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Land unserer Väter

Magister Magicae 1
von

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Problemkind

[Verona, Italien]
 

Francesca D´Agou betrat den Kindergarten mit etwas gemischten Gefühlen. Heute war ein entscheidender Tag. Darum war sie auch etwas eher dran als gewöhnlich. Auf dem Gelände rannten ein Haufen Buben und Mädchen herum, laut schreiend und lachend, sich gegenseitig jagend und mit Spielzeug zugange. Es war fast zum Fürchten. Wie konnte man diesen Lärmpegel nur den ganzen Tag ertragen? Francesca beneidete die Kindergärtnerinnen wahrlich nicht um ihren Job.

Ihren Mittleren, den sie abholen wollte, sah sie allerdings nirgends. Das verstärkte ihr mulmiges Gefühl gleich noch etwas mehr. Mit einem tiefen Durchatmen hielt sie auf die Tür zu und betrat das Gebäude. Drinnen kam ihr eine der Kindergärtnerinnen mit einem Tablett voll Geschirr entgegen.

„Hallo, Francesca“, grüßte die junge Frau.

„Hallo, Giulia. Hast du meinen Urnue gesehen?“

„Ja, er ist drinnen. Da hinten, im letzten Zimmer“, meinte sie und deutete mit dem Kopf in die entsprechende Richtung, weil sie keine Hand dafür frei hatte.

„Wieso ist er bei diesem Wetter drinnen?“, wollte Francesca D´Agou erschrocken wissen. Das klang ja förmlich, als wäre irgendwas passiert.

„Wir haben ihn weggesperrt. Er ist uns wiedermal abgehauen. Ehrlich, Francesca, mach ihm endlich klar, daß er das nicht tun soll!“ Mit diesen eindeutig vorwurfsvollen Worten schepperte die Kindergärtnerin mit ihrem Tablett weiter. Weg war sie.

Die Mutter kratzte sich überfordert im Genick und fuhr sich durch die langen, dunkelbraunen Locken. Aber was blieb ihr übrig? Nach kurzem Hadern setzte sie sich wieder in Bewegung.
 

Francesca blieb in der offenen Tür stehen und sah sich um. Da saß ihr 5-Jähriger am Tisch und malte unter den wachsamen Augen einer Kindergärtnerin ein Bild. Die beiden waren allein. Kein anderes Kind weit und breit. Ihr Urnue wirkte dadurch regelrecht isoliert. Als ob er Verbot hätte, mit den anderen Kindern zu spielen. Als ob er irgendwie anders wäre als die anderen Kinder.

Die Erzieherin schaute herum und lächelte leicht, als ihr der unerwartete Besuch zu Bewusstsein kam.

„Hallo ...“, meinte Francesca kleinlaut.

„Hi.“

Urnue sah nicht auf und grüßte auch nicht. Er malte emotionslos weiter an seinem Bild. Der Junge schmollte wohl.

„Warum seid ihr denn bei diesem tollen Wetter nicht draußen?“, wollte seine Mutter wissen. Vorsichtig, als hätte sie Angst vor der Antwort.

„Dein Kind ist wieder ausgebüchst.“

„Ja, hab ich schon von Giulia gehört.“

„Aber diesmal ist er über die Astralebene gegangen, um durch den Zaun zu kommen, weil wir das Tor zugeschlossen hatten. Ich habe beschlossen, ihn lieber nicht mehr aus den Augen zu lassen. Darum sitzen wir hier.“

Francesca seufzte betrübt. „Sowas kriegst du schon fertig, Urnue?“ An sich war das ja eine bemerkenswerte Leistung für einen Jungen seines Alters. Aber auch sehr beunruhigend, wenn er davon mutwillig Gebrauch machte, um abzuhauen.

Der kleine Junge gab bloß einen genervten Ton von sich. Der lange, strubbelige Pony hing ihm so tief in die Augen, daß man von seiner Mimik kaum etwas sah.

