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Festival of Blood

von

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2

Samantha war überwältigt gewesen, wie schnell Wilmas Medizin Wunder gewirkt hatte. Nachdem sie ihr in einer kurzen Fassung erzählt hatte, was ihr gestern Nachmittag alles widerfahren war hüpfte die junge Kräuterheilerin wie ein kleiner Gummiball durch ihre Hütte, nahm hier ein Blatt aus einem Glas, dort einige getrocknete Beeren aus einer Schublade und noch vieles mehr und warf es dann ohne hinzusehen über ihre Schulter in den Kessel. Dann blieb sie abrupt stehen, stierte ihren Kessel verwundert an und verpasste ihm einen kräftigen Tritt. Augenblicklich stieg aus ihm eine lilafarbene glitzernde Wolke auf und die junge Frau sah mit einem Mal äußerst zufrieden aus. Ok, dachte sich Samantha, noch mehr Klischees können wir heute nicht mehr erfüllen…

„Ja, meine Spezialeffekte brauchen manchmal einen kleinen Anschubser“, grinste Wilma breit und hob entschuldigend ihre schmalen Schultern.

„Wenn du das sagst…“

Generell war die junge rothaarige Frau relativ zierlich gebaut, und wenn Samantha immer gedacht hatte, sie sei schon klein gewachsen, dann unterbot Wilma sie um einen halben Kopf.

„Leider habe ich keinen dreiäugigen Salamander mehr, der würde das Ganze noch abrunden.“

„Ah...ja.“

„Den gibt es hier wirklich“, lachte Wilma, als ihr die Ungläubigkeit in Samanthas Stimme auffiel, „bei Gelegenheit zeige ich dir mal einen.“

„So lange habe ich eigentlich nicht vor zu bleiben.“

„Nicht?“, rief Wilma überaus enttäuscht aus, „du MUSST bleiben!“

„Meine Mutter macht sich große Sorgen um mich“, erwiderte Samantha und es zog ihr den Magen zusammen, als ihr wieder einfiel, dass ihre Mutter immer noch nicht über ihren Verbleib informiert war.

Der Rotschopf zögerte kurz, griff dann in ihre lederne Bauchtasche und schmiss irgendein Kraut in den blubbernden Kessel. Sie hielt kurz inne, stützte sich dann mit beiden Händen am Kesselrand ab, während sie wie in Trance in die lilafarbene Flüssigkeit starrte.

„Sie weiß bereits, dass du nicht kommen wirst“, murmelte sie dann.

Natüüürlich weiß sie das bereits. Immerhin war es mittlerweile der nächste Tag und sie war immer noch nicht auf Nicoles Hochzeitsfeier erschienen. Und gleich wenn Samantha die Hütte wieder verlassen würde, dann hüpften weiße Einhörner auf einer saftigen Wiese vor sich her.

„...die Hochzeit wurde übrigens abgesagt“, setzte Wilma fort, ohne aufzusehen.

Samantha erstarrte plötzlich zu einer Salzsäule und glotzte ihr Gegenüber mit weit aufgerissenen Augen an. Ihr wurde gleichzeitig heiß und kalt und sie spürte, wie ihr Mageninhalt rebellierte.

„Ein Sturm…“, murmelte die Rothaarige weiter, „der Schauplatz wurde völlig...weggeweht…“

„Weggeweht?“

„Es war ein starker Sturm.“

Samantha stand auf und humpelte zu ihr rüber, stierte in den Kesselinhalt und stutzte. Das Einzige, was sie sah war eine dickflüssige lilafarbene Substanz. Aber das mit der Hochzeit konnte niemand hier wissen! Sie hatte keiner Menschenseele davon erzähl, nur dem Jäger das sie nach Orlando wollte.

„Wo siehst du das alles?“, wollte Samantha ungläubig wissen.

„Na da“, meinte Wilma und zeigte auf eine Blubbelblase, welche augenblicklich zerplatzte, „du bist keine Wicca, du kannst nicht ‚Sehen‘.“

„Klar kann ich sehen!“

„Ja, aber nicht ‚Sehen‘ sehen. Du bist voller Zweifel dieser Dimension gegenüber, dein drittes Auge wird sich demnach nicht öffnen.“

Als die Blicke der beiden Frauen sich trafen vibrierte die Luft in der Hütte. Samanthas Miene zeigte, wie falsch sie das hier alles fand, Wilma hingegen schmunzelte Honigsüß.

„Zu viel des Guten“, grinste sie, „mach es dir gemütlich und ich werde deinen Fuß heilen.“

Samantha setzte sich auf einen Baumstumpf, streckte dabei ihr verletztes Bein weit von sich und nutzte dabei die Gelegenheit, sich weiter in der Hütte umzusehen. Es war das reinste Klischee.

So hatte sie sich ein Hexenhäuschen immer vorgestellt.

„Wicca“, murmelte Wilma, während sie in einem Mörser etwas zerrieb, „die Absicht der Hexerei ist es, die in der Natur und in sich selbst enthaltenen Kräfte zu nutzen, um ein bestimmtes Ergebnis zu manifestieren, sei es Liebe, Erfolg, Heilung oder Verbindung mit anderen Wesen. Die Wiccas beziehen oft Magie in ihre Rituale ein. Daher können alle Wiccas die Fähigkeit zur Hexerei besitzen, jedoch können nicht alle Hexenpraktizierenden Wiccaner sein.“

Sie sah von ihrem Tun auf und grinste noch breiter.

„Ich habe kein Wort verstanden, aber du hast mich vorher schon überzeugt.“

„Ich weiß“, strahlte Wilma und fügte dem Mörser noch ein paar Zutaten hinzu.

