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Winter Glück

von

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Wenn dir das Leben eine Zitrone gibt, frag nach Salz und Tequila.

Am nächsten Abend stand ich pünktlich um 18.00 Uhr vor Milenas Haustür und ich war ziemlich nervös. Weswegen wusste ich nicht. Mir war trotz eisiger Temperaturen heiß und ich schwitzte in meiner eigentlich viel zu dünnen Jacke.

Milena war auf die Minute genau pünktlich. Was unter ihrem knielangen Mantel hervorblitzte sah atemberaubend aus. Nur schien es etwas zu dünn für diese Jahreszeit.

Trotzdem lächelte ich sie aufrichtig an. »Wo hast du das Kleid denn gefunden?«, fragte ich interessiert. Bei H&M hatte ich so eins nicht gesehen.

»Ich hab' mich ein wenig verirrt und am anderen Ende des Shopping-Centers eine kleine Boutique entdeckt. Die war zwar etwas teurer, aber die Kleider sind 1000-Mal schöner und in das hier habe ich mich sofort verliebt!«, grinste sie und drehte sich zweimal um die eigene Achse.

Mein Lächeln wurde noch breiter. Milena ist wirklich ein tolles Mädchen. Ich konnte mich glücklich schätzen zu ihren Freunden zu gehören. Und ich würde mit ihr als feste Freundin auch einen guten Fang machen. Aber es wäre falsch, ihr etwas vorzuspielen, nur um mich selbst von Oliver abzulenken. Mit mir würde sie nicht glücklich werden und umgekehrt ich auch nicht mit ihr!

Milena korrigierte online, gemeinsam mit anderen, Doktorarbeiten, Klausuren und Aufsätze von Studenten. Sie hatte in Deutsch eine glatte eins und ließ es sich nicht nehmen, dass jedem auf die Nase zu binden. Während wir zum Bahnhof liefen, erzählte sie mir Geschichten von Studenten, die der deutschen Sprache nicht mächtig waren. Sie verwechselten ständig "seit" und "seid" oder konnten Substantive nicht von Verben unterscheiden. Manchmal war es ein bisschen nervig, ständig von ihr verbessert zu werden. Aber andererseits hatte sich meine Deutschnote durch sie auch erheblich verbessert. Und als Tochter einer Deutschlehrerin erwartete man schließlich nichts anderes von ihr.

Der Zug kam pünktlich und war fast leer. Milena und ich fanden ein leeres Abteil, in dem wir uns breit machten. Milena zeigte mir ein Video von der letzten Schach-Weltmeisterschaft und schwärmte in einer Tour von ihrem Lieblings-Champion. Ich konnte diesen Schweizer überhaupt nicht ausstehen. Er war rücksichtslos, frech und boshaft. Und ich war immer noch der Meinung, dass er schummelte. Wäre er eine Schach-Figur, dann mit Sicherheit ein Bauer!

Der Düsseldorfer Hauptbahnhof war wie immer laut und voll. Milena und ich irrten ziellos am Bahnhof herum, weil wir die Bushaltestelle nicht fanden. Und dann stand Tanja plötzlich vor uns, grinste mich an wie ein Honigkuchenpferd und fiel mir um den Hals. Sie bewies mit ihrem leichten Aufzug mal wieder, dass sie überhaupt kein Kälteempfinden hatte.

Sie trug bloß eine dünne Strumpfhose und eins von diesen raspelkurzen Kleidern, die gerade so verdeckten, was nötig war. Die Jacke – oder besser gesagt der Stofffetzen – die sie trug würde sie bei der nächsten Windböe eiskalt im Stich lassen und sie nicht annähernd vor dem Luftzug schützen. Also wenn sie sich heute Nacht keine Erkältung wegholte, würde ich einen Besen fressen!

