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Winter Glück

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Korrektur erfolgt morgen. Komplett anzeigen

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Zuerst schließen wir die Augen, dann sehen wir weiter.

Meinen Sonntag verbrachte ich zum größten Teil bei Tom.

Zuerst meckerte er mich fast eine halbe Stunde an, weil ich gestern einfach nicht aufgetaucht war und nicht abgesagt hatte. Und danach beschwerte er sich fast eine ganze Stunde über unsere Hausaufgaben. Ich hatte ihm nur mit einem Ohr zugehört und stattdessen auf mein Handy gestarrt. Immerhin wartete ich noch auf eine Antwort von Oliver. Er hatte meine Nachrichten bekommen und gelesen, aber anscheinend nicht für nötig zu halten, mir zu antworten. Doch so schnell würde ich die Hoffnung nicht aufgeben. Ich hatte schon mal länger auf Antworten gewartet.

Nachdem Tom sich fast zwei Stunden über alles beklagt hatte, was ihm auf dem Herzen lag, konnten wir endlich mit unserem Projekt für die Informatik AG beginnen.

Da wir uns das Thema für unseren Vortrag aussuchen konnten, schlug ich vor über die Unterschiede und Vor- und Nachteile von HTML und Java zu sprechen. Doch das war Tom zu anspruchsvoll. Er wollte ein Thema, bei dem er nicht viel vorarbeiten und auch nicht viel erzählen musste. Also schlug ich vor eine Alexa umzuprogrammieren. Für die Idee warf er mir ein Kuscheltier an den Kopf!

Wir überlegten noch beinahe eine ganze Stunde hin und her, bis wir uns dazu entschieden, über die Geschichte von HTML zu sprechen. Tom würde die Präsentation am Computer erstellen und ich die Informationen zusammentragen.

Als wir uns gegen 18 Uhr voneinander verabschiedeten, hatten wir zu mindestens eine grobe Gliederung erstellt und ich wusste, welche Bücher ich mir in den nächsten Tagen aus der Bibliothek ausleihen musste.
 

Wenig später schloss ich zuhause die Tür auf und wurde von meiner kochenden Mutter begrüßt, die sich dabei lautstark über ihren Job und ihre Patienten aufregte, die in jedem Kratzer ihr eigenes Todesurteil sahen. Mein Vater stand derweil mit einer Zigarette und einer Flasche Bier auf dem Balkon. Das er damit die nächste Zielscheibe seiner schnellschießenden Frau abbildete, war ihm herzlichst egal. Denn er ignorierte sie gekonnt, als sie ihn dafür anzählte, dass er nicht auf seine Gesundheit achtete.

Ich begrüßte beide, ehe ich in mein Zimmer ging und meine Tasche in die Ecke feuerte. Mein Blick fiel auf die Hose, die Oliver mir gekauft hatte. Da kam mir wieder in den Sinn, was mich heute den ganzen Tag schon beschäftigt hatte: Oliver hatte mir immer noch nicht geantwortet! Und da der Sonntag nun fast vorbei war, glaubte ich auch nicht, dass er mir überhaupt noch antworten würde.

Geknickt ließ ich den Kopf hängen und räumte die Hose in den Schrank. Ich machte mich auf den Weg in die Küche und redete mir währenddessen ein, dass es besser für uns beide war, getrennte Wege zu gehen. Das würde uns wirklich viele Scherereien ersparen! Anscheinend war ein Altersunterschied von 10 Jahren doch zu gravierend. Irgendwie wollte ich es nicht akzeptieren. Immerhin klappte das bei anderen Paaren doch auch irgendwie. Aber anscheinend gab es bei Oliver und mir kein „irgendwie“. Und ich musste mich damit abfinden, wenn ich mich wieder fangen wollte.

Die eine Träne, die sich hartnäckig aus meinem Augenwinkel kämpfte, wischte ich entschieden weg, bevor ich meiner Mutter unter die Augen trat.

Maximilian saß auf der Küchentheke und verhandelte mit unserer Mutter über eine Taschengelderhöhung, während er hektisch seine Brokkoli Suppe löffelte. Unsere Mutter erklärte ihm, dass er mit 30 Euro in der Woche, besser dran war, als manch anderer in seinem Alter. Danach schlüpfte sie in ihre Schuhe, wuschelte mir zum Abschied durch die Haare und verschwand im Flur. Sie hatte heute Nachtschicht und mein Vater würde sie nach Düsseldorf fahren. Meine Mutter fuhr nicht gerne über die Autobahn und schon gar nichts nachts. Sie sagte, da brettern um diese Uhrzeit einfach zu viele Idioten lang. Und sie möchte nicht als Patientin in ihrer Notaufnahme landen.

