Avengers - Assemble!
Pegasus
„Natürlich können Sie Ihren Verlobungsring auch bei Cartier kaufen“, sagte Julia mit einer wegwerfenden Geste ihrer Hand, an der Diamanten glitzerten, „aber einen wirklich einzigartigen Stein werden Sie nur hier finden. Wir arbeiten mit spanischen Goldschmieden zusammen, die aus den Steinen das meiste herausholen. Sie sehen es ja selbst.“
Der Kunde vor ihr, ein älterer Mann mit prominentem Schnurrbart, machte ein zustimmendes Geräusch, als er sich wieder über die Vitrine lehnte. „Nun gut, wenn sie dann endlich Ja sagt …“
Julia wollte kotzen. Stattdessen lächelte sie strahlend und nickte. „Bei diesem Ring kann keine Frau Nein sagen, glauben Sie mir.“
Der Kunde zahlte bar. Sie zählte zufrieden die Scheine, dann blickte sie auf, als die dezent bimmelnde Türklingel einen neuen Klienten oder eine neue Klientin ankündigte. Ein Mann war hereingetreten, smart gekleidet in ein weißes Hemd mit hohem Kragen, schwarzer Anzughose und passendem Jackett, dunkel getönten Sonnenbrillen, blutroter Krawatte und einem schwarzen Hut mit blutrotem Hutband. Er ließ die Tür sachte hinter sich ins Schloss fallen und schnitt damit den Straßenlärm ab. Etwas an der Art und Weise, wie er sich durch den Laden bewegte, bis er vor der Verkaufstheke stehenblieb, war seltsam vertraut.
Julia runzelte einen Moment lang die Stirn, zauberte dann aber rasch und geübt das Dienstleistungslächeln auf ihre Lippen. „Herzlich willkommen bei Dynasty, wie kann ich Ihnen behilflich sein?“
„Ich habe da schon eine Idee.“ Der Mann nahm die Sonnenbrille ab.
„Fick mich“, stieß Julia unwillkürlich hervor, als sie mit einem Paar sehr bekannter, eisblauer Augen konfrontiert wurde.
Yuriy Iwanov, der Rote Wolf, grinste amüsiert und schenkte ihr dann einen koketten Schlafzimmerblick. „Na, wenn du schon so motiviert fragst … ich habe immer ein Kondom dabei.“
„Ich erinnere mich.“ Julia schüttelte den Kopf, erstaunt und erfreut zugleich, dann kam sie hinter der Theke hervor und tätschelte seine Wange. „Gib mir einen Moment.“
Sie ging zur Eingangstür, sperrte ab und drehte das Schild auf „Mittagspause“, dann kam sie zu ihm zurück und zog ihn am Ärmel mit sich in das Hinterzimmer, das ihr Büro war. Er konnte gerade noch einen Blick auf die einzelnen kleinen Plastikbeutel mit schimmernden Steinen in allen Größen und Farben auf dem Tisch werfen, dann hatte sie die Arme um seinen Hals geschlungen und zog ihn zu sich herab, bis ihre Lippen über seine kühle, glatt rasierte Wange gleiten konnten. Himmel, er roch noch immer so gut, wie sie es in Erinnerung hatte. Und seine Hände hatten immer noch jenen festen, bestimmten Griff, als sie durch ihre Haare fuhren und dann in ihrem Nacken ruhten, ehe er die Nase gegen ihre Schläfe drückte und tief einatmete. Einer der wenigen Männer, für die sie in ihrem Leben sowohl Lust als auch Zuneigung empfunden hatte, und sie wurde schlagartig wieder an die Gründe dafür erinnert.
„Ich hätte nicht gedacht, dass man dich so bald wieder gehen lässt, corazón“, sagte sie rau und sah ihm in die Augen.