»Lelo; Ich bin überrascht!«, sagte sie zur Begrüßung. »Von dir hatte ich eigentlich erwartet, dass du als erster in der Bar bist!«

Sie hatte recht. Ich kam nie zu spät und war ungerne der Letzte am Treffpunkt. Wenn es sich einrichten ließ, war ich in der Regel immer eine Stunde zu früh da. Zuspätkommen war immer mit einer gewissen Peinlichkeit verbunden. Ich mochte es nicht, mich rechtfertigen zu müssen, deswegen vermied ich es immer, wenn es ging. Aber ich wollte Milena nicht dazu nötigen eine Stunde mit mir alleine in einer Bar herumzuhängen. Ich wusste, dass sie Pünktlichkeit höflich, aber Überpünktlichkeit nervig fand.

»Wo hast du Jan gelassen?«, fragte ich, um das Gespräch von mir abzulenken. Ich bin nicht gerne der Mittelpunkt.

Sie schnaubte verächtlich. »Er hat nach dem Unterricht gekifft und ist zuhause eingeschlafen. Vor 'ner halben Stunde ist er aufgewacht und hat mir geschrieben, dass er sich sofort auf den Weg macht!«

Mir war nach wie vor ein Rätsel, was die sonst so organisierte Tanja mit so einem Chaoten wollte. Aber in der Liebe ging es eben nicht nach Wollen und nicht Wollen.

»Und du musst Milena sein! Leon erzählt immer so viel von dir. Wir sind uns auf dem Schulhof bestimmt schon Mal über den Weg gelaufen. Schade, dass er dich uns noch nie offiziell vorgestellt hat.«

Milena, die sich in der Regel für alles entschuldigte, auch für Fehler, die nicht ihre Schuld waren, wurde rot und senkte den Blick. Als könnte sie etwas dafür, dass ich sie noch nie mitgenommen hatte.

Tanja runzelte daraufhin die Stirn und sah Milena komisch an. Ich konnte ihre Gedanken bis hier herhören. Sie fand sie komisch und wusste nicht, wie sie mit ihr umgehen sollte. Tanja und Milena waren genauso unterschiedlich, wie Tanja und Jan. Genau aus diesem Grund hatte ich sie nie zu unseren Treffen mitgenommen. Sie passte nicht zu meinen Freunden und würde sich vermutlich einen ganzen Abend lang unwohl fühlen und das wollte ich eigentlich nicht.

»Ähm Tanja; mit welchem Bus müssen wir fahren?«, fragte ich aufdringlich, um Tanja von Milena abzulenken.

Tanja begann breit zu grinsen. »Glücklicherweise brauchen wir uns darüber keine Gedanken zu machen - Oliver sammelt uns ein!«

Ich schluckte jegliche Widerworte hinunter und wünschte mir, ich hätte mich heute krankgemeldet. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Oliver uns nur abholte. Tanja hatte ihn bestimmt auch eingeladen. Wie sollte ich das bloß überleben? Eine ganze Nacht, gefangen mit ihm in einer Bar. Gemeinsam mit meinen Freunden und reichlich Alkohol. Das konnte nur in einer Katastrophe enden!

Tanja und Milena begannen ein zögerliches Gespräch über Klamotten und Schminke und ich verlebte meine Galgenfrist mit erhöhtem Puls und klopfendem Herzen. Ich wünschte, es würde mir aus der Brust springen, damit mein Leiden endlich ein Ende hatte.

Als der schwarze Golf vor uns zum Stehen kam, hatte ich das Gefühl in den nächsten drei Minuten einen Defibrillator zu benötigen.

Oliver stieg nicht alleine aus. Auf der Beifahrerseite kroch ein zierlicher Blonder Mann aus dem Auto und grinste uns an, als hätte er einen Clown zum Frühstück gegessen. Mein Magen zog sich schmerzhaft zusammen.

»Hi ich bin Timo! Ich hoffe dich stört es nicht, dass dein Bruder mich mitbringt!«

Tanja lächelte stolz und warf ihrem Bruder einen kurzen Blick zu. Sie freute sich für ihn, dass er jemanden gefunden hatte, der ihn mag. Doch ich konnte diesen Timo schon jetzt nicht leiden!

