Zum Inhalt der Seite

Fading Light

Jenseits aller Grenzen
von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Kapitel: 01

 

England; London

12. April 2020

 

Connor hatte Nachrichten bekommen - viele Nachrichten.

Und wie an jedem Anfang stand ein einseitiger Monolog. Leere, höfliche Phrasen. Worte, die zu einer Unterhaltung führen sollten.

[Noah: März 2017, 16:03 Uhr] Hey, wie geht es dir?

[Noah: März 2017, 12:03 Uhr] Wie ist das Wetter bei dir?

[Noah: April 2018, 09:20 Uhr] Ich habe schon lange nichts mehr von dir gehört.

Ein Bild oder eine Webadresse ohne Worte.

Über seine Lippen perlte ein Fluch. Es war nicht seine Absicht gewesen, die Nachrichten drei Jahre unbeantwortet zu lassen. Dort, wo er sich aufhalten musste, funktionierte Technik nicht. Darum hatte er auch sein Smartphone zuhause gelassen. Verflucht. Seine Stirn sank auf das Display. Warum hatte ausgerechnet er diese Telefonnummer? Conner wollte nicht, dass ihn jemand kontaktierte. Er hatte seine Pläne gekannt und nur darum hatte er behauptet, dass er Elektronik nicht sonderlich mochte. Wer schrieb in Zeiten wie diesen noch Briefe?

Conner fluchte ein weiteres Mal. Gott im Himmel. Weil sich sein Partner um alles gekümmert hatte, hatte er gesagt, das er nur über die Adresse seiner Arbeitsstelle erreicht werden konnte. Wieso musste das passieren? Weil er nicht antworten konnte, wurde sein Smartphone wohl zu einem Tagebuch. Zumindest ließen die Texte darauf schließen.

Nachdenklich las er weiter. Es gab Nachrichten, die ihn beunruhigten. Und er verstand nicht wieso. Denn Conner hatte keine Kinder. Darum konnte er nicht sagen, was davon bedenklich war. Von Erziehung wusste er genauso viel wie ein Neugeborenes von Brandstiftung - wenn es um den Part der Eltern ging. Pädagogisch besaß er ein bisschen Erfahrung. Vor zehn Jahren hatte er beschlossen, zu studieren, um Lehrer zu werden. Sein Job hatte ihn gelangweilt. Daraus wurde dann doch nichts. Als er den Abschluss hinter sich gebracht hatte, musste er sich um die Firma kümmern.

Connor verschob seine Überlegungen, als er auf eine Nachricht stieß, die ihn den Magen umdrehte. Unschlüssig lehnte er sich zurück. Sollte er darauf reagieren? Oder besser nicht? Vermutlich würde das nach drei Jahren ziemlich seltsam wirken.

[Noah: Juni 2019, 12:21 Uhr] Ich habe jemanden kennengelernt. Ich weiß nicht, ob ich mich mit ihm Treffen sollte. Er ist älter und verheiratet.

Er hatte nicht erwartet, dass ihn diese drei Sätze wie ein Schlag unter die Gürtellinie trafen. Leise seufzend ließ er sich zur Seite fallen und sank in die Kissen der Couch.

[Noah: September 2019, 18:05 Uhr] Ich kann mir fast bildlich vorstellen, was du über mich denken wirst. Aber ich muss es einfach irgendjemandem sagen und ich wünschte, ich könnte mit dir darüber reden. Ich glaube, dass ich mich verliebt habe. Ausgerechnet in den Kerl, für den ich nie mehr sein kann als eine Affäre. Das ist ziemlich dämlich, oder? Und wenn meine Mutter jemals davon erfährt, wird sie mich umbringen.

Conner legte das Smartphone auf seine Brust. Seine Augen lagen auf dem Deckenventilator, der mit einem gedämpften Surren seine Runden drehte. Er wusste nicht genau, was er fühlen sollte. Nur, dass ihm die Nachrichten den Magen verknoteten. Im Grunde ging es ihn nichts an und doch hallten die Worte wie ein Echo in seinem Geist wider.

Mit zuckenden Mundwinkeln rollte er sich auf den Rücken. Also hatte sich der Junge verliebt. Conner schloss die Augen. Warum interessierte ihn das? Er kannte die Antwort auf seine Fragen, selbst, wenn er sich vom Gegenteil überzeugen wollte. Und diese Antwort begann immer mit den gleichen Worten.

Connor konnte nur lachen. Das war so jämmerlich. Er müsste es besser wissen. Er war erwachsen. Doch mit jeder Mitteilung war ein Bild in ihm gewachsen, eine Vorstellung von der Person, die sich hinter den Worten auf seinem Smartphone verbarg. Nichts davon spiegelte die Realität wider. Das war ihm bewusst.

Er sah zu der Kaffeetasse, die auf dem Couchtisch stand. Er hatte schon vor längerem beschlossen, dass er Hailey einmal besuchen wollte. Doch seine Verpflichtungen banden ihn an London. Er kam hier einfach nicht weg. Nach der heutigen Nachricht fand er es umso wichtiger, dass er sie sah und mit ihr redete. Doch kaum war er zurückgekehrt, wurde er mit Arbeit überschüttet.

Connor stieß die Luft aus seinen Lungen, setzte sich auf und fasste nach der Aktentasche, die neben ihm auf dem Boden stand. Sein Kalender quoll über vor Terminen. Er hatte keine Zeit, um die Stadt zu verlassen. Nicht einmal für einen Tagesurlaub. Und Alabama lag nicht gerade um die Ecke. Ein Flugzeug benötigte für die Route ein paar Stunden, ein Auto noch länger. Er grub die Zähne in seinen Daumen. Er wurde von seinen Sorgen fast aufgefressen. Er musste mit Hailey reden. Doch seine Arbeit als Geschäftsführer in einer Bank ließ ihm keinen Freiraum.

