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Herzschmerzhelden

von

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No pun intended

Ich hab Schiss.

 

Ganz egal, was ich versuche, mir einzureden, und wie sehr ich auch einen auf „manly man“ mache … die Wahrheit ist: Ich hab Muffensausen und zumindest sprichwörtlich die Hose voll. (In Wirklichkeit natürlich nicht. Ich meine, selbst wenn es nicht Mittel und Wege gäbe, da unten auf- und auszuräumen, bin ich aus dem Alter ja nun hoffentlich schon lange raus. Oder noch nicht wieder drin. Wie man es nimmt.) Trotzdem herrscht in mir gerade das Gefühl vor, dass ich irgendetwas von mir geben sollte. Mein nicht vorhandenes Mittagessen beispielsweise. Oder spitze Schreie. Ein ordentliches Gebrüll täte es bestimmt auch. Alternativ könnte ich auf etwas einprügeln oder es durch die Gegend kicken. Mit Stöcken zerfetzen. Irgendwas jedenfalls, um die nervige Spannung loszuwerden, die sich mit jedem meiner Schritte weiter in mir aufbaut. Dabei bin ich mir nicht mal sicher, ob es sich wirklich nur schlecht anfühlt, denn – sind wir mal ehrlich – Ich wollte das hier. Nicht umsonst bin ich ja gestern noch losgetigert und habe mich eine halbe Ewigkeit vor dem Modehaus Bräuer herumgedrückt, um letztendlich doch nur ein Foto von der Fassade zu schießen. Selbiges habe ich dann an Bruno geschickt mit den Worten:

 

'Ich trau mich nicht rein. Kommst du trotzdem?'

 

Von ihm kam dann nur ein 'Ja.' zurück. Und genau deswegen latsche ich hier jetzt mal wieder durch die Gegend und erfreue mich an Feld, Wald und Blümchen. Okay, nicht wirklich. Denn eigentlich wäre ich gerade am liebsten zu Hause in meinem Bett und würde mir die Decke bis über die Ohren ziehen. Oder schon da sein. Alles jedenfalls, was endlich die bekloppten Stimmen in meinem Kopf zum Schweigen bringen würde, denn die machen mich heute wirklich wahnsinnig.
 

Warum machst du das eigentlich?, will jetzt schon zum dritten Mal ein echt angepisster, kleiner Kerl wissen, der eine gewisse Ähnlichkeit mit Pascal in einem Teufelskostüm aufweist und sich auf meiner linken Schulter niedergelassen hat. Wenn der Typ nicht die Eier hat, dir zu sagen, was Phase ist, kannst du es eh vergessen.

 

Also Eier hat er schon und zwar ziemlich prächtige, bemerkt daraufhin mein altbekanntes Arschloch mit süffisantem Grinsen. War ja klar, dass der wieder nur an das Eine denkt.

 

Klappe, kann ich allerdings gerade noch zurückdenken, bevor die Stimme auf meiner rechten Schulter das Wort ergreift. Sie trägt ein wallendes, weißes Gewand, spielt Harfe und hat erstaunliche Ähnlichkeit mit Michelle. Oder hätte sie, wenn Michelle denn ein Kerl wäre. Was sie nicht ist, aber so ohne Brüste und im Nachthemd …

 

Aber wenn er nichts für Fabian empfindet, warum hat er sich dann geoutet?, piepst das kleine Engelchen und sieht dabei höchst entrüstet aus. Der Teufel steckt ihm die Zunge raus und macht ein unflätiges Geräusch.

 

Pffrrr, geoutet, landet zusammen mit diversen Spucketröpfen und sehr viel Häme in meinem Ohr. Der Feigling hat sich doch alle Türen offengehalten. Ich sage dir, wir vergessen ihn einfach und suchen uns …

 

Einen dritten Mann für nen Abschiedsfick?

 

Für einen Moment herrscht Schweigen, dann fangen alle an durcheinanderzureden. Der Engel droht dem Arschloch mit der Harfe, woraufhin der Teufel einen Lachkrampf kriegt und fast von meiner Schulter fällt. Nachdem ich ihm wieder hochgeholfen und alle drei auf die Strafbank verfrachtet habe, herrscht jedoch erst einmal Ruhe. Und die Hütte ist in Sichtweite gekommen. Na großartig. Jetzt treffe ich gleich auf Bruno und hab immer noch keine Ahnung, was ich ihm sagen soll.
 

Frag ihn einfach, ob er Bock hat zu ficken, flüstert das Arschloch noch, bevor ihm der Engel endgültig den Mund zuklebt und der Teufel sich auf seinen Rücken setzt, um zu verhindern, dass ich auf dumme Gedanken komme. Wenigstens da drin sind die beiden sich einig. Was hingegen den Rest angeht …

 

Sei einfach ehrlich.