»Ach Quatsch, das geht in Ordnung! Ich bin übrigens Tanja und dass da sind Leon und seine Freundin Milena!«

Oliver bekam plötzlich einen heftigen Hustenanfall und mir entgleisten sämtliche Gesichtszüge.

»Wir ähm ... sind nicht zusammen; wir sind bloß Freunde!«, sagte Milena mit knallroten Wangen zu Tanja.

Aber Tanja wäre nicht Tanja, wenn sie sich nicht bereits ihre eigene Version der Geschichte zusammengesponnen hätte. Deswegen zwinkerte sie Milena zu und kletterte auf den Rücksitz. Milena folgte ihr zögerlich und auch dieser komische Timo stieg wieder ein.

Oliver warf mir einen verwirrten Blick zu, ehe Tanja ihn und mich zum Einsteigen aufforderte. Immerhin käme sie schon jetzt viel zu spät zu ihrer eigenen Party.
 

Wir gingen nicht oft weg, aber da es in Klein Schnürstadt nur eine urige Kneipe gab, in die kein Jugendlicher freiwillig einen Fuß setzte, mussten wir notgedrungen auf Düsseldorf ausweichen. Sandy und Till hatten schließlich durch Zufall das „Wolkenreich“ entdeckt und es zu unserer Stammbar auserkoren. Sie war nicht weit vom Hauptbahnhof entfernt, es kontrollierte niemand, ob du schon volljährig warst und sie war klein und übersichtlich.

Oliver warf uns direkt vor dem Wolkenreich raus und suchte dann gemeinsam mit Timo nach der passenden Parklücke. Ein komisches Gefühl machte sich deswegen in mir breit und ich knallte die Autotür etwas fester zu, als beabsichtigt.

Am liebsten würde ich ihnen nachlaufen und sie persönlich ins Wolkenreich bringen. Bei der Vorstellung davon, was die beiden gerade miteinander trieben, wurde mir schlecht. Ich hatte das Gefühl, dass mir mein Abendbrot in absehbarer Zeit noch einmal "Hallo" sagen wollte.

Ich starrte dem Golf nach, weil ich wissen wollte wo Oliver parkte. Doch bevor ich ihn auf der Straße wiederfand, packte Tanja mich am Arm und zog mich ins Innere der Bar.

Unsere Freunde hatten sich an unserem Stammtisch breit gemacht. Tom war ohne Begleitung unterwegs und Maximilian hatte ein Mädchen aus der 12. Klasse bei sich. Doch als er Milena entdeckte, klebten seine Augen unablässig an ihr. Also platzierte ich sie am äußersten Ende neben Sandy, damit mein Bruder sie nicht weiterhin ungeniert anstarrten konnte.

Tanja sagte, noch bevor sie sich etwas zu trinken bestellte, dass Jan verschlafen hatte und das ihr Bruder und sein neuer fester Freund noch erscheinen würden. Ich erwartete sowohl von meinem Bruder als auch von Tom einen blöden Kommentar. Doch die Tatsache, dass Oliver jetzt einen Freund hatte, schien sie zu beruhigen. Vielleicht machte sie aber auch der böse Blick von Sandy mundtot! Und ich bekam Bauchschmerzen von der Vorstellung, dass Oliver lieber Timo küsste, statt mir.

Als die beiden das Lokal betraten, hielt ich die Luft an und wandte den Blick ab.

Timo stellte sich genauso eloquent vor, wie vorhin.

Ich warf Oliver einen flüchtigen Blick zu. Dieser Timo war viel zu aufgedreht und extrovertiert für ihn. Die beiden passten meiner Meinung nach absolut nicht zusammen!

Am Tisch war nur noch ein Stuhl frei. Oliver wollte gerade losgehen, um sich einen weiteren zu organisieren, als Timo ihn auf den letzten freien Platz presste und sich dann einfach seinen Schoß setzte, als wäre das, dass normalste der Welt.