Die Erzieherin erhob sich und streckte verspannt ihren Rücken durch. „Versteh mich nicht falsch, Francesca. Du hast da einen süßen und wirklich cleveren, kleinen Zwerg. Aber irgendwas musst du mit ihm tun. Das kann so nicht weitergehen. Wir können nicht aller zwei Wochen die Polizei rufen, damit sie einen 5-Jährigen suchen, der spurlos aus dem Kindergarten verschwunden ist. Er ist uns jetzt schon so oft weggelaufen, obwohl wir wirklich aufpassen, das kannst du uns glauben! Unsere Leiterin hat schon gedroht, deinen Betreuungsvertrag zu kündigen und dich mit Urnue an ein Heim für schwer Erziehbare zu verweisen. Und ehrlich gesagt haben wir auch nicht die Zeit, ihn ohne Pause unter Bewachung zu halten. Wir haben hier noch 30 andere Kinder.“

Francesca nickte betrübt und schaute wieder ihrem Sohn beim Malen zu. Was nur stimmte mit diesem Kind nicht? Er war doch völlig normal, eigentlich auch total lieb und artig und für sein Alter toll entwickelt, sowohl körperlich als auch geistig. Bis auf diese nervenzehrende Macke, ständig das Weite zu suchen. „Ich habe heute mit ihm einen Termin beim Kinderpsychologen. Vielleicht hat der eine Idee, was mit meinem Urnue los ist“, meinte sie leise und entlockte ihrem Sohn damit erstmals ein Aufblicken.

Die Kindergärtnerin reagierte gleichfalls mit einem einverstandenen Nicken. „Er wird im Herbst eingeschult. Bis dahin muss das geklärt sein.“

„Ich weiß.“
 

„Mama, was ist ein Psiloge?“, wollte Urnue neugierig wissen. Er ging anstandslos an der Hand, während sie auf dem Weg zu ihrem Arzttermin waren.

Francesca lächelte ihn an. „Ein Psychologe. Er hilft mir, dich ein bisschen besser zu verstehen, weißt du?“

„Oh, muss ich lauter reden?“

Seine Mutter lachte. „Nein, das meinte ich damit nicht. Um deine Aussprache geht es nicht. Ich weiß nur nicht, warum du manche Sachen machst. Immer wieder, obwohl ich dir ständig sage, daß du es nicht sollst.“

„Du meinst das Laufen ...“, entgegnete Urnue geknickt. „Die Gartenfrauen sind auch immer böse, wenn ich das mache.“

„Es ist nicht einfach nur Laufen“, hielt Francesca ruhig und liebevoll dagegen. „Du läufst weg, das ist etwas ganz anderes. Mama macht sich Sorgen um dich, wenn sie nicht weiß, wo du bist.“

Urnue nickte einsichtig und schaute vor sich auf den Asphalt.

„Warum machst du das, hm? Wieso läufst du immer wieder weg, Schatz?“

„Ich will doch einfach nur in den Norden.“

„Ja, aber warum? Ich verstehe nicht, was du da willst.“

„Ich auch nicht“, gestand der kleine, schwarzhaarige Junge.

Francesca zog die Stirn in Falten. Ihr Sohn wusste selber nicht, warum es ihn ständig in die Ferne zog. War das Besorgnis erregend? Wenn man ihn fragte, sagte er immer nur, daß es ihn eben dort hin trieb.
 

