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Des Nachts sind die Labore still

Wie Josh zu Mael fand
von

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Heimatwochenende

Kapitel 3: Heimatwochenende
 

Etwas abgehetzt betrat ich das Labor. Ich hatte vorher schon versucht meinen Atem zu beruhigen und nicht wie ein abgekämpftes Huhn zu keuchen. Beim Anblick von zwei grauen Augen blieb mir der Atem jedoch gänzlich weg.
 

„Guten Abend“, begrüßte Joshua mich.
 

„Abend“, grüßte ich zurück und grinste. Dann hatten wir wohl alles mal durch. Er kam zu spät, wir kamen pünktlich und ich kam zu spät. Obwohl… es würde noch fehlen beide zu spät.
 

Noch in Gedanken stellte ich meine Sachen ab. Dass Joshua mich musterte, bemerkte ich erst danach. Fragend sah ich ihn an.
 

„Hast du verschlafen?“ HA! War er nicht herzallerliebst! Ich mochte Menschen, die auf subtile Art ihre Sorgen bekundeten.
 

„Nein. Ich hab zuhause noch an meiner Arbeit geschrieben.“ Zum Beweis holte ich meine Unterlagen hervor und einen Wust an pinken und gelben Notizzetteln. „Darüber hab ich die Zeit vergessen und bin zu spät los.“
 

Eine Augenbraue hob sich. Hach, ich neidete ihm das immer noch. „Warum machst du dir so einen Stress? Du hast doch Freitag und am Wochenende noch genügend Zeit zum Schreiben.“
 

Ich setzte mich hin und nahm meinen Kaffee to go in die rechte Hand. „Nicht wirklich. Ich muss am Wochenende zu meiner Familie fahren. Da habe ich wenig Ruhe dazu. Außerdem freue ich mich das Projekt abschließen zu können.“
 

„Wenn du Hilfe brauchst, frag ruhig.“
 

„Hast du heute nicht zu tun?“, fragte ich verwundert.
 

„Nicht sonderlich viel. Den Rest kann ich auch am Wochenende erledigen.“
 

„Hä? Wie arbeitest du denn?“
 

„Dienstag bis Donnerstag nachts und am Wochenende meist tagsüber.“ Interessante Einteilung. So konnte man es also auch machen.
 

„Ist hier am Wochenende viel los?“ Joshua schüttelte nur den Kopf. War irgendwie klar. Es war offensichtlich, dass er nicht gerne mit vielen Leuten zusammenarbeitete. Allerdings würde mich der Grund interessieren. Joshua wirkte nicht wie der verschlossene Typ. Ich wette, er könnte tagsüber das Regime anführen und trotzdem eine Abhandlung schreiben.
 

So interessiert ich auch war, musste ich diesen Gedanken beiseiteschieben. Ich tröstete mich damit, dass ich ja nun wusste wie er am liebsten arbeitete. Zudem wollte ich auch einige Nachtschichten bei mir mit einbauen. Vielleicht nicht gerade jede Woche. Aber von Zeit zu Zeit. Vielleicht könnte man sich wirklich noch anfreunden!
 

Die Arbeit begann zügig. Joshua schien wirklich nicht viel zu tun zu haben. Er schaute bei der Analyse der letzten Probe zu, schieb für mich die Ergebnisse auf und half mir bei einigen Formulierungen. Als die Eieruhr klingelte, machte sich Josh wieder an seinen eigenen Proben zu schaffen. Ich verlor für einen Moment meinen Gedankenfaden und blickte ihm nach. Seine Hilfe war wirklich Gold wert. Allerdings wurmte es mich etwas, dass er noch nichts zu meiner bandagierten Hand gesagt hatte. Ich hatte sie sogar mit Heilsalbe eingecremt! Zugegeben der Verband war sehr liederlich angebracht. Links war nun mal meine schwächere Hand.
 

Ich schaffte noch einige Absätze, ehe ich mich im Stuhl zurücklehnte und streckte. Joshua war immer noch bei seinen Proben. Das Verfahren zur Überprüfung schien doch komplizierter zu sein. Ich wartete ein paar Minuten. Schließlich stand ich auf und trat hinter ihn. Die Erlaubnis zuzusehen hatte ich ja. Es standen eine Reihe von Kolben, Reagenzgläsern, Pipetten und weitere Schalen und Tiegelchen aufgereiht vor ihm. Dazu notierte er sich jeden kleinen Schritt. Ich kam nicht umhin seine akribische Art zu bewundern. Ich huschte auf seine linke Seite, um besser sehen zu können. Er hielt ein Reagenzglas mit einer leicht getrübten Flüssigkeit vor sich und schrieb seine Beobachtung nieder. Ich sah zu dem Reagenzglasständer neben mir. Dort waren schon einige andere Proben versammelt, alle mit einer leicht unterschiedlichen Trübung oder Einfärbung. Dann spürte ich nur einen Ruck und wie es feucht über meiner rechten Hand wurde. Durch den Verband durch. Überrascht sah ich hin.
 