Die Wohnungstür fiel laut ins Schloss, als ich gerade meine Schüssel mit Suppe füllte.

»Ich glaube, ich habe mich verliebt!«, sagte Maximilian in diesem Moment theatralisch.

Verwirrt drehte ich mich zu ihm um und rechnete tatsächlich damit, dass er mir das Bild von irgendeinem Mädchen zeigen würde. Doch er hielt mir nur seine Schüssel unter die Nase und lachte laut los, als er mein enttäuschtes Gesicht sah.

»Du bist blöd; über die Liebe scherzt man nicht!«, meckerte ich und würdigte ihn keines Blickes mehr.

»Warum? Bist du etwa verliebt?«, fragte Maximilian und zog das Wort unnötig in die Länge.

»Kann ja nicht jeder ohne Liebe auskommen, so wie du!«, antwortete ich pikiert und ging mit meiner Schüssel zum Esstisch im Wohnzimmer.

Zu meinem Leidwesen folgte Maximilian mir.

Er grinste mich spöttisch an, als er sich auf den Stuhl mir gegenüber fallen ließ. »Wie heißt sie? Kenne ich sie?«

»Geht dich nichts an und nein!«, entgegnete ich und bemühte mich um einen wirklich ernsten Tonfall.

Doch wie ich bereits erwähnte, bin ich ein schlechter Lügner und mein Bruder wäre nicht mein Bruder, wenn er das nicht sofort durchschaut hätte.

Er beugte ich über den Tisch und boxte mir gegen die Schulter. »Lüg mich nicht an! Du kannst mir nichts verheimlichen, also sag schon: Wer ist sie?«

Ich spielte einen Moment tatsächlich mit dem Gedanken, ihm reinen Wein einzuschenken, verwarf ihn dann aber wieder. Warum sollte ich schlafende Hunde wecken? Ich war mir selbst nicht sicher, was ich wollte oder was ich bin!

»Ich erzähle es dir, wenn es etwas wird«, antwortete ich ausweichend und widmete mich wieder meiner Suppe.

»Wenn du Tipps brauchst oder Hilfe, musst du nur fragen!«, sagte Maximilian altklug und selbstüberheblich. Wenigstens besaß er den Anstand rot zu werden, während mir beinahe der Löffel in die Schüssel gefallen wäre vor lauter Schreck.

»Ich bin aufgeklärt und brauche keine Sex Tipps und erst recht nicht von dir!«, entgegnete ich entrüstet.

Um ehrlich zu sein hatte ich keine Ahnung, was ich machen musste, wenn es je dazu kommen sollte. Das hatte in meinem Leben bisher auch keine Rolle gespielt. Und einen Gedanken an Sex mit Oliver hatte ich noch gar nicht verschwendet.

Jetzt wurde ich rot. Danke Maximilian! Die Kussfantasien war ich gerade losgeworden, da pflanzte mein Bruder einen neuen, verheerenden, Gedanken in meinem Gehirn.

Ich sollte doch darüber nachdenken, mir ein Loch im Garten graben zu gehen. Damit wäre vermutlich jedem geholfen, einschließlich mir selbst.

Mir war unser Gespräch schon jetzt endlos peinlich, aber mein Bruder trieb es mit folgendem auf die Spitze: »Sag Lelo; hattest du überhaupt schon Mal Sex?«

Mittlerweile konnte meine Gesichtsfarbe mit jedem Ziegelstein in Konkurrenz treten.

»Müssen wir das Gespräch führen? Das geht dich gar nichts an«, murmelte ich und senkte betreten den Blick. Am liebsten würde ich mich für immer in meinem Zimmer einschließen und nicht mehr existieren.

»Ich will dir ja nur das Gespräch mit Mama und Papa ersparen! Glaub mir, es gibt nichts Schlimmeres. Da rede ich ja lieber mit dir über Sex!«

»Ich will aber nicht mit dir darüber reden!«, antwortete ich und klang dabei wie unsere Mutter, wenn sie mal wieder einen ganz schlechten Tag erwischt hatte.

»Dann eben nicht!«, fauchte Maximilian und stand auf. Er ließ seine Suppe stehen und verzog sich in sein Zimmer.

Nachdem er die Tür lautstark zugeknallt hatte, seufzte ich. Er wollte mir kein Gespräch mit unseren Eltern ersparen; er hatte gehofft intime Informationen aus erster Hand zu bekommen. Aber ich würde schweigen wie ein Grab, selbst wenn irgendwann mal etwas passieren sollte.

Aber wenn Maximilians Neugier nicht gestillt werden konnte, war er unausstehlich – so wie die meisten Menschen.

