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Im Himmel ist der Teufel los

Apokalypse Reloaded
von

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Ein Königreich für eine Leiche

Das Training hatte wesentlich länger gedauert als erwartet, aber es war genau das Richtige gewesen, um mal so richtig Dampf abzulassen. Gefechtssimulationen waren für Michael immer die die beste Möglichkeit, um auf andere Gedanken zu kommen und die Laune wieder zu steigern. Man brauchte nicht großartig über Moral, Prinzipien und komplexe Politik nachzudenken, sondern konnte sich auf die einfachsten Instinkte verlassen. So etwas lag ihm weitaus mehr als sich den Kopf darüber zu zerbrechen, was denn jetzt die richtige Entscheidung war und ob bestimmte Entscheidungen moralisch vertretbar waren. Alles, was zu viel Nachdenken erforderte, war ihm ohnehin zuwider. Es brachte nur Probleme mit sich und meistens konnte man dann gar nichts richtig machen. Auf dem Schlachtfeld war es wesentlich einfacher. Man brauchte nur den Gegner zu bezwingen und seine Kameraden unterstützen, so simpel war die Sache. Das war wesentlich einfacher als über Seelen zu richten oder mit gewissen Kollegen über Prinzipien oder über richtig und falsch zu diskutieren. Warum nur konnte der Rest nicht auch so simpel wie ein Schlachtfeld sein, wo es nur Freund und Feind gab und nichts anderes wichtig war?

Naja, es brachte auch nichts, sich darüber zu ärgern, dass die Welt unnötig kompliziert geworden war und er damit nicht klar kam. Er hatte jetzt ganz andere Dinge, um die er sich kümmern musste. Immerhin wollte er Raphael noch einen Besuch abzustatten und sich seinen Ring zurückzuholen. Auch wenn dieser Halsabschneider versprochen hatte, ihm den Ring wieder zurückzugeben, fühlte er sich nicht so ganz wohl bei dem Gedanken, ihn zu lange bei diesem Gauner zu lassen. Wer wusste schon, wofür der diesen Freifahrtschein für sämtliche Wunder benutzen würde. Schlimmstenfalls würde es nur wieder gewaltigen Ärger geben und er musste dann den Kopf dafür hinhalten, nur weil ihm der Ring gehörte und er sich diesen hatte abnehmen lassen. Es wäre nicht das erste Mal, dass er gewaltig Ärger bekam, nur weil er sich zu einer leichtsinnigen Entscheidung hatte hinreißen lassen. Eines stand jedenfalls fest: er hatte diese Erniedrigung nicht vergessen und würde es diesem Quacksalber ordentlich heimzahlen. Raphael mochte zwar der beste Heiler des gesamten Himmelreiches sein, aber gegen einen ausgebildeten Kriegsengel hatte er nicht die leiseste Chance. Und eine Tracht Prügel brachte ihm vielleicht etwas mehr Respekt bei. Mal sehen wie es ihm gefiel, Schmerzen erleiden zu müssen, nur um dann noch mal zusätzlich erniedrigt zu werden.

Mit einem schadenfrohen Grinsen machte sich Michael auf den Weg zur Westseite des ersten Himmels wo Raphael sein Quartier und seine Praxis hatte.

Doch seine Rachegedanken wurden schleichend von etwas anderem verdrängt und die Flammen seines Zorns verloren zusehends an Kraft. Sie schrumpften immer weiter in sich zusammen und verblieben in einer kleinen schwelenden Glut als das Bild von Gabriels Tränen immer deutlicher in sein Gedächtnis zurückkehrte. Während der Kriegssimulation hatte er es geschafft, dieses Bild erfolgreich aus seinem Kopf zu verbannen, doch nun kehrte es wieder zurück und ließ ihn nicht mehr los. Abrupt hielt Michael inne und fühlte sich mit einem Mal unruhig und sein Magen verkrampfte sich. Es war lange her seit er Gabriel das letzte Mal so aufgelöst gesehen hatte und er hatte sich eigentlich geschworen, dass ihn das in Zukunft kalt lassen würde. Immerhin hatte er am eigenen Leib zu spüren bekommen, dass Gefühle bei der Arbeit nur Probleme machten. Seit der Mission in Sodom und Gomorrha hatte er sich vorgenommen, sich immer blind an die Vorschriften zu halten und sich nie wieder von so etwas wie Gefühlen und persönlicher Überzeugung ablenken zu lassen. Immerhin war das der Grund warum sie alle überhaupt erst erschaffen worden waren: um als Werkzeuge Gottes zu dienen. Es war ihnen nicht vorbestimmt, einen eigenen Willen zu haben und eigene Wünsche oder Gedanken zu äußern. Freier Wille war alleine den Menschen vorbehalten. Das hatte Gott ihm damals mehr als deutlich zu verstehen gegeben.