Joshua wollte scheinbar die Probe zu den anderen stellen. Wie auch immer, er hatte mich wohl nicht gesehen oder vergessen. Jedenfalls blieb er mit dem Reagenzglas an meinen Fingern hängen und kippte noch in Gedanken den Inhalt über meine Hand. Mich durchflutete gleich Scham und Schuld. Ich wollte zwar zusehen, aber seine Proben nicht ruinieren! Joshuas Reaktion hingegen war noch derber. Sein Gesicht verlor die Farbe, die Augen weiteten sich. Meine Schuld wuchs.
 

Schnell trat ich einen Schritt zurück und hob entschuldigend die Hände. „Tut …. Tut mir leid. Ich wollte dir nicht im Weg stehen.“ Verwirrt blickte er mich an. „Ich hoffe, die Probe war nicht zu wichtig…“ Anbieten zu helfen, würde jetzt wohl fehl am Platz sein...
 

„Bist du bescheuert?!“ Sein Ton war scharf und ließ mich zusammenzucken. Scheinbar war die Probe wichtig gewesen. Verdammt! „Was stehst du so blöd da rum? Geh deine Hand abspülen!“
 

„Hä?“
 

Joshua hatte mich schon längst zum Wachbecken gezogen und hielt meine Hand samt Verband unter fließendes Wasser. Dabei schalt er mich weiter.
 

„Das Erste, was man im Chemiegrundkurs lernt, ist doch, dass man sich alles, was die Haut berührt, abwäscht, wenn es möglich ist! Wie kannst du so dämlich dastehen und nichts tun. Am besten wartest du noch, bis alles durch diesen liederlichen Verband gesuppt ist und auf deine Wunden trifft!“
 

Ich war nicht überrascht, sondern komplett überrumpelt. Also hatte er den Verband doch bemerkt! Das freute mich schon, aber ihn liederlich zu nennen, war doch wieder gemein. Mit der Erste-Hilfe-Maßnahme hatte er natürlich Recht. Das hatte ich schlicht vergessen.
 

„Ich dachte … da wird schon nichts Schlimmes drin gewesen sein“, war mein dummer Kommentar dazu. Nach dem, was ich in seinem Skript gelesen hatte, arbeitete er weder mit ätzenden noch giftigen oder entzündlichen Materialien.
 

„Ist das nicht ganz egal? Woher willst du wissen, dass deine Haut nicht doch darauf reagiert?“
 

Ich schwieg. Er hatte ja Recht. Aber war das ein Grund, so zu reagieren? Geduldig sah ich zu, wie Joshua den Verband löste und meine Hand gefühlt noch eine weitere halbe Stunde unters Wasser hielt.
 

„Reicht das nicht langsam?“, fragte ich. Sein Griff verstärkte sich nur noch. Hatte ich mich gerade getäuscht oder zitterte seine Hand? Sicherlich nur vom kalten Wasser. Zumindest war meine Hand schon gefroren.
 

„Meine Hand wird kalt“, bemerkte ich. Erst jetzt drehte er den Hahn zu und zog mich zum Handtuch neben dem Waschbecken. Mit getrockneter Hand bugsieret er mich auf meinen Stuhl und holte den Erste-Hilfe-Kasten. Ich hatte keine Ahnung wie ich mich fühlen sollte. Ein bisschen hilflos, weil Joshua so aufgelöst wirkte. Schuldig wegen des Experiments. Denn nicht nur war seine Probe hin, sondern auch sein Timing. Ich machte mir ernsthafte Sorgen, dass ich seinen Zeitplan zunichte gemacht hatte! Andererseits fühlte ich meinen Puls überdeutlich und wie mir bei all der Aufmerksamkeit etwas die Luft wegblieb. An diesem Dilemma war eindeutig ich schuld, also stand es mir nicht zu mich auf irgendeine Weise zu freuen. Trotzdem bemerkte ich wie seine Miene beim Betrachten der Kratzer weniger mürrisch wurde. Scheinbar hatte er festgestellt, dass nichts Gravierendes passiert war. Und ich genoss auch ein kleines bisschen seine Fürsorge. Das hatte zwei Gründe. Der Bedeutendere jedoch war, dass ich wahrscheinlich der erste Kollege war, der von Joshua angeschnauzt und verarztet wurde. Und das machte mich auf eine verdrehte Weise ziemlich stolz. Trotzdem würde ich all das wohl für mich behalten. Erinnerungen an etwas oder jemanden zu haben, die nicht jeder kannte, waren wundervoll. Ein Geheimnis an dem nur ich mich erfreuen konnte.
 

Joshua holte einen frischen Verband heraus und umwickelte damit meine Hand und das Handgelenk. Es wirkte nicht nur professionell, sondern sah auch so aus.
 

„Viel besser als meiner“, murmelte ich erstaunt und etwas gekränkt. Ich hatte mir wirklich Mühe gegeben.
 

„Was ist besser?“ Ich sah auf, doch Joshuas Blick galt dem Verbandbinden. Dennoch klang seine Stimme nicht mehr so gereizt.
 