Trotzdem machte sich das schlechte Gewissen in mir breit und ich wäre ihm beinahe nachgerannt, um doch noch alles zu erzählen. Zum Glück konnte ich mich aber doch davon abhalten. Es wäre eine Katastrophe geworden und mein Zwilling hätte mich danach behandelt, als käme ich vom Mars. Denn so bekam man es in dieser Stadt beigebracht. Schwul sein, lesbisch sein, einfach anders zu sein war hier in Klein Schnürstadt in etwa so verpönt, wie rechtspopulistische Parteien im Bundestag! Wenigstens das konnte man den Bewohnern dieser Kleinstadt zu Gute halten: Sie waren nicht ausländerfeindlich!

Ich brachte das Geschirr von mir und meinem Bruder in die Küche und schaltete anschließend überall das Licht aus.

In meinem Zimmer angekommen, warf ich zuallererst ein Blick auf mein Handy. Mein Herz begann schon vor lauter Aufregung zu hämmern, bevor ich überhaupt das Display angeschaltet hatte. Doch als ich sah, dass Oliver noch immer nicht geantwortet hatte, setzte es beinahe aus.

Ich seufzte gekränkt und stellte meinen Wecker. Danach legte ich mich ins Bett. Und während ich der Uhr über meiner Tür beim Ticken zuhörte, dachte ich über Oliver nach und fragte mich, warum er mir nicht antwortete. Dieser Gedanke verfolgte mich schließlich bis in meine Träume, die mich kurz darauf ereilten.
 

.◦’°’◦ ♥.◦’°’◦.
 

Als ich am nächsten Morgen aufwachte, sprang ich zuallererst unter die Dusche. Anschließend suchte ich die Küche auf, weil mein Durst nach Koffein gestillt werden musste.

Meine Mutter war bereits von ihrer Nachtschicht zurückgekehrt und stand an der Theke. Sie trank ihren Gute-Nacht-Kaffee und las in der Zeitung irgendwelche sinnlosen Anzeigen. Da jeder Haushalt in Klein Schnürstadt die Lokalzeitung kostenlos geliefert bekam, hielt es meine Mutter es nicht für nötig noch eine andere Zeitung zu kaufen. Dass man aus diesem Schmierblatt nicht viel Wissenswertes erfuhr, interessierte sie dabei herzlichst wenig. Meine Mutter interessierte sich eigentlich sowieso nur für die Kontaktanzeigen der Nachbarn. Die Verzweiflung mancher Menschen fand sie sogar so amüsant, dass sie sich sonntags stundenlang mit ihren Freundinnen darüber lustig machte.

Heute sah sie jedoch so aus, als würde im „Schnürstadt Anzeiger“ der sichere Weltuntergang prophezeit werden.

Ich wünschte ihr einen „Guten Morgen“ und goss mir anschließend unbeirrt Kaffee in meine Lieblingstasse. Wenn es wichtig war, würde sie mir schon erzählen, was sie so Schockierendes gelesen hatte.

Meine Mutter wachte ein paar Sekunden später aus ihrer Schockstarre auf. Sie sah mich einen Moment nachdenklich an, ehe sie den Kopf schüttelte.

»Zum Glück brauche ich mir darüber bei euch beiden Gedanken zu machen«, sagte sie leise, als wäre ich gar nicht da.

Sie legte die Zeitung bei Seite und leerte ihre Tasse in einem kräftigen Schluck.

»Hab‘ einen schönen Tag Liebling«, sagte sie zu mir und küsste mich auf die Stirn, ehe sie in Richtung Schlafzimmer abzog.

Kaum war die Schlafzimmertür ins Schloss gefallen, zog ich die Zeitung quer über die Theke zu mir herüber. Ich überflog den Artikel, den meine Mutter gerade gelesen hatte, bloß, doch schon die Überschrift jagte mir eine ganze Reihe unangenehmer Schauer über den ganzen Körper.

Ein Schlürfen holte mich schließlich aus meiner Trance zurück.

Maximilian kam gerade in die Küche und zog ein Gesicht wie sieben Tage Regenwetter. Normalerweise war er ein echter Frühaufsteher und ich der Morgenmuffel, aber heute schienen wir die Rollen irgendwie vertauscht zu haben. Obwohl ich allen Grund hatte, so dreinzuschauen wie er!

Er ging direkte zur Kaffeemaschine, ohne mir weitere Beachtung zu schenken.

»Gestern Nacht wurden in Köln zwei Männer beinahe totgeprügelt, weil sie sich auf einer Parkbank geküsst haben!«, stieß ich entsetzt aus. Ich konnte es einfach nicht für mich behalten.

