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Freunde mit gewissen Vorzügen

von

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Omi und Aya saßen bereits im Missionsraum, als Yoji den Keller betrat. Das heißt, Omi saß vor dem Computer und Aya lehnte neben ihm an der Wand. Unwillkürlich musste Yoji lächeln. Das war so eine Angewohnheit von ihrem „großen Anführer“. Immer wachsam, immer auf dem Sprung. Ein Raubtier, das in der Dunkelheit lauerte. Omi war da ganz anders. Wenn er nicht auf einer Mission war, war er...einfach er selbst. Nun, nicht ganz. Yoji wusste um die Schatten, die unter der Oberfläche lauerten. Er war gespannt, ob er irgendwann erleben würde, dass diese zwei Seiten zu einem zusammenwuchsen oder ob irgendwann eine von ihnen ausgelöscht werden würde. Er hoffte auf das erste und fürchtete das letzte, denn dass es nicht die unschuldige, freundliche Seite sein würde, die überlebte, dessen war er sich sicher. Und er selbst? Nun ja. Er war eben einfach ein sentimentaler Idiot, der sich schlechtweg weigerte aufzugeben. Aber immerhin ein Idiot mit einer Aufgabe und einem echt heißen Date.

Er stellte sich neben Aya und ihre Hände streiften sich kurz. Vor noch gar nicht mal so lange Zeit hätte ihm das vermutlich einen kalten Killerblick, eine rüde Bemerkung oder etwas in der Art eingebracht. Jetzt blickte Aya nur kurz in seine Richtung, nickte und wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Bildschirm zu, auf dem Omi bereits einige Tabs geöffnet hatte.

 

„Ich habe erst einmal Profile von Schwarz erstellt“, erklärte er. „Ich denke, wir sollten zunächst zusammentragen, was wir über die drei wissen.“

„Vier“, warf Aya ein. „Es sind vier.“

Omis Augenbrauen wanderten nach oben. „Ach ja? Woher weißt du das?“

„Schuldig hat noch ein viertes Mitglied erwähnt. Nagi Naoe. Er kennt sich mit Computern aus.“

Omi nickte und erstellte eine weitere Liste. „Weißt du noch mehr?“

„Nur dass er anscheinend jünger ist. Es klang, als wäre da ein merklicher Altersunterschied zwischen ihm und dem Rest.“

„Schwarz hat also auch einen minderjährigen Hacker?“, fragte Yoji verblüfft. „Vielleicht solltet ihr euch mal treffen. Wer weiß, vielleicht werdet ihr ja Freunde. Ihr habt immerhin einiges gemeinsam.“

Omi bedachte ihn mit einem finsteren Blick. „Das ist nicht lustig, Yoji. Aber jetzt weiß ich wenigstens, warum ich nicht in die Verkehrsüberwachung reingekommen bin. Der Kerl hat vermutlich einen Sicherheitsring um ihren Aufenthaltsort aufgebaut. Mal sehen, ob ich ihn lokalisieren kann. Nur weil ich nicht reinkomme, heißt das ja nicht, dass ich nicht rausfinden kann, wo die Quelle ist.

„Es wurmt dich, oder?“, fragte Yoji mit einem Grinsen. „Dass er besser ist als du.“

„Er ist nicht besser“, knurrte Omi. „Er ist nur besser als die meisten, die ich bisher geknackt habe. Aber lasst uns erst mal sehen, was wir über den Rest wissen.“

 

Er rief ein Profil auf, das ein Foto von einem dunkelhaarigen Mann in einem Anzug zeigte. Yoji lehnte sich vor, um zu lesen, was Omi bereits eingetragen hatte.