„Dein Verband!“ Ich lächelte. Nicht weil ich den Ernst der Lage nicht erkannte, sondern weil ein Lächeln, auch wenn es nur flüchtig war, die eigene Mimik und Stimme heben konnte. Auch wenn Joshua nicht mehr gereizt war, wirkte er geknickt. So betrübt gefiel er mir nicht… „Du hast ja meinen vorhin gesehen. Ich habe mir wirklich Mühe gegeben, aber mit der linken Hand und dann noch in Eile… das war wirklich schwierig.“ Ich beobachtete ihn genau, konnte aber nicht viel sehen.
 

„Der Verband war wirklich liederlich. Lass dir lieber helfen, wenn es mit einer Hand nicht funktioniert.“
 

„Ha ha, sicher. Ich lass den hier einfach dran. Der sieht perfekt aus. Und wenn er unordentlich wird, bitte ich dich demütig um eine Erneuerung.“ Warum sollte ich mich mit einer Hand abmühen, wenn Joshua es mit zwei Händen deutlich besser hinbekam!
 

Joshua fixierte den Verband und hob endlich seinen Kopf. Er wirkte weder mürrisch noch geknickt. Ein gutes Zeichen. Ich tauschte mein Lächeln gegen ein ernstes Gesicht und neigte meinen Kopf. „Es tut mir wirklich leid. Entschuldige. Ich hoffe, ich habe dein Experiment nicht gestört.“ Vorsichtig lugte ich hoch. „Und danke.“
 

Joshua schnaubte hörbar aus. „Schon gut. Das war nur eine periphere Überprüfung einer Nebenprobe.“
 

Das war erleichternd zu hören! Ich hatte wirklich Sorge, dass ich ihm eine wichtige Probe ruiniert hätte. Sein Zeitplan war eh schon straff. Wenn noch mehr Proben verunreinigt werden würden, würde sein Zeitplan kaum einhaltbar sein. Die Kulturen brauchten alle unterschiedlich lange um ein Ergebnis zu erzielen. Bei manchen Experimenten wusste man im Vorfeld gar nicht, wie lange eine Probe wirklich brauchen würde. Joshua hatte sich beide Arten eingebaut. Einen sicheren, bewährten Weg mit neuen Methoden zur Überprüfung, was die Aussage früherer Experimente belegen oder widerlegen würde. Da dies nur bedingt auf Freude bei den Obrigkeiten stieß, enthielt seine Arbeit auch einen neuen Weg. Hierbei wurden bestimmte Variablen neu gesetzt, was zu einem völlig anderen Ergebnis führen könnte oder dem Gleichem. Im Skript beschrieb er kurz, dass er die Proben bearbeiten würde. Das hieß im normal Fall Nährböden und Probenstamm wurden ausgetauscht. Das führte zu ungewissen Entwicklungen. Joshua hatte sich auf drei gleichzeitig auszuführende Versuche festgelegt.
 

Für den zweiten Teil seiner Arbeit bekam er mehr Zeit eingeräumt. Schließlich mussten auch Kontrollgänge durchgeführt werden, um die eigenen Daten zu belegen. Das konnte einige Monate in Anspruch nehmen. Das Problem war der kurze Zeitraum, den Joshua für seinen ersten Teil bekommen hatte. Natürlich wäre es eine Möglichkeit den Obrigkeiten zu sagen, dass etwas schiefgelaufen war. Ich schätzte Joshua als jemanden ein, der Fehler eingestehen konnte. Auch wenn die meisten Menschen dazu neigten Dinge zu vertuschen. Wie Kinder die ins Bett gemacht haben. Es wäre keine Schande anzugeben, dass man die festgelegte Zeit nicht hatte einhalten können, jedoch konnten Labore eigen sein. Und wir waren in einem großen Labor. Viele Kollegen nutzen die gleichen Geräte. Teilweise gab es Wartelisten. Je nach Aufwand und Gebrauchsgegenständen konnte man mit viel Pech sehr lange warten müssen. Zeit war Geld. Es war immer eine Fünfzig-Fünfzig-Chance, ob man von den Obrigkeiten Verständnis oder Ärger bekam.
 

Die Stimmung hatte sich indes nur bedingt gebessert. Ich hatte keine Ahnung, ob Joshua sauer war oder einfach nur konzentriert. Beide waren wir an unsere Arbeit zurückgekehrt. Ich tippte die Ergebnisse in meine Tabellen ein und Joshua beendete seine Kontrolle. Immer wieder schielte ich rüber. Er sagte kein Ton. Trotzdem wirkte die Luft dicker als vorher.
 

Ich seufzte. Ich hing fest. Mein Kopf war nicht frei und die Sätze fing ich dauernd neu an. Entnervt ließ ich meinen Kopf auf den Tisch knallen. Es tat nicht weh, aber der Ton war lauter als beabsichtigt.
 

„Alles in Ordnung?“, fragte Joshua. Ich fühlte mich ertappt und verkrampfte mich nur noch mehr.
 

„Ja, sorry.“ Ich hob meinen Kopf und sicherte alle Dateien. Dann stand ich auf und blickte nur flüchtig zu ihm rüber. Er sah nicht zu mir, sondern auf seine Unterlagen. Komisch, dabei hatte ich mich eben noch beobachtet gefühlt. „Ich mach mir einen Kaffee, du auch?“
 

„Nein, danke. Es ist zu früh für eine Pause.“ Unelegant hob ich beide Augenbrauen und bewunderte seine Ausdauer.
 