»So etwas passiert. Wer weiß, was die Angreifer alles im Blut hatten«, antwortete Maximilian ungerührt und häufte weiter Zucker in seinen Kaffee. »Mich würde es nicht wundern, wenn so etwas auch hier passieren würde – sollte sich jemand öffentlich outen!«

Ich bin so schockiert über das was mein Bruder sagt, dass ich gar nicht weiß, was ich dazu sagen soll.

»Würdest du so etwas auch tun? Einen Mann verprügeln, weil er einen anderen Mann küsst?«, fragte ich vorsichtig und schob die Zeitung von mir.

Mein Bruder war niemand, der den ganzen Tag gegen Homosexuelle hetzte. Aber jedes Mal, wenn man ihn auf das Thema ansprach, reagierte er, als wäre das Ganze eine ansteckende Krankheit! Würde er so auch auf mich reagieren, wenn er herausfand, dass ich mir eher einen Mann an meiner Seite wünschte, als eine Frau?

»Sollen sich doch andere die Hände so etwas schmutzig machen«, antwortete Maximilian reichlich verspätet auf meine Frage.

Mir würde plötzlich ganz flau im Magen. Ich goss meinen Kaffee beinahe unangerührt ins Spülbecken und verschwand dann wortlos in mein Zimmer.

Am liebsten wollte ich mich jetzt in Olivers Arme flüchten und von ihm hören, dass er niemals zulassen würde, dass mir so etwas passierte.

Doch als ich mein Handy in die Hand nahm und Facebook öffnete, musste ich feststellen, dass Oliver mich blockiert hatte, ohne mir zu antworten. Ich schleuderte das Handy zurück auf die Matratze und hatte Mühe und Not, die aufkommenden Tränen zurückzuhalten. So elend, wie gerade, hatte ich mich noch nie gefühlt. Aufgelöst, wütend und schwerfällig zu gleich. Abgeschlagen und müde, als hätte ich tagelang nicht geschlafen. Dann war ich plötzlich wieder gereizt und spürte die unbändige Wut in mir. Und alles nur wegen diesem blöden Studenten! Hätte ich ihn niemals kennengelernt, würde ich noch immer in meiner friedvollen Leon Welt leben, die nur aus Schach und Informatik bestand. Ich wollte mit diesem ganzen Liebeskram nichts zu tun haben; aus gutem Grund, wie man sah!

Ich riss die Türen zu meinem Kleiderschrank auf und mir fiel direkt Olivers Hose entgegen. Als wollte sie mir noch einmal vor Augen halten, dass ich etwas wollte, was ich niemals haben konnte.

Ich hielt die Hose fest. War es das wert? Die Tränen, den Stress, den Ärger, das Risiko?

Ich presste die Hose in meinen Händen zusammen und verbannte sie in die hinterste Ecke meines Schranks.

Ich schnappte mir eine meiner Lieblingshosen und mein Lieblings Karohemd.

Ich würde so bleiben, wie ich war und mich nicht von diesem kurzen Intermezzo verändern lassen. Oliver hatte recht: Wir beide passten nicht zusammen! Und wir sollten uns lieber voneinander fernhalten, bevor wir einander noch mehr verletzten, als wir es eh schon getan hatten.
 

Zwanzig Minuten nach diesem Entschluss, befand ich mit Maximilian auf dem Weg zur Schule. Er gähnte die ganze Zeit und beschwerte sich in regelmäßigen Abständen über das Wetter, die kalten Temperaturen und den grauen Himmel, der einfach nicht aufklaren wollte.

Schien so, als würde sich seine übliche Frühaufsteher-Laune nicht einspielen.

Daran änderte sich auch nichts, als wir unterwegs auf Tanja trafen. Die machte einen ähnlichen Eindruck wie Maximilian.

Wir redeten kein einziges Wort miteinander.

Vor der Schule trafen wir auf Tom, der am Wochenende niemanden außer mir gesehen hatte. Dementsprechend viel hatte er natürlich zu erzählen.

Da ich mir die Schimpftriaden gestern schon angehört hatte, ignorierte ich Toms Geschwafel großspurig und hielt nach Sandy Ausschau. Die hatte morgens in der Regel Dieselbe schlechte Laune wie ich und war mir in der Früh deswegen lieber, als jeder andere.

Tom steckte mit seiner guten Laune auch langsam Maximilian an. Unsere Mutter sagte immer, dass ihm selbst um 4.00 Uhr schon die Sonne aus dem Arsch schien und ignorierte ihn bis um 10 Uhr genauso wie ich. Der Einzige, der es in der Zwischenzeit in seiner Nähe aushielt, war unser Vater. Aber von dem hatte Maximilian das ja auch geerbt!