„Du kannst also Gedanken lesen?“

„Nein. Ich hatte eine Vision, als du neben mir gestanden hast, dass du sehr skeptisch mir gegenüber bist. Ich sehe manchmal Dinge, die selbst mir zuerst unerklärlich sind, sich mit der Zeit aber wie ein Déjà-vu von selbst lösen.“

Sie kam mit der Schale zu Samantha, ging vor ihr auf die Knie und zeichnete mit der Paste eine Rune auf deren Knöchel. Dann legte sie ihre flache Hand knapp darüber und schloss ihre Augen. „Das fühlt sich so gut an“, seufzte Samantha und schloss ebenfalls ihre Augen, nachdem sie das leichte Kribbeln spürte.

Sie hielt ihre Augen noch für eine Weile geschlossen, auch als sie hörte, wie Wilma bereits wieder in ihrer Hütte hantierte. So ein unbeschreiblich wohltuendes Gefühl, sie konnte sich nicht daran erinnern, wann sie so etwas schon einmal empfunden hatte.

„Wir müssen gehen“, unterbrach Wilma plötzlich die Stille und warf sich ihre Kapuze über, „sonst kommen wir zu spät.“

„Zu spät?“, schreckte ihr Gast auf und blinzelte, „für was?“

„Komm einfach! Du kannst jetzt wieder normal laufen.“

Zögernd klopfte Samantha mit ihrem Fuß auf den Boden und stellte vergnügt fest, dass sie tatsächlich keinerlei Schmerzen mehr hatte. Sie sprang auf und folgte Wilma schnellen Schrittes in Richtung Wald. Für den Bruchteil einer Sekunde wollte die junge Frau zögern, doch Wilma spürte das und zog sie am Handgelenk einfach hinter sich her.

Samanthas Magen rebellierte je tiefer sie in den Wald eindrangen, doch Wilma wuselte zielsicher voraus ohne jede Scheu. Naja, schließlich sie wurde ja auch nicht vor kurzem von einem rotäugigen Tier durch den halben Wald gejagt.

„Ah…“, seufzte die Wicca siegessicher und hielt an einer kleinen Lichtung an, „gerade noch rechtzeitig!“

Samantha sah sich nach etwas um, das von größerer Bedeutung sein könnte, konnte jedoch außer grünen Blättern und Büschen nichts bemerkenswertes erkennen. Wilma ging ein bisschen voraus, bückte sich über eine Baumwurzel und winkte ihre Begleitung zu sich. Samantha schlich sich schon fast an und linste über die Schulter der Rothaarigen Frau und riss ungläubig die Augen auf. Vor ihnen krabbelte ein kleines Tierchen, genauer gesagt ein kleiner Salamander. Mit drei Augen.

„Das gibt’s doch nicht…“, hauchte sie und ging neben Wilma in die Hocke.

„Und du hast geglaubt, ich verarsche dich“, grinste die Wicca.

„Fängst du ihn?“

„Nein...diesen hier nicht…“

Sie verweilten so noch eine Weile, dann erhob sich Samantha wieder und sah sich auf der Lichtung noch ein wenig um. Sie war wunderschön, wenn man außer Acht ließ, welche Tiere unter anderem hier ihr Unwesen trieben. Wilma guckte zu ihr auf, ihre Miene war nicht mehr so fröhlich wie vorher sondern ungewöhnlich ernst.

„Du...du hast ihn...also getroffen?“

„Wen denn?“, erkundigte sich Samantha überrascht.

„Den Wächter...des Waldes…“, raunte die Wicca und warf Samantha einen ehrfürchtig Blick über die Schulter zu, „das Tier mit den roten Augen...“
 

~*~
 

Gefrustet entfernte sich Samantha von Wilmas Hütte, nachdem die beiden Frauen dorthin zurück gekehrt waren und sie immer noch keine Antworten bekommen hatte. Sie hatte die junge Wicca den kompletten Rückweg geradezu bedrängt ihr mehr über den „Wächter des Waldes“ zu erzählen, das Tier mit den roten Augen, doch Wilma hatte ehrfürchtig geschwiegen, immer wieder versucht die Gespräche in einen lockeren Smalltalk umzulenken, doch Samantha ließ nicht ab und so kam es dazu, dass sie die letzten Minuten schweigend nebeneinander herliefen. An der Hütte angekommen verkündete Wilma, dass sie sich sehr auf das anstehende Mondscheinfest freuen und es liebend gerne mit Samantha zusammen feiern würde.

„Bis dahin ist hoffentlich mein Auto wieder repariert und ich kann nach Hause fahren“, grummelte die junge Frau und ging zurück in die Siedlung, ohne Wilmas Reaktion oder Antwort abzuwarten.

Dort angekommen waren einige Frauen damit beschäftigt den großen Platz von Laub und kleineren Ästen zu befreien, anscheinend würden sie hier ihr sogenanntes Mondscheinfest feiern. Martha erblickte Samantha und winkte ihr zu, erkundigte sich nach ihrem Fuß und stellte zu ihrer großen Freude fest, dass er geheilt worden war.

„Wilma ist ein wahrer Schatz“, verkündete eine andere Frau, welche zu ihnen aufgeschlossen hatte, „mein Sohn hatte einmal ein so starkes Fieber, dass wir schon um sein Leben fürchteten, doch Wilma war gekommen und nicht von seinem Bett gewichen für ganze vier Tage! Sie hat ihn geheilt!“

„Mir rührt sie regelmäßig eine Salbe für meine Gelenkschmerzen an“, gab ein anderer Bewohner stolz von sich.