 

Von wem genau dieser Rat nun kommt, weiß ich nicht. Vielleicht von meiner Ma. Oder meiner Oma. Oder ich habe noch irgendeine unbekannte Persönlichkeit entwickelt, die keine Ahnung davon hat, was einem alles Schlimmes passieren kann, wenn man ehrlich ist. Denn wer ehrlich ist, macht sich angreifbar. Extrem angreifbar und das macht mir Angst. Mehr als es sollte.

 

Aber wer nicht wagt, der nicht gewinnt.
 

Definitiv meine Oma. Na dann. Ran an den Speck. Oder Mann. Oder so.

 

 

Bruno ist bereits da Ich sehe, wie er auf der Veranda sitzt. Ganz ruhig, wie ein Stein. Die Sonne bescheint seine massige Gestalt und plötzlich wünschte ich, dass das alles nicht passiert wäre. Dass ich einfach hingehen, mich in seinen Armen versenken und ihn küssen könnte, bis uns beiden die Luft wegbleibt. Fast schon kann ich ihn an mir spüren, seine Lippen schmecken, seinen Geruch riechen, so kraftvoll und männlich und …

 

„Hey, Fabi.“

 

Schnell schüttele ich mich und versuche, die aufkommende Leidenschaft zu unterdrücken. Himmel, das kann doch nicht wahr sein. Ich meine, ich seh den Kerl, und werde spitz wie Nachbars Lumpi. Aber nicht nur das. Ich will ihn küssen und lieben und kuscheln und …

 

„Hi Bruno.“
 

Erst jetzt fällt mir auf, dass er mich „Fabi“ genannt hat. Das macht normalerweise nur Pascal. Oder manchmal Michelle. Aber Bruno hat das noch nie getan. Heißt das jetzt, dass wir doch nur Freunde sind?

 

Schluss jetzt. Du bist hier um zu reden, nicht alles zu zerdenken.

 

Oder zu ficken, stellt noch jemand klar, aber diese Frage dürfte spätestens geklärt sein, als Bruno sich erhebt und sich ein wenig unbehaglich um sieht.
 

„Wollen wir woanders hingehen?“
 

Was vermutlich heißt, dass die Hütte tabu ist. Was ich, ehrlich gesagt, ebenfalls begrüße. Zu viele schlechte Erinnerungen. Mir ist nur auf die Schnelle kein Ort eingefallen, an dem wir ungestört wären, und deswegen …

 

„Klar.“

 

Ich trete einen Schritt zurück, wie um ihm Platz zu machen, und Bruno erhebt sich. Man, ist der riesig. Ich schlucke unwillkürlich, weil ich echt das Gefühl habe, dass Bruno noch weiter gewachsen ist. Oder ich bin geschrumpft. Ach nee, die Hütte steht auf einer Anhöhe und er somit ein Stückchen über mir. Als er zu mir runterkommt, beruhigt sich mein flatterndes Herz wieder ein wenig. Das heißt, nicht wirklich, denn eigentlich würde es gerne …

 

„In den Wald?“

„Klar.“

 

Ohne ihn anzusehen, drehe ich mich um und warte kaum ab, bis er an meiner Seite erscheint, bevor ich mich in Bewegung setze. Der Kies knirscht unter seinen Schuhen und unter meinen. Keiner von uns sagt ein Wort. Um uns herum blühen die Bäume.

 

 

Eine ganze Weile lang gehen wir einfach so geradeaus. Ich weiß, dass ich eigentlich was sagen sollte, aber ich weiß nicht, wo ich anfangen soll. Bruno scheint es genauso zu gehen. Erst, als wir nach einer gefühlten Stunde an eine Wegkreuzung kommen, hält er an.

 

„Wollen wir …?“
 

Er weist auf den linken Weg, von dem ich annehme, dass er uns wieder zurück nach Hintertupfingen bringen wird. Der andere führt irgendwo hin. In den Wald vermutlich. Also in noch mehr Wald. Wir stehen ja schon in einem. Um uns herum singen die Vögel.
 

„Wir könnten auch zurückgehen.“

 

Ja, das wäre schön, oder? Zurück zum Anfang, als alles noch einfach war. Als es mir noch egal war, was Bruno von mir denkt. Als ich nur von ihm gefickt werden wollte.
 