Nachdem Tom mit seinem Geschrei fertig war, legte Tanja los. Die regte sich aber nur kurz über ihren Freund auf. Dann entdeckte sie Jan auf der anderen Seite des Schulhofs und verschwand mit dampfenden Ohren.

Ich warf Tom einen kurzen fragenden Blick zu, der mir daraufhin erzählte, dass Tanja gestern den ganzen lieben langen Tag versucht hatte, Jan zu erreichen. Der hatte das in seinem Rausch aber entweder nicht mitbekommen (seine Vermutung) oder unseren Kaktus gewissenhaft ignoriert, so wie es jeder normale Typ tun würde, wenn die Freundin einem auf die Nerven gehen will (Maximilians Vermutung).

»Also ich möchte jetzt nicht in Jans Haut stecken«, sagte Maximilian und grinste breit, ehe das Gesagte noch einmal revidierte. »Obwohl Sex mit wütenden Frauen geil ist! Und mit Tanja stelle ich mir das Ganze besonders heiß vor!«

Tom und ich hatten ihn ähnlich verstört angesehen.

»Oh nein, nein, nein Maximilian! Bei dieser Frau sollte sich dein Schwanz ganz weit nach hinten verziehen! Sex mit der besten Freundin ist tabu; zum ersten, weil sie vergeben ist und zum zweiten, weil das in deinem Fall nur Probleme mit sich bringt!«, sagte Tom entsetzt. Ich nickte zustimmend.

Mein Bruder hob abwehrend die Hände. »Ich fange schon nichts mit Tanja an, keine Sorge! Die Frau braucht Liebe und die kann ich ihr nicht geben!«, sagte er und seufzte. »Aber wenn sie mich jemals fragen sollte, ob ich mit ihr schlafe, werde ich nicht nein sagen – nur damit das klar ist!«

Tom verzog angewidert das Gesicht und mir platzte zum ersten Mal, in Bezug auf das Sexualleben meines Bruders, der Kragen.

Ich hatte mir vor einem Jahr, als die Sache mit Sarah passiert war, geschworen, mich nicht einzumischen. Aber auch nur, weil Maximilians Macho-Auftreten unsere Clique nicht gefährdet hatte.

Doch jetzt, wo er ernsthaft mit dem Gedanken spielte, unsere beste Freundin seiner endloslangen Liste an Verflossenen hinzuzufügen, konnte ich mich nicht mehr zurückhalten!

»Du bist krank Maximilian! Ich kann wirklich nicht glauben, dass du für deine eigene Befriedigung sogar unsere Freundschaft aufs Spiel setzt! Wie kann man nur so widerlich sein?«

Ich wollte von ihm keine Antwort auf diese offensichtlich rhetorisch gemeinte Frage; ich wollte hier einfach nur weg.

Während ich blindlinks über den Schulhof stürmte, ging ich im Kopf unseren Stundenplan durch. Ich wollte ja nicht aus Versehen im falschen Haus landen.
 

Im richtigen Klassenraum saß noch fast niemand. Außer Stella und Lisa, waren nur ein paar andere anwesend, die noch schnell die Hausaufgaben voneinander abschrieben.

Ich setzte mich ganz nach Hinten, an einen eingestaubten Einzelplatz, der schon seit vielen Monaten nicht mehr genutzt worden war.

Während ich meine Materialen aus der Tasche holte, fühlte ich mich irgendwie benommen, als würde ich träumen und die Dinge gar nicht richtig miterleben. So etwas war mir noch nie passiert. Aber es hatte sich ja in den letzten Wochen schon so viel geändert, dass ich mich darüber nicht mehr wundern sollte.

Meine Freunde kamen kleckerweise hereingeschneit. Tom setzte sich in die erste Reihe. Till und Sandy, die direkt nach ihm kamen, schienen sich – ihren Gesichtsausdrücken nach zu urteilen – am Wochenende gestritten zu haben und deswegen nicht nebeneinander sitzen zu wollen. Deswegen nahm Sandy neben Tom Platz und Till setzte sich zwei Reihen dahinter. Als nächstes kam Maximilian, der sich neben Till niederließ, ohne lange darüber nachzudenken. Tanja war die letzte, die den Raum betrat und bei ihrer Platzsuche etwas verloren wirkte. Ihre übliche Sitznachbarin stand ihr nicht zur Verfügung und Maximilian, der sonst ihre bevorzugte Wahl war, schien sich meine Worte zu Herzen zu nehmen und hielt sich von ihr fern.

Tanja setzte sich notgedrungen neben Rick und sah mich dabei forschend an. Vermutlich versuchte sie zu verstehen, warum ich lieber an einem Einzelplatz saß, statt ihr einen Platz freizuhalten.