„...und mir trocknet sie immer Kräuter für meinen Tee!“

Samantha hatte selber am eigenen Leib erfahren, wie gut Wilmas Heilkräfte gewesen waren, es gab keinerlei Zweifel daran, dass sie ihr Werk beherrschte. Und dennoch hegte sie im Augenblick einen gewissen Groll gegen die junge Wicca, welche anscheinend mehr wusste, als sie zugab.

„Martha...du wolltest mir den Weg zur Werkstatt zeigen…“, unterbrach Samantha die mittlerweile angeregt plaudernde Runde.

„Oh natürlich! Hast du deine Autoschlüssel bei dir?“

„Hab ich.“

„Hier entlang“, winkte die Wirtin ihr zu, nachdem sie sich von den anderen Dorfbewohnern verabschiedet hatte.

Sie gingen geradewegs aus der Siedlung, bis zu einer gemauerten Brücke, welche über den breiten Bach führte. Martha blieb stehen, ohne auch nur einen Fuß auf die Überführung zu setzen und zeigte in die Richtung, aus der sie und der Jägersmann gestern gekommen waren.

„...wenn du diesem Pfad folgst biegst du an der kommenden Gabelung links ab und dann ist es gar nicht mehr zu verfehlen. Der Weg zieht sich ein wenig aber zum Glück ist dein Fuß ja wieder geheilt.“

„Du meinst jetzt aber nicht die Ranch mit den Schafen, oder?“

„Doch. Genau die mein ich.“

Samantha ächzte verärgert auf und verdrehte theatralisch ihre Augen. Gestern war sie erst dort gewesen, gleich nachdem sie dem Tier mit den roten Augen entkommen war. Dieser Rüpel, welcher seine Schafe geschoren und sie dumm von der Seite angemacht hatte. Dieser Kerl, mit dem netten Körperbau.

„Gestern hab ich dort bereits nachgefragt, ob sie mein Auto reparieren können und der Mann meinte nein.“

Martha lächelte wissend und entschuldigend zugleich: „Das was sicher Tommy. Er ist...man könnte sagen…“

„Ich möchte nur ungern meine guten Manieren in deiner Gegenwart verlieren, weshalb ich diesen Kerl als ‚äußerst unfreundlich‘ beschreiben würde, doch das wäre, wie wir beide wissen weit untertrieben!“, brummte Samantha und rieb sich ihren Nasenrücken als ihr bewusst wurde, dass sie heute anscheinend wieder mit ihm interagieren musste.

Martha neigte ihren Kopf ein wenig schief und beäugte die junge Frau mit einem wissenden Lächeln, welches Züge von Traurigkeit zeigte.

„Er hatte es...früher nicht immer...leicht, weißt du? Sicher, er braucht ab und zu eine ordentliche Standpauke, wenn du ihn allerdings mal näher kennengelernt hast, dann ist er ein recht netter Bursche.“

„Ach so?“, meinte Samantha und zog ungläubig eine Augenbraue hoch.

„Ja. Tommy hat seine mürrischen Phasen, ich weiß. Aber, wenn du ihm die Stirn bietest...“

Samantha hob jetzt beide Augenbrauen, erwiderte jedoch nichts, während die Wirtin sie vielsagend angrinste. Sie wollte Martha ihre Illusion nicht zerstören, dass es da draußen in der Welt auch Menschen gab, die ihr nicht so wohlgesonnen waren wie die Bewohner hier.

„Ich würde ja gerne meinen Gatten oder einen der anderen Männer darum bitten, dich zu fahren…“, entschuldigte sich die ältere Frau niedergeschlagen, „jedoch scheint der Telefonmast stärker beschädigt zu sein, als sie anfangs dachten. Außerdem liegen durch den Sturm einige umgestürzte Bäume auf der Straße...die müssen auch noch beseitigt werden.“

„Alles gut“, winkte Samantha ab, „mein Fuß ist dank dir und Wilma wieder so gut wie neu!“

Die junge Frau marschierte los, und als sie die Brücke endgültig überquert hatte wies Martha sie daraufhin, dass es mitten durch den Wald eine weitere Abkürzung gab, welche sie ebenfalls direkt zur Ranch führen würde. Ohne großartig zu überlegen winkte die junge Frau erneut ab, sie hatte seit gestern definitiv genug Wald für die nächsten Jahre gesehen.

Jetzt bei Tageslicht und zwei gesunden Füßen war der Pfad zwar nicht mehr annähernd so gruselig wie gestern Abend gewesen, dennoch wollte sie ihr aktuelles Glück auch nicht herausfordern. Zu Samanthas Überraschung hatte sich die Sonne mittlerweile einen Weg durch die dicke Wolkendecke erkämpft und tauchte alles in ein wohlwollendes saftiges grün. Die Vögel sangen ihre herrlichen Lieder, während Hasen und Igel vergnügt Samantha vor die Füße sprangen. Blumen, welche am Wegrand nur so wucherten versprühten ihren lieblichen Duft und zeigten sich in prächtigen Formen und Farben und die junge Frau entschied sich, spätestens bevor sie abfahren würde sich hier einen großen Strauß für zu Hause mitzunehmen.

Nachdem sie den anstrengend langgezogenen Hügel bezwungen hatte machte Samantha eine Verschnaufpause, konnte die Ranch jedoch schon deutlich vor sich liegend sehen. Wenn sie zügig laufen würde, dann wäre sie in guten 15 Minuten dort.
 

~*~
 

Sie hatte 21 Minuten gebraucht, der Berg hatte sich deutlich mehr gezogen, als gedacht. Die laute Musik, welche aus einer der beiden Scheunen an ihr Ohr drang hatte Samantha bereits viele hundert Meter früher schon hören können. Sie ging am Wohngebäude vorbei und guckte in Richtung der beiden Scheunen, als sie plötzlich hinter sich das typische Geräusch einer Flinte hörte, die durchgeladen wurde.