„Crawford, eh? Oracle? Das ist der, der die Zukunft voraussehen kann. Ich kann ich nicht erinnern, ihm selbst schon einmal begegnet zu sein.“

Aya bewegte sich. „Ich habe mit ihm gekämpft, als...wir uns getrennt hatten. Er hatte meinen Angriff vorausgesehen. Er ist etwa so groß wie Yoji, älter als wir, Ausländer, ziemlich kräftig aber agil und er hört sich selber gerne reden. Schuldig sagte, er hat gerne alles unter Kontrolle. Ich weiß nicht, inwieweit seine Gabe sein kämpferisches Können beeinflusst, aber rückwirkend gesehen hatte ich fast das Gefühl, er hätte jeden meiner Angriffe vorausgesehen. Ich konnte kaum einen Treffer landen. Allerdings hat Farfarello einen Großteil des Kampfes für ihn übernommen.“

Omi wechselte das Profil. Es enthielt kein Foto, aber eine recht detaillierte Beschreibung.

„Er hat definitiv ein Faible für Messer“, ließ sich Yoji vernehmen. „Er kann sich lautlos bewegen und hat irgendwie eine unangenehme Ausstrahlung. Ich meine, er hat mich abgeleckt. Wer macht so was?“

„Schuldig sagte, er sei irre“, fügte Aya hinzu. „Außerdem scheint er kaum Schmerzen zu verspüren. Das sie ihn Berserker genannt habe, spricht ebenfalls für sich. Ist er einmal in einen Kampfrausch verfallen, kann ihn vermutlich nur noch sein eigener Tod aufhalten.“

„Das lässt sich bestimmt einrichten“, versicherte Yoji.

„Bleibt nur noch Mastermind. Schuldig“, sagte Omi. Er rief das letzte Profil auf.

„Was ist das überhaupt für ein Name?“, schnaubte Yoji. „Ich meine, so heißt doch kein Mensch. Das ist ja wie Cher oder Madonna.“

„Ich habe nachgesehen. Es ist ein deutsches Wort und bedeutet so viel wie an etwas Schuld haben“, entgegnete Omi. „Er ist...er ist ein grausamer, manipulativer Bastard. Er redet dir Sachen ein so lange, bis du sie selber glaubst. Er weiß, was in deinem Kopf vorgeht, und verwendet es gegen dich. Man muss extrem vorsichtig sein, wenn man gegen ihn kämpft.“

„Außerdem ist er schnell“, ergänzte Aya. „Unglaublich schnell. Ich weiß nicht, ob es daran liegt, das er einen beeinflusst oder ob er sich wirklich so schnell bewegen kann, aber es war mir auch bei ihm unmöglich, ihn zu erwischen.“

„Ich weiß, was du meinst“, brummte Yoji. „Erinnerst du dich? Als wir beim ersten Mal zu dritt gegen ihn angetreten sind, hat er uns einfach ausmanövriert. Obwohl ich nicht glaube, dass er wirklich gegen drei Gegner gleichzeitig antreten kann. Er kann uns ja schließlich nicht alle manipulieren.“

„Lass uns keine voreiligen Schlussfolgerungen ziehen“, gab Aya zurück. „Das Beste ist, dass wir davon ausgehen, dass diese vier uns haushoch überlegen sind.“

Yoji verzog das Gesicht. „Und wie sollen wir sie dann besiegen? Ich meine, wir sind nur zu dritt.“

„Wir müssen sie bei ihrer Arroganz packen. Wer sich so überlegen fühlt, ist anfällig für Fehler. Wir müssen nur ihre Schwachstellen finden und sie dann einen nach dem anderen aushebeln. Wenn wir das schaffen, haben wir eine Chance. Wenn nicht...“

 

Aya beendete den Satz nicht, aber sie wussten alle, was er meinte. Wenn sie es nicht schafften, würde Weiß ausgelöscht werden.

„Zunächst einmal müssen wir sie aber finden“, beendete Omi die unangenehme Stille. „Aya, du musst dich erinnern. Hat er irgendetwas über ihren Aufenthaltsort gesagt?“

„Er hat gesagt, dass...er von seinem Zimmer aus einen Park sehen kann.“

„Das ist interessant. Wenn ich die Daten der geblockten Überwachung mit dieser Info verknüpfe, lässt es sich vielleicht eingrenzen. Noch etwas?“

Aya schloss die Augen und schien nachzudenken. „Diese Kassiererin aus dem Supermarkt. Schuldig hat gesagt, er hat sie vorher schon einmal getroffen.“