„Ja, das könnten wir.“

 

Mag sein, dass ich es mir einbilde, aber ich meine fast zu hören, dass Bruno ein wenig enttäuscht klingt. Was ich irgendwie verstehen kann. Immerhin habe ich ihn um dieses Treffen gebeten und immer noch kein Wort rausbekommen. Nicht mal zu seinem Outing. Dabei war das so mutig von ihm. Selbst wenn die Aktion an sich ziemlich bescheuert war, sollte ich ihm wenigstens sagen, dass ich stolz auf ihn bin. Oder dass er stolz auf sich sein kann. Aber vielleicht braucht er mich ja auch gar nicht dazu. Vielleicht hat er ja …

 

„Du hast das gut gemacht.“

 

Der Satz – oder der fehlende Zusammenhang, mit dem ich ihn herausschleudere – lässt Bruno den Kopf heben. Sein Blick trifft mich und für einen Augenblick ist mir, als würde ein warmer Windhauch mich streicheln. Eine angenehme, warme Sommerbrise, in die ich mich nur hineinlegen müsste, damit sie mich hoch und höher und bis zum Horizont trägt. Doch ebenso schnell, wie das Gefühl gekommen ist, ist es auch schon wieder verschwunden. Bruno macht dicht und das wundert mich gar nicht.
 

„Was meinst du?“

 

Och man, Bruno, jetzt tu doch nicht so doof. Du weißt, was ich meine.

 

Aber er guckt weiter grimmig und ich komme wohl nicht drumherum, es auszusprechen. Also dann …
 

„Na, die Sache am Samstag. Du weißt schon. Das Outing. Michelle und Pascal haben zwar einen Augenblick gebraucht, bis sie es kapiert haben, aber …“

 

Aber eigentlich war ich derjenige, mit der langen Leitung. Das ist das Wichtige, was ich sagen müsste, und trotzdem verschweige. Weil es mir peinlich ist. Immerhin bin ich hier der gay dude. Ich sollte ein Outing erkennen, wenn ich eins sehe. Aber ich hab’s einfach nicht rechtzeitig gecheckt.

 

Bruno senkt den Blick. Ist schon klar, dass es dumm war, das so zu sagen. Als ginge mich das alles nichts an. Dabei hat er das doch wegen mir gemacht. Fürchte ich. Und vielleicht ist genau das das Problem an der Sache. Weil ich genau das wollte und nicht will, dass ich es wollte. Jetzt hab ich es und es fühlt sich scheiße an. Obwohl ich glücklich bin. Aber auch wieder nicht. Ach fuck, ich weiß nicht mehr, was ich fühlen soll.

 

Bruno weicht meinem Blick immer noch aus und ich weiß, dass ich jetzt was sagen muss. Also los! Mach!

 

„Ich war einfach nur total überrumpelt. Und ich hab’s nicht kapiert. Und es tut mir echt leid, dass ich mich so bescheuert verhalten habe, aber nachdem du mir gesagt hast, dass wir nicht zusammen sein können …“

 

Ich breche ab und meine restlichen Worte verlieren sich irgendwo im Wald zwischen Vogelgezwitscher und Blätterrauschen. Die Sonnenstrahlen tanzen zwischen den Bäumen. Es riecht nach Sommer.

 

Bruno runzelt die Stirn.
 

„Das habe ich so nie gesagt.“

 

„Du hast aber gesagt, du kannst nicht.“

 

Ich fasse es nicht, dass ich ihn auch noch daran erinnern muss. Bruno bewegt die Hände. Sie öffnen und schließen sich, als würde er nach etwas greifen. Oder damit kämpfen, sie nicht zur Faust zu ballen und mir eine reinzuhauen. Was ich vielleicht verdient hätte.
 

„Ja, das hab ich gesagt“, antwortet er irgendwann langsam. „Aber eigentlich … eigentlich ist es nicht das, was ich will.“

 

Zögernd hebt er den Kopf und da ist er wieder, dieser Wind. Der Wind unter meinen Flügeln …
 

„Und was willst du?“

 

Meine Stimme klingt seltsam dünn, als ich das frage, und gleichzeitig habe ich das Gefühl, dass ich die Frage geradezu herausschreie. So, als müsste die ganze Welt sie hören. Dabei brauche doch nur ich die Antwort. Nur ich.

 

Bruno beißt sich auf die Lippen. Sein einer Mundwinkel zuckt, als würde er versuchen, nicht zu lachen, aber gleichzeitig ist da ein Flackern in seinem Blick, das mich unruhig werden lässt.

 

Na los, sag es schon. Sag es!

 

„Ich will …“

 

Ja? Ja?!

