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Schwarz-Weiße Weihnacht

von

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19.Dezember

Ein kluger Mann (oder der Herausgeber eines Reise-Prospekts) hatte einmal gesagt: Jede Jahreszeit hat ihren eigene Schönheit. Yoji sah das durchaus ähnlich. Wenn die ersten Strahlen der Frühlingssonne die Blumen und die jungen Frauen gleichermaßen hervorlockten, war er in seinem Element. Der heiße Sommer, der die Herzen freier und die Röcke kürzer werden ließ, hatte in jedem Fall seinen Reiz. Und es ging nichts über einen Spaziergang an einem stürmischen Herbsttag. Der Winter jedoch...also ja, der Winter war auch ganz nett, wenn man mal vom Frieren und dem ständigen Schneeschippen absah. Aber was Yoji wirklich am Winter nervte, war die Tatsache, dass die Sonne zu dieser Jahreszeit so tief stand, dass ihre Strahlen nicht mehr den Hinterhof erreichten, in dem er seine Zigarettenpausen zu machen pflegte. Wenn er also nicht schlotternd und zitternd im Schnee stehen wollte mit der glimmenden Zigarettenspitze als einzige Wärmequelle, musste er sich etwas ausdenken. Aber Yoji wäre nicht Yoji gewesen, wenn ihm nicht sofort der perfekte Platz ins Auge gesprungen wäre, wo man auch zu dieser frostigen Zeit noch eine gute Portion Sonnenlicht abbekommen konnte. Immer vorausgesetzt, sie versteckte sich nicht hinter dicken Schneewolken. Aber heute war das Glück auf seiner Seite. Heute glänzte und strahlte die weiße Schneefracht der Häuser und Gehwege im hellen Schein der blassen Wintersonne, die mit Nachdruck versuchte, etwas gegen die kalte Pracht zu tun. Während es also im Hof von den Dachrinnen tropfte, war Yoji bereits auf dem Weg zu seinem neuen Pausendomizil: dem Dach des Hauses.

 

Er bemühte sich die leicht klemmende Tür möglichst leise zu öffnen. Wenn Aya ihn hier oben erwischte, konnte er sich vermutlich auf eine Gardinenpredigt einstellen, die sich gewaschen hatte. Durch den langen Weg verlängerte sich seine Pause um mehr als das Dreifache. Immerhin schleppte ein Yoji Kudo seinen Alabasterkörper nicht umsonst die ganzen Treppen hinauf. Wenn er erst einmal da war, wollte er den Ausblick und die Sonne auch ein wenig genießen.

 

Er atmete erleichtert aus, als die Tür dieses Mal relativ geräuschlos aufschwang und ihm den Weg auf das verlockende Dach freigab. Am liebsten zog er sich ganz nach hinten in eine Ecke zurück, die von der Tür aus nicht eingesehen werden konnte. Dort hatte er sich einen Stuhl und einen kleinen Tisch platziert, denn schließlich wollte er nicht auf dem feuchten Schnee sitzen. Er grinste, als er die Tür hinter sich schloss und mit federnden Schritten zu seinem kleinen Versteck ging. Er stockte jedoch in der Bewegung, als er entdeckte, dass sein neuer Stammplatz bereits besetzt war. Er sah nach unten und stöhnte innerlich. Auf dem Schnee waren tatsächlich Fußspuren zu sehen. Wie hatte er das nur übersehen können? Er erwog gerade, den Rückzug anzutreten, als die Gestalt auf dem Stuhl sich herumdrehte.

„Ken?“ Yoji war ehrlich verblüfft. „Was tust du hier? Ich dachte, du machst noch eine Auslieferung“

„Das Gleich könnte ich dich fragen, Yoji“, kam es von Ken zurück. „Ich dachte, du arbeitest gerade unten im Laden.“

Yoji war für einen Augenblick verblüfft, dann setzte er ein breites Grinsen auf. Er hob die Zigarettenschachtel und wedelte damit herum. „Ich hab gerade Pause.“

„Weiß Aya davon?“

Yojis Gesicht verfinsterte sich sofort wieder. „Aya ist nicht meine Mutter. Nur, weil er bei Weiß das Kommando hat, heißt das noch lange nicht, dass ich mich von ihm herumschubsen lassen muss. Wenn ich eine Pause machen will, dann mache ich die auch.“

Ken nickte wissend. „In der Ecke, die sich am weitesten von der Tür entfernt befindet und in der ein Stuhl so platziert ist, dass man dich unmöglich finden kann, wenn man nicht ganz bis zum Ende des Daches läuft. Alles klar, Yoji.“

„Bah, was weißt du schon. Du rauchst ja nicht.“

Ken schüttelte den Kopf. „Stimmt. Ist übrigens auch nicht gut für seine Gesundheit.“

Yoji schnaubte belustigt. „Als wenn ich mir über irgendwelche Gesundheitsrisiken Gedanken machen müsste bei unserem Beruf. Oder sollte ich es Berufung nennen?“

Ken wandte sich ab und sah wieder über die Dächer der umliegenden Häuser. „Nenn es, wie du willst“, antwortete er leise. „Ich...“

 

Er sprach nicht weiter, aber Yoji sah, dass er unbewusst ins Schwarze getroffen hatte. Irgendetwas trieb Ken um und er war offensichtlich hier hergekommen, um darüber nachzudenken. Hoch über den Dächern der Stadt, wo ihn nur die kalte Luft und die Wintersonne umgab. Eine Illusion von Freiheit ein paar Meter über dem Boden.