Omi machte sich eine Notiz. „Ich werde den Supermarkt raus suchen und sehen, ob die dort eine Überwachungskamera haben. Vielleicht hat dieser Nagi ja vergessen, sie auszuschalten. Eventuell ist ja was auf dem Band, das uns weiterhilft.“

„Sie werden außerdem ein frei stehendes Gebäude bevorzugen“, warf Yoji ein. „Ich meine, wenn sie Ken dort unterbringen und... naja. Das macht man nicht, wenn nebenan die Nachbarin im Keller nebenan ihre Waschmaschine laufen lässt.“

Omi nickte. „Gut, ich werde sehen, was ich herausfinden kann. Wir werden dieses schwarze Nest finden und es ausräuchern.“

Yoji bedachte ihn mit einem schrägen Blick. Der Junge schien fest entschlossen. Er fühlte ein warmes Gefühl in seiner Brust aufsteigen. Wenn Omi sich da so reinhängen konnte, dann würde er das auch schaffen. Er sah zu Aya hinüber.

„Wir zwei sollten uns um die Bewaffnung kümmern. Ich denke, es ist von Vorteil, wenn wir dieses Mal ein bisschen schwerere Geschütze auffahren.“

Aya hob eine Augenbraue. „An was hast du gedacht?“

Yoji zuckte mit den Schultern. „Hubschrauber und Panzergranaten scheinen mir geeignet. Vielleicht können wir uns auch irgendwo eine Wasserstoffbombe ausleihen. Ich meine, nur um ganz sicher zu sein.“

Aya schnaubte nur und ging an ihm vorbei. In Richtung Ausgang. Yoji entging nicht, dass er ihn dabei wie zufällig streifte. Er griff nach seinen Zigaretten, zündete sich eine an und folgte ihm zu dem Raum, in dem sie ihre Ausrüstung aufbewahrten.

 

 

 

 

 

Komm schon, Ken, mach den Mund auf. Es ist ganz einfach. Ich weiß, dass du es willst und du weißt es auch. Also hör auf, dich zu wehren und sei ein braves Kätzchen.“

Er presste die Lippen zusammen und drehte den Kopf weg. Dieses Mal würde er nicht nachgeben. Mochte ja sein, dass dieser Schwarz ihn beim letzten Mal auf dem falschen Fuß erwischt hatte, aber er war kein Spielzeug!

Schuldig sah ihn aus zusammengekniffenen Augen an. „Na gut, wenn du es unbedingt auf die harte Tour willst, kann ich das einrichten.“

Plötzlich war da dieses Gefühl in seinem Kopf. Ein Druck, ein Spannen. Nicht schmerzhaft, aber seltsam und beunruhigend. Es war, als würde er die Kontrolle über seine Gedanken und seinen Körper verlieren. Er kämpfte dagegen an und das Gefühl wurde schlimmer, begann schmerzhaft zu werden. Sein Kopf begann sich ohne sein Zutun zu Schuldig herumzudrehen, seine Lippen drifteten auseinander. Er bekam Panik, begann heftiger zu atmen, während sich sein Mund immer weiter öffnete.

Siehst du, es ist ganz einfach“, säuselte Schuldig und kam ein Stück näher. „Du wirst jetzt ein braves Kätzchen sein und tun, was ich möchte. Andernfalls werde ich noch ganz andere Sachen mit dir anstellen und das willst du doch nicht, oder?“

Schuldigs Arme hatten Kratzer, wo Ken versucht hatte, sich zu wehren. Er sah die roten Striemen, als der Mann jetzt die Hand hob und langsam seine Finger in Kens Mund schob. Er war so schlau, die Kontrolle nicht zu verringern, denn andernfalls hätte Ken ihn mit ziemlicher Sicherheit wieder gebissen. Stattdessen nahm er die Finger wieder zurück, schob sie unter Kens Kinn und schloss seinen Mund mit sanften Druck wieder.

Und jetzt nur noch kauen und schlucken“, merkte er an und entließ Ken wieder aus seinem mentalen Griff. Ken fühlte die Ohnmacht weichen und handelte unverzüglich. Er spuckte Schuldig den Reis, den der ihm gerade in den Mund geschoben hatte, wieder ins Gesicht. Die weißen Körner klatschten gegen dessen Wange und hinterließen eine schleimige Spur auf dem Weg nach unten.