 

„Eine zweite Chance. Oder eine dritte. Ich weiß nicht genau. Hab vergessen mitzuzählen.“

 

Während er das sagt, sieht Bruno mich unverwandt an. Er lächelt nicht, aber er weicht auch nicht zurück. Er steht einfach nur da und wartet, wie ich mich entscheide. Wage ich den Sprung mit ihm – nochmal – oder sage ich jetzt, dass ich endgültig genug davon habe. Was in Anbetracht der Lage ziemlich mies wäre. Immerhin bin ich ihm ja auch schon oft genug nachgelaufen. Das könnte man mir durchaus als Interesse an seiner Person auslegen. Und er hat sich gerade ziemlich weit für mich aus dem Fenster gelehnt. Das jetzt nicht zu honorieren, wäre echt arschig. Und eigentlich ist es auch nicht das, was ich will. Aber andererseits …

 

„Komm“, sage ich kurzentschlossen, weil ich das nun wirklich nicht hier mit ihm besprechen kann, und greife nach seiner Hand. Anschließend drehe ich mich um und setze Kurs direkt in den Wald hinein. Ich muss Ästen ausweichen und Blättern und aufpassen, dass ich mich nicht in irgendwelchen Brombeerranken verheddere, aber davon lasse ich mich nicht aufhalten. Ich wandere schnurstracks ins Gestrüpp hinein, mit Bruno im Schlepptau. Vermutlich wäre es schlau, ihn vorgehen zu lassen, aber er weiß ja nicht, wo ich hinwill. Ich auch nicht, aber das ist eigentlich auch nicht so wichtig. Nur weg von der Straße. Irgendwohin, wo es ruhig ist und wir reden können. Und vielleicht hat sich bis dahin ja auch mein wild klopfendes Herz wieder beruhigt.

 

Als wir an einer Lichtung ankommen – es ist nicht dieselbe wie die, auf der ich Bruno nach der Sache mit seinem Vater gefunden habe, aber durchaus ähnlich – halte ich an. Wirklich zufrieden bin ich mit meiner Wahl nicht, denn eigentlich ist das hier alles viel zu offen und es gibt auch nichts, wo man sich hinsetzen kann, romantisch geht also wirklich anders, aber … es wird wirklich Zeit, jetzt mal Tacheles zu reden. Deswegen habe ich ihn hergeholt und genau das werde ich jetzt auch tun. Los jetzt!
 

„So“, sage ich, mehr um mich selbst davon zu überzeugen, dass es nun wirklich Zeit ist, das ein für allemal zu klären. Obwohl ich immer noch nicht weiß, wie das Ergebnis aussehen wird. Aber zunächst mal sollte ich vielleicht eins klarstellen.

 

„Ich will das auch. Also das mit uns. Nur damit du das weißt.“

 

Mit zur Faust geballtem Gesicht stehe ich da, und starre Bruno an. Er starrt zurück, so als würde sein Gehirn noch damit kämpfen, die frohe Botschaft aus meinem abwehrenden Tonfall herauszufiltern. Was ich ihm nicht verdenken kann, denn immerhin kann man das „Aber“, das dieser Aussage folgt, fast schon hören. Das will ich eigentlich nicht. Aber ich will auch …

 

„Ich will das“, sage ich deswegen noch einmal sanfter. „Aber ich …“

 

Ich hab Angst.

 

Das ist es doch, was ich jetzt endlich mal zugeben müsste. Neben ungefähr einer Million anderen Dingen, die mir das Herz in die Hose rutschen lassen, habe ich Schiss davor, dass es mit uns nicht klappt. Denn auch dafür könnte es ungefähr eine Million Gründe geben. Dass ich ihm zu viel werde. Dass er mir zu viel wird. Oder zu wenig. Dass es herauskommt und wir uns deswegen streiten. Dass seine Freunde uns dazwischenfunken oder seine Familie oder dass ihm allgemein auffällt, dass er mit mir halt doch nicht das große Los gezogen hat. Weil ich ätzend bin und schwierig und eitel und egoistisch und weil…

 

„Ich hab Angst, dass du gehst.“

 

Kaum habe ich das gesagt, komme ich mir albern vor. Immerhin bin ich doch derjenige, der immerzu Fluchtpläne geschmiedet hat. Der sich nicht festlegen und nur auf was Unverbindliches einlassen wollte, damit ihm ja niemand zu nahe kommt. Und hierbleiben, mich anpassen und den Kopf einziehen wollte ich schon gar nicht. Ganz im Gegensatz zu Bruno, der sein Leben lang nichts anderes getan hat, damit ihn auch ja keiner aus dieser spießigen Kleinbürgergemeinschaft ausschließt. Und jetzt erwische ich mich auf einmal dabei, dass ich das auch will. Oder wenigstens in Betracht ziehe. Dass ich bereit bin, viel, viel mehr zu geben, als ich vermutlich bekommen werde, und das macht mir Angst. Denn was ist, wenn Bruno mich irgendwann nicht mehr haben will? Wenn er irgendwann die Schnauze voll hat von mir. Was ist dann?