Ich hielt ihrem Blick nicht lange stand. Ich fühlte mich schrecklich, als würde ich sie betrügen. Aus dem Augenwinkel bemerkte ich, wie sie den Kopf hängen ließ und sich der Tafel zu wandte.

Ich legte den Kopf auf die Tischplatte und sah aus dem Fenster.

Freundschaften veränderten sich mit zunehmendem Alter und manche zerbrachen auch am Erwachsenwerden. Ich wollte nicht, dass das mit unserer Clique auch passierte. Aber anscheinend war es nicht mehr abzuwenden.
 

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Nach dem Unterricht suchte ich direkt den Raum auf, in dem sich der Schach-Verein traf. Milena saß bereits an unserem üblichen Tisch und hatte das Spielbrett aufgebaut.

Allerdings schien sie nicht gerade erfreut darüber, mich zu sehen. Sie nahm mir die Aktion vom Samstag zweifelsfrei immer noch übel. Aber wenigstens ließ sie mich hier nicht im Stich.

Zögerlich setzte ich mich und starrte auf das Spielbrett hinab. Sie erwartete eine persönliche Entschuldigung, was ich ihr auch nicht verübeln konnte, aber ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Ich konnte ihr ja schlecht die Wahrheit sagen! Aber außer dieser gab es absolut keinen plausiblen Grund für mein Verschwinden.

Ich seufzte schwer. »Milena, ich will-«

»Nein Leon, keine halbherzigen Entschuldigungen oder Ausreden! Lass uns einfach spielen!«, unterbrach sie mich ruppig und hob gleichzeitig die Hand.

Ich brauchte einen kurzen Moment, um mich wieder zu sammeln. Dann nickte ich und griff nach der ersten Figur und machte meinen Zug.

Milena spielte heute rücksichtslos und ohne nachzudenken. Es war schlimm und machte keinen Spaß. Am liebsten würde ich den Partner wechseln. Aber zu meinem Leidwesen hatten die anderen Vereinsmitglieder auch schon bemerkt, dass mit Milena etwas nicht stimmt und deswegen bereits großen Abstand von uns genommen. Auch die betreuende Lehrkraft, die Zeit bei jedem Pärchen verbrachte und ab und an Tipps gab, machte einen großen Bogen um uns. So wurden die zwei Stunden beinahe zu einer unerträglichen Höllenfahrt. Und ich war vermutlich noch nie zuvor so froh darüber, dass unser Lehrer die Sitzung früher beendete, als üblich.

Milena stand auf, nahm ihre Tasche und sah mich auffordernd an.

»Da ich alles aufgebaut habe, wirst du aufräumen!«, sagte sie energisch und verschwand, bevor ich darauf etwas erwidern konnte.

Paul – ein 11. Klässler, der eigentlich überhaupt nichts für Schach übrighatte und seine Freizeit trotzdem hier verbrachte – lachte gehässig und rief quer durch den Raum: »Oho – Ehekrise beim Königspaar!«

Die anderen Vereinsmitglieder stiegen in sein Gelächter mit ein.

Ich spielte einen kurzen Moment mit dem Gedanken, etwas darauf zu erwidern. Doch am Ende hielt ich lieber den Mund und sammelte meine Figuren zusammen.
 

Der Weg nachhause dauerte heute irgendwie länger als sonst.

Es war schon längst dunkel, nur die Straßenlaternen spendeten einem noch etwas Licht. Es war wenig los auf den Straßen. Kaum ein anderer Fußgänger war zu sehen und nur vereinzelt ein paar Autos.

Ich vergrub das Kinn im Kragen meiner Jacke und senkte den Blick auf den Boden.

Ich hatte das Gefühl, mein Kopf würde gleich platzen. Der Ärger mit Milena, die Unklarheiten zwischen Oliver und mir, die Veränderungen in unserer Clique. Und dann war doch meine ganz eigene Krise. Wer bin ich, wer will ich sein, wer will ich werden. Ich fühlte mich im Moment überfordert, unverstanden und hilflos. Aber ich wusste nicht, was ich dagegen tun sollte oder wie ich das ändern konnte.
 

Den Weg nachhause kannten meine Füße in und auswendig. Deswegen wunderte es mich nicht, dass ich vor unserem Haus stand, als ich das nächste Mal hochsah.

In unserer Wohnung brannte Licht. Bestimmt saß mein Vater mal wieder vor dem Fernseher, während sich meine Mutter um angefallene Hausarbeit kümmerte.

