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Reminiszenz

von

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Ankunft

Als die Anschnallzeichen aufleuchten, sieht er kurz auf. Er nimmt einen der Ohrstöpsel heraus, um die Ansage der Stewardess besser verstehen zu können. Er lauscht dem bekannten Singsang, vernimmt die vielen Höflichkeitsformen, die fast schon ehrlich erscheinende Freundlichkeit. Er überlegt, wie lange es wohl dauern würde, sie mit ihrem Halstuch zu erwürgen. Ob sie dann immer noch lächeln würde? Vermutlich nicht. Aber warum sich die Mühe machen? Er wäre in der Lage, ihr mit einem Gedanken das Genick zu brechen. Eine zerbrochene Puppe in einer blauen Uniform mit rot geschminkten Lippen. Er steckt sich den Ohrstöpsel wieder ins Ohr und lauscht weiter der Musik. Hypnotischer Klang mit bitterbösem Text. Er schließt die Augen und wartet, dass die Maschine auf dem Boden aufsetzt.

 

Nachdem das Flugzeug die Halteposition erreicht hat, beginnen die Leute um ihn herum, ihr Handgepäck aus den Fächern über ihren Köpfen zu holen. Er hält die Augen halb geschlossen, tut so, als würde ihn das alles nichts angehen. Fast wäre er versucht, einem von ihnen eine unangenehme Überraschung zu bereiten. Entnehmen Sie ihr Gepäck bitte vorsichtig, da es sich während des Flugs verschoben haben könnte. Wahrscheinlich ist noch nie jemandem etwas auf den Kopf gefallen, aber er könnte dafür sorgen, dass es heute tatsächlich passierte. Er schüttelt innerlich den Kopf über sich. Inzwischen ist er wirklich zu alt für so etwas. Außerdem würde das sein Aussteigen nur verzögern und er muss zugeben, dass inzwischen eine leichte Unruhe von ihm Besitzt ergriffen hat. Nach über 13 Stunden in diesem Sitz fühlt er das Bedürfnis aufkommen, seine Beine auszustrecken, festen Boden unter seinen Füßen zu haben und vor allem nach so langer Zeit endlich einmal wieder die bekannte Skyline zu sehen.

Er wartet ab, bis sich auch die letzten Fluggäste durch den engen Gang gedrängelt haben, bevor auch er seinen Koffer – seinen einzigen Koffer – aus der Luke über dem Sitz holt und an den lächelnden, sich verbeugenden Puppen vorbei aus der halbrunden Luke tritt.

 

Der Wind verfängt sich in seinen Haaren, als er die ersten Stufen betritt. Für einen Augenblick ist sein Gesicht vollständig zu sehen. Ein junger Japaner, unauffällig, relativ klein und schmal gebaut. Seine Züge sind ausdruckslos, aber die dunkelblauen Augen zeigen eine Tiefe und Bitterkeit, die nicht zu seinem Alter passt. Es scheint, als hätten sie mehr gesehen, als sie sehen sollten. Als wäre die Welt, die vor ihnen liegt, nicht mehr als eine unangenehme Notwendigkeit, die Menschen um ihn herum nicht mehr als leblose Objekte ohne eigenen Willen. Ohne Wert. Ein Ausdruck, der andere Menschen zurückschrecken lassen würde, wenn sie sich die Mühe machen würden, ihn anzusehen. Aber das tut niemand. Niemand sieht ihn an, niemand kümmert sich um die kleine Gestalt, die nun langsam die Gangway hinuntersteigt. Als er die letzte Stufe hinter sich lässt und nach unten sieht, muss er plötzlich lächeln. Er ist wieder zu Hause.

 

 

 

 

„Home sweet home“, intonierte Schuldig, als er am Ende der metallenen Treppe angekommen war. Er breitete die Arme aus und atmete tief ein. „Endlich wieder bekannten Boden unter den Füßen.“

Farfarello trat hinter ihm von der letzten Stufe der Gangway. Er musterte den nassen Asphalt. „Ich sehe keinen Unterschied“, stellte er schließlich fest.

Schuldig bedachte ihn mit einem mitleidigen Blick.