„Guten Tag, Professor Moretti.“

„Guten Tag, Frau D´Agou, immer herein spaziert“, grüßte der alte Herr mit Brille und schneeweißen Haaren und hielt die Tür auf. Er hätte schon längst in Rente sein können, wenn er gewollt hätte, das sah man ihm altersmäßig an. Aber er liebte seine Arbeit so sehr, daß er immer noch weiter praktizierte. Er verfolgte mit, wie sich die Mutter im Sprechzimmer umsah, und lächelte amüsiert. „Sie wirken verunsichert.“

„Nun ja, wissen Sie ...“, begann Francesca ängstlich und hielt sich förmlich an ihrem Kind fest. „Ich bin noch nicht ganz sicher, ob wir hier überhaupt richtig sind. Wir sind nämlich keine Menschen. Wir sind eine Familie von Tiergeistern. Also Genii. Ihr Schwerpunkt ist zwar Kinderpsychologie, aber vermutlich eher die menschliche, und ... also ich hoffe, Sie können uns vielleicht trotzdem helfen ... weil ...“

Professor Moretti lachte. „Nun mal immer mit der Ruhe. Jetzt nehmen Sie doch erstmal Platz und dann reden wir ganz entspannt. Ist das der junge Mann, um den es geht?“

„Das ist mein Urnue, ja.“

„Schön. Hallo, Urnue“, begrüßte der alte Mann daraufhin auch den 5-Jährigen noch mit einem väterlichen Lächeln. „Wie geht´s dir?“

„Gut“, bekräftigte Urnue.

„Na, das hört man doch gern. Such dir einfach einen Sitzplatz aus, ja?“

„Irgendeinen?“

„Irgendeinen!“, stimmte Professor Moretti zu.

„Darf ich hinter dem Tisch sitzen?“, wollte Urnue in kindlicher Euphorie wissen.

Seine Mutter lehnte entrüstet ab, aber der alte Mann lachte schallend. „Natürlich! Dann bist du eben heute der Arzt im Haus. Setz dich nur!“, meinte er kichernd. „Sie haben wirklich einen herzigen Sohn.“

Nachdem sich alle auf ihren auserkorenen Plätzen eingerichtet hatten, inclusive Urnue, der hoheitlich hinter dem Schreibtisch thronte, und nachdem der Psychologe ihnen versichert hatte, daß er auch mit Genii schon ausreichend Erfahrung besaß, wurde die ganze Atmosphäre um einiges entspannter. Urnue beantwortete aufgeweckt und offenherzig alle Fragen des Professors. Er erzählte unter anderem, daß er eine kleine Schwester, Marilsa, hatte, und einen großen Bruder, Antreo, und daß er sich in seiner Familie absolut wohlfühlen würde. Er erzählte, daß er sich ein Haustier wünschen würde, das er aber auch mit seinen Geschwistern teilen würde und nicht zwingend für sich allein haben müsse. Andererseits würde seine kleine Schwester Marilsa in ihrer Wiesel-Gestalt aber auch ein ganz passables Haustier abgeben und sei zum Knuddeln süß. Und im Kindergarten hätte er ebenfalls keine Probleme.

„Tja, aber deine Mama sagt, du würdest häufiger weglaufen“, kam Professor Moretti daraufhin auf das eigentliche Anliegen zu sprechen. „Wenn es dir hier so gut gefällt und du gar nicht unglücklich bist, wieso reißt du denn dann dauernd aus?“

„Ich will in den Norden!“, gab Urnue direkt und unverblümt Auskunft.

„Norden“, wiederholte der Arzt etwas überrumpelt. Er hatte bisher selten Kinder erlebt, die in diesem Alter schon eine klare Vorstellung von der Welt und den Himmelsrichtungen hatten. „Willst du ...“ Er überlegte kurz, wie er die Frage formulieren sollte. „Du willst also nicht weg, weil es dir hier nicht gefällt?“

„Nein.“

„Aber du willst hier weg! Weil ...???“

„Ich weiß nicht. Mich zieht es einfach dort hin.“

„Wie fühlt sich diesen Ziehen denn an? Hörst du Stimmen, die dir sagen, daß du da hingehen sollst? Sowas wie ein unsichtbarer Freund?“

„Nein. Es ist ... eher ...“ Urnue suchte sichtlich nach Begriffen. Mit seinen 5 Jahren fiel es ihm logischerweise schwer, solche undefinierbaren Dinge in Worte zu fassen. „Das ist so wie unser Kühlschrank zu Hause!“

„Weil es da drin kalt ist?“, wollte er verdutzt wissen.