Maximilian war sicherlich unterwegs, um ein Mädchen zu finden, dass ihn zu Tanjas Geburtstag in zwei Tagen begleiten sollte. Er hielt zwar nichts vom Valentinstag, war aber niemand der zu einer Party ohne Begleitung auftauchte.

Als unsere Tante letztes Jahr geheiratet hatte, hatte er auf den letzten Drücker ein Mädchen aus ihrer Heimatstadt aufgegabelt und mitgeschleift. Die beiden waren schlussendlich auch die ersten, die von der Party verschwunden waren. Und als Maximilian am nächsten Morgen diese verdächtig gute Laune hatte, wusste ich wo der Hase langläuft. Sie war das erste Mädchen, mit dem er nach Sarah ausgegangen war und der Start einer Liste voller Kummer.
 

Ich zog mir die Schuhe schon vor der Wohnungstür aus. Durch die Tür hörte ich den Staubsauger und die leise Stimme meiner Mutter, die sich darüber beschwerte, dass mein Vater ihr nie unter die Arme griff.

Wenn ich Pech hatte, hatte sie ganz, ganz schlechte Laune und würde mich zum Helfen verdonnern. Darunter litt nicht nur meine Freizeit, sondern auch meine Zeit fürs Lernen und Hausaufgaben machen. Aber wenn meine Mutter schlechte Laune hatte, nahm sie darauf nie Rücksicht.

Doch als ich mich dazu aufraffen konnte die Tür zu öffnen, war meine Mutter, samt ihrem Staubsauger bereits aus dem Flur verschwunden. Jetzt geisterte sie im Wohnzimmer herum und legte sich mit meinem Vater an.

Ich flitzte schnell in mein Zimmer und verhielt mich von da an wie ein Toter, damit der Teufel mich nicht doch noch holen kam.
 

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Am Dienstagmorgen war die Wohnung bereits verlassen, als ich aufstand. Maximilian hatte die Nacht also nicht zuhause verbracht und meine Eltern waren bereits auf der Arbeit.

In der Küche stand eine volle Brotbox für mich und für meinen Bruder, auf der ein Zettel klebte. Meine Mutter hatte also auch bemerkt, dass ihr zweiter Sohn andere Betten seinem eigenen vorzog. Und so wie ich das las, hatte er sich nicht einmal gemeldet, worüber meine Mutter gar nicht froh war. Der konnte sich was anhören heute Abend!

Auf dem Weg zur Schule traf ich auch nicht auf Tanja, was mich aber nicht weiter wunderte. Entweder musste sie sich seelisch und moralisch auf ihren Geburtstag vorbereiten oder ihr ist im letzten Moment noch aufgefallen, dass sie für morgen gar nichts anzuziehen hat.

In der Schule traf ich nur auf Tom, der Rest fehlte auch hier. Und als ich Tom fragte, wo Sandy und Till waren, zuckte der nur mit den Schultern und starrte danach wieder wie ein Geisteskranker auf sein Smartphone. Wir redeten bis zum Stundenklingeln kein Wort mehr miteinander, was ziemlich untypisch für uns war. Aber ich traute mich nicht, etwas dagegen zu unternehmen.

Mein Bruder tauchte schließlich im Laufe des Vormittags irgendwann auf und Sandy und Till erschienen bloß zu den letzten beiden Stunden. Von Tanja fehlte nach wie vor jede Spur.

Milena mied mich auch heute und verschwand immer sofort, wenn ich in ihrer Nähe auftauchte.

Irgendwie war gerade alles schwierig und kaputt und erschien so, als läse es sich nicht reparieren.
 

Nach dem der reguläre Unterricht vorbei war, fand die Informatik AG statt und Tom redete zum ersten Mal an diesem Tag wieder mit mir.

Er erzählte von seinem großen Bruder Marvin, der in den USA studierte und zurzeit ein wenig Heimweh hatte.

Tom wirkte bedrückt und nahm sich vor Geld zu sparen, um in den Sommerferien nach Kalifornien fliegen zu können.

Ich kannte seine Mutter gut genug, um zu wissen, dass die das niemals erlauben würde. Aber da ich nicht wollte, dass er noch schlechtere Laune bekam, band ich ihm das nicht auf die Nase. Und wer weiß. Vielleicht schaffte er es ja auf diesem Weg, Marvin in den Sommerferien einzufliegen.
 

Unser AG Leiter wollte gleich zu Beginn wissen, für welche Präsentationsthemen wir uns entschieden hatten, damit kein Thema doppelt oder dreifach vorgestellt wurde.

Über unser Thema war er nicht gerade begeistert. Das machte mich binnen weniger Sekunden völlig fertig. Und den Rest der Stunde verbrachte ich damit, sämtliche Informatik angehauchte Themen in meinem Kopf durchzugehen, um ein besseres zu finden. Denn ich wollte unbedingt an dieser Kursfahrt teilnehmen. Doch als es zum Ende der Stunde klingelte, war ich immer noch nicht weiter.