„Was soll ich sagen, die Welt kann nicht genug von mir bekommen.“
„Wir beide wissen, dass es genau umgekehrt ist.“ Sie lächelte und drückte noch einen Kuss auf seine Schläfe, ehe sie sich von ihm löste und zu dem Regal hinter ihrem Schreibtisch schritt. „Wir wissen beide, dass du nicht genug von der Welt bekommen kannst.“
„Dafür liebst du mich doch.“ Er lächelte und ließ sich in dem bequemen Ledersessel vor ihrem Schreibtisch nieder, während Julia ihnen beiden schwungvoll zwei Gläser Whiskey einschenkte. Eines davon schob sie ihm über den Tisch hinweg zu. Mit dem anderen kam sie zu ihm, lehnte sich gegen den Tisch und sah ihm tief in die Augen, als sie miteinander anstießen.
„Salud, amor y pesetas“, murmelte Julia dabei.
„Sa schisn“, sagte Yuriy und zwinkerte ihr zu.
Sie tranken schweigend. Julia saugte seinen Anblick in sich auf. Oh, er hatte ihr nie wirklich gehört und sie nicht ihm. Sie hatten ein paar gute Nächte gehabt, in denen der Sex jedes Mal bombastisch gewesen war - aber wirklich gut, wirklich lohnenswert waren immer die Aufträge gewesen. Himmel, nichs und niemand zauberte sie zurück auf die Trapeze ihrer Kindheit wie Yuriy Iwanovs gefährliche, brillante Pläne.
Sie trank noch einen Schluck, leckte sich einen Tropfen Whiskey von den Lippen, verzog diese zu einem Lächeln, als sie merkte, dass Yuriys Blick der Bewegung genau folgte. „Also, hast du mich einfach nur vermisst oder gibt es etwas anderes, wegen dem du mich in meinem bescheidenen Laden aufsuchst?“
„Hmm.“ Yuriy nippte an seinem Glas. Seine Augen wanderten von Julias Mund zu Julias Steinen, die in ihren Plastiktüten auf dem Tisch lagen. Sie hielt ihn nicht auf, als er den Whiskey abstellte und zu einer der Tüten griff, um sechs glitzernde Steinchen auf seine Handfläche zu schütteln. „Du machst immer noch die schönsten Steine, milaja. Wenn man sie so ansieht, muss man sich schon wirklich, wirklich gut auskennen, um zu wissen, dass sie wertloser Zirkon sind.“
„Die Menschen sehen immer nur, was sie wollen.“ Sie musterte ihn. „Was siehst du?“
Yuriy lächelte und neigte seinen Kopf auf eine Weise, die etwas in ihrer Magengegend zum Prickeln brachte. „Was sagst du, wenn ich unter Umständen einen Job habe, den ich ohne dich nicht durchziehen kann?“
„Ich würde sagen, dass du mir dann besser etwas bieten solltest, damit sich die Sache für mich lohnt.“
Yuriys Lächeln wurde scharf und wölfisch. Sie fühlte einen wohligen Schauer über ihren Rücken wandern, als er sagte: „Oh, glaub mir, das habe ich.“
„Schieß los“, sagte Julia.
Megalodon
Ivan wusste nicht, was er erwartet hatte, aber als Mariam ihm die Tür öffnete, sah sie wesentlich abgefuckter aus als erwartet. Ihre Haare waren in einem halb auseinanderfallenen Pferdeschwanz mit etwas zusammengebunden, das wie das Gummiband zur Verschnürung von bestelltem Essen aussah. Unter ihren jadegrünen Augen lagen Ringe, die so schwarz waren, dass es an ein Wunder grenzte, dass sie keine VIP-Tickets zum Gothic Wave Festival hatten. Reste von Mascara klebten an ihren Wimpern und ihren Wangen, und ihre Unterlippe war rissig genug, dass sie vor nicht allzu langer Zeit geblutet zu haben schien. Sie trug ein ausgeblichenes The-Cure-Shirt, das ihr mindestens drei Nummern zu groß war, einen gepunkteten Slip und sonst nichts. In der Hand, mit der sie nicht die Tür hielt, brannte eine Zigarette.