„Der Unterschied liegt ja auch nicht da“, er wies auf den Boden, „sondern hier.“

Er tippte Farfarello mit dem Finger gegen die Stirn. Der Ire bleckte die Zähne und ein zartbesaiteteres Gemüt als Schuldig, hätte sich sicherlich beeilt, seinen Finger außer Reichweite zu bringen. Schuldig hingegen grinste nur und schlang seinem Arm um Farfarellos Schultern. Er zeigte mit dem freien Arm in die regnerische Ferne.

„Stell dir vor, du ständest an den Klippen von Inis Mór und würdest auf das schäumende Meer blicken. Was würdest du empfinden?“

Farfarello schien nachzudenken. Nagi rollte nur mit den Augen und drängelte sich an den beiden vorbei. Er wollte endlich weg von diesem Flugzeug. Die Enge, die vielen Leute, das alles hatte ihm nicht behagt. Außerdem wartete Crawford bereits am Ausgang. Er hatte ebenso wenig für den Heimatkunde-Unterricht des Deutschen übrig wie Nagi.

'Undankbares Gör', schalt Schuldig ihn in Gedanken. 'Ich war ewig nicht hier. Es ist erfrischend, wieder einmal deutsche Gedanken um mich herum zu haben.'

'Sind die anders?', wollte Farfarello wissen. Er musterte das Flughafen-Gebäude, einen großen Komplex aus Glas und Stein, mit unbeteiligter Miene.

'Oh ja, auf jeden Fall. Jede Nation hat da so ihre Eigenheiten. Deutsche Gedanken kann man am ehesten mit einem gut geölten Motor vergleichen. Italiener klingen, als hättest du das Radio angelassen, Franzosen wie eine politische Debatte im Fernsehen, Japaner ähneln emsig tippenden Schreibmaschinen, und Iren, als würdest du einer blökenden Schafherde zuhören, die versuchen ein Trinklied anzustimmen.“ Er grinste.

Nagi unterdrückte ein weiteres Augenrollen. Sein Blick suchte Crawford. 'Und Amerikaner?', dachte er, ohne sich nach Schuldig umzudrehen. Er spürte dessen breiter werdendes Grinsen auch so in seinem Rücken.

'Disneyland!', antwortete Schuldig prompt und Nagi meinte, sogar in Gedanken ein Lachen zu hören. Er ignorierte den Deutschen und schloss endlich zu Crawford auf. In einem unterschied sich dieser Flughafen von keinem anderen. Er war groß und unübersichtlich und jeder wollte zuerst an seinem angestrebten Ziel sein. Er unterdrückte einen Schmerzenslaut, als eine beleibte Dame ihm mit ihrem Rollkoffer unsanft gegen den Knöchel stieß. Drei Meter später öffnete sich der Deckel des Gepäckstücks auf mysteriöse Weise und eine Flut von rosafarbenden, sehr großen Unterhosen ergoss sich auf den Boden. Crawford runzelte die Stirn, fasste in Nagis Nacken und zog ihn mit sich.

„Keine Spielchen, Nagi. Wir müssen unauffällig bleiben.“

Nagi verbiss sich eine Bemerkung darüber, dass sie es verdient hatte. Ein leises Lachen hinter ihm verriet ihm, dass Schuldig ihn gehört hatte.

'Ist doch wahr', dachte er hinterher.

'Gib's zu, du hast nur gehofft, ihre Unterwäsche zu sehen zubekommen. Du bist ein kleiner Perversling, Nagi.'

'Du solltest nicht von dir auf andere schließen, Schuldig.'

'Ach komm, so ein kleines, getragenes Spitzenhöschen von so einem niedlichen Schulmädchen würde dich bestimmt ganz rollig machen. Ich stell mir gerade vor, wie du deine spitze Nase hineinsteckst und dann deinen kleinen Freund anfasst, um...“

'Schuldig!'

Nagis Gesicht zeigte einen auffälligen Rotschimmer, dessen Ursache sich den umliegenden Personen nicht offenbarte. Crawford bemerkte ihn trotzdem und warf Schuldig einen warnenden Blick zu. Der grinste nur und deutete eine Verbeugung an.