 

Er sah den Schlag nicht kommen, der seinen Kopf zur Seite und gegen die Wand hinter sich schleuderte. Sekunden nach dem Aufprall breiteten sich rasende Schmerzen von der Stelle aus, an der Schuldig ihn getroffen hatte. Sein halbes Gesicht fühlte sich taub an. Sein Kiefer knackte, als er ihn bewegte. Ein metallischer Geschmack breitete sich in seinem Mund aus. Hellblaue Augen funkelten ihn böse an.

Das wirst du bereuen, Kätzchen“, fauchte Schuldig und stand auf. „Dann bleibst du halt hungrig. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis du einknickst. Und dann werde ich da sein.“

Die Drohung wirkte immer noch nach, als der Schmerz in seinem Gesicht längst zu einem dumpfen Pochen verklungen war und er auf dem kahlen Boden in einen Dämmerzustand übergegangen war, den Schlaf zu nennen die Übertreibung des Jahres gewesen wäre. Er war so müde, aber er würde nicht schlafen. Nicht schlafen...

 

 

 

Ken schreckte hoch. Vor ihm schwebte ein einzelnes, bernsteinfarbenes Auge musterte ihn. Er rappelte sich auf, so schnell er es vermochte, zog die Beine an und presste sich in die Ecke des Raumes, in die er sich zurückgezogen hatte, nachdem Schuldig verschwunden war. Sein Gesicht schmerzte immer noch und für einen Augenblick drohte die Schwärze, die in seinem Hinterkopf lauerte, ihn zu überwältigen. Er schluckte die aufsteigende Übelkeit herunter und ließ Farfarello nicht aus den Augen. Der Mann sah ihn weiterhin an. In seinem Blick konnte Ken nicht den wilden Blutdurst erkennen, den er beim letzten Mal gesehen hatte. Stattdessen war es eher etwas wie Neugier. Aber Ken blieb weiter wachsam. Auch Schuldig war freundlich gewesen und jetzt dröhnte sein Kopf und seine Hände waren wieder gefesselt.

Farfarello streckte eine Hand aus und Ken versuchte instinktiv, sich weiter von ihm zu entfernen. Aber hinter ihm war bereits die Wand und er war nicht schnell genug, bevor die Finger des anderen Mannes über sein Gesicht strichen. Als er sie wieder zurückzog, hing an seinem Zeigefinger ein einzelner, durchsichtiger Tropfen. Farfarello betrachtete ihn mit leicht schief gelegtem Kopf.

„Du hast geweint“, sagte er, die heisere Stimme leise, fast nur ein Flüstern. „Warum?“

Ken schüttelte den Kopf. „Ich...ich weiß nicht. Ich habe geschlafen. Geträumt.“

 

Farfarellos Blick richtete sich wieder auf sein Gesicht. Im Gegenzug betrachtete Ken den anderen Mann. Drei Narben zeichneten das Gesicht auf Nasenrücken, Wange und Kinn und Ken fragte sich unwillkürlich, woher sie wohl stammten. Hatte er sie bei einem Kampf davon getragen? Welche Art von Waffe hatte sie verursacht? Wie hatte er das Auge verloren? Was für Kämpfe hatte er schon ausgefochten? Sein Blick wanderte tiefer und entdeckte das Halsband an seinem Hals.

'Wie bei einem Tier', schoss es ihm durch den Kopf.

 

Der andere Mann griff hinter sich und holte eine von Ken Bugnuks hervor. Er ließ die Krallen aufschnappen und betrachtete die Klingen. Er öffnete den Mund und ließ seine Zunge über das Metall gleiten. Das helle Fleisch glitt über die geschärften Kanten und Blut benetzte die Schneide. Ken war ebenso abgestoßen wie fasziniert. Er wollte die Augen schließen, den Blick abwenden, aber er konnte es nicht. Der Anblick, der rot benetzten Kralle, ließ ihn schlucken.

„Du bist ein Raubtier“, sagte Farfarello mit einem Mal.