„Fick mich“, sagte Ivan prompt, „du siehst ja echt beschissen aus, meine Fresse.“
„Na sieh mal einer an“, sagte Mariam genauso prompt, „der laufende Meter aus dem Rudel des Roten Wolfs. Wobei du ja sogar ein bisschen gewachsen bist, seit ich dich das letzte Mal gesehen habe - darfst du jetzt endlich mit der Achterbahn fahren?“
„Ja, schon. He, wir können gemeinsam fahren gehen, wenn du dich zurück auf den Weg zur Geisterbahn machst, die vermissen da ihr Schreckgespenst.“
„Gern, ich geh‘ dorthin zurück, nachdem ich dich dich bei der Schneewittchen-Attraktion abgeliefert habe. Die ist einfach nicht das gleiche ohne Grumpy.“
Ivan grinste und hielt ihr die Faust hin. „Schön zu sehen, dass du noch am Leben bist, du klapprige alte Schachtel.“
Mariam nahm einen Zug von ihrer Zigarette und gab ihm dann einen Fistbump, ehe sie die Tür ein wenig weiter öffnete und ihn hineinließ. „Hätte dir so gepasst, dass ich das Zeitliche segne, bevor ich deine Beerdigung ruinieren kann.“
„Aww. So viel Mühe nur für mich.“
Mariams deprimierend dunkle Schuhschachtel von einem Apartment sah nicht unbedingt besser aus als sie selbst. Ivan unterdrückte das Bedürfnis, die Armee an Pizzakartons zu einem einzigen großen Turm zu stapeln, der dem Turm zu Pisa Konkurrenz gemacht hätte. Stattdessen hüpfte er auf den zweiten Barhocker in Mariams Küchenzeile und ignorierte ihr Grinsen, als seine Füße nicht einmal ansatzweise den Boden berührten. Selbst in ihrem desolaten Zustand war Mariam immer noch eine der schönsten Frauen, die Ivan jemals gesehen hatte. Leider wusste sie es auch.
„Bist du nur hergekommen, um meine Beine anzustarren?“, fragte sie.
„Um fair zu sein, du bestehst gerade fast nur aus Bein. Sehr nacktem Bein.“
Mariam lachte rau und zog an ihrer Zigarette. Der süße Geruch von Menthol entströmte ihren Lippen, als sie den Rauch in die andere Richtung ausatmete. „Ich hatte nicht mit Besuch gerechnet.“
„Stattdessen hast du - was? Pizza gegessen und Horizon Zero Dawn gezockt?“
„Bloodborne. Und nach einem Job gesucht.“
„Und? Fündig geworden?“
Mariam grunzte und drückte den Rest der Zigarette auf dem Plastikdeckel einer Gyozaverpackung aus. „Nichts, was gut genug zahlt, um die Langeweile dabei zu rechtfertigen.“
„Tja. Dann bin ich wohl die Erhörung deiner Gebete, Baby.“
Mariam zog eine Augenbraue hoch und musterte ihn. „Das glaube ich erst, wenn ich es höre.“
„Du brauchst Geld“, brachte Ivan es auf den Punkt. „Wir wissen, dass Yusuf und Ozuma sitzen.“ Mariam verzog wütend das Gesicht, aber Ivan fuhr fort, bevor sie ihm ins Wort fallen konnte. „Was ist, wenn wir dir ein Angebot machen können, bei dem du auf deine Kosten als Sprengstoff- und Tresorspezialistin kommst und trotzdem genug verdienst, um nicht nur Oz und deinen Bruder aus dem Kittchen zu holen, sondern dann auch gleich eine lange, komfortable Reise zu machen?“
Mariam verengte die Augen. „Wer ist wir?“
Ivan holte eine Karte aus seiner Tasche, die auf den ersten Blick blank wirkte, und schob sie ihr zu. „Erfährst du, wenn du vorbeischaust.“
„Werde ich umgelegt, wenn ich dann Nein sage?“
„Nö. Aber du wirst dir kräftig in den Arsch beißen, wenn du Nein sagst.“
Mariam musterte ihn einen langen Moment, dann rollte sie mit den Augen und spielte mit der Visitenkarte. „Schön. Wenn ich an dem Tag nichts Besseres zu tun habe, komme ich vorbei.“
Hedgehog
Er kam auf Mathilda zu, als sie gerade ihren Gewinn einlöste und am Schalter auf die Auszahlung wartete. Unmöglich, ihn zu übersehen: Er war größer als die meisten anderen Leute im Apollon, hatte einen Hut tief ins Gesicht gezogen und trug zu seinem Hemd mit aufgerollten Ärmeln und der dunklen Hose einen sorgfältig gestutzten, blonden Vollbart mit Zöpfchen darin wie ein ins 21. Jahrhundert katapultierter Wikinger. Auf seinen kräftigen Unterarmen war links das Schwarz-Weiß-Tattoo eines Kraken und rechts das Schwarz-Weiß-Tattoo eines Pottwals zu sehen. Mathilda war dennoch geneigt, ihn als Fuckboy abzustempeln, ehe sich ihre Blicke trafen und er ihr ein Lächeln schenkte, das so sanft und warm wirkte, dass sie einen Moment lang fast verstört davon war.