Ich war daraufhin nicht die einzige Person, die das Gesicht verzog. Maximilians Begleitung schien ebenfalls nicht wirklich erpicht darauf, mit diesem Pärchen an einem Tisch zu sitzen. Deswegen forderte sie meinen Bruder zum Tanzen auf und zog diesen von der Bank, bevor er zustimmen konnte. Tom warf Oliver und Timo noch einen schnellen Blick zu und folgte meinem Bruder dann.

Tanja seufzte schwer und ging zur Bar, um sich etwas zu trinken zu bestellen. Zurück kam Sie mit einem Cocktail und einem doppelten Wodka-Orangensaft. Den kippte sie sich in einem Schluck die Kehle hinunter, noch bevor sie sich wieder an den Tisch setzte. Ihr Bruder warf ihr einen kritischen Blick zu und schüttelte anschließend den Kopf.

Er schien nicht oft in ihrer Gegenwart zu trinken. Wir kannten Tanja gar nicht anders. Obwohl sie Sportlerin ist und es darauf abzielte, nach Olympia zu gehen, konnte sie sich in der Gegenwart von Alkohol nur schwer zusammenreißen. Sie konnte trinken wie ein Schluckspecht und vertrug für ihr geringes Gewicht ziemlich viel. Ich hatte nach zwei Cocktails bereits Probleme damit, geradeaus zu laufen. Tanja konnte mit derselben Menge im Blut noch auf hohen Schuhen Tango tanzen und das zu 99 Prozent fehlerfrei! Selbst mein Bruder, der eine ähnlich starke Alkohol Verträglichkeit vorzuweisen hatte, fand das bewundernswert.

»Was willst du trinken?«, fragte ich Milena, um mich von Oliver und Timo abzulenken. Deren Flirten war unsäglich nervig!

Milena ließ ihren Blick über die Getränke schweifen, die auf dem Tisch standen und bekam rote Wangen, als sie kurz danach eine Cola bestellte.

Ich nickte. Vernünftige Entscheidung. So sollte ich auch anfangen, wenn ich von dem Abend noch etwas haben wollte.

Ich machte einen großen Bogen um die Tanzfläche und wartete nervös darauf, dass der Barkeeper Notiz von mir nahm. Ich könnte winken oder rufen, aber das traute ich mich nicht.

Zu meinem Leidwesen schien Oliver dieselbe Idee gehabt zu haben, wie ich. Denn er tauchte keine drei Sekunden nach meiner Ankunft neben mir auf.

»Wir sind nicht zusammen!« - Olivers leise Worte bohrten sich wie ein Stachel durch mein Herz. Ich ballte die Hände zu Fäusten und zwang mich dazu, ihn nicht anzusehen. Ich wünschte er wäre nicht hier. Ich wünschte, er würde mit seinem Timo das Weite suchen.

»Warum erzählst du mir das? Du musst dich nicht rechtfertigen!«, antwortete ich schroff und traute mich nun doch dem Barkeeper zu zuwinken. Ich wollte so schnell wie möglich hier weg und warf in solchen Situationen sogar meine Schüchternheit über Bord.

Oliver wollte mir antworten, doch im selben Moment tauchte der Barkeeper vor uns auf und sah uns abwartend an. Oliver bestellte ein Bier für sich und einen Cocktail, dessen Namen er kaum aussprechen konnte für Timo. Der Barkeeper verstand ihn glücklicherweise trotzdem. Dann sah er mich an und begann schief zu grinsen. »Und was darf‘s für dich sein Hübscher?«

Ich wurde knallrot. Der Kosename brachte mich völlig aus dem Konzept. Ich konnte nicht einordnen, wie er es meinte. Ob er mich auslachte oder versuchte mit mir zu flirten.

Oliver neben mir gab ein undefinierbares Geräusch von sich. Bildete ich mir das ein oder passte ihm das Verhalten des Barkeepers nicht?!

»Für ihn kannst du ‘nee Cola und ‘nen Sex on the Beach machen!«, antwortete Oliver für mich und klang so, als würde er gleich in den Ring steigen wollen – aggressiv und kampflustig.

Der Barkeeper und Oliver wechselten einen kurzen Blick miteinander, dann verschwand ersterer und ging seiner Arbeit nach.