„Was?“ Ken riss die Augen auf.

„Du jagst gerne und du genießt das Töten.“

„Wie bitte?“ Er schüttelte sich und riss sich von dem Anblick los. „Das ist nicht wahr. Ich...nein! Das ist nicht wahr. Ich würde lieber... Ich kann nicht... Ich...“

Er verstummte, da alles, was er sagte, an Farfarello abzuperlen schien, wie Wasser von einer gewachsten Scheibe. Es hinterließ keine Spuren, hatte keinen Einfluss. Alles, was er sagte, war nichtig.

 

Farfarello ließ die Krallen wieder in ihre Schutzhülle zurückgleiten und stand auf. Er wandte Ken den Rücken zu, den Handschuh immer noch in der Hand.

„Ich bin nicht wie du“, sagte Ken zu seinem Rücken, nicht sicher, ob der andere ihm überhaupt zuhörte. „Ich bin nicht wie du. Ich töte, um diejenigen zu betrafen, die Unrecht getan haben. Nicht, weil es mir gefällt.“

„Dann bist du Richter und Henker in einer Gestalt?“

Die Frage überraschte ihn ein wenig und er dachte kurz nach. „Nein. Nur der Henker. Das Urteil fällen andere.“

„Ich verstehe.“

Die zwei Worte standen im Raum und machten Ken nervös. Der Irre verstand? Was sollte das denn jetzt heißen? Warum unterhielt er sich überhaupt mit ihm? Das war ein Schwarz, ein Feind!

 

Er zog die Beine enger an den Körper. Er zitterte, es war kalt hier unten und er trug immer noch nicht mehr am Leib als seine Unterwäsche. Seine Wunden waren inzwischen verbunden worden. Schuldig hatte sich darum gekümmert und sich einen Spaß daraus gemacht, die Prozedur zu einem Marathon aus Anspielungen und ungewollten Berührungen zu machen.

Ken sah auf und sein Blick fiel auf Farfarellos Oberarm, wo ebenfalls ein dickes Pflaster prangte an der Stelle, wo sich das Holz der Kirchenbank in den Arm gebohrt hatte. Ihm fiel etwas ein.

„Wie machst du das?“, fragte er und Farfarello drehte sich wieder zu ihm herum. Er antwortete nicht und sah ihn nur an.

„Das da.“ Ken wies mit dem Kinn auf die verletzte Schulter. „Das muss doch höllisch wehgetan haben, aber du hast nicht mal gezuckt. Wie machst du das?“

Farfarello gab einen belustigten Laut von sich. Er legte den Handschuh auf den Boden und zog stattdessen einen schmalen Dolch heraus. Er entfernte das Pflaster mit einem beiläufigen Ruck und stach, bevor Ken reagieren konnte, mitten in die breite Wunde. Er drehte die Klinge, den Blick weiter auf Ken gerichtet, die Miene unbeteiligt. Die Wunde begann wieder zu bluten und die rote Flüssigkeit lief in breiten Streifen seinen Arm hinab, bis sie auf den Boden tropft. Ken keuchte auf.

 

„Ich wünschte, ich könnte den Schmerz fühlen“, sagte Farfarello. „Aber ich fühle gar nichts. Das, was dir wie ein Segen erscheint, ist mein Fluch. Mir wurde alles genommen und nicht einmal der Schmerz blieb zurück. Das ist es, was Gott mir angetan hat.“

„Gott?“ Ken konnte den Blick immer noch nicht von dem Messer in Farfarellos Arm nehmen. „Was hat Gott damit zu tun?“

„Er hat mir meine Familie genommen. Vater, Mutter, Schwester. Sie wurden getötet und Gott hat nichts getan. Mir wurde beigebracht, wie gütig Gott ist. Dass er die Welt erschaffen hat. Dass er sich um uns kümmert. Aber es war alles nur eine große Lüge. Es gibt gar keinen Gott.“

 

Er blickte dem roten Rinnsal nach, das inzwischen eine kleine Pfütze auf dem Boden gebildet hatten. Seine linke Hand war blutbedeckt. Er ging auf Ken zu, kniete sich vor ihn und legte ihm die Hand auf die Brust. Der Blutgeruch wurde überwältigend. Ken spürte die glitschige Flüssigkeit auf der Haut und fühlte Ekel in sich aufsteigen.