 

Yoji seufzte lautlos und zündete sich endlich eine Zigarette an. Während er den ersten Zug tief inhalierte und anschließend dem Rauch nachsah, der von einem leichten Wind davon getragen wurde, glitten seine Gedanken wieder zu Ken. Ihm war aufgefallen, dass der Athlet in den letzten Tagen stiller geworden war. Während er und Omi diesen Eiertanz um Aya veranstaltet hatten, hatte Ken sich mehr und mehr in sich selbst zurückgezogen. Die Zeit, die er normalerweise mit den Kindern im Freien beim Fußballspielen verbrachte, hatte er aufgrund des Wetters wohl irgendwie anders rumkriegen müssen. Aber was tat Ken, wenn er nicht arbeitete oder Fußball spielte? Yoji hatte sich noch nie Gedanken darüber Gedanken gemacht. Jetzt jedoch wurmte ihn die Frage irgendwie.

 

„Und? Was läuft so, Ken?“, fragte er leichthin, erntete aber nur ein Schulterzucken und einen trüben Blick. Na gut, wenn der andere nicht darüber reden wollte, würde Yoji eben das tun, wozu er hergekommen war. Nämlich die Sonne genießen. Er streckte das Gesicht dem warmen Himmelskörper entgegen und schob die Sonnenbrille auf die Nase. Er nahm noch einen Zug aus der Zigarette und war fast soweit, Ken und seine Probleme zu vergessen, als der plötzlich sagte:

„Ich habe bald Geburtstag.“

 

Yoji öffnete ein Auge. „Erwartest du Geschenke oder warum erzählst du mir das? Ich meine, Omi backt dir vielleicht einen Kuchen, aber auf Blumen von Aya würde ich nicht hoffen.“

Er grinste über seinen eigenen Scherz, aber Ken blickte nur wieder starr geradeaus. Yoji blies die Backen auf und ließ zischend die Luft entweichen. Gegen die Regenwolken, die über Kens Kopf schwebten, war auch die stärkste Wintersonne machtlos.

„Hey, das sollte ein Witz sein. Wir machen natürlich was zu deinem Geburtstag. Worauf hast du Lust?“

Ken zuckte nur mit den Schultern. „Ich weiß nicht. Ich meine, ich werde 20 Yoji. Ich bin dann kein Teenager mehr. In meinem Alter, da haben andere...also sie...“

Ken schwieg wieder, doch Yoji wusste jetzt, woher der Wind wehte. Der 20. Geburtstag war etwas besonderes. Andere in Kens Alter hatten Pläne, traten in das Berufsleben ein und beschäftigten sich mit der Gründung einer eigenen, kleinen Familie. Sie heirateten, bekamen Kinder. Yoji konnte sich Ken sehr gut mit Kindern vorstellen. Immerhin verbrachte er fast seine gesamte Freizeit mit diesen kleinen Rackern. Aber Heirat und eine glückliche, kleine Welt mit Familie und Freunden, das war für alle in Weiß ungefähr so weit weg wie der Mond. Ein Ziel, das sie lediglich aus der Ferne betrachten konnten, aber nie erreichen würden.

Jeder von ihnen wusste das, jeder hatte es akzeptiert. Weil ihnen das Leben diese Möglichkeit ohnehin genommen hatte. Sie alle hatten einen Weg gefunden, damit umzugehen. Omi war einfach überzeugt von dem, was sie taten. Auch wenn Yoji sich sicher war, dass mehr in dem freundlichen, kleinen Kerlchen steckte, als man auf den ersten Blick erkennen konnte, so machte er sich doch keine Sorgen, dass der Junge irgendwie damit zurechtkommen würde. Omi war stärker, als er aussah.

Aya war ein Fall für sich. Was ihn antrieb, darüber machte sich Yoji lieber keine Gedanken. Im schlechtesten Fall war er ein gefühlskalter Klotz, der über seine Rache an Takatori vergessen hatte, wie man richtig lebte. Im besten Fall war er ein weißer Ritter in schimmernde Rüstung, unter dessen eisigen Panzer ein warmes, liebevolles Herz schlummerte, das nur darauf wartete, dass ihn irgendjemand aus seinem Gefängnis befreite. Es musste nur noch die richtige Prinzessin dafür vorbeikommen.