Trotzdem hatte ihn Gabriels Gefühlsausbruch in Eden derart aus der Fassung gebracht. Es war wieder genau wie damals und er musste mit Schrecken erkennen, dass er sich selbst nach all der langen Zeit als Kriegsengel und willenlos gehorsamer Diener immer noch nicht gänzlich von seinen persönlichen Gefühlen losgesagt hatte. Dabei machte es doch überhaupt keinen Sinn. Er und Gabriel waren so hoffnungslos zerstritten, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis einer von ihnen ernsthaft zu Schaden kam. Und wie oft war er gefrustet von dessen Zickereien und Beleidigungen gewesen und hätte ihm am liebsten den Hals umgedreht? Warum also brachte ihn der Anblick von Gabriels Tränen wieder so dermaßen aus der Fassung, obwohl sie sich doch beide inzwischen hassten?

Michael spürte, wie sein Herz zu rasen begann und seine Hände zitterten. Er musste wieder an damals denken, als sie beide mit der totalen Vernichtung der beiden Städte beauftragt worden waren. Es war nicht das erste Mal, dass Gott seine Engel losgeschickt hatte um tausende von Menschen auf grausame Art und Weise zu vernichten. Damals war der Allmächtige ein wahrhaft zorniger und geltungssüchtiger Gott, vor dem sogar seine eigenen Engel Angst bekamen. Er war unerbittlich, grausam und jähzornig gewesen, was vor allem daran liegen mochte, dass Gott zu der Zeit sehr auf Samael vertraut hatte. Und man hatte an der Sintflut, den zwei Sündenstädten und so ziemlich jedem aufgezeichneten biblischen Massaker gesehen, wohin das geführt hatte. Samael war schon damals ein ziemlich schlechter Einfluss und sie alle konnten von Glück reden, dass sich dieser Stockvorfall zugetragen und Samael sein wahres Gesicht gezeigt hatte. Trotzdem war Gott aufgrund von Samaels starkem Einfluss alles andere als umgänglich gewesen. Lange genug hatten sie in ähnlich trostlosen und beklemmenden Zuständen gelebt wie in einer Diktatur. Kein Engel hätte es gewagt, Ungehorsam zu leisten oder eigenmächtig zu handeln. Und doch hatte sich Michael zu dieser verrückten Aktion mit Lot hinreißen lassen und beinahe eine Verbannung in die Hölle riskiert. Alles nur weil er sich von Gabriels Tränen hatte weichkochen lassen.

Er verstand nicht, warum ihm das immer wieder passieren musste und es ärgerte ihn. Es zeigte ihm bloß, dass er immer noch schwach und beeinflussbar war und dass ihm etwas zu seiner blinden Loyalität gegenüber Gott im Weg stand. Er musste wirklich daran arbeiten, dass ihm das nicht noch einmal passierte. Einen weiteren Sodom-Vorfall konnte er sich definitiv nicht erlauben! Er war der erste Erzengel und als solcher trug er entsprechend Verantwortung. Gabriel mit seinem emotionalen Gehabe hatte doch überhaupt keine Ahnung was es hieß, Anführer der Erzengel zu sein.
 