Der Flur war gespenstisch und still. Meine Schritte hallten als einziges durch die Gänge. Ich konnte sogar das leise Klicken irgendwelcher Schalter hören, wenn das Licht anging. Ein Flurspotlight flackerte, fünf andere summten beständig. Ob das schon mal jemanden aufgefallen war? Tagsüber sicherlich nicht, da war hier zu viel los und die Lichter aus.
 

Die Küche war ausnahmsweise sauber. Ich nahm eine Tasse aus dem Schrank und kochte mir Kaffee. Am Tisch sitzend breitete ich meine pinken und gelben Zettel aus. Ich legte sie so hin, wie ich gleich weiterarbeiten wollte. Diese gehörten zum Text, diese zu den Proben. Zwei wollte ich nur im Anhang belassen und ein Zettel blieb übrig. Ich überlegte hin und her. Schob die Ordnung nochmals um, aber dieses eine Puzzleteil passte nirgends recht rein. Mein Kaffee war schneller alle, als ich eine Lösung gefunden hatte. Frustriert fiel mein Kopf wieder auf den Tisch. Diesmal tat es weh… Der Kaffee machte mich auch nur müder. Vielleicht war es keine so gute Idee gewesen den ganzen Tag an der Arbeit zu sitzen. Oder die Nachtschichten machten sich einfach bemerkbar. Mir wurden die Augen schwer und schneller als gedacht, war ich eingeschlafen.
 

Mein Glück war, dass ich mir den Wecker gestellt hatte. Er sollte mich daran erinnern, dass ich jemanden zum Geburtstag gratulieren wollte. Einer meiner ältesten Freunde durfte sich heute ein Jahr älter schimpfen. Ich schrak regelrecht hoch. Zum Glück war es erst Null Uhr. Verpeilt strich ich mir durchs Gesicht. Wie konnte ich nur einschlafen?! Es war nur eine knappe halbe Stunde, aber trotzdem. Das war das erste Mal auf Arbeit. Egal. Ich stellte den Wecker aus und schrieb einen überschwänglichen, vor gute Laune strotzendem Gruß. Das erledigt, wappnete ich mich für den Kampf mit den Zetteln. Es dauerte einige Momente bis ich registrierte, dass an meiner Anordnung etwas anders war. Ich starrte und las. Starrte weiter. Eilig stapelte ich die Zettel und lief zurück ins Labor. Die andere leere Tasse neben der Spüle bemerkte ich nicht.
 

Joshua saß auf seinem Stuhl und schien tief in Gedanken zu sein. Er starrte auf anmutige Weise seinen karierten Block an. Jedenfalls nur so lange, bis ich in die Tür gestürmt kam.
 

„Josh“, ich brach den Namen ab und verfluchte die Langsamkeit der automatischen Türen. Sie waren nicht für spontanes Reinstürmen gemacht worden… Fast, wirklich nur fast, wäre ich gegen die Glastür gerannt. Als ich endlich genügend Platz zum Durchzwängen hatte, sprach ich weiter. „Joshua, warst du das?“
 

Er drehte sich vollends zur mir und blickte fragend. Es reichte aus, sodass ich mit einem breiten Grinsen weiter plapperte. „Das hier. Ich meine die Zettel. Du hast die Reihenfolge geändert, nicht wahr?“
 

„Ja“, sagte er und nickte bestätigend. „Hätte ich nicht“, ich unterbrach ihn mit wildem Kopfschütteln.
 

„Nein, nein, nein! Das war genau das, wo ich nicht weitergekommen bin! Dieser eine pinke Zettel wollte sich nicht einfügen.“ Überschwänglich setzte ich mich auf meinen Stuhl und legte den Zettelhaufen beiseite. „Vielen Dank.“
 

„Nicht dafür.“ Die Antwort war schlicht, aber ich hatte das Gefühl, er freute sich auch etwas. „Konntest du dich etwas ausruhen?“
 

Die Frage war mir peinlich. Ich hoffte, ich wurde nicht so rot, wie ich mich fühlte. Verlegen startete ich meinen Laptop. „Ähä, ja. Powernapping. Aber dafür habe ich daheim viel vorgearbeitet.“ Das war für einen Wissenschaftler selbstverständlich und wurde in der Regel nicht angerechnet. Ahhh, verdammt! Meine Laune war gerade so gut, ich wollte nicht in dasselbe Schweigen wie vorhin zurückfallen. Ich starrte kurz an die Decke, dann schielte ich über meine Schulter. „Ich würde das erstmal einfügen und eh… dürfte ich dich wieder als Formulierungshilfe in Anspruch nehmen? So wie gestern?“
 

Man könnte jetzt meinen, ich hätte keinen Stolz, meine Arbeit allein fertigzustellen. Ich würde es als strategischen Schachzug bezeichnen, um einen potenziellen neuen Freund zu gewinnen. Klar, ich hatte auch meinen Stolz. Aber wer immer nur auf sich selber achtete, kam sozial nicht weit. Meine Oma meinte früher immer, ich sein empathisch. Es hatte noch zehn Jahre gedauert, bis ich endlich verstanden hatte, was das bedeutete. Von da an glaubte ich daran, dass das meine Stärke wäre, auch wenn ich mein Ego mal zurückstecken musste.
 