 

Bruno guckt. Und guckt und guckt und gerade, als ich mich einfach umdrehen und gehen will, weil mir das hier jetzt echt zu viel wird nach diesem absolut peinlichen und gleichzeitig lächerlich armseligen Seelenstriptease, kommt plötzlich Bewegung in ihn. Langsam, vorsichtig, in einem Tempo, bei dem ihn vermutlich ein Gletscher auf dem Weg ins Meer überholen würde, kommt er auf mich zu. Ich meine, im Grunde hat er es ja nicht weit. Wir stehen kaum einen Meter auseinander. Trotzdem scheint es ewig zu dauern, bis er endlich bei mir angekommen ist. Und mich in die Arme nimmt. Ganz fest.

 

„Ich gehe nicht weg“, sagt er leise und hält mich und ich? Ich merke an dem verräterischen Kribbeln in meiner Nase, dass ich kurz davor bin loszuheulen. Verdammte Scheiße. Ich will nicht heulen! Ich will stark sein und mutig und …

 

„Weiß ich“, nuschele ich deswegen schnell gegen sein Schlüsselbein, obwohl ich gerade noch das Gegenteil behauptet habe. Kein Wunder, dass Bruno nicht weiß, woran er bei mir ist. Ich dreh mich doch wie das sprichwörtliche Fähnchen im Wind.

 

Seine Brust wackelt ein bisschen unter mir.
 

„Ach ja?“

 

Das Amüsement in seiner Stimme ist nicht zu überhören und ich stöhne. Innerlich. Denn genau das hatte ich befürchtet. Dass er mich nicht ernst nimmt. Wie auch? Ich nehm mich ja selbst nicht ernst. Das ist echt so lächerlich, dass ich hier einen auf dramatisch mache. Also los, Fabian, reiß dich zusammen. Du bist doch kein Baby mehr!

 

„Was ist denn nun mit deinem Onkel?“

 

Irgendwo muss ich ja anfangen und da er das letztes Mal auch als Einstieg gewählt hat, ist es vielleicht safe, wenn ich danach frage. Nägel mit Köpfen und so.

 

Bruno, der von dem plötzlichen Themenwechsel offenbar ein wenig überfordert ist, lockert seinen Griff.
 

„Wohnt er weit weg?“, präzisiere ich meine Frage noch und presse mich ganz entgegen seiner Bemühungen enger an ihn. Ich mag ihn jetzt nicht ansehen. Oder loslassen. Ich will lieber wissen, woran ich bin.
 

„Nein“, antwortet Bruno langsam. „Er hat einen Gasthof in Seelheim. Der 'Goldene Geißbock'. Nichts großes, nur ein paar Zimmer, Biergarten, lokale Küche. Nicht ganz das, was ich mir vorgestellt hatte, aber …“

 

„Du fängst bei ihm an?“

 

Das ergäbe Sinn. Bruno hat ja gesagt, er will Koch werden, und wenn die ne Küche haben, kann man da doch kochen lernen. Oder? Ich hab keine Ahnung.

 

Bruno selbst zuckt ein wenig unentschlossen die Schultern.
 

„Wir müssen noch klären, ob mein Onkel einen Ausbildungsschein bekommt. Aber wenn das klappt …“

 

Er lässt den Rest des Satzes offen und ich gebe mir einen Ruck.
 

„Das ist toll!“, sage ich und meine es auch so. Immerhin ist das doch das, was er wollte. Ich meine, klar, es ist nicht das Hyatt, aber wenn er dadurch den Hof nicht übernehmen muss …

 

„Und du ziehst bei ihm ein?“
 

Das ist der nächste Punkt. Immerhin hat Bruno mir noch nicht gesagt, ob er vorhat, seinem Onkel reinen Wein einzuschenken. Das wäre schon wichtig zu wissen.

 

„Nicht direkt. Es gibt in seinem Haus eine kleine Einliegerwohnung. Mit separatem Eingang. Die kriege ich.“
 

Das Schweigen über mir wird für einen Augenblick fast greifbar, dann setzt Bruno hinzu:

 

„Wenn ich da Besuch bekomme, merkt das keiner.“

 

Ich atme und versuche verzweifelt, meinen Puls unter Kontrolle zu behalten. Bruno hat also nicht nur eine Fluchtmöglichkeit gefunden, er hat gleich auch noch ein Liebesnest aufgetan. Ein heimliches Liebesnest. Eines, wo uns keiner erwischen würde.
 