„Nein, weil da das Essen drin ist!“

„Ah! Du meinst, wenn du Hunger hast, dann gehst du an den Kühlschrank, weil du weißt, daß da was zu essen drin ist. Und mit dem Norden ist es genau so. Du gehst nach Norden, weil du einfach weißt, daß da irgendwas ist, was du gerade brauchst.“

Urnue nickte zustimmend und grinste, froh darüber, verstanden worden zu sein.

„Das nennt man 'Intuition', Urnue. Kinder in deinem Alter haben sowas meistens noch sehr ausgeprägt.“

„Ist das böse?“

„Nein, im Gegenteil. Das ist total wichtig, sowas zu haben. Erwachsene könnten sowas auch viel häufiger brauchen“, beruhigte Professor Moretti ihn. Mit einem gemurmelten „Na schön ...“ stand der alte Mann auf und ging zum Regal an der Wand, um einen Atlas heraus zu kramen. Den legte er Urnue vor, aufgeschlagen auf der Weltkarte. „Schau mal, das ist unsere Erde. Weißt du, wo wir sind?“

Der kleine Junge schaute lange ratlos auf das Buch und schüttelte schließlich den Kopf. Hiervon verstand er nur Bahnhof. Also zeigte der Psychologe ihm den Stiefel im Mittelmeer und erklärte ihm, daß das Italien sei. Da Urnue Interesse daran zu haben schien, berichtete er ihm auch noch von den größten, wichtigsten Städten und davon, was eine Hauptstadt war. „Und weißt du denn, wo du hin willst?“

Urnue zeigte in eine Ecke des Raumes. Schräg hinter sich, nach Norden. „Da hin!“

„Ja, aber auf der Karte!“, präzisierte der Professor und deutete in den Atlas. „In welches Land willst du?“

Urnue kratzte sich nachdenklich am Kopf. Er wusste es nicht. Nach einigem Hadern landete sein Finger unschlüssig auf Australien.

Der Arzt bemerkte, daß der Junge nur geraten hatte. Australien war unten rechts, genau wie die Raumecke, in die Urnue eben gezeigt hatte. Das Buch lag ja auch in Leserichtung auf dem Tisch, und nicht nach Norden ausgerichtet. Professor Moretti drehte die Karte testhalber nochmal über Kopf, so daß sie geographisch richtigherum lag und der Norden auch nach Norden zeigte. „Und jetzt?“ Diesmal wählte Urnue Island, was den Psychologen in seiner Vermutung bestätigte. Er hatte nicht nach Karte entschieden, sondern nach der Himmelsrichtung, in die es ihn zog. Aber mehr als die Richtung schien er tatsächlich nicht angeben zu können. „Ist es immer Norden?“, wollte Professor Moretti von Francesca wissen.

Sie nickte ernst. „Es ist schon immer der Norden gewesen. Seit er alt genug war, um auf Händen und Knien zu krabbeln, hat er sich regelmäßig nach Norden davon gemacht. Lange bevor er überhaupt räumliches Vorstellungsvermögen hatte. Wenn er weg war, wussten wir immer schon vorher, in welcher Richtung man ihn suchen musste.“

„Wann läuft er denn in der Regel weg? Mittags? Nachts?“

„Zu jeder erdenklichen Tages- und Nachtzeit. Wann immer sich eine Chance bietet.“

„Hm, also können wir Naturphänomene schonmal ausschließen. Ich kannte mal ein kleines Mädchen, das immer dem Sternbild Orion nachgelaufen ist. Das hat lange gedauert, bis wir dahinter gekommen sind. Aber das scheint hier nicht der Fall zu sein.“



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