Zu meiner Freude und Verblüffung lächelte Joshua. „Sicher, frag nur.“
 

Ich beschlagnahmte Joshua von zwei bis vier Uhr vollständig. Danach nur noch teilweise. Die letzte halbe Stunde erzählten wir einfach. Ich erfuhr, dass Joshua alleine wohnte, Single war und keine Haustiere besaß. Er wohnte in der Innenstadt in einem Altbau. Zusammengefasst klang es nicht viel, doch ich hatte hart für diese Infos gekämpft. Allein, dass er Single war, könnte ich unter den Kolleginnen teuer verkaufen. Hauptsächlich hatte ich geredet. Joshua stellte immer wieder Fragen, sodass ich aus meinem Monolog gar nicht hinausfand. Ich erzählte ihm von meinem bevorstehendem Heimatwochenende. Die Familie kam zusammen, um den Abschluss meines Bruders zu feiern. Er hatte endlich sein Abitur nachgeholt. Das war ein Zusatzangebot in seiner Fachausbildung gewesen. Dafür hatte er in der Woche vier Stunden mehr als seine Mitschüler. Ein enormes Pensum für meinen Bruder, der nach der zehnten Klasse keine Anstalten gemacht hatte, irgendwas zu lernen. Meine Eltern waren stolz wie Bolle auf ihn. Das wurde getoppt von der Freundin, die er meinen Eltern vorstellen wollte. Endlich ein Sohn, der eine feste Freundin hätte und auch noch religiös war. Um die Tragweite zu verstehen, erzählte ich Joshua von meiner Mutter. Sie war streng gläubig und das lebte sie. Zwar stellte sie ihren Kindern und Mann und der ganzen Welt frei, an das zu glauben, was sie wollten, ließ uns aber jeden verdammten Feiertag zelebrieren, vor jeder winzigen Mahlzeit beten und für alles und jeden dankbar sein.
 

Es war anstrengend. Nun war ihr Sorgenkind endlich ausgereift, hatte eine Lehrstelle, das Abi, eine religiöse Freundin und besuchte die Eltern jedes Wochenende. Was könnte ein Mutterherz sich mehr wünschen? Ach ja, dass der Erstgeborene es seinem Bruder gleichtat. Die Feier war beschlossene Sache und die nahe Verwandtschaft war eingeladen.
 

„Und du willst es nicht?“, unterbrach Joshua meinen Gedankengang.
 

„Hm, was?“
 

„Es deinem Bruder gleichtun?“
 

Ich lachte nur und verdrehte die Augen. „Mein Abitur hatte ich beim ersten Anlauf geschafft mit 1,3. Und an Religion habe ich leider kein Interesse mehr. Sonst wäre ich kaum Wissenschaftler geworden.“ Wobei alle religiösen Wissenschaftler der Welt mir diese Aussage verzeihen mögen. Joshua schien ähnliches zu denken, schmunzelte aber nur.
 

„Und was ist mit einer Freundin?“ Ich winkte ihm ab und schüttelte meinen Kopf. Mehr war mir dieses Thema nicht wert. Ich wollte nicht darüber reden. Es war … kompliziert. Joshua fragte nicht weiter. Ich griff meinen Faden wieder auf und berichtete von dem gebuchten Gemeinderaum, dem Catering und dass es leider einen Fernseher im Nebenzimmer gab. Joshua war verdutzt, fragte auch gleich nach. So kam ich dazu, dass die große Liebe meines Vaters das Wetten war. Pferderennen. Er hatte einige Glückstreffer, was meinen Eltern ein mittleres Vermögen eingebracht hatte. Es wäre mehr, würde er endlich aufhören zu spielen.
 

Alles in allem redete ich mehr als Joshua und gab natürlich auch viel mehr preis. Es zeigte nur, dass ich mich in seiner Nähe recht wohl fühlte. Nachdem wir uns verabschiedet hatten, stieg ich mit dem guten Gefühl in die Tram, einen neuen Freund gefunden zu haben. Leider wusste ich zu wenig von Joshua, um sagen zu können, dass ich Fähigkeiten besaß, die ihm nützen könnten. Auch wenn sich eine Freundschaft vor allem dadurch auszeichnete, dass man sich ohne Bedingungen und Gegenleistungen leiden konnte und sehen wollte. Dennoch konnte es nicht schaden, wenn ich etwas besaß, dass mich für meine Freunde wertvoll machte.
 