Nachdem er einmal tief Luft geholt und sich wieder gesammelt hatte, ging Michael weiter und versuchte sich wieder auf sein eigentliches Ziel zu konzentrieren. Er würde seinen Ring zurückholen, sich für die Demütigung an Raphael rächen und bei passender Gelegenheit auch noch mal ein wenig auf Uriel herumzuhacken. Gabriel wollte er lieber fürs Erste in Ruhe lassen. Der war mit Sicherheit beschäftigt mit seinen kleinen Menschenschützlingen in Eden. Da hatte er keine große Lust, sich großartig einzumischen. Und nach dem mehr als peinlichen Vorfall im Paradies wollte er lieber nicht so schnell wieder mit ihm aufeinandertreffen.

Als er Raphaels Quartier erreichte, klopfte er drei Mal an und rief laut „Raphael! Ich bin’s: Michael. Mach auf, ich will meinen Ring zurück!“ Doch es kam keine Antwort. Stattdessen öffnete sich die Tür ganz langsam und der erste Erzengel stellte verwundert fest, dass sie gar nicht abgeschlossen war. Merkwürdig… normalerweise war Raphael doch nicht so schlampig und ließ einfach so die Tür offen. Naja, vielleicht war er auch in Eile gewesen und hatte gar nicht gemerkt, dass sie nicht ganz geschlossen war. Nichts ahnend beschloss Michael, einfach die Gelegenheit zu nutzen und öffnete sie nun ganz um zu schauen, ob der dritte Erzengel überhaupt da war. „Raphael?“ rief Michael und trat ein, als immer noch keine Antwort kam. Als er dann über die Schwelle getreten war und seine Augen das ganze Szenario erfassten, entfuhr ihm ein leises „Was zum…“, doch der Rest des Satzes blieb ihm im Hals stecken. Ihm bot sich ein grausiger Anblick der Verwüstung. Möbel waren zerstört, Flaschen zerbrochen und Bücher zerfetzt. Es sah aus, als hätte ein heftiger Kampf gewütet, der ein schreckliches Ende genommen hatte.

Sein Herz setzte einen Schlag aus und seine Augen weiteten sich vor Entsetzen, als er eine große Blutlache neben einem der Regale entdeckte und daneben ein blutverschmiertes Schwert im Boden stecken sah. Es war sein Schwert Drachenschlächter, von dem er dachte, dass es sich in den Reinigungskammern befand. Michael war wie erstarrt und sein Verstand versuchte verzweifelt die Situation zu verarbeiten. Er verstand nicht, was das Ganze zu bedeuten hatte und das erstbeste was ihm einfiel war, sicherzustellen, dass das auch wirklich sein Schwert war und nicht bloß ein Irrtum. Also ging er hin und nahm das Schwert an sich. Er wischte hastig das Blut von der Klinge und prüfte es genauer. Es war zweifelsohne der Drachenschlächter. Aber warum war es hier und wer hatte es gestohlen? Vor allem aber stellte sich ihm die Frage, von wem das Blut auf dem Boden stammte und wo überhaupt Raphael war. Wenn Raphael angegriffen worden war, hätte er doch Alarm schlagen müssen. Warum hatte niemand etwas mitgekriegt?

Immer noch völlig unter Schock stehend bemerkte Michael gar nicht die Stimmen, die immer näher herankamen. Tausende Fragen und Gedanken schossen ihm durch den Kopf und lähmten seinen Verstand, sodass er erst viel zu spät merkte, dass ausgerechnet Sandalphon und Uriel hereingekommen waren. Mit dem Schwert in der Hand und der nun blutbefleckten Kleidung drehte er sich mit kreidebleichem Gesicht zu ihnen um und dieses mehr als unglückliche Timing sorgte nicht unbedingt dafür, dass diese Situation zu seinen Gunsten gewertet wurde.