Augenblicklich wandte sie sich erschrocken dem Geräusch zu, hob beide Hände in die Luft und blickte den älteren Mann mit großen Augen an, welcher in einem Schaukelstuhl auf der Veranda saß. Er lehnte sich mit einer deutlich erstaunten Miene nach vorne, so als hätte er seit Jahren keinen Fremden mehr gesehen. Der Mann stellte beide nackten Füße auf den Boden, so dass der Stuhl nicht mehr wippte, schob mit einem Daumen den Schild seiner Cap ein Stück nach oben und stellte die Schrotflinte neben sich auf den Boden.

„Ma’am“, grüßte er sie schließlich und deutete mit dem Schild seiner Cap eine nickende Geste an, „womit habe ich denn die Ehre?“

„Äh...hi…“, stotterte die junge Frau für einen Moment, dann erholte sie sich von dem Anblick der Flinte, „mein Name ist Samantha Davis und man sagte mir, ich meine Martha sagte mir, dass Sie mir vielleicht helfen könnten?“

„So? Meinte Martha das?“, grinste der ältere Mann süffisant und griff neben den Stuhl, wo er ein Einmachglas mit einer klaren Flüssigkeit hervorholte und davon mehrere kleine Schlücke trank.

„Sind Sie Earl?“

„Der bin ich.“

Er saß nun wieder tiefenentspannt in seinem Schaukelstuhl, wippte gemütlich hin und her, während er Samantha nicht aus den Augen ließ. Doch sein Blick hatte nichts Bedrohliches an sich, er sah sie lediglich nur aufmerksam an. Die dunkelblaue Latzhose spannte sich über seinen voluminösen Bauch, seine nackten Füße stießen sich immer wieder leicht vom Boden ab, das Einmachglas in einer Hand, die Schrotflinte in der anderen haltend fehlte nur noch die lange Weizenähre in seinem Mundwinkel.

Samantha schmunzelte vergnügt in sich hinein, ein weiteres Klischee war somit erfüllt worden. Sie trat vorsichtig einen Schritt auf die Veranda zu und versuchte so normal wie nur möglich zu reden, immerhin hatte Earl noch seine durchgeladene Waffe in der Hand und wer wusste schon, wie viel er bereits von seinem anscheinend selbst gebrannten getrunken hatte.

„Gestern Mittag ist mein Auto liegen geblieben…“

„Das tut mir leid. Wo denn genau?“, erkundigte sich der Mann im Schaukelstuhl.

„Ähm...gute Frage...“

„Sie wissen nicht, wo ihr Auto liegen geblieben ist?“, fragte Earl ungläubig und zog eine Augenbraue hoch.

„Naja…“, druckste die junge Frau jetzt, „bis zu einem gewissen Zeitpunkt habe ich es gewusst...dann wurde ich allerdings durch den angrenzenden Wald gejagt und habe dadurch die Orientierung verloren.“

Jetzt war Earl hellhörig geworden, augenblicklich stoppte er seinen Schaukelstuhl, stellte das Glas klirrend zu Boden und erhob sich zu seiner vollen Größe. Mit festem Griff trug er die Schrotflinte neben sich her, während er die Treppen zu Samantha herabstieg.

„Bist du verletzt worden?“, fragte er ernst und beäugte die junge Frau fast schon aufdringlich.

„Nein. Ich konnte dem Vieh gerade so entkommen…“

„Ich weiß ganz genau, wer das war…“, raunte Earl und blickte zu dem Waldrand, aus welchen Samantha gestern noch gehetzt worden war, „die Zeit ist also gekommen…und du bist dir sicher, dass er dich nicht doch irgendwie verletzt hat? Nicht mal ein kleiner Kratzer?“

„Sie meinen das Tier mit den roten Augen?“, fragte Samantha voller Hoffnung, vielleicht endlich ihre Antworten zu bekommen.

Sie erinnerte sich mit Schrecken daran, wie sie gejagt worden war, ihr wurde sofort wieder übel und ihre Hände wurden von einem kalten Schweißfilm bedeckt. Allerdings hatte sie außer zweier Stürze keinerlei Schäden davon getragen.

„Rote Augen?“

Earl überlegte angestrengt, schüttelte dann jedoch verneinend seinen Kopf.

„Nein. Nein! Ich bin mir ganz sicher. Dieses Tier...hat es Tollwut?“

Earl schien zu ihrer Überraschung deutlich erleichtert zu sein, anscheinend sprachen die beiden nicht von ein und demselben Tier. Verdammte Scheiße, wo zur Hölle war sie hier nur gelandet, wenn es gleich zwei von diesen blutrünstigen Bestien gab? Samantha raufte sich knurrend die Haare, während Earl den Kopf schief legte und sie mit einem breiten Schmunzeln beobachtete. Dann nickte er.

„Tu dir selber einen Gefallen, und bleib nachts lieber in deinen vier Wänden. Bei dem, was zur Zeit hier sein Unwesen treibt ist Tollwut das geringste Problem.“

„Zum Glück hat mich der Schäfer gerettet! Wenn er nicht auf das Tier geschossen hätte, dann wäre es sehr wahrscheinlich um mich geschehen gewesen!“

„Der Schäfer?“, fragte Earl jetzt verwundert nach.

„Der jüngere Mann, Tommy, welcher hier anscheinend für Sie arbeitet. Der, der gestern hier die Schafe geschoren hat.“

Die Miene des Farmers hellte sich zu einem breiten Grinsen auf, er wusste wen Samantha meinte und nickte eifrig. Er winkte der jungen Frau zu, ihm zu folgen und marschierte in Richtung der einen Scheune, und zu ihrer Überraschung war Earl für seinen Körperbau verdammt schnell zu Fuß.