Zum Glück schaffte Tom es aber, unsere Lehrer davon zu überzeugen, dass wir eine 1A Präsentation auf die Beine stellen würden. Anschließend schleifte er mich euphorisch grinsend aus dem Raum. Tom war jetzt Feuer und Flamme und sein Gewinnerinstinkt war geweckt worden.

Auf dem Weg zur Einfahrt, schwärmte er die ganze Zeit davon, wie toll unsere Präsentation werden würde und wie cool die Zeit in Zürich werden würde. Das wiederum machte mir Sorgen. Denn Tom neigte dazu, zu übereifrig zu werden. Und die Ergebnisse, die er dann erzielte, waren meist schlechter, als die, die er erreichte, wenn er nur halbherzig bei der Sache war.

Auch wenn ich mich dennoch genauso sehr freute wie er, fiel es mir trotzdem schwer, mich auf sein Gerede zu konzentrieren. Mir schwirrten andere, wichtigere Dinge im Kopf herum. Und eins davon stand gerade vor dem Schultor und schien auf mich zu warten.

»Ach! Hi Milena; willst du deinen Schatz abholen?«, begrüßte Tom sie mit einem anzüglichen Grinsen.

Milena und ich wurden gleichzeitig tomatenrot im Gesicht und trauten uns nicht, einander anzusehen.

Ich verabschiedete mich von Tom und wandte mich dann Milena zu.

»Was gibt es?«, fragte ich nervös.

Sie schüttelte mit dem Kopf und wartete bis Tom, um die nächste Ecke verschwunden war. Dann räusperte sie sich: »Wir sollten reden; ich mache mir Sorgen um dich!«

Erstaunt riss ich die Augen auf. Sie machte sich Sorgen um mich?

»Du brauchst dir keine Sorgen machen, mir geht es super! Es ist alles in Ordnung«, entgegnete ich, wandte aber den Blick ab, weil ich mich dafür schämte, dass ich sie anlog.

»Lüg mich nicht an, bei dir ist gar nichts in Ordnung! Du bist schon seit ein paar Wochen so komisch.« - sie seufzte - »Du wirkst müde, unkonzentriert und verwirrt. Und dann verschwindest du plötzlich ohne Bescheid zu sagen, dass passt überhaupt nicht zu dir! Was ist los? Du weißt, dass du mit mir über alles reden kannst!«

Ich zögerte. »Ich weiß Milena und ich bin dir auch sehr dankbar dafür. Aber ich weiß nicht, wie ich mich in Worte fassen soll und deswegen bleibe ich dir eine Erklärung schuldig.« - jetzt seufzte ich - »Aber es tut mir wirklich leid, dass ich dich am Samstag stehen lassen haben!«

Ich senkte gepeinigt den Blick.

Milena nickte verhalten. »Ich bin dir nicht mehr böse, aber Sorgen mache ich mir trotzdem noch und ich hoffe du machst den Mund auf, bevor du dir etwas antust!«

Ich bemühte mich um ein Lächeln. »Das werde ich! Mach‘ dir bitte keine Sorgen mehr!«

Nun lächelte Milena auch. »Wehe nicht!«, drohte sie spielerisch und boxte mir mit ihren Fäustlingen in die Schulter.

Jetzt mussten wir beide lachen. Nachdem wir uns wieder beruhigt hatten, fragte Milena, wann ich sie morgen Abend abholen würde.

»Tanja erwartet uns ab 20 Uhr in der Bar«, antwortete ich. »Was hältst du von 18 Uhr?«

Sie überlegte einen kurzen Augenblick, dann nickte sie.

Wir verabschiedeten uns voneinander und machten uns dann auf den Weg nachhause.

Und das erste Mal seit vier Wochen, hatte ich das Gefühl, dass alles wieder gut werden würde – ob mit oder ohne Oliver war mir im Moment vollkommen egal!



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Onlyknow3
2020-01-13T09:18:29+00:00 13.01.2020 10:18
Puh das war gerade wohl sehr knapp, um die Klippe geschippert. Ob Milena etwas ahnt, ob sie bemerkt hat warum Leon sich so komisch verhält? Leon sollte wirklich Oliver aus dem Kopfschlagen. Vielleicht kann ihm Milena dabei sogar helfen, zu nächst sollte er sich aber um seine Schulischen Sachen kümmern, und auch seinen Bruder ignorieren.
Weiter so, freue mich auf das nächste Kapitel.

LG
Onlyknow3


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