 

Yoji selbst versuchte, die Sache auf die leichte Schulter zu nehmen. Er nahm, was er kriegen konnte, und machte sich darüber hinaus nicht allzu viele Gedanken um das, was ihn morgen erwartete. Er konnte ohnehin nicht mit Bestimmtheit sagen, wie lange es überhaupt noch ein Morgen gab. Die Dinge nicht allzu ernst zu nehmen, half dabei, das alles einigermaßen unbeschadet zu überstehen.
 

Doch was war, wenn das nicht möglich war? Wenn die Ablenkung, die Sonne im Leben fehlte? So wie bei Ken gerade. Dann kam die tiefe Sehnsucht wieder zum Vorschein, bis die Realität ihr hässliches Haupt erhob und sie anknurrte, sich wieder in ihr Kellerverließ zu verziehen. Denn dass es diese Hoffnung, diese Sehnsucht gab, das war auch Yoji bewusst. Irgendwo schlummerte auch in ihm noch eine Hoffnung, die es eigentlich nicht geben durfte. So wie die Strahlen der Wintersonne, die ihm das Gesicht wärmten, selbst wenn alles um ihn herum im Schnee versank. Doch Ken konnte die Sonne gerade nicht erkennen. Zu dicht war der Nebel um ihn herum. Der Nebel der Hoffnungslosigkeit. Er braucht etwas, an dem er sich festhalten konnte.

 

Yoji setzte ein Lächeln auf und stupste Ken mit der Faust gegen die Schulter. „Hey, nun sei doch nicht so. Ich verspreche dir, das wird der beste Geburtstag, den du je hattest. Wir gehen aus. Und nein, ich dulde keine Widerrede. Omi nehmen wir auch mit, also keine Angst. Es bleibt alles hübsch jugendfrei.“

Ken, der den Mund geöffnet hatte, um zu protestieren, schloss diesen wieder und schüttelte lächelnd den Kopf. „Du bist wirklich unglaublich, Yoji.“

Yoji grinste breit. „Dafür bin ich doch bekannt. Also lass mich nur machen und ich verspreche dir, dass du es nicht bereuen wirst.“

 

Ken wollte noch etwas erwidern, als sie plötzlich die Tür auffliegen hörten und Ayas Stimme über das Dach peitschte.

„Yoji, schwing deinen Hintern wieder in den Laden. Wir haben Kundschaft.“

Der Playboy zuckte zusammen und grinste Ken schief an. „Ich fürchte, da muss ich wohl Folge leisten, wenn ich nicht demnächst im Kastratenchor singen will.“

Als Ken sich ebenfalls erheben wollte, drückte ihn Yoji jedoch entschieden wieder auf den Stuhl.

„Ah-ah, du bleibst schön hier und lässt dir noch ein bisschen die Sonne auf den Pelz scheinen. Wir beide sind schon groß und schaffen das da unten auch noch eine Zeit lang alleine.“

Ken hob zweifelnd die Augenbrauen. „Und bist du dir sicher, dass der Laden dann auch noch steht, wenn ich wiederkomme?“

„Ich werde mich bemühen“, antwortete Yoji mit einem Augenzwinkern, nahm noch einen letzten Zug aus seiner Zigarette und verließ dann mit ebenso federnden Schritten, wie er gekommen war, wieder das Dach. Es war eben alles nur eine Frage der Motivation. Und wie es aussah, hatte er für die nächste Zeit jede Menge Pläne in die Tat umzusetzen.

 

 

 

 


Nachwort zu diesem Kapitel:
Prompt: die letzten Sonnenstrahlen erhaschen
Musik: „Do you hear what I hear“ - Orla Fallon https://www.youtube.com/watch?v=t84OSRahBRo Komplett anzeigen

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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von: abgemeldet
2018-12-19T08:16:35+00:00 19.12.2018 09:16
Das ist ein Türchen, das zu andächtigem Seufzen einlädt - ach Ken ... sehr schön! Yoji ist einfach ein toller Freund, oder? Ich hab wirklich mitgefühlt mit Ken - aber als Yojis Kommentar zum Kastratenchor kam, musste ich laut lachen xD (mitten im Bus, ugh :D)

Ich genieße hier echt jedes Türchen und so sehr ich mich auf Weihnachten freue, meine tägliche Dosis Weiß Kreuz von dir wird mir so fehlen!
Antwort von:  Maginisha
19.12.2018 10:05
Ach, gibt doch noch viele, schöne Sachen zum Lesen. (Ich weiß ja nicht, ob du den Rest meiner WK-Sachen schon kennst. Vielleicht ist ja noch was interessantes dabei...) Und ausserdem bleibe ich bestimmt noch ein bisschen bei den Jungs. Hab ja noch so zweieinhalb Geschichten zu schreiben. Wobei es da wohl eher keine täglichen Updates geben wird. ^_~

Die Geschichte morgen würde ich übrigens auch eher nicht im Bus lesen. :D


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