Er bewies Manieren, indem er sie erst ansprach, als sie ihre Auszahlung entgegen genommen und sorgfältig in der Innenseite ihrer dunkelblauen Lederjacke verstaut hatte. Dann jedoch war er sehr unvermittelt neben ihr und sie wurde sich bewusst, wie groß er eigentlich war - mindestens zwei Meter. Sie musste den Kopf ein Stück in den Nacken legen, um ihm ins Gesicht sehen zu können.
„Ms. Aster?“, fragte er. Seine Stimme war tief und ruhig, geprägt von der Gelassenheit eines Mannes, der nichts zu beweisen hatte.
Mathilda stellte fest, dass sie weder Furcht noch Unwohlsein verspürte. Dennoch gab sie ihre Deckung nicht ganz auf. Man konnte in ihrem Fach nie wissen. „Das kommt ganz darauf an, wer fragt.“
Er lächelte erneut. „Ein gemeinsamer Bekannter von uns.“
Als er einen kleinen, runden Gegenstand aus der Hosentasche holte und ihr zuwarf, fing sie ihn automatisch aus. Es war ein Pokerchip mit einem großen, goldenen B darauf - das Zeichen von Barthez, dem Casino, in dem sie Spielen gelernt hatte. Dem Casino, wo sie beinahe gestorben wäre. Auf dem Pokerchip klebte etwas, das Flecken von Farbe oder von Blut sein konnte. Sie würde niemals vergessen, wer ihr und den anderen aus Jean-Pauls manipulativen Fängen geholfen hatte.
Mathilda blickte auf. „Ich dachte, er sitzt.“
„Der Wolf hat seine Wege.“ Der Wikinger lächelte. „Und jetzt möchte er seinen Gefallen einfordern.“
„Was hat er vor?“
„Rache.“ Der Wikinger musterte sie nachdenklich, dann fügte er hinzu: „Was nicht bedeutet, dass für uns nichts dabei rausspringt. Aber ich glaube nicht, dass man dir die Sache mit Geld schmackhaft machen kann.“
Mathilda musste lächeln. „Ich kenne dich“, sagte sie dann, „du bist Kaschalót, der Wal, nicht wahr? Teil des Rudels.“
„Vielleicht.“
„Ich erinnere mich an dich.“ Sie erinnerte sich tatsächlich noch, je länger sie sein Gesicht betrachtete. Jemand hatte ihr damals herausgeholfen aus den rauchenden Ruinen von Barthez‘ einstigem Imperium, das er auf ihren Rücken aufgebaut hatte. Es war ihm recht geschehen. Gott, er hatte alles verdient, was er bekommen hatte. Und Yuriy, rechte Hand von Jean-Pauls Förderer, hätte ihnen nicht helfen müssen, als sie ihn darum gebeten hatte. Hätte ihnen sogar Schlimmeres antun können als zuvor. Es war ein Spiel gewesen, bei dem Mathilda hoch gepokert und alles gewonnen hatte. Sie wusste gleich, dass es keine andere Antwort als Ja gab, egal, worum Yuriy sie bitten wollte.