Uriels Blick wanderte zu der Blutlache, seine Augen weiteten sich entsetzt und er wich vor Schreck zurück als hätte er den Leibhaftigen erblickt. Die nackte Angst stand ihm ins Gesicht geschrieben, wenn auch aus ganz anderen Gründen als Michael vermutet hätte. Sandalphon, der weitaus geistesgegenwärtiger reagieren konnte, beschwor nun seine eigene Waffe und richtete sie mit einem bitterernsten Blick auf den Kriegsengel. Auch wenn er als exzentrischer Paradiesvogel zu den merkwürdigen Gestalten zählte, war er nach wie vor der Herrscher über den vierten Himmel und Cherub. Und als solcher zögerte er nie, wenn es darum ging, Feinde und Verräter zu stellen. „Erklär mir sofort was das hier zu bedeuten hat, Michael. Was hast du mit Raphael gemacht?“

Es brauchte einen Augenblick, bis Michael geschaltet hatte, dass er hier plötzlich im Verdacht stand. Dabei war das doch bloß ein dummes Missverständnis. „Ich habe nichts getan. Das… das war hier schon so als ich reingekommen bin!“

„Eine dümmere Ausrede konntest du dir wohl nicht einfallen lassen, was?“ fragte der Cherub und sein Blick verfinsterte sich. Ohne die Augen von Michael abzuwenden, wies er Uriel an: „Verständige meinen Bruder und die Wachen. Ich werde ihn solange festhalten.“

Doch Uriel war zu durcheinander, um die Anweisungen beim ersten Mal zu verstehen und so wiederholte Sandalphon sie noch einmal mit etwas mehr Nachdruck. Hastig eilte der Sternenregent nach draußen um Alarm zu schlagen. Sandalphon hingegen blieb zurück und hielt seinen Speer weiterhin auf Michael gerichtet. „Lass sofort das Schwert fallen und lass die Hände da, wo ich sie sehen kann. Wenn du dich widersetzt, werte ich das als Schuldgeständnis.“

Fassungslos starrte der erste Erzengel den knallbunt gekleideten Paradiesvogel an und ließ seinen geliebten Drachenschlächter fallen. „Sandy… ich war das nicht“, versicherte er. „Glaub mir! Mein Schwert ist verschwunden und als ich herkam, habe ich das alles hier so vorgefunden. Ich habe es nicht getan, verdammt! Ich bin doch kein Verräter.“

„Das wird sich noch früh genug herausstellen“, meinte Sandalphon unbeeindruckt. „Du wärst nicht der erste Engel, der seine Unschuld beteuert und dabei das Blut seiner eigenen Leute an den Händen hat.“

„Aber ich habe es nicht getan!“ beteuerte Michael und bekam langsam Panik. Er wusste, dass die Sache für ihn nicht gut aussah und ein falscher Schritt schon ausreichte, um ihn in Teufelsküche zu bringen. „Warum sollte ich ausgerechnet Raphael umbringen? Ich habe doch gar keinen Grund dafür!“

Doch Sandalphon ließ sich nicht umstimmen und blieb weiterhin unerbittlich. Es machte keinen Sinn, weiterhin auf ihn einzureden. Alles was er jetzt noch tun konnte war, darauf zu hoffen, dass irgendjemand seine Unschuld bezeugen konnte und er selbst nicht noch mehr Gründe lieferte, um des Mordes verdächtigt zu werden.
 

Es dauerte nicht lange, da kamen die Kriegsengel und Cherubim herbei, gefolgt von Metatron und Gabriel. Uriel selbst war nicht zurückgekehrt, aber daran störte sich niemand. Entsetzt sahen die beiden Nachzügler das Chaos im Raum und das viele Blut auf dem Boden. Während die Cherubim Michael in Ketten legten um sicherzustellen, dass er nicht noch jemanden attackierte, trat der himmlische König näher und seine leuchtend blauen Augen waren von Verwirrung und Hilflosigkeit gezeichnet. Er konnte und wollte gar nicht glauben, was hier vorgefallen war und wusste nicht, wie er das Ganze einzuordnen hatte. „Ich will sofort eine Erklärung, was das hier alles zu bedeuten hat. Was ist zwischen dir und Raphael vorgefallen?“

