Intro
‘Is there so much hate for the ones we love?
Tell me, we both matter, don't we?
You, it's you and me
It's you and me won't be unhappy
And if I only could
I'd make a deal with God
And I'd get him to swap our places
Be running up that road ‘~ Placebo, „Running Up That Hill“ 2003
Würgend verkrampfte ich über dem Waschbecken, Halt suchend stützte ich mich links und rechts ab. Zitternd und hustend sah ich auf in den Badezimmerspiegel.
Mit glasigen Augen sah ich zurück, meine Wangen waren fiebrig rot, der Rest kreidebleich. Das Veilchen von Theo Rechts schimmerte noch leicht gelb. Meine Unterlippe war noch immer stark geschwollen und schorfig, ich schmeckte Blut und würgte erneut.
Ich… schaudernd atmete ich aus. Ich tat das Richtige! Ich tat das Richtige… Ich… Ich tat das Einzige, was ich verdammt nochmal tun konnte! Scheiße…
Ich presste eine Hand vor den Mund um nicht laut zu schluchzen und kniff die Augen fest zusammen. Ich würde nicht heulen! Ich hatte mich entschieden! Ich hatte kein Recht, schwach zu sein!
Typisch klirrte die Kühlschranktür im Erdgeschoss. Zehn Sekunden später klappte die Haustür. Entschieden drehte ich den Wasserhahn auf, wusch mir das Gesicht zu grob, trocknete mich hastig ab und spuckte unbeteiligt blutig ins Waschbecken.
Ich hatte keine Zeit zum trödeln, zaudern, verzagen…
Vom Bad eilte ich erneut in mein Zimmer. Ich schnappte mir meinen blauen Rucksack für die Schule und kippte den Inhalt ohne viel Federlesen aufs Bett. Schnell angelte ich mein Portmonee und meine Kopfhörer aus dem Haufen und stopfte beides in die linke Seitentasche. Dann lief ich ins Büro.
Mein Vater musste es vorhin verflucht eilig gehabt haben. Sein Radio war noch an. Den bestimmten Sender, den er immer hörte, empfing man nur recht schlecht bei uns im Haus. Deshalb rauschte das Lied, das gerade lief, leicht. Irgendwie passte es zu der melancholischen Stimme, die gerade sang:
„…It doesn't hurt me. Do you want to feel how it feels? Do you want to know that it doesn't hurt me?“
Die alten Dielen unter meinen Füßen knarzten, ich war selten hier. Eigentlich hatte ich auch nichts in Dads Büro verloren. Zielstrebig ging ich zum Safe, der hinter einer schlichten Schranktür verborgen war. Sein Rechner hinter mir surrte auch noch. Was hatte ihn nur so aufgescheucht?
Ich atmete ruhig und konzentriert aus, ich musste mich zusammenreißen. Ich hatte nur einen Versuch, danach wurde ein stummer Alarm ausgelöst, der Dad auf dem Handy informierte, dass sich jemand an unseren Wertsachen unerlaubt zu schaffen machte. Mom hatte das übertrieben gefunden, weil sie sich den dummen Code nie merken konnte, doch Dad als Cop ging immer lieber Nummer sicher.
Ich weiß noch, wie ich die Augen verdreht hatte, als Dad mir mit frisch 16 - für den absoluten Notfall, natürlich! - den Pin verraten hatte. Jetzt schickte ich stumme Dankeshymnen zu meinen Eltern und ihrem Bestreben mir Verantwortungsbewusstsein zu vermitteln, auch wenn ich ihr Vertrauen gerade aufs Äußerste verriet…
Wieder schüttelte ich mich. Schuldgefühle machten das alles hier weder einfacher, noch besser.
Das Radio rauschte weiter.
„…And if I only could, I'd make a deal with God. And I'd get him to swap our places. Be running up that road…“
Vorsichtig tippte ich Zahl für Zahl, so wie ich sie eine halbe Stunde rauf und runter rattern musste, bis mein Vater zufrieden gewesen war, ein. „… und die Neun.“
Ich schluckte nervös, doch ein erlösendes und bestätigendes Klicken sagte mir, das ich die 6 Zahlen richtig gehabt hatte.
Als ich die massive Tür öffnete, zögerte ich hinein zu greifen, doch welche andere Wahl hatte ich denn?
Als erstes nahm ich einen kleinen, braunen Briefumschlag, in dem Tausend Doller in Bar waren. Der Notgroschen oder auch das Kautionsgeld, wie meine Eltern gescherzt hatten, als meine Schwester mal auf einer Demo für Frauenrechte verhaftet worden war.
Ich stecke das Geld ein. Als nächstes nahm ich eine Ledermappe heraus und suchte das Schreiben, mit dem ich mein Sparbuch auf einmal auflösen konnte.
Unsicher sah ich in den Safe, doch schließlich nahm ich die Neunmillimeter und die Packung Munition dazu heraus, gefolgt von dem Elektroschocker. Die Munition und den Schocker steckte ich den Rucksack. Die Waffe in die weite Tasche meines zu großen Pullovers. Sie war bereits geladen.
Meine ersten Schießstunden hatte ich schon mit Neun und meine Schwester damals sogar mit Sieben. Kinder von Cops in Amerika halt…
Die Waffe wog schwer, doch…
Entschlossen verriegelte ich den Safe erneut und stolperte auf meinem Weg nach draußen über die Teppichkante. Kurz hielt ich inne. Ich wollte in alter Gewohnheit das Radio ausmachen.
„…You. It's you and me. It's you and me won't be unhappy…“
Neben dem Radio stand das Familienfoto, das wir an Nathalies Abschlusstag in der Schule gemacht hatten. Meine Eltern so stolz wie sie nur sein konnten, Nathalie vielleicht sogar noch stolzer und ich so unbeschwert wie ich nur sein konnte… Damals.
Die Tränen wieder runterschluckend, stürmte ich hinaus. Ein letztes Rauschen als Abschied im Ohr.
Ich hastete die Treppe hinunter, machte überall das Licht aus, schloss die Vordertür zu und rannte zum Hintereingang. Ich schloss hinter mir ab und packte meine Schlüssel in mein übliches Versteck unter dem schielenden Gartenzwerg. Ich schulterte den Rucksack und zog mir vorsichtshalber meine Kapuze über. Es war viel zu kalt für Mitte Juni.
Die Hände tief in den Taschen meines Pullovers vergraben, lief ich unsere Auffahrt und dann die Straße lang hoch hinaus in die Nacht. Mein Griff legte sich ängstlich um die Pistole
Ich lief zwei Blocks weiter und bog dann links ab, wo ein schwarzes Auto bereits auf mich wartete. Kurz schrak ich zurück, doch dann erkannte ich Vins unter der dunklen Kapuze.
Seine stechenden grünen Augen brannten sich in meine, die Zigarette in seinen Fingern zitterte leicht.
Er warf sie noch glühend auf die feuchte Straße und kam einen Schritt auf mich zu. Ohne zu zögern zog ich die Waffe.