„Also weiß es dein Onkel nicht?“

 

Die Frage ist eigentlich blöd. Und gemein. Und sie kommt bei Bruno genauso an, wie sie gemeint war. Scheiße!
 

„Nein, er weiß es nicht. Und auch sonst keiner aus meiner Familie.“

 

Außer seinem Vater natürlich, aber der ist ja ein Arsch.

 

„Und das wird so bleiben?“

 

Ich weiß nicht, warum ich jetzt so einen Schwachsinn frage. Himmel, Fabian! Er hat sich schon vor deinen Freunden geoutet. Was willst du denn noch?

 

„Vorerst ja. Ich … ich kann es meiner Mutter einfach nicht sagen. Vielleicht wenn Katie älter ist. Oder ich auf eigenen Füßen stehe. So richtig.“

 

Ich verstehe. Eigentlich will ich das nicht, aber dummerweise kann ich nicht verhindern, dass ich seinen Wunsch nachvollziehen kann. Denn so, wie ich seinen Vater einschätze, wird er einen Teufel tun, es irgendwem zu erzählen. Es ist ein erzwungenes Patt, dass den Blödmann dazu zwingt, die Füße stillzuhalten. Aber wenn Bruno ihm jetzt auf den Pelz rückt, wird er angreifen. Wie auch immer. Und ich glaube nicht, dass Bruno diesen Kampf gewinnen würde. Nicht, ohne alles zu verlieren. Die Geschichten, die ich dazu im Netz gefunden habe, sind mehr als haarsträubend. Außerdem steht ja immer noch nicht fest, wie seine Mutter reagieren würde. Was, wenn sie sich entschließt, zu ihrem Mann zu halten? Das wäre wirklich …

 

„Aber ich hab es Gustav erzählt.“

 

Ich erstarre und glaube einen Moment lang, mich verhört zu haben. Hat er wirklich gerade gesagt, dass er … oh fuck!

 

Ohne es zu wollen, reiße ich den Kopf nach oben und starre ihn an.

 

„Was?“, keuche ich atemlos und schieße gleich noch ein „Wann“ und ein „Wo“ hinterher. Das „Warum“ spare ich mir lieber auf. Ich glaube, das will ich gar nicht wissen.

 

Bruno guckt ein bisschen bedröppelt, fast so, als hätte er etwas falsch gemacht.

 

„Ich weiß nicht, es ist mir so rausgerutscht.“

 

Rausgerutscht?“

 

Jetzt weiß ich wirklich nicht mehr, warum wir uns eigentlich im Wald treffen. Ganz ehrlich, der Kerl will doch erwischt werden. Meine Fresse!

 

Bruno verzieht das Gesicht.
 

„Na ja, er war … Gustav war sauer. Weil ich zu der Party gehen wollte. Er hat mir vorgeworfen, ein opportunistisches Arschloch zu sein, weil ich letztens noch auf dich los bin, mich dann aber auf Kosten deines besten Freundes besaufen will. Und da hab ich gesagt, dass ich dir nicht ans Leder wollte, weil ich dich nicht leiden kann. Tja und dann ist eins zum anderen gekommen und …“

 

Bruno bricht ab und guckt immer noch wie ein Schaf.

 

„Gustav ist nicht dumm, weißt du?“
 

Nein, offensichtlich nicht. Bei Bruno bin ich mir da inzwischen jedoch nicht mehr ganz sicher. Oder bei mir. Also isses jetzt dann eigentlich auch egal. Nägel mit Köpfen.
 

„Wir müssen es meiner Mutter sagen.“

 

Weiß der Kuckuck, wo das jetzt gerade herkam. Meine Gedankensprünge sind wohl auch nicht von schlechten Eltern.

 

Bruno runzelt die Stirn.
 

„Deiner Mutter?“

 

Sein Zweifel ist echt, aber nicht hoffnungslos. Wie zur Bestätigung nicke ich
 

„Ja. Entweder das oder sie findet es selbst heraus. Sie hat mich eh schon nach dir gefragt, also von daher …“

 

Das wären dann fünf, wenn man mich nicht mitzählt. Fünf Leute, die wissen, dass Bruno schwul ist. Eine ganze Menge, wenn man bedenkt, dass er es bis vor ein paar Wochen noch vollkommen geheim gehalten hat. Aber geheim ist scheiße. Geheim ist einsam. Geheim heißt, dass man niemand um Hilfe bitten kann. Niemals. Und wenn doch muss man sich Ausreden einfallen lassen. Warum man die „Braut“ da nicht scharf findet. Warum man noch keine Freundin hat. Warum man irgendwas gut findet oder tut, was angeblich nur jemand gut finden oder tun kann, der schwul ist. Deswegen wollte ich „geheim“ nie. Aber „nicht geheim“ heißt auch nicht, dass auf einmal alles eitel Sonnenschein ist. Man hat genauso Probleme, wenn auch andere, und wenn Bruno und ich zusammen wären, hätten wir wohl von beidem etwas. Nicht gerade rosige Aussichten.
 