„Es wird Zeit, dass wir wieder unter Menschen kommen“, murmelte Crawford leise. „Schuldig braucht dringend Auslauf.“

 

Nagi konnte ihm da nur zustimmen. Die letzten Monate nach dem Fall des Museums in Tokio und dem Untergang der Spitze von Esszett hatten sie im Untergrund verbracht, in einsamen Bergdörfern, abgelegenen Siedlungen, die längst aufgegeben worden waren, ausgedienten Skihütten, Blockhäusern, verlassenen Klosteranlagen. Einmal hatten sie sogar einige Tage in einem halb verschütteten Bergwerk verbracht. Die wenigen Ausflüge in die Zivilisation hatte Crawford allein oder in Nagis Begleitung unternommen. Ihr Anführer hatte es für ratsam gehalten, zunächst den Anschein zu erwecken, Schwarz wäre während des Unglücks ums Leben gekommen. Eine taktische Entscheidung, die zu mehr als einer hitzigen Diskussion zwischen Crawford und Schuldig geführt hatte. Während Nagi und Farfarello sich mit den Gegebenheiten abgefunden hatten, hatte Schuldig immer wieder und wieder darauf gedrängt, sich präsent zu zeigen. Er hatte sich Crawfords Befehl nie widersetzt, aber ihn immer wieder angezweifelt.

„Wir sind nicht in der Position, unsere Ziele zu erreichen“, hatte Crawford zum hundertsten Mal wiederholt. „Die Struktur, die Eszett zusammenhält, ist stärker, als wir gedacht hatten. Die Schlange, der wir den Kopf abschlagen wollten, hat sich als Hydra herausgestellt. Wir können sie nicht besiegen, wenn wir keinen Weg finden, ihr das Herz herauszuschneiden. Außerdem will ich nicht, dass irgendjemand anfängt, Jagd auf uns zu machen. Du weißt, dass es genug Leute gibt, die diese Gelegenheit nur zu gerne nutzen würden. Wir müssen zuerst alle Fakten kennen und einen Plan entwickeln, bevor wir uns wieder ins Gefecht stürzen.“

 

Nagi selbst hatte Crawfords Worten Glauben geschenkt. Es klang plausibel und vernünftig, was er sagte. Aber er konnte auch Schuldig verstehen. Die Freiheit hatte zum Greifen nahe vor ihnen gestanden und war ihnen dann durch die Finger geronnen wie Wasser durch ein löchriges Sieb. Auf sich allein gestellt, gefangen in den immer noch gleichen Machtstrukturen und ohne den Zuwachs an Fähigkeiten, die sich Crawford von der Entführung des Mädchens versprochen hatte, und vor allem aber inzwischen ohne einflussreiche Verbündete, die sie zugunsten ihrer Ziele ausnutzen konnten, war Schwarz tatsächlich nicht in der Position, seine Ziele zu realisieren. Nagi wusste das und doch erfüllte ihn die Tatsache mit Wut und dem unbestimmten Verlangen, jemanden dafür bezahlen zu lassen.

Immerhin waren sie jetzt auf dem Weg zu einer geheimen Einsatzbasis in der Nähe von München, die somit quasi vor den Toren eines Herzstücks von Eszetts Macht lag: Rosenkreuz. Wenn sie Antworten finden würden, dann sicherlich in der Ausbildungs- und Forschungs-Einrichtung, die Eszett mit besonderen Talenten versorgte. Was Geld und politischer Einfluss allein nicht erreichen konnten, sicherte sich Eszett mit speziellen Einsatzteams von übernatürlich Begabten. Teams, wie Schwarz es einst gewesen war.

 

'Ah, so trübsinnige Gedanken an einem so schönen Tag, Nagilein. Da wird man ja ganz depressiv, wenn man dir zuhört.'

'Halt dich aus meinem Kopf raus, Schuldig. Du hast doch jetzt wieder genug andere Spielzeuge, um dich zu beschäftigen.'

'Ja aber ich habe mich doch schon so an dich gewöhnt. Wochen und Monate, die ich nur dich hatte. Du bist etwas Besonderes, weißt du das?'

