sich fragend an, andere verzogen den Mund, sichtlich verunsichert, ob sie der folgenden Aufgabe gewachsen waren.

"Dennoch", fuhr Lathyrus fort, "gehört diese Technik zur Ausbildung eines jedes Sommersoldaten. In absoluten Notfällen soll sie euch als Verteidigung dienen - mehr aber auch nicht. Betet, dass diese Technik nie zum Einsatz kommt und dankt unserem König für den Frieden, dass wir uns nie der Verantwortung stellen müssen." Die angehenden Soldaten schlugen die Füße aneinander und salutierten. Lathyrus nickte ihnen zu. "Zunächst die Haltung", er stellte sich breitbeinig hin, den linken Fuß nach vorne, die Arme pressten sich an den Körper, der in eine hellgelbe Uniform eingekleidet war. Die Burschen vor ihm taten es ihrem künftigen Anführer gleich.

"Es ist wichtig, dass ihr den Boden unter euch spürt. Standfestigkeit ist ausschlaggebend für die Ausführung. Verliert niemals das Gleichgewicht oder weicht von eurer Position ab. Ihr braucht eine Verbindung zum Boden, um die Kontrolle zu behalten." Nun streckte er den rechten Arm gen Himmel aus. "Der schwierigste Teil ist die Beschwörung der Sonnenkräfte als manifestierte Gestalt. Die meisten scheitern an der Ausführung, weil sie sich zu sehr auf die Sonne konzentrieren. Versucht daher, eure Gedanken nach innen zu kehren. Bleibt dabei fokussiert. Nutzt den Boden nicht als Nährquelle." Mit der anderen Hand zeigte Lathyrus auf die vertrockneten Grashalme. "Stellt ihn euch als eine Art Ableiter vor." Den Zeigefinger ausgestreckt wurden die goldenen Lichtpunkte am Boden von Lathyrus' Fingerspitze angezogen. Die Kräfte drangen in ihn ein, Hitze quoll in wohligen Schauern in seinen Körper auf. "Sobald euer Innerstes bereit ist, leitet ihr die Kräfte in die rechte Hand." Man sah lediglich ein leichtes Flimmern, als Lathyrus seine Kräfte durch seinen Arm trieb. Erst als sie die Handinnenfläche erreicht hatten, tauchte ein grelles Licht auf. Erst eine Kugel verformte sie sich schließlich zu einem Bogen. Die Bogensehne schien aus den Haarsträhnen der Sommerprinzessin persönlich gemacht worden zu sein. Der breite Griff - golden, auf denen die Gravuren des Sommerreiches eingearbeitet waren - wurde von Lathyrus langen, schmalen Fingern umfasst, dass die ganze Hand angespannt war. Aufwändige Verzierungen, welche die Sonnenstrahlen als Kunstwerk darstellen sollten, rundeten das Bild eines königlichen Bogens vollends ab. Ein Raunen ging durch die Runde. Anerkennung und Achtung fanden sich in den Augen der Burschen wieder, doch Lathyrus tat es lediglich mit einem Nicken ab. Schon unzählige Male hatte er sich daran erprobt. Sein Vater war ein strenger Lehrmeister. Mehrere Monate hatte er auf diesen Moment, auf diese Perfektion hingearbeitet. Er wusste, dass es keinem der Burschen auf Anhieb gelänge, ebenso überzeugende Resultate hervorzubringen. Wenn sie einen einfachen Bogen erschaffen konnten, galt die Aufgabe als bestanden.

"Und nun", damit stellte Lathyrus die Bewunderungen ein, "benötigen wir den Pfeil. Anders als beim klassischen Feuerpfeil, den ihr in euren Übungen anwendet, tränkt ihr eure Energie nicht mit den Sonnenstrahlen, sondern mit der gesamten Sonne. Damit gewährleistet ihr, dass die Wirkung des Pfeils nicht während des Wurfs nachlässt oder sich gar in Rauch verwandelt. Nimmt man also genügend Sonnenlicht auf", in Lathyrus' freier Hand begann es leise zu knistern, "kann man die Kraft auf ein Maximum steigern." Fest umklammerte er den Pfeil, der aus einer einzigen, unzähmbaren Flamme bestand. Lathyrus drehte sich zur Seite, dass er den Lehrlingen das Profil zuwandte. Geschmeidig spannte er den Bogen, richtete den Pfeil aus und schickte ihn zurück zur Sonne. Köpfe schnellten nach oben, betrachteten die Präzision, die Geschwindigkeit und Kraft des Fluges. Lathyrus ließ den Arm sinken. Den Bogen löste er auf. Die Burschen waren jetzt an der Reihe sich zu beweisen. Unter der Anleitung Lathyrus' und den prüfenden Blicken des Sommergelehrten probierten sich die Sommerlinge an der neuen Technik. Bedächtig schritt Lathyrus durch die Reihen, korrigierte hier und da die Haltung der Burschen, denen die Anstrengung ins Gesicht geschrieben stand. Versagen kam für einen Sommerling nicht in Frage! Waren die Erben Aestos' ambitionierte und ehrgeizige Burschen, die ihrem künftigen Anführer imponieren und dem König ihre Treue demonstrieren wollten.