„Warten Sie! Was war das denn jetzt für ein Tier? Wird es wiederkommen?!“

„Da war nur ein großer schwarzer Hund“, winkte Earl ab.

„Das glaube ich nicht! Keine Hunderasse wird jemals so groß!“

„Oh, wenn du dich da mal nicht täuscht, Fräulein.“

„Aber welche Rasse hat bitte so leuchtend rote Augen?“

„Eine wilde Rasse.“

„Sie versuchen mich genauso zu verarschen, wie Tommy gestern!“

„Na, dann hat er ja auch mal was richtig gemacht“, lachte Earl heißer und stieß das Tor zur Scheune auf, aus welcher immer noch die dröhnende Musik hallte, „komm runter, Bursche und mach diesen fürchterlichen Krach aus! Wir haben Damenbesuch!“

Samantha blickte überrascht nach oben und bemerkte, das eine Art Speicher über ihr ragte wo einige Büschel Stroh zu sehen waren. Erst jetzt viel der jungen Frau die Leiter neben sich stehend auf und sie fragte sich, warum sie ihr nicht schon beim Eintreten aufgefallen war. Sie würde sich die nächste Zeit von aufgestellten Leitern, sowie schwarzen Katzen fern halten und später würde sie Ausschau nach einem Baum voller Krähen halten müssen. So viel Pech wie Samantha die letzten Stunden gehabt hatte waren selbst für ihre Verhältnisse ungewöhnlich gewesen.

Ein Rascheln ertönte, rief Samantha aus ihren negativen Gedanken und sie konnte hören, wie sich direkt über ihr jemand anscheinend durch das ganze Stroh kämpfte und dann sprang eine Gestalt auch schon vom Speicher herunter. Die junge Frau wich erschrocken einen Schritt zurück, als der schlecht gelaunte junge Mann von gestern direkt neben ihr landete und sich völlig unversehrt wieder aufrichtete. Zur Hölle mit allem hier!, rief eine Stimme in Samanthas Kopf, das waren locker fünf Meter gewesen und dieser Kerl war völlig unversehrt?

Tommy blickte ihr direkt in die Augen und Samantha spürte, wie sich eine Gänsehaut über ihrem ganzen Körper ausbreitete. Er trug heute keine Sonnenbrille, so wie gestern, daher konnte sie zum ersten Mal seine Augenfarbe sehen.

Seine Augen…sie hatten die Farbe von reinstem Bernstein.

Auf einmal fühlte es sich für sie so an, als würden die beiden in einem tiefen dunkelgrünen Wald stehen, sie konnte sogar die Vögel zwitschern hören und den Wind durch die Blätter der Bäume rauschen. Sie war sich sogar ziemlich sicher, dass sie den Wald riechen konnte.

Earl trat neben Tommy und schlug mit seiner flachen Hand auf dessen Hinterkopf. Dieser wandte den Blick von Samantha ab und funkelte den alten Mann herausfordernd an.

„Du Idiot!“, motzte Earl aufbrausend, „als ich dich gestern beim Abendessen gefragt habe, was es denn neues gibt, hast du wohl völlig vergessen mir zu erzählen, dass du das Leben dieser jungen hübschen Lady gerettet hast?!“

Bei dieser unerwarteten Standpauke entgleiste für einige Sekunden das Gesicht des jüngeren Mannes und er stand regungslos da, rieb sich den Nacken und seufzte genervt auf.

„Ah! Jetzt fällt es dir also wieder ein? Ist dir bewusst, was hätte passieren können?!“

„Ich habe es verjagt!“, beschwerte der jüngere Mann sich jetzt grummelnd, „und es ist ja auch nichts passiert!“

„Dein Glück!“, brummte Earl, „du wirst die junge hübsche Lady zu ihrem Auto begleiten und es herbringen, damit du es wieder zum Laufen bringen kannst!“

Tommy warf Samantha jetzt einen herausfordernden Blick zu und sie sah ungläubig zwischen ihm und Earl hin und her.

„Moment! Ich soll zusammen mit ihm gehen? Alleine?“, erkundigte sie sich und versuchte erst gar nicht zu verbergen, dass sie alles andere als begeistert war.

Earl lachte sie an und winkte ab: „Keine Sorge. Er beißt nicht.“
 

~*~
 

Der rote Jeep Wrangler rüttelte Samantha ordentlich durch, während Tommy beinahe schon steif neben ihr saß und den Wagen durch das Gelände jagte, dabei stur auf die Straße starrend. Trotz Gurt und Seitengriff, welchen die junge Frau beinahe krampfhaft umklammert hielt hatte sie nicht das Gefühl, hier drin ordentlich gesichert zu sein. Es konnte aber auch an Tommys konsequenten Schweigen liegen, was eine unwohle Atmosphäre in ihr herauf beschwor. Es lief nicht einmal das Radio!

Nach einer gefühlten Ewigkeit holpriger Schaukelfahrt erreichte der rote Jeep endlich eine normale Straße, wo Tommy den Wagen nach wenigen Minuten Fahrt abrupt zum Stillstand brachte und dann regelrecht zu seiner Begleitung rüber starrte. Samantha verkroch sich beinahe schon in die Ecke ihres Sitzes, seine Augen funkelten in einer Farbe, die sie vorher noch nie gesehen hatte. Seine schwarzen Haare waren zwar kurz geschnitten, standen trotzdem in alle Richtungen ab, es hatte sich sogar ein Weizenhalm in ihnen verfangen. Auf seinem Gesicht machte sich ein dunkler Bartschatten breit, während sein Oberkörper völlig frei von Haaren war, wie sie gestern gesehen hatte. Gerade trug er ein ausgebeultes T-Shirt, dessen Aufdruck fast nicht mehr zu erkennen und Tommy definitiv einige Nummern zu groß war.