Also machte sie einen tiefen Atemzug und fragte: „Was braucht er?“
„Die beste Profispielerin im Apollon, gerüchteweise sogar im ganzen Land“, sagte Kaschalót und gestikulierte mit einem vagen Lächeln auf ihre ganze Form, „und wenn sie jemanden kennt, auch eine Kontaktperson im Zeus, der Interesse an einer nicht wirklich legalen, dafür spannenden und lukrativen Herausforderung hat.“
Sie dachte an Salima, die bis zum Hals in Schulden steckte, und nickte. „Ich kenne jemanden.“
„Ausgezeichnet.“ Der Wikinger holte eine Karte aus seiner Hosentasche, die auf den ersten Blick blank aussah, und reichte sie ihr. „Hier. Kommt vorbei, dann wird alles erklärt, was ihr wissen müsst. Und dann habt ihr immer noch die Chance, auszusteigen, wenn es euch zu heiß ist, versprochen.“
Mathilda schüttelte den Kopf. „Die Partie hat schon begonnen“, sagte sie, „ich gehe mit dem Einsatz mit.“
Der Nachtfuchs
„Und dieser Nachtfuchs“, fragte Yuriy zum wiederholten Mal, „ist wirklich der beste Dieb in der Stadt?“
„Im ganzen Land“, sagte Boris und nahm ihm die Zigarette ab, um selbst einen Zug zu machen. Sie standen auf dem Dach von Kais Penthouse, Hände in den Hosentaschen, und starrten hinaus in die Nacht. Yuriys Silhouette neben ihm war nur ein Schatten von vielen, aber er hätte ihn überall erkannt.
Nun schüttelte der Rotschopf den Kopf. „Sagt mir wirklich überhaupt nichts. Der kann ja erst groß geworden sein, als ich im Knast war. Kann so ein Greenhorn wirklich so einen guten Ruf haben?“
Boris nahm einen tiefen Zug und reichte die Zigarette dann zurück an Yuriy. „Warum gehst du sexistisches Arschloch eigentlich automatisch davon aus, dass es nur ein Kerl sein kann?“
Yuriy blinzelte, drehte den Kopf einen Moment lang in seine Richtung und nahm schließlich die Zigarette an, führte sie aber noch nicht an die Lippen. „Ist es nicht?“
„Würde ich es sonst extra sagen?“
„Um ehrlich zu sein würde ich es dir zutrauen.“
Boris schubste ihn nicht, obwohl er wollte. Es war, weil er mittlerweile schon Zeuge davon geworden war, dass Yuriy echte Schwierigkeiten hatte, sich flüssig zu bewegen, wenn er nicht auf Schmerzmitteln war, und weil er wusste, dass Yuriy sich fürchterlich aufregen würde, wenn er das Gefühl bekam, dass Boris ihn bemitleidete. Boris bemitleidete ihn nicht. Aber Yuriy hatte den Unterschied zwischen Mitleid und Rücksicht nie so richtig verstanden.
„Kann ich dich bei Gelegenheit gegen das Geländer da ficken?“, fragte er stattdessen.
Yuriy musterte besagtes Geländer und zog nun doch an der Zigarette. „Damit du dabei die Skyline betrachten kannst? Selbstverliebtes Arschloch. Das Scheißgeländer ist sicher total unangenehm, wenn dann ficke ich dich dagegen.“ Er blickte auf die Uhr und seufzte schwer. „Besonders pünktlich ist der Nachtfuchs ja nicht. Da hätt ich inzwischen schon dreimal Hiwatari auf die dunkle Seite der Macht ziehen können.“
„Ein weiser Mann hat einmal gesagt, die coolen Leute kommen immer ein bisschen zu spät auf Partys.“
Boris beobachtete genau Yuriys Reaktion, als sein Gehirn registrierte, dass er die weibliche Stimme erkannte, die hinter ihnen erklungen war. Langsam drehte er sich um, während Boris sich entspannt mit dem Rücken gegen das Geländer lehnte und dem Neuzugang zuwinkte.