Am Samstagmorgen kam ich bei meinen Eltern an. Sie wohnten nur eine halbe Stunde mit dem Bus entfernt, etwas außerhalb der Stadt. Als ich aus dem Bus stieg, wurde mir doch etwas nostalgisch zumute. Das Dorf war zu nah an der Stadt und zu klein, sodass es nur eine einfache Haltestelle mit einem kleinen Häuschen gab. Früher war das hier nur eine kleine Nische neben der Straße gewesen. Bei schlechtem Wetter musste man aufpassen nicht von Schlamm oder Pfützen vorbeifahrender Autos bespritzt zu werden. Ich glaube, es war in der sechsten Klasse, als die Eltern gemeinsam dafür gesorgt hatten, dass hier ein ordentlicher kleiner Haltesteg errichtet wurde. Wir Kinder waren stolz darauf, auch wenn unsere Interessen damals eher den Personen galten, mit denen wir im Bus zusammensaßen. Heute quoll aus den Fugen zwischen den Steinen Gras und Unkraut hervor. Das Häuschen war mit Graffiti besprayt, dass ich nicht entziffern konnte. Vom Mülleimer war nur noch die Halterung da, welche schwarze Rußflecken aufwies. Wahrscheinlich hatten einige der Halbstarken den Mülleimer gesprengt.
 

Ich schulterte meinen Rucksack und ging ins Dorf. Früher lebten hier bis zu zweitausend Menschen. Heute waren es weniger als tausend. Einige alte Höfe standen leer, ebenso wie ein paar der Plattenbauten. Ich kam an dem Spielplatz vorbei, auf welchem wir so viel Zeit verbracht hatten. Auch hier wuchs alles wie Kraut und Rüben. Meine Nostalgie verflog so schnell wie sie gekommen war. Das hier war eher traurig.
 

Vor meinem Elternhaus angekommen, klingelte ich. Sozusagen als Ankündigung. Dann schloss ich mir selbst auf. Der Vorgarten meiner Eltern war geleckt und akkurat. Kein Unkraut, kein schiefer Stein. Jedes Blatt war an seinem rechten Platz.
 

„Maximilian? Hast du geklingelt? Warum kommst du nicht endlich herein und lässt diese Unart sein? Ich bin extra vom Herd hergerannt!“ Die übliche Begrüßung meiner Mutter.
 

„Bin da.“
 

„Das sehe ich auch. Komm beeil dich und hilf mir beim Tischdecken.“ Ich stellte meinen Rucksack ab und betrat die Küche. Natürlich war sie am Wuseln. So wie es hier aussah, bereitete sie einen Brunch vor.
 

„Wo essen wir?“
 

„Auf der Terrasse.“ Ich nahm mir ein Tablett und stellte Teller, Besteck und Tassen darauf. Meine Mutter hatte eine strenge Vorgehensweise. Keinem war erlaubt etwas zu tun, was ihr nicht zusagte. Ein Beispiel: einen Tisch deckte man ein, indem man Teller, Besteck, Untertassen, Tassen platzierte. Dann die Kerzenständer, dann die Aufstriche. Brötchen und Eier, aber die nur mit Eierwärmern. Und Soßen immer zum Schluss. Ehe alle am Tisch saßen, mussten die Kerzen an sein. Würde ich erst die Tassen, Kerzen und dann die Teller aufdecken, würde ich mir ihren Zorn zuziehen. Alles hatte eine bestimmte Reihenfolge von Gottes Gnade gegeben. Als Kind nahm ich das alles so hin. Als Jugendlicher hinterfragte ich ein paar Mal ihre Monarchie. Keine gute Idee.
 

Als ich die Terrasse betrat, sah ich meinen Vater und Bruder bei einer Zigarette. Sie redeten über den Ablauf am Nachmittag und wann Vater sich zum Fernsehen gucken verziehen könnte.
 

„Hi“, begrüßte ich beide.
 

„Ah. Hallo Maximilian. Schön, dass du deiner Mutter hilfst“, antwortete mein Vater.
 

„Max! Schön, dass du da bist! Alter ich freu mich so! Ich muss dir nachher noch was erzählen“, sagte Andreas und feixte sich verschwörerisch in die Hand. Mein Bruder war fünf Jahre jünger als ich und heißt mit vollem Namen Andreas Matthäus. Im Gegensatz zu mir war er stolz wie Bolle auf seinen Namen und trug die Erwartungen unserer Eltern in die Welt hinaus. Die Umarmung meines kleinen Bruders nahm ich so hin. Auch wenn es nett gewesen wäre, mich erst das Tablett abstellen zu lassen. War schließlich schwer. Als die Begrüßung vorbei war, kehrten beide zu ihrem Gespräch zurück. Keine Hilfe beim Tischdecken. Ach, warum auch. Max machte das schon.
 

Später zum Brunch sah ich die Freundin meines Bruders zum ersten Mal. Sie war ein typisches, aufgestyltes Mädchen. Das Kilo Make-up sah ich deutlich in ihrem Gesicht. Trotzdem war es nicht so übertrieben, dass es meiner Mutter hätte aufstoßen können. Ihr Haar roch unheimlich parfümiert. Es war mir schleierhaft, wie Andreas das aushielt, geschweige denn, wie die Puderquaste selbst es aushielt? Meine Eltern schien es nicht zu stören. Mich hingegen schon. Immer wenn der Wind kam, mischte sich zu dem köstlichen Duft von Bacon und Kaffee der strenge Geruch von Petunien. Das war das erste Mal, dass ich mir in Erinnerung rief, dass ich hier nicht lange bleiben müsste.
 