Es war selten, dass man den König der Engel so aufgebracht erlebte. Der sonst so pazifistische und zurückhaltende Metatron, der nur selten während der Meetings mal die Stimme erhob, war vollkommen außer sich. Wer konnte es ihm auch verübeln? Das hier war eine weitaus ernstere Angelegenheit als bloß eine harmlose Zankerei während der Meetings. In diesem Moment schrumpfte Michael merklich in sich zusammen und kam sich vor wie ein in die Ecke gedrängtes Tier. Ihm wurde angst und bange bei dem Gedanken, dass ihm niemand Glauben schenken würde und man tatsächlich dachte, er wäre dumm genug um seinen eigenen Kollegen zu erschlagen. Er mochte vielleicht viele gewalttätige Auseinandersetzungen mit Gabriel gehabt haben, aber deswegen würde er doch niemanden ermorden wollen. Schon gar nicht seine eigenen Kollegen! „Nichts ist passiert, ich schwöre es bei Gottes Namen!“ beteuerte er mit nun zitternder Stimme. „Heute Morgen hatte ich bemerkt, dass mein Schwert weg war. Nach dem Meeting war ich die ganze Zeit bei einer Einsatzübung im Hauptquartier gewesen. Als ich fertig war, bin ich zurückgekehrt und habe festgestellt, dass die Tür offen stand. Und als ich nachsah, habe ich das alles hier so vorgefunden. Jemand hat mein Schwert gestohlen und es benutzt um Raphael zu töten!“

„Wenn du wusstest, dass dein Schwert gestohlen wurde, warum hast du es nicht direkt gemeldet?“ hakte Metatron nach und verschränkte die Arme. „Du kennst die Vorschriften besser als jeder andere. So ein nachlässiges Verhalten sieht dir gar nicht ähnlich.“

„Ich dachte, ich hätte es in der Reinigungskammer gelassen und es einfach vergessen“, gab der erste Erzengel zu und versuchte standhaft zu bleiben. Wenn er jetzt einknickte und Schuldgefühle zeigte, dann würde es danach aussehen, als wäre er ertappt worden. Und er konnte sich nicht noch weiter in Schwierigkeiten bringen. Er wusste, dass die Lage alles andere als rosig aussah und alles was er tun konnte war, darauf zu hoffen, dass man seinen Worten glaubte und ihm zumindest eine Chance gab. „Ich weiß, dass das nachlässig war, aber ich stand wegen der Krise so unter Stress, dass ich nicht daran gedacht habe. Außerdem… was sollte ich denn für einen Grund haben, ausgerechnet Raphael umzubringen?“

„Hast du nicht gesagt, er hätte dich abgezockt und du wolltest dich dafür rächen?“ warf Gabriel ein und Michael spürte, wie ihm das Blut aus dem Kopf wich. Entsetzt schaute er seinen Kollegen an und konnte nicht glauben, dass das hier gerade wirklich passierte. Ihm entgleisten die Gesichtszüge, als ihm klar wurde, dass er nun niemanden mehr auf seiner Seite hatte und offenbar jeder im Raum glaubte, er wäre allen Ernstes ein Mörder. Er hätte mit allem gerechnet, aber nicht damit, dass ihm Gabriel derart in den Rücken fallen würde. Ganz egal wie oft sie sich stritten und prügelten, es hatte dennoch immer eine Verbindung zwischen ihnen geherrscht. Und nun erlebte er gerade, wie dieser ihn ohne zu zögern einfach verriet und im Stich ließ. Ausgerechnet jener Engel, dem er selbst bei allen Streitigkeiten sein Leben anvertrauen würde. „Gabriel… das… kannst du doch nicht…“

Alle Augenpaare waren nun auf ihn gerichtet. Er spürte die misstrauischen und verurteilenden Blicke derjenigen, mit denen er tagtäglich seit Anbeginn der Zeit zusammengearbeitet hatte. Sie kannten ihn gut genug und trotzdem hatten sie ihn bereits nach wenigen Augenblicken als Verräter abgestempelt. Die kleine Hoffnung, die er sich bis dahin noch bewahrt hatte, zerplatzte nun wie eine Seifenblase.