Ich sah Oliver stirnrunzelnd an. Bevor ich meine Sprache wiederfand, verging jedoch eine ganze Weile. Mein Kopf war mit Olivers komischer Art und Weise und dem Sex on the Beach beschäftigt. Wie schmeckte so etwas überhaupt? Süß? Bitter? Sauer? Ich mag eigentlich keine Cocktails mit anzüglichen Namen. Die schmecken meistens genauso komisch, wie ihre Namen klangen.

»Warum bestellst du eigentlich für mich? Das kann ich auch ganz gut alleine!«, fauchte ich schließlich in Olivers Richtung.

Wieder hinderte Oliver jedoch das Auftauchen des Barkeepers am Antworten. Dieser stellte Oliver die bestellten Getränke vor der Nase ab, wovon dieser allerdings nicht wirklich Notiz nahm.

Tanjas großer Bruder grinste mich an und fixierte mich mit einem schelmischen Blick. »Du siehst aus, als würdest du darauf stehen!« - Dann nahm er seine Getränke und verschwand in der tanzenden Menge. Mit hochrotem Kopf sah ich ihm einige Sekunden nach.

Als ich mich anschließend wieder zur Theke umdrehte, stellte der Barkeeper gerade meine Bestellung ab und grinste mich dabei breit an.

»Siehst gar nicht aus wie jemand, der darauf steht!«, sagte er lächelnd und drehte ab.

»Ich stehe auch nicht auf Sex am Strand!«, schrie ich ihm hinterher, weil mich diese ganze Situation irgendwie unglaublich wütend machte.

Ein paar Gäste, die direkt am Tresen saßen, drehten sich mit verwunderten Gesichtern nach mir um. Ich sah zu, dass ich samt meiner Gläser so schnell wie möglich zurück zu unserem Tisch kam.

Alle Anwesenden beäugten mich komisch. Vermutlich weil in meinem Glas ein bunter Strohhalm und ein buntes Schirmchen herumschwammen. Der einzige, der mich nicht ansah, war Oliver. Der wiederum grinste in sein Bier, als wäre ich ein herumlaufender Witz.

Ich verzog das Gesicht, als ich Milena ihre Cola zu schob. Jetzt, wo Oliver Timo hatte, war ich in seinen Augen nichts weiter als ein einfacherer Jugendlicher.

Auf der Suche nach Ablenkung, drehte ich mich zur Tanzfläche um. Ich konnte nicht tanzen. Ich hatte kein Rhythmusgefühl und Schrittfolgen erschienen mir komplizierter als die Relativitätstheorie. Und ich wusste wovon ich sprach; ich hatte mich im Tanzen ausprobiert, nachdem ich Gefallen an „Dirty Dancing“ und „Footloose“ gefunden hatte. Aber ich war ein hoffnungsloser Fall – so wie in allen anderen sportlichen Aktivitäten auch.

Das Tanzen in Bars und Clubs hatte nur irgendwie überhaupt nichts Ästhetisches an sich, wie mir gerade auffiel. Die meisten wackelten unkoordiniert herum, wie Kindergartenkinder bei der morgendlichen Gymnastikstunde oder umkreisten sich wie zwei Paarungswillige unerfahrene Löwen, die zum ersten Mal geschlechtsreif waren.

Sandy und Till verwickelten Oliver und Timo in ein harmloses Gespräch über unverfängliche alltägliche Themen. Tanja starrte währenddessen sehnsüchtig die Tür an. Mich beschlich das dumpfe Gefühl, dass Jan heute nicht mehr erscheinen würde. Ich traute ihm durchaus zu, dass er gleich nach dem Telefonat mit Tanja wieder eingeschlafen war.

Milena, die nicht nur ein Gespür für deutsche Grammatik hatte, sondern auch sofort merkte, wenn es jemand anderem schlecht ging, forderte Tanja zum Tanzen auf. Unsere Sportbarbie warf noch einen letzten sehnsüchtigen Blick in Richtung Tür, dann folgte sie Milena wenig begeistert auf die Tanzfläche. Meine Freundin aus dem Schachclub warf mir einen flüchtigen Blick zu und ich schenkte ihr im Gegenzug ein dankbares Lächeln.