Das Essen meiner Mutter schmeckte wie immer sehr gut! Trotz allem blieb sie eine hervorragende Köchin. Die Gesprächsthemen meines Vaters beschränkten sich auf seine Arbeit, den Erfolg seines jüngsten Sohnes (wenn es gewünscht war darüber zu reden) und die neusten Neuigkeiten zu seinen Lieblingspferden und -jockeys. Meine Mutter fragte mich aus, ob ich auch immer brav nach Gottes Regeln leben würde. Sie betete jeden Sonntag für mich. Sogar ihren Bibelkreis bat sie manches Mal um wohlwollende Gebete für mich. Andreas verstand es mit seiner Freundin unterm Tisch zu flirten und mir ausführlich von seinem Werdegang zu erzählen. Er lebte zwar nicht mehr unter dem Dach meiner Eltern, dafür aber hier im Dorf. Daher war es nur natürlich, dass Mutter oder Vater sich mehr für ihn eingesetzt hatten, als es damals bei mir der Fall gewesen war. Sei es das Zahlen der Kaution, weil er beim Autoknacken erwischt worden war. Sei es das Einschreiben in eine sehr gute Universität mit theologischem Hintergrund, für die mein kleiner Bruder sich weder interessierte noch das Studium ernst nahm. Sei es, dass ihm der Führerschein und das erste Auto gekauft und bezahlt wurden. Als ich nachfragte, in wie vielen Raten er den Führerschein abbezahlen müsste, wurde ich der Reihe nach schief angesehen.
 

„Maximillian, wieso sollte Andreas das Abzahlen müssen?“, fragte meine Mutter.
 

„Genau? Du hast deinen doch auch nicht abbezahlt?“, warf Andreas ein.
 

Verärgert blickte ich ihn an. „Natürlich habe ich abbezahlt. Vater“, wandte ich mich an ihn, „du hast den Vertrag doch mit mir aufgesetzt. Mit Zinsen, erinnerst du dich. Du hattest den Zinssatz zufällig aus einer Wettstatistik genommen und-“
 

„Maximillian, bitte. Willst du mich vor unserem Besuch hier beschämen?“ Vater war ungehalten. Seine Stimme ernst. Und ich kuschte wie ein kleines Kind. „Als ob ich für so etwas Wichtiges wie einem Vertrag eine so pauschale Sache nutzen würde.“
 

„Und mir hast du erzählt, du musstest nix bezahlen“, insistierte Andreas erneut.
 

„Ich sagte dir, du sollst dich nicht von den beiden dazu verleiten lassen etwas zahlen zu müssen.“
 

Mutter klatsche aufgeregt in die Hände. Das war ihr Zeichen für Stress und besser als jedes gebrüllte Reinrufen. Es sah affig aus und sie bekam rote Flecken auf der Stirn. „Nun reicht es aber. Maximillian, nun beruhige dich wieder. Ich dachte du lebst ruhig und gesittet? Aber diese Arbeit scheint dir langsam doch die Seele zu vergiften.“
 

„Eher den Verstand“, sagte Andreas.
 

„Mein Kleiner. Bitte verdrehe keine Tatsachen“, bat Mutter.
 

„Ich … ich verdrehe die Tatsachen?“ Ich war nicht mehr sauer. Das was ich empfand, war weit über normale Wut hinausgestiegen. Gerade war ich zu empört und perplex um adäquat zu reagieren. Das passierte mir leider zu oft. Dass ich in einer Situation nicht reagieren konnte, aber im Nachhinein wusste ich so einiges zu sagen! Jetzt gerade geschah allerdings das, was mein Leben bis heute zeichnet: Meine Sprachlosigkeit veranlasste andere Schlüsse zu ziehen.
 

Mutter fuhr indes fort. „Nie würden wir von unseren Kindern Geld verlangen. Gott spricht sich auch dagegen aus. Eine Familie sollte zusammenstehen und sich aufbauen. Wir leben miteinander, nicht gegeneinander. Wie oft hatte ich dich gebeten nicht in die Stadt zu ziehen und nicht dieses heidnische Zeug zu lernen. Ohh, der Pastor weiß wie sehr mich deine Entscheidungen verletzt haben. Und habe ich es dir ausgeredet? Nie war ich dagegen. Auch jetzt bete ich dafür, dass du deinen Weg finden mögest. Du bist immerhin mein Sohn. Auch wenn ich mich frage, wann du vom rechten Weg abgekommen bist. Wissenschaft… Laborarbeit. Mein Junge sei ehrlich zu mir. Geht es dir gut? Brauchst du Geld? Ich bin mir sicher, dass die Leute in der Stadt furchtbar gemein zu dir sein müssen. Immerhin arbeitest du als frommer Gläubiger in einem solch heidnischem … Fachgebiet.“
 

„Wenn er Geld bräuchte, hätte er es sicher gesagt. Aber erinnerst du dich? Er tönte doch, er wolle keine Unterstützung von uns“, erinnerte mein Vater meine Mutter an den Streit den wir bei meinem Auszug ins Studentenwohnheim hatten. Das war vor fast fünf Jahren gewesen.
 