Am meisten aber schmerzte ihn der Blick, mit dem Gabriel ihn strafte. Ein Ausdruck von Abneigung, Enttäuschung und Wut lag darin. Vor allem aber traf ihn die Frage, die in den Augen seines Kollegen lag und die dieser nicht auszusprechen wagte: „Wolltest du mir etwa dasselbe antun?“

Michael spürte wie seine Knie weich wurden und sich ein dicker Kloß in seinem Hals festsetzte. Noch nie in seinem Leben hatte er sich so verlassen und verraten gefühlt wie in diesem Augenblick. Keiner wollte ihm glauben. Keiner wollte ihm überhaupt zuhören. „Ich bin kein Mörder!“ beteuerte er und seine Stimme begann zu zittern. „Bitte, ihr müsst mir glauben. Ich habe mir nie etwas zuschulden kommen lassen und mich immer treu an die Gesetze gehalten. Jemand will mir etwas anhängen, verdammt.“

„Satan und Luzifer waren auch einst treue Diener, bevor sie zu Verrätern wurden“, entgegnete Sandalphon kühl und wandte sich an seinen Bruder um sein Urteil zu hören. Doch Metatron zögerte noch damit, Michael endgültig als Verräter zu verurteilen und zu bestrafen. Auch wenn diese Situation hier ziemlich eindeutig zu sein schien, wollte er keine voreiligen Entscheidungen treffen, die er später bereuen könnte. Er dachte einen Moment nach, wie er am besten verfahren konnte und wandte sich dann an die Cherubim und Kriegsengel. „Bringt Michael nach Mathey. Dort soll er bleiben, bis ich eine endgültige Entscheidung getroffen habe. Schickt einen Sondertrupp los, der nach Raphael suchen soll. Vielleicht erfahren wir etwas, wenn wir ihn gefunden haben.“

„Ich glaube kaum, dass er noch lebt“, mischte sich Sandalphon kopfschüttelnd ein. „Wenn er mit einer heiligen Waffe verletzt wurde und so viel Blut verloren hat, ist es selbst für einen begnadeten Heiler wie ihn unmöglich, dass er das überlebt hat.“

Doch Metatron wollte sich nicht davon abbringen lassen. Auch wenn Michael sich ständig mit seinen Kollegen am Streiten war und diese Auseinandersetzungen nicht selten unblutig endeten, bezweifelte er, dass dieser so dumm war, einen von ihnen zu erschlagen. Er wollte keine überstürzten Entscheidungen treffen, ohne zumindest versucht zu haben, den ganzen Sachverhalt aufzuklären. Insgeheim hoffte er, dass Raphael bald wieder auftauchen und alles erklären konnte. Außerdem gab es aktuell weitaus dringendere Dinge, um die er sich kümmern musste. Die Beendigung der Höllenkrise hatte oberste Priorität und bis dahin musste Michaels vermeintlicher Verrat warten. Mit einem ernsten Blick wandte er sich an seinen Bruder und erklärte „Ganz gleich ob wir Raphael tot oder lebendig finden, ich will den Fall lückenlos aufgeklärt und alle Zweifel beseitigt haben. Bis Malachiel aus der Hölle zurückgekehrt ist und wir die Krise abgewendet haben, bleibt Michael in Untersuchungshaft.“

„Na gut, ich hoffe du weißt was du tust“, meinte der knallbunte Crossdresser und klopfte Metatron auf die Schulter. Er selbst war da weitaus misstrauischer und machte da auch kein Geheimnis daraus. „Aber vergiss nicht, dass selbst Luzifer einst Gottes Liebling war und es ihn auch nicht davon abgehalten hat, uns alle zu verraten. Jeder von uns kann irgendwann zum gefallenen Engel werden.“
 