„Was ist?“, traute Samantha sich endlich zu fragen, nachdem er sie eine weitere gefühlte Ewigkeit wortlos angestarrt hatte.

Plötzlich rutschte der junge Mann zu ihr rüber, Samantha konnte den Geruch nach trockenem Stroh und Männerschweiß bereits wahrnehmen. Seine leuchtend gelben Augen brannten sich weiterhin in ihre braunen, während sein Gesicht dem ihren immer Näher kam. Earl hatte ihr zwar versichert, dass Tommy nicht beißen würde, aber jetzt war sie sich nicht mehr allzu sicher. Wer würde ihr zur Hilfe kommen, falls tatsächlich etwas passieren sollte? Um Himmelswillen, warum musste so was ausgerechnet immer nur ihr passieren?!

Aus Reflex hielt sie ihm die ausgestreckte Hand entgegen, hoffte er würde die Andeutung verstehen, Abstand zu ihr zu halten, doch Samantha kam sich gleichzeitig so dämlich bei dieser Geste vor. Tommys Augen wichen für den Bruchteil einer Sekunde von den ihren ab, er begutachtete ihre Hand, die schmalen Finger, die manikürten Nägel, was Samantha sich extra für Nicoles Hochzeit hatte machen lassen. Ein schelmisches Grinsen machte sich plötzlich auf seinen schmalen Lippen breit.

„Du hast Angst vor mir“, raunte er belustigt und blickte ihr wieder in die Augen.

„Nein“, erwiderte sie mit fester Stimme, während der Rest ihres Körpers komplett andere Signale von sich gab.

„Oh doch…“, lächelte er nur noch breiter, „ich kann es riechen…“

Samantha hielt abrupt inne und presste ihre Lippen feste aufeinander. Stank sie wirklich so sehr? Eigentlich müsste sie doch nach einer Mischung aus Lavendel, Zitrone und Wilmas Heilpaste riechen.

„Nein. Da täuscht du dich.“

„Dann ist ja gut.“

Gerade als Samantha erleichtert aufatmen wollte schnellte Tommys Hand nach vorne, bekam ihren rechten Knöchel zu fassen und zog diesen ruckartig an sich heran. Die junge Frau gab ein schrilles Quietschen von sich, versuchte nach ihm zu treten und zu schlagen, gleichzeitig ihre Autotüre und Gurt zu öffnen. Tommy blieb völlig unbeeindruckt, hielt ihren Knöchel in seinem festen Griff bei sich und sah sie abwartend an.

„VERDAMMTER! PERVERSLING! LASS LOS!!“, schrie sie und trat mit ihrem freien Fuß wild auf ihn ein, „HILFEEE!“

Er hingegen war die Ruhe in Person, fummelte gemächlich an seinem Lederarmband, welches er am Handgelenk trug herum, löste dessen Knoten und band es genauso gelassen an Samanthas Knöchel. Fassungslos zu einer Salzsäule erstarrt beobachtete die junge Frau ihn mit weit aufgerissenen Augen bei seinem Tun und fragte sich, ob das eine neue Art der Perversion war, als er ihren Fuß auf einmal wieder freigab. Dann löste er ohne ein weiteres Wort zu sagen seinen Gurt und stieg aus dem Jeep, als wäre dieser Übergriff niemals geschehen.

„Was zur Hölle…?“, murmelte Samantha völlig in ihrer Haltung erstarrt und beobachtete, wie Tommy bis zur Motorhaube ging und ihr dann einen fragenden Blick über seine Schulter zuwarf.

Sie zog vorsichtig ihr ausgestrecktes Bein wieder an sich und ihre Augen begutachteten das Lederarmband, welches nun locker an ihrem Fußgelenk baumelte. Es war ziemlich schlicht gewesen, nur mit einigen Stickereien und schwarzen Holzperlen verziert worden.

„Kommst du endlich?“, rief Tommy herausfordernd und holte sie somit aus ihren Gedanken zurück in die Realität.

Vorsichtig setzte sich die junge Frau wieder auf: „Wohin? In deine kleine Hütte am Waldrand, wo du mich in aller Ruhe vergewaltigen kannst?!“

„Oh bitte“, winkte der junge Mann ab und entfernte sich vom Auto, „so hübsch bist du auch wieder nicht!“

Samanthas Kiefer klappten entsetzt auseinander, sie fing sich jedoch schnell wieder ein und hielt seinem breiten Rücken angewidert den ausgestreckten Mittelfinger entgegen. Hastig schnallte sie sich ab und sprang regelrecht aus dem Jeep, nur um wenige Sekunden später knapp hinter ihrem Begleiter zu laufen, allerdings einen gebührenden Sicherheitsabstand einhaltend.

„Und du glaubst wohl, du seist der reinste Casanova oder wie?“, fauchte sie ihn wie eine gereizte Katze von der Seite aus an.

Tommy warf ihr erneut einen vielsagenden Blick über seine Schulter aus zu, grinste dabei schelmisch: „Dein Blutdruck ist erhöht, deine Atmung geht schnell und unregelmäßig, deine Pupillen sind geweitet...“

„Was?“

„Du bist erregt.“

Hastig schnappte Samantha nach Luft und starrte Tommy empört an, woraufhin dieser triumphierend grunzte.

Schweigend gingen sie die Straße entlang, die junge Frau brodelte innerlich vor sich hin. Samantha ließ ihren Blick gelegentlich umher schweifen, zu ihrer linken ragte der mächtige Wald aus dem Boden, während zu ihrer rechten nichts als ebene Graslandschaft war.