Sie sprachen weiter. Redeten über mich und meine Überzeugungen, als wäre ich nicht anwesend. Selbst die Freundin meines Bruders mischte sich mit ein. Mein Blick haftete auf meinem Getränk. Mir wurde schlecht, dann schwindlig, dann doch wieder übel. Ich blickte mich in der geselligen Runde um. Da ich nichts weiter zum Gespräch beisteuerte, sah mich auch keiner an. Warum sagte ich nichts? Ganz einfach. Ich habe es oft genug versucht. Oft genug… Das Ergebnis war immer dasselbe. Ich hatte Unrecht. Egal, ob es meine Leistungen in der Schule, meinen Wunsch für eine Uni oder meinen allgemeinen Werdegang ging. Ich hatte Unrecht. Ich konnte schweigen, laut werden, sie beschimpfen, schreien, argumentieren, Fakten und Sicherheiten darlegen. Ich hatte Unrecht. Wenn sie also über mich reden wollten, sollten sie doch. Ich hörte nicht hin. Zu diesem Punkt zu gelangen, hatte lange gedauert. Es war hart gewesen. Vor allem als mir klar wurde, dass weder mein Wort noch meine Person noch meine Wünsche etwas zählten. Manchmal kam ich mir nicht vor wie ihr Sohn, sondern wie ein Huhn, dass zum Verkauf stand. Ich hatte daher keine Ahnung wie Andreas es schaffen konnte, sich den Respekt meiner Eltern zu verdienen. Mir tat er nur leid.
 

In solchen Situationen ließ ich gerne meine Gedanken schweifen. Beim Thema Arbeit schaltete ich ab und griff es zugleich auf. Wie gerne würde ich jetzt auf Arbeit sein. In den verlassenen Gängen des Labors. Selbst eine verwüstete Küche wäre mir jetzt lieber. Und vielleicht wäre Joshua auch da?! Er hatte doch erwähnt, dass er am Wochenende tagsüber arbeitete. Mir vorzustellen meinen Samstag mit ihm zu verbringen, war so viel schöner als das, was ich real vor mir hatte.
 

Ähnlich wie der Brunch lief es das restliche Wochenende auch. Aber zunächst wurde es noch schlimmer. Meine Verwandten kamen alle zu der Feier ins Gemeindehaus. So gesehen war das ganze Dorf eingeladen worden und das halbe war tatsächlich erschienen. Ich musste über zwanzig Mal erklären, was ich jetzt eigentlich genau arbeitete. Dreißig Mal rechtfertige ich mich für die Wahl meiner Uni und über sechzig Mal entschuldigte ich mich beinahe dafür, noch keine Frau und keine Kinder zu haben. Diese Leute verstanden es vortrefflich jemandem ein schlechtes Gewissen zu machen. Nach meinem zweiten Sekt jedoch fing ich an, das Ganze aus einer anderen Perspektive zu betrachten. Ich vertrug keinen Sekt. Ein Grund mehr ihn heute zu trinken.
 

Aus sozialwissenschaftlicher Sicht wäre dieses Dorf ein toller Experimentenpool. Die Altersgruppen reichten von sechs bis neunzig Jahren. Es gab Ausländische und der Glauben war sicherlich nicht bei allen so gefestigt, wie sie es vorgaben. Im Laufe des Abends überlegte ich mir ein Thema, eine Hypothese und eine Thesis. Ich suchte nach dem geeigneten Testverfahren und einer Möglichkeit der Überprüfung. Sollte es eine kurze Studie sein oder eine längere? Wie viele Wiederholungen müsste ich ansetzen, damit das Ergebnis verifiziert werden würde?
 

Ich machte mir Notizen in meinem Handy und überstand die Feier mit einem leichten Kater.
 

Am Sonntagmorgen brach ich noch vor dem Frühstück auf. Meine Mutter protestierte. Nicht, weil sie ihren Sohn nicht ohne ein ordentliches Frühstück gehen lassen wollte, sondern weil ich somit die Chance vertat, bei ihrem Gebet dabei zu sein. Von dem Kirchgang mal abgesehen, hatte Mutter dem Priester um eine Salbung gebeten und dass er mal mit mir reden würde. Ich ließ ihr ihren Monolog und sagte dann schlicht, dass ich umgehend losmüsste. Experimente und so. Sofern ich einige Fachwörter einwarf, hörte Mutter schon gar nicht mehr zu.
 

„Oh mein Sohn, ich werde den Priester um Unterstützung bitten. Halte nur durch. Es wird gut werden.“ Ich nickte ihr zu und schloss die Tür hinter mir.
 

Der Weg zum Bus war so befreiend. Als die Bustüren hinter mir zuschlugen und wir losfuhren, fielen nochmal zwanzig Tonnen Ballast von mir ab. Ich steckte mir Kopfhörer in die Ohren und summte vergnügt zu meiner Musik.



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