Aus Mangel an Alternativen holte ich mein Handy aus meiner Jackentasche und startete eine Partie Online-Schach.

Jan kam ein paar Minuten später zur Tür hereingeschneit. Als Tanja ihn bemerkte, warf sie ihm nur einen bösen Blick zu und zog Milena demonstrativ auf die andere Seite der Tanzfläche. Jan ließ die Schultern hängen und schlürfte zu unserem Tisch. Er rief ein enttäuschtes „Hallo“ in die Runde und sank anschließend auf die Bank zu meiner linken.

»Du musst dir eine wirklich gute Entschuldigung überlegen! So sauer habe ich sie schon lange nicht mehr gesehen!«, sagte Sandy verärgert zu ihm.

Einen Moment sah er wirklich so aus, als würde er sich das zu Herzen nehmen, doch dann grinste er bloß schief. »Zum Glück ist sie da nicht sehr anspruchsvoll«, entgegnete er ermutigt und stand wieder auf.

Jan ging direkt auf Tanja zu, packte sie am Arm und drehte sie zu sich herum. Dann drückte er ihr einen leidenschaftlichen Kuss auf die Lippen, der Sandy und mich erröten und Milena einen Schritt zurückweichen ließ.

Tanja startete einen lahmen Versuch des Widerstands, gab ihrem Freund aber nach ein paar Sekunden nach und erwiderte den Kuss.

Milena sah ein bisschen ratlos aus, als sie zum Tisch zurückkam. Ihr puterrotes Gesicht versteckte sie hinter ihrer Cola. Ich schenkte ihr ein sanftes Lächeln und widmete mich dann wieder meiner Schachpartie.

Plötzlich sprang dieser Timo auf und zog Oliver ebenfalls vom Stuhl hoch. »Ich liebe dieses Lied – lass uns tanzen!« - Oliver hatte keine Chance zu widersprechen. Sein Freund zog ihn einfach mit sich. Erbarmungslos wie ein Tsunami.

Ich versuchte, mich auf meine Partie Schach zu konzentrieren, aber es ging nicht. Schon nach wenigen Augenblicken klebten meine Augen unnachgiebig an Oliver und Timo, die sich im Licht umkreisten, als würden sie einen Balztanz aufführen. Das ganze Szenario erinnerte mich an einen Unfall und das dazugehörige Sprichwort: Man wollte nicht hinsehen, aber man musste!

Timo war ein umherlaufendes Klischee. Geprägt und geformt von Hollywood, Magazinen und der abwertenden Meinung der Menschheit. Er ließ seine Stimme mit Absicht zwei Oktaven höher klingen und machte aus jeder normalen Bewegung einen halben Tanzschritt. Er kicherte mädchenhaft, wenn jemand einen schlechten Witz erzählte und versuchte Olivers Hand wegzuschieben, als dieser ihn versuchte am Hintern zu berühren.

»Also, wenn er das bei mir versuchen würde, würde ihn nicht zurückweisen!«, sagte Milena direkt hinter mir.

Vor Schreck wäre ich beinahe von meinem Stuhl gefallen. Ich drehte mich ertappt zu ihr um und fühlte meine Wangen heiß werden.

»Wovon sprichst du?«, fragte ich überflüssigerweise.

»Du starrst sie an Leon. Warum genau du das tust muss ich noch ergründen!« - Milena knuffte mir in die Seite, als hätte sie nur einen Scherz gemacht.

»Tu ich gar nicht!«, entgegnete ich entrüstet und entsperrte mein Handy.

Die Online-Schach-App war noch geöffnet. Ich hatte nur überhaupt keine Lust mehr auf Schach. Ich wollte lieber Oliver beim Tanzen beobachten, auch wenn sich die lästige Bazille Timo um ihn herumschlängelte.