„Wir könnten zusammen jagen“, flüsterte Farfarello. „Du wärst ein guter Jagdgefährte.“

Ken versetzte ihm einen Tritt, der ihn rückwärts fallen ließ und stemmte sich selbst auf die Füße.

„Du bist ja wahnsinnig“, schrie er. „Ich würde niemals Unschuldige umbringen. Diese Menschen in der Kirche! Warum mussten sie sterben? Welche Sünden haben sie in deinen Augen begangen, dass sie den Tod verdient haben?“

Farfarello kam auf die Füße

„Ich habe sie getötet, um Gott zu zeigen, wie machtlos er ist“, antwortete er. „Sie haben ihn gerufen, haben ihn aufgefordert, sie zu retten. Aber niemand ist gekommen. Er hat sie einfach sterben lassen.“

Ken schüttelte ungläubig den Kopf. „Aber du hast doch selbst gesagt, dass es keinen Gott gibt. Wie kann er dich da aufhalten? Was du sagst, ergibt überhaupt keinen Sinn!“
 

Farfarello legte den Kopf schief. „Ist das so?“

„Ja“, schrie Ken. „Du benutzt deinen Hass gegen Gott, um deine Verbrechen zu rechtfertigen. Du bist einfach nur wahnsinnig, ein Mörder.“

„Es war kein Verbrechen, sie zu töten“, sagte Farfarello. Seine Stimme zitterte. „Ich bin ein Opfer. Ich bin es, dem Unrecht angetan wurde. Wie kann das, was ich tue, da ein Verbrechen sein?“

„Es ist ein Verbrechen zu töten. Du und ich werden beide in der Hölle schmoren dafür, was wir tun. Aber immerhin habe ich einen guten Grund dafür. Du hingegen jagst nur Hirngespinsten nach. Du sagst, du willst dich an Gott rächen? Es ist eine Lüge, hinter der du dich versteckst. Eine Lüge, die du selbst dir oft genug erzählt hast, damit du sie glaubst. Du genießt es, zu töten. Du dürstest nach Blut. Es gibt keinen anderen Grund für deine Taten als dich selbst. Du bist es, der an all dem Schuld ist!“

Farfarellos Gesicht veränderte sich, wurde zu einer Maske des Zorns. Er fletschte die Zähne und fasste den Dolch fester. „Gott hat meine Familie getötet. Er muss leiden, so wie ich gelitten habe. Ich töte seine Kinder und verstümmele den Körper, in den er mich eingesperrt hat. Aber zunächst einmal töte ich dich.“

 

Mit einem unmenschlichen Schrei sprang er vorwärts und Ken fühlte, wie sich die Klinge in seine Seite bohrte. Er schrie, fiel, der Körper des anderen über sich. Sein Kopf schlug auf den Boden, weil er den Sturz nicht anfangen konnte. Alle Luft wurde durch Farfarellos Gewicht aus seinen Lungen gepresst. Er fühlte, wie eine Faust sein Gesicht traf. Ein weiterer, scharfer Schmerz schoss durch seine Nerven, seine Augenbraue platzte auf und Blut tropfte in sein Auge, verschleierte seine Sicht. Er blinzelte und versuchte sich zu befreien. Wie ein Dämon der untersten Hölle saß der Mann mit dem einen Auge über ihm und hatte den Dolch zum finalen Stoß erhoben. Ken versuchte vergeblich der tödlichen Falle zu entkommen. Sein getrübter Blick fiel auf die Klinge. Er sah sein Spiegelbild darin. Eine winzige Figur inmitten von kaltem Stahl. Ein letztes Aufblitzen vor dem Ende.

 

Die Tür flog auf und lenkte Farfarello ab.

„Nagi!“, rief Schuldig von irgendwo her. „Hilf mir!“

Das Gewicht von Kens Brust war plötzlich verschwunden und Farfarello flog rückwärts durch den Raum, krachte gegen eine Wand und schrie vor Wut auf. Nagi, der in der Tür stand, hatte die Hände in seine Richtung ausgestreckt, auf seinem Gesicht war Anstrengung abzulesen.