„Sie wird es nicht weitersagen“, verspreche ich trotzdem.
 

Wem auch? Und warum? Nichtsdestotrotz habe ich das Gefühl, Bruno beruhigen zu müssen. Damit er nicht Angst vor der eigenen Courage bekommt. So wie ich. Aber kneifen gilt nicht. Jetzt nicht mehr.

 

Mit klopfendem Herzen, den Blick direkt auf sein Gesicht gerichtet, versuche ich ein Lächeln.
 

„Das wird gut. Glaub mir. Pascal ist zwar noch ein bisschen skeptisch …“

 

Ich weiß nicht, wen ich hier gerade versuche zu überzeugen. Bruno jedenfalls nicht, wenn ich mir seinen Blick so ansehe. Mir wird warm. An verschiedenen Stellen.

 

„Gustav war auch nicht gerade begeistert“, gibt mein boyfriend-to-be leise zu. „Er hat mir einen schlechten Geschmack attestiert.“
 

Erst möchte ich ja trotz des sanften Tonfalls empört sein, doch dann grinse ich.

 

„Ach ja?“, meine ich spielerisch erstaunt und kräusele die Lippen. „Warum ist er dann nicht mitgekommen, um mir das selber zu sagen.“

 

Brunos Mundwinkel zucken.
 

„Er konnte nicht.“

 

Ich spüre sein Lachen mehr, als das ich es höre. Es fühlt sich an wie ein unterirdischer Bach. Verborgen und kraftvoll. Unwillkürlich rücke ich näher.
 

„Und warum nicht?“

 

Eigentlich interessiert mich Gustav ja nicht wirklich, aber da er ja nun einer von den Mitwissern ist, werde ich mich wohl mit ihm arrangieren müssen.

 

Bruno gluckst amüsiert.
 

„Weil er krank ist. Windpocken. Sieht aus wie ein Streuselkuchen, aber kein leckerer.“

 

Bei der Vorstellung entstehen Bilder in meinem Kopf. Das ist wirklich zu …

 

„Windpocken?“, frage ich und ringe nun ebenfalls mit meinen Mundwinkeln. „Wird man dagegen nicht geimpft?“

 

Bruno macht ein ernstes Gesicht.
 

„Gustavs Mutter glaubt nicht an Impfungen“, erklärt er mit Grabesstimme. „Sie behandelt Krankheiten lieber mit der Kraft der Natur.“

 

Ich bin kurz davor loszuprusten.

 

„Mit Windkraft sozusagen“, bringe ich noch heraus, bevor meine Selbstbeherrschung sich endgültig verabschiedet. Die Vorstellung von Gustav, dessen Mutter in wallenden Gewändern mit Räucherstäbchen in der Hand um ihn herumtanzt, ist einfach zu komisch.

 

Auch Bruno beginnt zu lachen. Dabei zieht er mich noch näher zu sich heran. Eigentlich sollte das nicht gehen, aber Bruno schafft es trotzdem. Er hält mich ganz fest.
 

„Ich mag es, wenn du lachst.“

 

Seine Stimme ist zärtlich und da ist wieder dieser Glanz in seinen Augen. Ich fühle, wie er mich ansieht. Sieht. So ganz und vollkommen.

 

„Ich mag das auch“, antworte ich und bevor ich mir noch Gedanken darüber machen kann, dass die Antwort erstens nicht sinnvoll und zweitens zweideutig ist, lehne ich mich einfach vor und küsse ihn. Erst sanft, doch dann, als sich unsere Blicke zwischendurch kurz treffen und mir bewusst wird, wie sehr ich ihn vermisst habe, wie sehr ich das hier vermisst habe, gibt es kein Halten mehr. Ich falle über Bruno her und küsse ihm förmlich die Seele aus dem Leib. Doch auch Bruno lässt sich nicht lumpen. Ehe ich mich versehe, hat er mich gepackt, hochgehoben und gegen einen Baum gedrückt. Sein Gewicht presst mich gegen das raue Holz und ich befürchte wirklich, gleich keine Luft mehr zu bekommen, als er sich wieder von mir löst. Mit fiebrigen Augen sieht er mich an.
 