Während Michael unter lauten Protestschreien und Unschuldsbeteuerungen abgeführt wurde, war Uriel hastig in den siebten Himmel Araboth geeilt. Er war in heller Panik und stand kurz vor dem totalen Nervenzusammenbruch. Wer konnte es ihm auch verübeln? Immerhin war er nicht nur derjenige gewesen, der Raphael erschlagen und Michael den Mord in die Schuhe geschoben hatte. Jetzt war auch noch die Leiche spurlos verschwunden und ihn überkam die nackte Todesangst dabei. Er hatte oft genug auf dem Schlachtfeld gekämpft um zu wissen, dass sich tote Engel und Dämonen nicht so einfach in Luft auflösten. Es hätte eindeutig eine Leiche in einer riesigen Blutlache mit einem Schwert im Rücken da liegen sollen. Doch da war nichts und er hatte es auch nicht für möglich gehalten, dass so etwas passieren würde. Wie denn auch, wenn er ernsthaft davon ausgegangen war, dass der Kerl mausetot war? Er bezweifelte zwar arg, dass Raphael einen derart tödlichen Angriff überlebt hatte, aber es war doch mehr als besorgniserregend, dass er verschwunden war. Leichen hauten ja nicht einfach so alleine vom Tatort ab. Das funktionierte vielleicht bei Zombies und Uriel hatte bis dato noch nie was von Zombie-Engeln gehört.

Es gab in dieser Situation nur eine Person, die ihm helfen konnte und das war Samael. Der würde ihm schon helfen. Immerhin war dieser der zweitmächtigste Engel im Himmel und intelligent genug um Komplotte zu schmieden. Da sollte es doch keine allzu große Schwierigkeit sein, ihm zu helfen, eine verschwundene Leiche zu finden. Nach einer gefühlten Ewigkeit erreichte Uriel endlich den höchsten Himmel und war ziemlich aus der Puste. Noch nie hatte er einen derart schnellen Aufstieg hingelegt und kaum dass er landete, wurde ihm so schwindelig, dass er erst einen Moment brauchte, um sich wieder zu sammeln. Dann setzte er seinen Weg fort und erreichte schließlich Samaels Gemächer. Laut klopfte er an und hörte auf der anderen Seite schweres Keuchen und Stöhnen. Ein vernünftiger und rational denkender Engel, der genug von solchen Dingen verstand, hätte schnell daraus geschlossen, dass Lasterhaftes im Gange war. Oder aber es hätte einfach nur die Vorstellung eines jemanden gebraucht, der gleich immer davon ausging, dass verdächtiges Stöhnen und Keuchen auf sexuelle Aktivitäten zurückgingen. Uriel, der weder unanständige Gedanken zu hegen vermochte, geschweige denn irgendetwas Böses oder Unzüchtiges unterstellen wollte, ging von etwas ganz anderem aus. In seinem naiven und jungfräulichen Denken war er der festen Überzeugung, dass Samael sich vielleicht den Zeh gestoßen hatte und dass diese seltsamen Geräusche daher rührten. Das musste auch der Grund sein, warum er nicht sofort die Tür aufmachte.

„Samael, bitte mach die Tür auf. Es ist wirklich dringend!“ rief er und klopfte noch mal an. Das Keuchen auf der anderen Seite der Tür verstummte und eine deutlich genervte Stimme antwortete „Jetzt nicht, Uriel. Ich bin gerade schwer beschäftigt!“

Doch so leicht wollte sich der Sternenregent nicht abwimmeln lassen. Immerhin ging es hier um einen ernsten Notfall. „Aber es ist dringend! Ein ernster Notfall und ich brauche deine Hilfe! Es geht um Raphael.“

„Moment…“

Es dauerte eine Weile und dann schließlich wurde die Tür geöffnet. Samael stand in einem schlichten Gewand, das er eben schnell angelegt hatte, vor ihm und war sichtlich verstimmt. Er war etwas verschwitzt und sein Haar war ziemlich zerzaust, doch Uriel dachte sich nichts dabei. „Na schön Uriel“, begann Samael und verschränkte die Arme. „Dann sag schon. Was ist passiert?“

Hastig schaute sich der vierte Erzengel um, erinnerte sich daran wie er bereits einmal bei verdächtigen Aktivitäten beobachtet worden war und schob sich an Samael vorbei in dessen Gemach und schloss die Tür hinter sich. Er konnte es nicht riskieren, dass noch jemand Wind von seinem doppelten Spiel bekam. Wenn in kürzester Zeit noch jemand ermordet wurde, dann würde es nicht lange dauern, bis er vielleicht unter Verdacht geriet. „Ich war vorhin mit Sandy am Tatort, so wie du mir gesagt hast. Michael war auch da und alle verdächtigen jetzt ihn.“