„Was hast du getan, verdammt?“, fauchte Schuldig in Kens Richtung. Er wandte sich dem tobenden Farfarello zu und begann auf ihn einzureden. Es klang beruhigend, fast wie ein Wiegenlied. Aber es nutzte nichts, der Irre kämpfte weiter gegen die unsichtbaren Fesseln, die ihn an seinem Platz hielten. Ken bekam das alles nur noch am Rande mit. Die Wunde an seiner Seite blutete, sein Kopf dröhnte. Sein Bewusstsein driftete langsam ab und rutschte immer weiter über den Rand in Richtung Schwärze. Das Letzte, was er sah, war Schuldig, der sich zu ihm umdrehte und irgendetwas rief. Dann war da nur noch Dunkelheit.

 

 

 


Nachwort zu diesem Kapitel:
Soundtrack:
„Hide and Seek" - Namie Amuro (Ich liebe das Wow-Video, das es dazu gibt. So genial *__*)
„Become a beast“ - Karliene



Also ich muss sagen, mit dem letzten Teil bin ich nicht so recht zufrieden. Der sollte eigentlich noch länger werden, das Gespräch zwischen Ken und Farfarello ausführlicher. Aber irgendwie ist es dann doch wieder Richtung Kampf abgedriftet. Mal sehen. Vielleicht später nochmal.*seufz*
Immerhin ist das Lied sooo passend. Hab ich erwähnt, dass ich „Hannibal“ nicht gesehen hab, weil ich so was nicht ertrage? Ich krieg auch bei Blut und Gewalt in Büchern immer so ein ekliges Gefühl in der Armbeuge. Wie beim Blut abnehmen nur schlimmer. Mir ist sogar mal bei „Interview mit einem Vampir“ schlecht geworden. Also erwartet nicht zu viel „Farfarello goodness“. ^_~ Komplett anzeigen

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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  radikaldornroeschen
2018-04-25T08:29:36+00:00 25.04.2018 10:29
Im Nachhinein (mit deiner Kapitel-Notiz im Hinterkopf) muss ich zugeben, ja, das Gespräch zwischen Farfi und Ken könnte wirklich länger sein.
Aber trotzdem ist es gut geworden! Irgendwie hat Ken den Mittelweg zwischen normaler Logik und Farfarello-Logik gefunden und ihn damit ein wenig fesseln können. Die beiden könnten ein richtig gutes Team abgeben XD
Und obwohl ich Farf eigentlich nicht so sehr mag, ist er mir in diesem Kapitel sympathisch geworden - trotz dem ganzen Blut... ^^;
Antwort von:  Maginisha
25.04.2018 11:33
Hey, danke für deinen Kommentar.

Ja, wie gesagt, ich bin da nicht recht zufrieden. Eigentlich sollte ich es noch liegen lassen, bis es richtig gut ist. Aber andererseits habe ich mir so gedacht, dass allzu viel Vertraulichkeit eigentlich auch nicht herrschen dürfte. Immerhin war es immer Farfarellos erklärtes Ziel, Weiß zur Strecke zu bringen. Da macht man halt auch nicht einfach Kaffeekränzchen. Zumal wenn man gerade eine Abfuhr kassiert hat. :D Und ich wollte ein bisschen die Unberechenbarkeit mit reinbringen. Die beiden werden sich aber früher oder später noch über den Weg laufen, denke ich. Vielleicht kann sich Ken ja bei Schuldig ein paar "Wie ich mit dem Haus-Psychopathen am besten umgehe"-Tipps holen. ^_~
Antwort von:  radikaldornroeschen
25.04.2018 11:38
Ganz nach dem Motto "Jeder sollte einen Farfi haben" XD
Antwort von:  Maginisha
25.04.2018 18:03
Oh bitte nicht! Der verfolgt mich eh schon die ganze Zeit.

Ein kleines bisschen was habe ich jetzt noch ergänzt kurz vor dem Ausbruch. Macht es nicht länger, aber noch ein bisschen runder, hoffe ich.


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