„Bleib in meiner Nähe!“, knurrte Tommy und sie zuckte zusammen, „ich habe keine Lust auch noch nach dir Ausschau halten zu müssen.“

„Ich bin direkt hinter dir!“, fauchte sie zurück, „warum hast du deinen Wagen auch dort hinten stehen gelassen?!“

„Mach einfach was ich dir sage.“

„Yes, Sir!“, salutierte sie sarkastisch hinter ihm, schloss jedoch einige Schritte zu dem jungen Mann auf.

Erneut begutachtete Samantha ihre Umgebung und musste feststellen, dass ihr hier überhaupt nichts bekannt vorkam. War sie so bald schon in den Wald abgebogen? Bei dem Versuch, sich daran zu erinnern drangen sich immer wieder zwei rot leuchtende Augen in ihre Gedanken und ein heftiger Schauer durchfuhr ihren Körper.

„Wovor hast du solche Angst?“, fragte Tommy, blieb stehen und wandte sich zu ihr um.

„Nichts...ich habe nur gerade an das Vieh von gestern denken müssen…“, erwiderte sie und rieb sich die Arme, als würde sie frieren.

Tommys Blick ließ von ihr ab und wanderte zu dem Waldrand hinüber. Seine Kiefer mahlten kurz konzentriert, sein Adamsapfel bewegte sich leicht, als er schluckte und die Flügel seiner Nase blähten sich auf. Samantha beobachtete ihn aufmerksam bei seinem Tun und musste dem Drang widerstehen, die Weizenähre aus seinem Haar zu pflücken, genau in diesem Moment blickte er sie wieder an.

„Es ist außer Riechweite.“

„Du meinst Reichweite“, korrigierte die junge Frau ihn, unterdessen setzten sie ihren Weg fort, diesmal nebeneinander gehend.

Anstatt zu antworten zuckten Tommys Kiefer noch einmal kurz, dann streckte er seinen Arm aus und zeigte mitten ins Nichts. Samantha folgte seinem Finger und alles was sie sah war eine Abbiegung, welche die Straße gleich machen würde.

„Da wo ich herkomme nennt man das Kurve.“

„Dahinter steht dein Wagen.“

„Echt jetzt?!“, rief sie schon unglaubwürdig aus.

„Wenn ich es dir sage.“

Samantha beschleunigte stark zweifelnd ihren Gang und joggte die Entfernung fast schon, bis zur Mitte der Biegung und tatsächlich! Ihr blauer Mietwagen stand einsam und verlassen mitten in der Spur genauso, wie sie ihn gestern verlassen hatte. Aber warum war ihr da diese Kurve nicht aufgefallen?

Die junge Frau blieb direkt neben dem Auto stehen, sah sich um, nur um festzustellen, dass das tatsächlich genau die Stelle von gestern war. Anscheinend konnte sie sich nur nicht mehr an die Kurve erinnern, immerhin war sie ja völlig am Ende ihrer Nerven und orientierungslos gewesen.

Tommy schloss zu ihr auf, er war in einem normalen Tempo weiter gelaufen. Samantha blickte zu ihm auf und seufzte genervt, woraufhin er sie fragend ansah. Sie stellte sich auf ihre Zehenspitzen, streckte einen Arm aus und griff nach dem Weizenhalm in seinen schwarzen verwuschelten Haaren. Wie eine Jagdtrophäe hielt sie ihm diese direkt vors Gesicht und grinste zufrieden.

„Viel besser“, gestand sie erleichtert und warf die Ähre auf den Boden.

Seine Augen verfolgten den Weizenhalm noch einige Meter, bis der Wind ihn weggetragen hatte und deutete dann auf den Wagen.

„Was ist denn genau kaputt?“

„Wenn ich das wüsste, dann hätte ich mich gestern schon selber darum gekümmert!“

„Ach ja?“, wollte er ungläubig wissen und seine Augenbrauen schnellten zweifelnd in die Höhe.

„Ja!“

Tommy streckte seinen Hals ein wenig und wenn Samantha noch nicht völlig den Verstand verloren hatte, dann schien er an ihrem Leihwagen zu...schnuppern? Echt jetzt? Die junge Frau legte ihren Kopf etwas in Schräglage und tat es ihm gleich. Sie roch gar nichts.

„Hm...könnte der Kolben sein. Wahrscheinlich hat er sich festgefressen.“

„Und das kannst du riechen?“, wollte Samantha erstaunt wissen, trat nun näher an das Auto und roch noch einmal.

„Ich schon. Sind dir irgendwelche ungewöhnlichen Geräusche während der Fahrt aufgefallen?“

„Definiere ungewöhnliche Geräusche“, bat sie ihren Begleiter und erinnerte sich an das ständige Piepsen, welches der Wagen während des Fahrens von sich gegeben hatte.

„Ein metallisches Schleifen vielleicht?“

„Nicht während der Fahrt. Er ist einfach ausgegangen, und dann als ich ihn getreten habe hat’s puff gemacht.“

„Puff?“, wiederholte Tommy belustigt.

„Ja und dann kam so weißer Rauch aus der Motorhaube und die ist dann auch noch aufgesprungen und dann kam noch mehr Rauch und dann ging gar nichts mehr.“

„Du hast dein Auto getreten?“, fragte er jetzt in einem strengeren Ton.

„Naja...es ist ja offiziell gar nicht meines…“

„Du trittst ein fremdes Auto? Das ist Sachbeschädigung.“

„Als ob du dich um Sachbeschädigung anderer kümmern würdest!“, winkte Samantha ab und drückte den Kopf ihrer Fernbedienung, um den Wagen zu öffnen, „kannst du es reparieren oder nicht?“

„Können schon…“, zuckte Tommy mit seinen muskulösen Schultern.