„Ist doch gut“, meinte Samael etwas ungeduldig. „Und wo genau liegt da jetzt das Problem?“

„Die Leiche ist weg!“ rief Uriel panisch und begann wild mit den Armen zu fuchteln, um seiner Nervosität und Angst Ausdruck zu verleihen. Doch diese wilde Gestik kam beim Todesengel nicht wirklich an. „Blutlache und Schwert waren da, aber Raphael ist verschwunden. Bitte, du musst mir helfen ihn zu finden bevor die anderen es tun!“

Doch Samael ließ sich von der Panik seines Stalkers nicht anstecken, sondern bewahrte die Contenance. Stattdessen verdüsterte sich seine Miene ein wenig und er wirkte mehr als ungehalten. „Ich habe dir nicht aufgetragen, Raphael zu erschlagen. Das hast du dir ganz alleine eingebrockt. Und wie soll ich dir helfen, eine verschwundene Leiche zu finden? Falls du es vergessen hast: ich bin immer noch blind!“

„Ja aber…“

„Nichts aber“, unterbrach der blinde Seraph ihn gereizt und erhob mahnend den Zeigefinger. „Du hattest eine einfache Aufgabe und selbst das hast du verbockt. Wenn du nicht willst, dass du auffliegst und man dich für deinen Hochverrat in die Hölle verbannt, solltest du besser dafür sorgen, dass Raphael auch wirklich mausetot bleibt. Ansonsten wird er nämlich erzählen, wie du ihn töten wolltest und dann kann nicht einmal ich dir noch helfen. Und lass dich gefälligst nicht noch einmal erwischen. Du hast schon genug Durcheinander angerichtet!“

Uriel schrumpfte merklich zusammen und wagte es nicht, Widerworte zu geben. Es machte ihn tief betroffen, dass die ganze Sache so aus dem Ruder gelaufen war und er sich Samaels Zorn auf sich gezogen hatte. Jetzt musste er das schleunigst wieder in Ordnung bringen, bevor es zu spät war. Vielleicht würde ihm sein Angebeteter dann auch verzeihen. Also verabschiedete er sich kleinlaut und verschwand wieder, um nach der verschwundenen Leiche zu suchen. Samael seinerseits hatte ganz andere sehr private Dinge, um die er sich kümmern wollte.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Oh Mann, die letzten Wochen waren wirklich heftig gewesen und ich bin nicht ein einziges Mal zum Schreiben gekommen. Zum Glück ist wieder ein kleines bisschen Normalität zurückgekehrt und einen "Good Omens" Marathon hat auch die Motivation wiederbelebt. Komplett anzeigen

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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Charly89
2020-12-05T09:30:26+00:00 05.12.2020 10:30
Sandalphon ^-^/
Ich hab mich gefreut mal wieder vom ihm zu lesen.
Das Bild wie Sandalphon und Michael sich gegenüber stehen hat mich zum Grinsen gebracht, obwohl die Szene eigentlich nicht unbedingt lustig war.

Die Leiche ist weg o.ò
Wie unerwartet. Jetzt bin ich echt ratlos. Ich kann mir nicht vorstellen das Raphael das überlebt hat, andererseits ...
Nun gut, ich lasse mich überraschen :)
Antwort von:  Sky-
06.12.2020 20:16
Ja ich hab den guten Sandy auch ins Herz geschlossen. Und umso schräger ist es, dass er in der Hierarchie über jemanden wie Michael steht. Ist irgendwie schon eine merkwürdige Ironie XD

Tja, das ist ein Rätsel, das es nun zu lösen gilt. Und hoffentlich klärt sich der Fall auf bevor die Dinge weiter eskalieren. Samaels unnötig komplizierter Plan hat ja nicht unbedingt so funktioniert wie er es sich vorgestellt hat. Wer weiß, was er sich als nächstes einfallen lässt um das Ruder rumzureißen bzw. welchen Mist Uriel als nächstes verzapft, weil er kalte Füße kriegt. Da wird noch so einiges auf alle Beteiligten zukommen


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