„Ich wünschte …“

 

Er schluckt. Ich glaube, er muss erst mal zu Atem kommen.
 

„Ich wünschte, wir wären jetzt nicht im Wald.“

 

Ich höre die Worte und verstehe die implizierte Frage. Und die Frage dahinter. Die, ob er seine zweite Chance nun bekommt. Oder dritte. Je nachdem.
 

„Dann lass uns zu mir gehen.“

 

Immerhin wird er den Schlüssel zu seiner Wohnung noch nicht haben. Außerdem hab ich zwar keine Ahnung, wo Seelheim liegt, aber alles, was weiter als zehn Minuten entfernt ist, ist gerade viel zu weit weg. So lange kann ich nicht warten.

 

Bruno leckt sich über die Lippen. Ich kann sehen, wie er überlegt. Daran hat sich nichts geändert.
 

„Ist deine Mutter zu Hause?“

 

Ach ja, da war ja was. Der Teil meiner Forderungen.

 

„Nein, sie arbeitet.“

 

Bruno entspannt sich.

 

„Aber heute Abend könnte sie … also … sie könnte was für uns kochen. Oder wenigstens was aufwärmen. Ja, ich denke, das kriegt sie hin. Du könntest zum Essen bleiben.“

 

Für einen Augenblick schweigt Bruno. Ich beobachte, wie die Gedanken hinter seiner Stirn vorbeihuschen. Irgendwann nickt er zögerlich.
 

„Ja, ich … ich glaube, das wäre schön.“

 

Ich weiß, dass er aufgeregt ist. Ich kann sein Herz klopfen hören. Oder vielleicht ist es auch meines. Denn da ist noch etwas, das ich ihm nicht erzählt habe. Aber ich glaube, das kann warten.

 

„Na los!“, meine ich und wackele ungeduldig mit den Beinen. „Lass uns zusehen, dass wir hier wegkommen. Ich will dich endlich auf meinem Bett. Nackt. Und schwitzend. Und sexy. Sehr, sehr sexy.“

 

Bruno lacht. Und nickt. Und dann küsst er mich noch einmal, so als wüsste er, dass das hier der Anfang von etwas Großem ist. Etwas sehr, sehr Großem. No pun intended.

 



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  Ryosae
2023-12-04T12:29:13+00:00 04.12.2023 13:29
Hey Mag
Wie schööön! Fabians Nervösität ist richtig ansteckend. Aber wir wissen ja alle wie verdammt schüchtern und unsicher man auf diesem Terrain sein kann.
Das alles hört sich doch aber schwer nach einem Happy End an <3
Fliege mal weiter ~

LG
Ryo
Antwort von:  Maginisha
07.12.2023 09:49
Fabian muss hier nun tatsächlich mal raus aus seiner Komfortzone, sonst wird das nichts. Aber auch Bruno hat noch einen Weg zu gehen. Sie kommen halt wirklich aus sehr unterschiedlichen Welten.
Von:  -Chiba-
2023-09-04T10:34:02+00:00 04.09.2023 12:34
Na endlich :-D
Ich hatte echt schon gedacht die beiden bekommen das gar nicht mehr hin.
Was lange währt, währt endlich gut...oder so XD
Aber leicht wird es für die beiden wohl trotzdem nicht werden. Immerhin hat Bruno einen Freund, dem er sich in Zukunft anvertrauen kann.
Das man sich in der heutigen Zeit noch immer verstecken muss und nicht so akzeptiert wird, wie man ist, ist echt traurig.
Meine Schwester und ihre Partnerin haben auch ständig Probleme...das macht einen nur wütend òó

Dan hoffe ich mal, dass die beiden ein paar unbeschwerte Stunden/Tage erleben werden, bevor es wieder drunter und drüber geht.

LG
Chi
Antwort von:  Maginisha
06.09.2023 09:50
Hey Chi!

Ich nehme an, dass es dich nicht überrascht, wenn ich dir sage, dass du nicht die Einzige warst, die mit "endlich" auf dieses Kapitel reagiert hat. :D

Hat aber auch gedauert. Wobei die Umstände ja halt auch nicht so dolle waren. Es ist eben, wie du schon sagst, noch nicht alles gut und selbstverständlich. Vielleicht kommt das noch. Irgendwann. Hoffentlich.

Fabian und Bruno werden sicherlich noch den einen oder anderen Kampf auszustehen haben. Mit sich selbst, mit anderen, mit dem Leben. Aber ich denke mal, sie werden das hinkriegen. Zusammen.

Ein kleines Kapitel kommt noch, dann ist hier Schluss. ^_~

Zauberhafte Grüße
Mag


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