„Oh Gott! Was kommt denn jetzt als aber?!“, stöhnte sie genervt und öffnete den Kofferraum.

„...aber ich muss schauen, dass ich die richtigen Ersatzteile in meiner Werkstatt habe.“

„Lass mich raten: wenn du Ersatzteile bestellen müsstest, und davon sind wir beide überzeugt, dann würde das eine halbe Ewigkeit dauern, bis du sie hättest und solange müsste ich in Wolfsburrow bleiben?“

„Ich habe keine Ahnung wie lange es dauern würde, es kommt ganz darauf an, wie lange die Jungs brauchen die Telefonleitung zu reparieren. Aber ja. Du würdest so lange in Wolfsburrow bleiben müssen.“
 

~*~
 

Mittlerweile musste es früher Nachmittag sein, Samantha und Tommy hatten den Leihwagen Mithilfe eines Abschleppseils bis kurz vor die Scheune gezogen, wo der junge Mann nun „einen Blick“ darauf warf und sie mit einem Glas selbstgemachter Limonade auf der untersten Treppe der Veranda saß.

Earl schien gerade selber im Haus beschäftigt zu sein, doch das störte sie nicht. Er hatte ihr das Glas kalter Limonade gebracht und sich dann mit den Worten verabschiedet, der Keller müsste nach dem starken Regenfall wieder trockengelegt werden.

Tommy hatte derweil sein übergroßes Oberteil ausgezogen, bevor er sich über ihr Auto hergemacht hatte, ihr war also absolut nicht langweilig. Sie beobachtete ihn aus sicherer Entfernung, wie er halb in den Motorraum verschwunden war, seine Armmuskeln spannten sich jedes Mal an, wenn er an etwas schraubte. Samantha seufzte schwerfällig und streckte ihre Füße von sich weg, wobei ihr das Lederarmband an ihrem Knöchel wieder auffiel. Warum zum Teufel hatte er ihr das nur umgebunden? Welchen Zweck, welche Hintergedanken hatte er dabei gehabt?

Die junge Frau überlegte, ob sie tatsächlich den Versuch starten sollte, Tommy danach zu fragen. Sie zog einen Schmollmund und wackelte dabei mit ihren Füßen im Takt vom Klimpern und Klackern, was vom Auto an ihr Ohr drang. Je länger sie es betrachtete, umso mehr gefiel ihr das Lederarmband.

Plötzlich warf jemand einen Schatten auf sie und Samantha blickte neugierig auf. Tommy stand immer noch Oberkörper frei vor ihr, rieb seine Hände an einem Tuch, seine Miene war völlig unbeeindruckt und sie befürchtete seine Diagnose bereits zu wissen.

„Also?“, fragte sie trotzdem.

„Also“, begann er und steckte sich den Lappen in die hintere Hosentasche, „ich hoffe es gefällt dir in Marthas Wirtshaus...denn du wirst noch eine Weile dort bleiben.“

Samantha seufzte entmutigt, stand auf und rieb sich angestrengt den Nacken. Wie um Himmelswillen sollte sie ihrer Mutter dieses Dilemma nur erklären? Sie begann sich bereits sämtliche Szenarien durch den Kopf gehen zu lassen, als sie spürte, wie niemand anderes als Tommy ihr in die Haare griff, an ihrem Haargummi nestelte und ihn schließlich aus ihrem Dutt löste. Sie stand derweil still wie eine Puppe vor ihm, beobachtete lediglich sein ausdrucksloses Gesicht, dann fielen ihre langen braunen Haare auch schon locker über ihre Schultern.

„Viel besser“, murmelte Tommy, setzte dann aber ein schelmisches Grinsen auf und reichte ihr den Haargummi ebenfalls wie eine Jagdtrophäe.

Samantha wusste nicht, wie sie damit umgehen sollte, fuhr sich dann mit beiden Händen mehrmals durch ihre leichten Wellen und schüttelte diese auf. Als sie dann wieder zu Tommy blickte, bemerkte sie, wie er mit geschlossenen Augen tief durch die Nase einatmete. Seine bernsteinfarbenen Augen glühten regelrecht, nachdem er sie wieder geöffnet und Samantha damit fixiert hatte.

„Willst du ihn denn gar nicht wiederhaben?“, riss Tommy sie aus ihren Gedanken und hielt ihr den Haargummi nur noch dichter vors Gesicht.

„Vielleicht willst du ihn mir ja auch um mein Fußgelenk machen?“, fragte sie kühl und hob besagtes Bein an.

Er sah nur für einen sehr kurzen Moment auf ihren Knöchel, wo sein Lederarmband bereits angebunden war und grinste schief, dann wandte er sich wieder ihrem Gesicht zu.

„Wie schon gesagt, dein Leihwagen wird einige Tage brauchen. Ich lass es dich wissen, wenn er wieder fahrtüchtig ist. Genieße deine Zeit solange in Wolfsburrow“, lenkte er stattdessen ab.

„Werdet ihr beiden auch zum Mondscheinfest kommen?“, erkundigte sich die junge Frau plötzlich, als Tommy eigentlich schon wieder am Gehen war.

Er blieb ruckartig stehen und betrachtete sie aus verwundert großen Augen. Hatte er mit ihrer Frage jetzt nur nicht gerechnet oder war er dermaßen verblüfft, dass sie mit ihm Zeit verbringen wollte? Samantha hielt ebenfalls inne und dachte darüber nach, ob sie das auch tatsächlich wollte, oder ob sie nur die unangenehme Stille überwinden wollte, welche eben kurz geherrscht hatte. Ein paar Sekunden vergingen, während er einfach so da stand und in die Leere starrte, er schien ernsthaft zu überlegen.

„Ich werde wohl oder übel da sein“, scherzte Samantha selbstironisch.



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