Zufrieden nickte Lathyrus, als der letzte Bursche einen hölzernen Bogen zu Tage brachte. Zwölf angehende Soldaten umschlossen ihre materialisierte Sonnenkraft, dass das Weiß ihrer Knöchel zum Vorschein kam. Nun waren die Pfeile an der Reihe. Nach und nach erschienen schmale spitze Feuerflammen, die sich geschmeidig in ihre Fäuste legten. Die Magie ging den Sommerburschen weitaus einfacher von der Hand. Nicht zuletzt war dies dem baldigen Beginn der Mittagssonne geschuldet, die binnen weniger Augenblicke ihre gesamte Energie entladen sollte. Der Boden knirschte gefährlich auf. Schwaden bedeckten die Wiese des Übungsplatzes und bald darauf würde das Spektakel beginnen. Jetzt waren die Sommerlinge die einzigen, die es mit der Sonne aufnehmen konnten. Kein Moment war günstiger, um die Übung der jungen Burschen abzuschließen. Störte sich in einem Machthöhepunkt der Sonne niemand daran, wenn zwölf angehende Sommersoldaten ihre eigenen Kräfte zur Schau stellten; war es doch lediglich ein Funken dessen, was die Sonne des Hochsommers zu bieten hatte, mit welcher erschütternden Energie sie sich die Erde zu eigen machte.

"Auf mein Zeichen", rief Lathyrus aus. Zuvor hatte er ihre Position ausgerichtet. Ihre scharfen Feuerpfeile zeigten horizontal nach Süden. Lathyrus hob den Arm. "Auf drei: eins - zwei -"

"HALT, LATHYRUS!" Wie der Feuerpfeil selbst traf die Stimme genau ihr Ziel. Myosos unverkennbarer Klang ließ den Generalssohn erstarren. Bevor Lathyrus auch nur einen Gedanken aufkeimen lassen konnte, gehorchte sein Körper bereits ihrer Stimme. Sein Kopf drehte sich. "Anhalten", rief er mit bebender Stimme und suchte nach der Quelle seines Gehorsams. Prinzessin Myoso hatte den Schutz des Baumes verlassen. Ein Flattern ließ ihn die Luft anhalten. "Keiner rührt sich", brüllte nun der künftige Anführer des königlichen Zweigclans, nachdem ihn die erschreckende Erkenntnis wie ein Stich durch die Brust kam. Nicht wegen der Sommerprinzessin, die eilig über die Wiese des Übungsplatzes lief, als wäre Gevatter Sturm persönlich hinter ihr her. Es war das Ziel der Prinzessin. Ein kleiner schwarzer Punkt. Farbe wich aus Lathyrus' Gesicht. In den Tönen des Winters gekleidet, hockte eines der Wiesenkinder des hiesigen Reiches, das Gesicht in den Händen versteckt, unfähig sich zu bewegen.

"V-verzeihung", stammelte es hinter ihm und Lathyrus sommerfrischer Teint war nun endgültig dahin. Drei der Burschen hatten den Bogen nicht länger halten können. Die Spannung war zu groß und in rasender Geschwindigkeit flogen die Feuerpfeile auf das starre Wiesenkind zu. Fassungslos sah Lathyrus dem Geschehen hinterher. Wie Prinzessin Myoso über den Platz eilte. Der Saum ihres Kleides auf und ab wippte, dass einzelne Blüten von ihrer Schleppe hinfort gerissen wurden.

"Noch nicht", rief die Prinzessin, die Sonne um ihren einzigen Wunsch bittend. Ihr Atem ging flach. Ihr Körper fühlte die Wellen der Sonnenstrahlen, die unbändige Hitze, die sie antrieb, weiterzulaufen. Von hinten spürte sie die feurigen Geschosse der Sommerburschen und das Adrenalin staute sich in ihren Körper.