Milena beugte sich ganz nah an mich heran. »Als wir neulich in dem Café waren, wolltest du mir da von ihm erzählen?«

Erschrocken riss ich die Augen auf. War ich so leicht zu durchschauen? War mein Verhalten so eindeutig?

Panik machte sich in mir breit. Wenn Milena nur ein paar Minuten gebraucht hatte, um mich zu durchschauen, wie schnell würden die anderen dann dahinterkommen?

Ich warf Sandy und Till über den Tisch hinweg einen prüfenden Blick zu. Glücklicherweise waren die beiden mit sich selbst beschäftigt und achteten nicht auf mich oder Milena. Innerlich seufzte ich erleichtert.

Ich sollte Milena nicht die Wahrheit sagen. Das wäre nicht nur mein Untergang, sondern auch Olivers. Und ich wollte Tanja ihren Geburtstag nicht verderben.

»Er ist auch Teil der Geschichte«, redete ich mich schließlich heraus und trank anschließend meinen Cocktail in zwei großen Schlucken aus. »Ich brauche jetzt noch mehr Alkohol – willst du auch was?«

Milena schüttelte den Kopf. »Danke, ich habe noch!«

Ich nickte und verschwand in Richtung Bar.

Dieses Mal war es ein anderer Barkeeper. Deswegen bestellte ich meine Pina Colada ohne Scham und beschloss, ihn direkt am Tresen zu trinken. Ich wollte nicht zurück zu unserem Tisch, wo Milena mir unausweichliche Fragen stellte und/oder Oliver mit Timo herumturtelte. Ich hatte verstanden, dass er nichts von mir wollte, dass musste er mir nicht noch mit Absicht unter die Nase reiben!

Der DJ dimmte das Licht immer weiter runter. Mittlerweile war es so dunkel in der Bar, dass ich beinahe mein Glas umschmiss, als ich danach greifen wollte.

Plötzlich presste sich jemand von hinten gegen mich. Wer auch immer das war, war nicht größer als ich, dafür aber wesentlich muskulöser als ich. Derjenige legte sein Kinn auf meiner Schulter ab.

Der Geruch von Bier und Bruno Banani Deo stieg mir in die Nase.

»Du stehst im Weg«, flüsterte mir jemand so leise ins Ohr, das ich beinahe kein Wort verstand.

Erschrocken wich ich Oliver aus und drehte mich danach zu ihm um.

Ich würde ihm gerne etwas schlagfertiges an den Kopf knallen und mich dann aus dem Staub machen, bevor er etwas erwidern konnte. Nur leider fehlte mir für Schlagfertigkeit der nötige Einfallsreichtum und fürs einfach verduften der Mut. Also blieb mir nichts anderes übrig, als die Situation stillschweigend auszusitzen.

Links und rechts neben mir war genügend Platz. Ich stand also gar nicht im Weg, ging aber trotzdem einen Schritt beiseite.

Oliver hatte wohl mit Widerstand und einer Diskussion gerechnet. Deswegen blinzelte er überrascht, als ich wortlos nachgab. Er sah einen Moment so aus, als wolle er etwas sagen, doch dann blinzelte ich und er trat an die Theke heran.

Ich sorgte für noch mehr Platz zwischen mir und Oliver, während er auf sein bestelltes Bier wartete.

Er sollte bloß nicht auf die Idee kommen, sich zu mir zu stellen. Ich ertrug seine Anwesenheit heute nicht.

Aber das Schicksal hatte wie so oft andere Pläne mit mir.

Oliver schob sein Glas über den Tresen zu mir hinüber. Unbehagen drehte ich den Kopf in die andere Richtung und nippte gleichzeitig an meinem Pina Colada. Eigentlich mit dem Ziel, ihm zu signalisieren, dass ich jetzt absolut nicht mit ihm reden wollte.

»Möchtest du gerne tanzen?«, fragte Oliver nebenbei.

Ich merkte sofort, wie mir das Blut in die Wangen schoss und freute mich zum ersten Mal über die Dunkelheit in dieser Bar. So blieb mir ein weiteres peinliches Erlebnis erspart.