'Geh und spiel mit was Giftigem.'

'Du würdest mich vermissen.'

'Ungefähr so sehr wie Fußpilz.'

 

Nagi beschleunigte seine Schritte und überholte Crawford, der bereits dem Ausgang zustrebte. Es war sinnlos und kindisch, denn spätestens, wenn sie im Auto auf dem Weg zu ihrem Versteck waren, würde er seinem nervigen Teamkameraden wieder ausgesetzt sein. Aber er brauchte im Moment das Gefühl, wenigstens einmal mit seinen Gedanken allein zu sein. Durchatmen zu können, ohne dass die Präsenz des anderen in ihn hinein diffundierte. Manchmal hatte er selbst schon das Gefühl gehabt, er sein ein Telepath, unfähig Schuldigs Gedanken aus seinem Kopf zu verbannen. Er wusste natürlich, dass diese Verbindung auch seiner Sicherheit diente. Aber mehr als alles andere hatte er das Gefühl, dass Schuldig die Erlaubnis, auf diesem Weg mit ihm Kontakt zu halten, als Ausrede nahm, um ihn zu verhöhnen und aufzuziehen. Er konnte nur inständig hoffen, dass er jetzt, da sie wieder in zivilisierten Gefilden weilten, endlich die Gelegenheit bekommen würde, wieder einmal richtig allein zu sein.

 

 

 

 

Die Gebäude, die draußen am Fenster vorbei eilen, sind nichtssagend und könnten genauso gut in jeder anderen Großstadt der Welt stehen. Nach der Zugfahrt, die ihn in den Stadtbereich gebracht hat, hat er sich erlaubt, sich ein Taxi zu nehmen. Er weiß, dass es ungewöhnlich ist, aber der Fahrer hat nicht lange gefragt, nachdem Nagi ihm eine beträchtliche Anzahl Scheine und eine Adresse gereicht hatte. Als sie das Hotel erreichen, steigt er grußlos aus und blickt nicht zurück, als der Fahrer den Wagen schnell wieder in den Straßenverkehr einfädelt. Der schweigsame, junge Mann mit dem mürrischen Gesichtsausdruck war ihm unheimlich und er ist froh, dass er ihn los ist.

Nagi lässt sich an der Rezeption ein Zimmer geben und bezieht kurz darauf ein einfaches, nahezu schmuckloses Zimmer, dessen Ausstattung nur das Nötigste bereithält. Er weiß nicht, wie lange er hier bleiben wird, und gedenkt, seine Ressourcen gut einzuteilen. Als er die Zimmertür hinter sich schließt, atmet er hörbar auf. Allein. Nach so vielen Stunden unter fremden Menschen ist er endlich wieder ganz allein. Obwohl es sich seltsam anfühlt. Nach all dem, was passiert ist, könnte er fast den Verdacht bekommen, dass ihm etwas fehlt.

 

Er schüttelt den Gedanken ab und fängt an, seinen Koffer auszupacken. Nachdem er seine Kleidung in den Schrank und die notwendigen Utensilien ins Bad geräumt hat, stellt er seinen Laptop auf dem kleinen Tisch ab. Er öffnet ihn und fängt den kleinen Zettel auf, der herausfällt. Ein Datum, eine Uhrzeit und eine Adresse stehen darauf. Ein letzter Gruß von Crawford, bevor er Schwarz verlassen hat.

„Geh dort hin“, hatte der Amerikaner gesagt. „Wir brauchen ihn. Du wirst wissen, was zu tun ist.“

Nagi hatte genickt und seinen Koffer gepackt. Kein Abschied. Nicht von ihm. Ein letzter Gefallen, den Nagi sich selbst getan hatte, bevor er nach Japan aufgebrochen war. Und nun war er hier und hatte morgen eine Verabredung mit einem Unbekannten. Ein Blind-Date sozusagen. Nicht der schlechteste Anfang für eine neue Zukunft.

 


Nachwort zu diesem Kapitel:
Soundtrack:
"Heathens" - twenty one pilots Komplett anzeigen

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