Der Nachtfuchs trug eine stilisierte Maske in Form eines Silberfuchses, die die obere Hälfte des Gesichtes bedeckte und nur dunkle Augen freiließ. Darunter: Schwarz geschminkte Lippen, die sich zu einem Lächeln verzogen. Der Nachtfuchs war in der Tat eine Frau, die ohne Eile vollkommen lautlos auf sie zukam: Schwarze Schnürstiefel, schwarze Jeans, ein schwarzes Gilet über dem regenbogengestreiften Hemd, darüber eine Lederjacke mit Regenbogenapplikationen. Als sie ins Licht der Penthouse-Außenbeleuchtung trat, glänzte ihr fedrig geschnittenes, schulterlanges Haar im gleichen Rotton wie Yuriys.
„Hallo, Brüderchen“, sagte Sinaida und grinste, als sie die Maske in einer sicherlich tausendmal einstudierten, fließenden Bewegung herunterzog, „ich habe gehört, ihr braucht einen Meisterdieb für euren Job.“
„Sina?“, sagte Yuriy nach einer langen Pause ungläubig, „was - wieso zum Fick bist du schon so groß? Du warst zwölf, als ich verhaftet wurde!“
„Die Zeit ist halt nicht stehengeblieben.“
„Du hast mit Barbies gespielt!“, sagte Yuriy anklagend. „Ich hab‘ dir die neuesten Modelle von Mattel geklaut!“
„Tja, und jetzt klaue ich die neuesten Modelle von Cartier.“ Sie grinste weiterhin.
Yuriy hingegen wirkte wie überfahren. Er starrte seine Schwester an, dann zu Boris, der nur die Schultern hob und ihm die Zigarette aus den Fingern wand, von der sowieso nicht mehr viel übrig war. Seufzend drückte er sie am Geländer aus und warf sie darüber.
Die Geschwister rührten sich nicht von der Stelle. Auf beiden Gesichtern stand eine seltsame Befangenheit, die Boris nicht unbedingt vorausgesehen hatte. Yuriy wirkte, als ob er etwas sagen wollte und doch sprachlos bleiben musste. Mehrmals fuhr er sich über das Gesicht, setzte zum Sprechen an, gab dann auf.
„Gott, Sina“, sagte er schließlich rau und machte einen Schritt vorwärts, „ich hab‘ so viel an dich gedacht.“
Sein Schritt war alles, was Sinaida zu benötigen schien, um die Distanz zwischen zu ihnen zu überwinden. Sie flog an seine Brust, nur um erschrocken zurück zu treten, als er ein schmerzhaftes Zischen von sich gab. „Lass mich sehen.“
„Sicher nicht“, sagte Yuriy. Aber er hatte ihre Schultern umfasst und studierte ihr Gesicht, als ob er sich nicht daran sattsehen konnte. „Ich kann nicht glauben, wie groß du geworden bist. Zehn Jahre … ich habe so viel verpasst.“
„Ich werde ihn bluten lassen“, schwor Sina. In ihren dunklen Augen brannte das gleiche Feuer, das in Yuriys stand, wenn er über Garland Siebald sprach. „Aber vorher ruinieren wir ihn. Ich klaue dir alles, was du willst.“
„Das ist meine kleine Schwester“, sagte Yuriy stolz und zog sie an sich, um einen Kuss auf ihren Scheitel zu drücken. „Es wird ziemlich schwierig. Du wirst einem Kerl den Ring vom Leib klauen müssen. Traust du dir das zu?“
Sina lächelte und drückte ihm seine eigene Armbanduhr in die Hand. Er hatte nicht einmal bemerkt, dass sie von seinem Handgelenk verschwunden war. „Ich glaube, das wird sich machen lassen.“