"Scidellos!", beschwor sie den Frühlingsprinzen. Doch Scidellos war bereits aus seinem Versteck gesprungen. Das Gesicht von Schweißperlen durchtränkt, richtete er den linken Arm aus. Seine Kräfte versuchten sich nach außen zu drücken. Grün leuchteten die Seelenspiegel, als er die Frühlingsmagie heraufbeschwor, ihr befahl, seinem Willen zu gehorchen. Als Vertreter des Frühlings, dessen Kräfte bereits von den Monaten verbraucht worden waren, kostete es Prinz Scidellos alles an Energie, die Magie beizubehalten. Rot glühten die Wangen, von Hitze und Anstrengung geplagt und mit letzter Kraft entsandte er einen Wind, der bereits auf halbem Wege an Tempo einbüßte. Flüchtig kreuzte ein Lüftchen die drei Feuerpfeile. Gerade genug, dass sie ein Stück vom Kurs abwichen und das Wiesenkind verfehlen sollten. War die erste Gefahr gebannt, war es allein die Sonne, die über das Schicksal des kleinen Winterlings entscheiden sollte und ihr Urteil zeigte kein Entkommen.

"Warte", rief Myoso immerzu. Sie war der Kleinen schon so nahe. Die langen schwarzen Haare fielen schlaff über den gekrümmten Körper. In seiner rohen Gewalt drückte sich die schwüle Hitze um ihren zerbrechlichen Leib. Dampf stieg aus ihren Händen, die das kleine Gesicht zu schützen versuchten.

"Warte", schrie die Sommerprinzessin und Tränen brannten in ihren Augen, "halt ein, Mittagssonne!" Sie streckte den Arm aus. Myoso wusste, dass die Sonne schneller war. Dass sie ihrem Zeitplan folgte. Unnachgiebig. Ein fremdartiges Empfinden keimte in ihr auf. Zorn brannte in Myoso. Vater Sonne durfte seine Grausamkeiten nicht an diesem unschuldigen Wiesenkind auslassen! Egal, was die Gesetze sagten, Myoso wollte sich ihnen nicht beugen. Sie richtete den Arm gen Himmel aus. "Mittagssonne, ich befehle dir: halt ein!" Der Ruf hallte über das gesamte neutrale Gebiet, hallte weiter den Himmel hinauf, bis zu Vater Sonne selbst. Kurz vor ihrem Zenit stehend hielt die Sonne inne. Die ersten scharfen Strahlen schienen auf die Sommerprinzessin hernieder. Widerwillig gehorchte die Sonne dem Nachkommen ihres einstigen Schützlings. Sekunden ließen sich an den Fingern abzählen, bis der Mittag nicht länger auf sich warten lassen wollte. In einem letzten verzweifelten Sprung warf sich Myoso auf das welkende Wintergeschöpf. Ihre Arme umschlangen das Wiesenkind, mit dem Saum ihres Kleides bedeckte sie die schutzlose Gestalt vor der endgültigen Verbrennung. Selbst wenn das Gewand noch so durchscheinend war, musste es jetzt seinen Zweck erfüllen.

"Sch, ganz ruhig." Myoso presste sie noch enger an ihre Brust. Das Wiesenkind zitterte, fürchtete sich vor der Prinzessin, die nicht die ihre war. Es schluchzte, wobei keine Tränen ihre Wangen hinab rannen. War das Wiesenkind bereits zu ausgetrocknet, dass es einfach nur in den Nacken der Prinzessin wimmerte - leise, kraftlos und von völliger Panik ergriffen.

"Alles wird gut", summte Myoso in ihr Ohr, "ich lasse nicht zu, dass dir etwas geschieht." Die sanfte Stimme beruhigte. Der Körper der Prinzessin strahlte eine ganze andere Wärme aus als dieses fürchterliche Wetter mit seiner alles vernichtenden Hitze. Langsam erschlaffte der zittrige Körper, beruhigte sich unter den Liebkosungen der Sommerprinzessin. Nur die Hände, welche sich krampfhaft an den Oberarmen Myosos festklammerten, wollten nicht nachgeben.

"Prinzessin." Es war Lathyrus. So schnell ihn die Füße hatten tragen können, war er seiner Prinzessin hinterher geeilt. In seinem Brustkorb staute sich die Energie, er atmete schwer - weit weniger seiner schnellen Schritte geschuldet. Schweigend sah er zu der Sommerprinzessin hinab, die das kleine Bündel nicht aus ihren Händen herzugeben vermochte. Die Kleine lag eingerollt auf Myosos Schoß, das Gesicht in die Brust geschmiegt, die Finger drückten die Haut ihres Oberarmes ab. Prinzessin Myoso störte sich nicht daran, selbst als die kleinen Finger blau weiße Eismagie beschworen, redete sie dem Wiesenkind sanft zu, summte eine beruhigende Melodie, bis das Wimmern aufhörte.