Nur leider half die Dunkelheit meiner Stimme nicht weiter. Denn an meinem reichlich verspäteten und gestotterten »Nein« konnte man meine Nervosität deutlich heraushören.

»Dann galten deine sehnsuchtsvollen Blicke vorhin also doch mir und nicht der Tanzfläche!«, neckte er mich.

Ich stellte mein leeres Glas auf der Theke ab und warf ihm einen vorwurfsvollen blick zu.

Er wusste wirklich wie man Leute, die schon am Boden lagen, noch mehr demütigte.

»Was interessiert dich das überhaupt? Solltest du nicht nur Augen für Timo haben?«, erwiderte ich trotzig. Als der Barmann eine Sekunde später nach meinem Glas angelte, nutzte ich die Gelegenheit und bestellte mir einen doppelten Wodka-Orangensaft. Dabei entging mir der skeptische Blick, den sich der Barkeeper und Oliver zu warfen, nicht. Aber im Moment war mir das egal.

»Warum hast du ihn überhaupt mitgebracht? Macht es dir Spaß mich zu quälen?«, fragte ich kleinlaut und traute mich dann nicht mehr, ihn anzusehen.

»Er ist spontan bei mir vorbeigekommen und hat sich dann quasi selbst eingeladen. Ich hätte ihm diesen Vorschlag niemals gemacht, weil ich weiß, wie deine Freunde sind!«

Auch wenn ich Timo nicht leiden konnte, sollte Oliver trotzdem mitbringen dürfen, wen er wollte. Dass er Rücksicht auf meine Freunde nahm, klang irgendwie fürchterlich falsch.

»Liebst du ihn?«, fragte ich. Gleichzeitig rührte ich verlegen mit dem Strohhalm in meinem Getränk herum.

Ich rechnete mit allem, aber als Oliver anfing zu lachen, traf mich das völlig unvorbereitet.

»Ich kenne ihn doch kaum«, antwortete Oliver.

»Wäre er jemand, in den du dich verlieben könntest?« - Diese Frage zu stellen, kostete mich eine ganze Menge Überwindung.

Olivers ehrliches »Vielleicht« traf mich hart.

Ich trank einen großen Schluck Wodka. »Dann solltest du jetzt zu ihm gehen, um es herauszufinden!«

»Leon, ich -«

»Nein, bitte«, unterbrach ich ihn harsch, »bitte hör auf deine Schwester oder unseren Altersunterschied als Ausrede zu missbrauchen. Du willst mich nicht und ich bin mit meinen 16 Jahren alt genug, dass zu verstehen!«

Oliver wollte noch etwas sagen, doch ich ließ ihn nicht zu Wort kommen. Ich schnappte mein Glas und suchte das Weite.

Ich quetschte mich zu Milena auf die Bank und holte mein Handy wieder heraus. Ich sollte aufhören über Oliver nachzudenken. Der Kampf war gekämpft und ich hatte verloren.



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  YukihoYT
2023-03-09T23:16:48+00:00 10.03.2023 00:16
Ich erinnere mich gerade wieder daran, wie viel Spaß mir diese Geschichte gemacht hat. Keine Ahnung, wie es dem Autor, der die geschrieben hat, gerade geht oder was er tut, aber ich hoffe, dass offline alles okay ist. Ob die Geschichte weitergeschrieben wird oder nicht. Die Arbeit hier ist qualitativ sehr hochwertig und ich bin glücklich darüber, wie sauber alles grammatikalisch, typographisch und inhaltlich gehandhabt wurde. Danke dafür! Sowas schätze ich.
Von:  Rentierchan
2020-03-16T12:07:26+00:00 16.03.2020 13:07
Mhm, ich weis nicht was ich davon halten soll. Mal davon ab das die meisten seiner Freunde gewöhnungsbedürftig sind, ist Oliver gerade wirklich ein Arsch.
Er hat ihm doch klar gemacht das das nichts wird und nun rennt er ihm hinterher um was zu tun? Ach ich find dich doch ganz nett aber....


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