"Prinzessin", flüsterte Lathyrus. Ein brennender Schmerz drückte ihm auf der Brust. Die Worte blieben im Halse stecken.

"Ich übernehme", die eisige Stimme ließ Lathyrus kurz zusammenzucken. Auch die Sommerprinzessin hob den Kopf, dass ihre klaren Seelenspiegel auf den Wintererben ruhten, der sie keines Blickes würdigte. Sich stattdessen seiner Handschuhe entledigte, die er in die linke Gesäßtasche stopfte. Die dunkelblaue Uniformjacke hatte er sich bereits abgestreift und ruhte lediglich auf seinem rechten Unterarm. Auf seiner Weste zeichneten sich mehrere Flecken ab, ebenso auf seiner Hose. Stetig tropfte Wasser seine rabenschwarzen Haarspitzen hinab. Tyledion beugte sich hinunter, nahm Myoso das ausgetrocknete Winterkind ab, warf ihm die Jacke über und presste es an sich, wie es zuvor die Sommerprinzessin getan hatte. Der eine Arm umschlang die Taille des kleinen Wesens, mit der anderen Hand hatte er ihren Kopf umfasst, dass die Innenfläche auf der Stirn lag. Keine Sekunde vergeudend wandte sich Tyledion ab und schritt eilig aus dem Sonnenareal. Myoso beobachtete den Winterprinzen, dessen Stiefel kleine Pfützen hinterließen, bevor die Mittagshitze auch schon wieder sämtliche Flüssigkeit aufgesogen hatte. Es war schon erstaunlich, dass der Winterprinz inmitten des Hochsommers seine Kräfte instand halten konnte. Dass er jedoch nicht einmal die Magie durch seine Augen fließen lassen musste, glich einem Wunder. Erschöpft ließ Myoso die Hände auf ihren Schoß fallen. Ihre emotionale Achterbahnfahrt kam endlich zum erliegen und die Sorge um das Wiesenkind schwand. Es war in guten Händen. Und in Sicherheit. Das einzige, das zählte.

"Deine Arme, Prinzessin", murmelte Lathyrus, der die Wunden an Myosos Haut nicht länger mit ansehen konnte. "Erlaube mir bitte, dir helfen zu dürfen. Wenigstens-"

Mysos nickte und der Sommerling ließ sich neben seiner Prinzessin nieder. Mit zusammengebissenen Zähnen begutachtete er die roten Stellen. Verbrennungen durch Eis waren schmerzhaft - gerade für das Sommervolk. Das stille Hinnehmen der Sommerprinzessin ließ ihn ehrfürchtig seine Arbeit erledigen. Er ließ die Hände erst über den einen Oberarm schweben. Orangenes Licht glitt hinaus, heilte langsam die Wunden. "Verzeih' mir, Prinzessin", Lathyrus schüttelte den Kopf, "ich hätte achtsamer sein müssen. Es war meine Aufgabe, den Übungsplatz im Auge zu behalten. Ich habe versagt."

"Nein, Lathyrus", besänftigte ihn die Prinzessin und ließ sich zu einem Lächeln hinreißen. "Gib' dir nicht die Schuld."

"Ich übernehme die volle Verantwortung", er knirschte mit den Zähnen, "es ist meine Pflicht als künftiger Clanführer und ergebener Untertan. Nicht auszumalen, was hätte passieren können. Die politische Tragweite…", er stockte, ließ die Hände sinken, bevor er sich dem anderen Oberarm widmete.

"Lathyrus." Er liebte es, wie sie seinen Namen aussprach. Doch gerade konnte er nur an seine Blauäugigkeit, seine Unachtsamkeit denken.

"Wenn, dann trifft uns alle die Schuld", sagte sie und blickte ihm jetzt tief in die Augen. Die eigenen Sorgen spiegelten sich in ihr wider, dass Lathyrus seinen Gram beiseite schob. "Weil wir nur uns selbst sahen, haben wir das Wichtigste aus den Augen verloren." Ihre Qualen wurden zu seinen. Wenn Blicke töten könnten, dann wäre sein Tod durch ihre getrübten Seelenspiegel die Strafe, die er verdiente.

"Drum", Myoso blinzelte eine Träne aus ihren Unschuldsaugen, "nimm' nicht alle Schuld auf dich." Sie strich über seinen Unterarm, schob ihn von ihren geheilten Wunden.

"Du bist zu gutmütig, Prinzessin", sagte Lathyrus, obwohl ihre Worte wie Balsam für seine Seele waren.

"Vielleicht", hauchte die Prinzessin, den Blick in die Weiten des Sommerhimmels gerichtet, "vielleicht."



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