In den folgenden Monaten suchte er verzweifelt nach Zerstreuung. Seine Pflichten nahmen seine ganze Zeit in Anspruch. Doch das unvernünftige Verhalten von diesem Bengel ging ihm nicht aus dem Kopf. Erst im nächsten Jahr, Ende April, schaffte es Connor, seine Pflichten erneut auf seinen Partner zu übertragen. Und weil es ihm nicht lag, untätig zu sein, suchte er sich eine Anstellung als Lehrer. Er wollte es einmal ausprobieren.

Er konnte keine Erfahrung vorweisen, darum bekam er auch nicht gleich eine Zusage. Erst ein paar Tage später. Die örtliche Highschool in Georgtown, die etwa 30 Minuten mit dem Auto und Bus von Eufaula entfernt lag, lud ihn zu einem Vorstellungsgespräch ein. Zwei Tage später wurde er von Hailey und Jake am Flughafen in Empfang genommen. Ihr Sohn übernachtete am Wochenende immer bei Freunden. Er kam nie vor Sonntagabend nach Hause.

Connor lächelte. Das traf sich gut. Zu einem saß ihm der Jetlag so tief in den Knochen, dass er kaum die Augen offenhalten konnte, zum anderen wollte er nicht auftauchen und sofort schlechte Nachrichten überbringen. Zudem schlief er ein, kaum dass er im Auto auf der Rückbank saß. Das Wochenende verbrachte er fast nur im Bett. Hailey und Jake besaßen im gleichen Ort eine Immobilie, die aus sechs Wohnungen bestand. Eine davon hatte sie ihm überlassen.

Sonntagabend ging er mit seinen Gastgebern in einem Restaurant essen. Hailey erzählte von ihrem Sohn. Ihre Augen strahlten. Wie sehr sie Noah liebte, war deutlich zu erkennen. Connor lag der Grund seines Besuches schwer im Magen. Er konnte ihr nicht sagen, warum er den weiten Weg auf sich genommen hatte. Ihm lag nichts ferner, als ihre Vorstellungen zu zerstören.

Er lehnte sich in seinen Stuhl zurück. Und während er gezwungen lächelnd ihren Geschichten lauschte, fragte er sich, ob er nicht vielleicht ein bisschen überzogen reagiert hatte? Durfte er sich einmischen? Was würde er damit anrichten? Erneut sagte er sich, dass ihn die Situation im Grunde nichts anging. Wie sollte er Hailey denn davon erzählen? Welche Auswirkungen könnte die Affäre schon haben? Warum kümmerte ihn das überhaupt? Ihr Sohn war noch jung. Ein Teenager. Er wurde vor zwei Wochen erst 18 Jahre alt. Im besten Fall lernte er aus seinen Fehlern. Im schlechtesten behielt er dieses Verhalten bei - genau wie sein Vater.

Connor sah auf, als sich Hailey beschämt auf die Toilette entschuldigte. Sie wollte sich schnell die Nase pudern. In Gedanken versunken, sah er ihr nach und stellte sich die Frage, was er überhaupt in Alabama verloren hatte. Nur einen Lidschlag später wandte sich ihm schon Jake zu. Der Mechaniker wirkte ungewöhnlich ernst. Das Kinn legte er auf seine Hände.

„Wirst du es ihr sagen ...?“, fragte er mit ruhiger Stimme. Das Funkeln in seinen blauen Augen strafte seinen friedlichen Tonfall lüge. „... Federvieh.“

Connor verstand nicht sofort. Es dauerte einen Moment, bis ihm die Erkenntnis dämmerte und damit einen Berg an Fragen ins Rollen brachte. Woher wusste dieser verdammte Kerl, mit wem sein Sohn in Verbindung stand oder was er für Nachrichten verschickte?

Connor legte die Gabel zur Seite, mit der er in seinem Salat gestochert hatte. „Woher weißt du davon?“

Lachen ertönte. „Bitte. Du vergisst, wer ich bin“, erklärte Jake, der die Türen des Waschraumes im Blick behielt. Vermutlich um sicherzustellen, dass Hailey nichts von der Unterhaltung mitbekam. „Also …?“

„Muss ich befürchten, dass du mich auch stalkst?“

Der Mechaniker sah ihm geheimnisvoll entgegen. „Das überlasse ich deiner Fantasie.“

Conner hatte sich entschieden. Seine Gedanken ließen ihm keine Ruhe. Er wollte Hailey nicht verletzen. Sie war wie ein zartes Pflänzchen. Vielleicht bekam er die Chance, die Situation erstmal nur zu beobachten. Zu einem späteren Zeitpunkt konnte er sich einmischen. Oder eben nicht.

Er runzelte die Stirn. „Ich nehme an, dass du schon länger davon weißt“, begann er, fasste nach dem Wasserglas und setzte es an seine Lippen. „Warum hast du deinem Sohn noch nicht die Leviten gelesen?“

Jake lehnte sich in seinem Stuhl zurück, die Hände in seinen Hosentaschen. „Noah muss seine eigenen Erfahrungen machen“, antwortete er. „Er kann auf sich aufpassen und solange ihn dieser Kerl zu nichts zwingt, mische ich mich auch nicht ein.“

„Seltsam erwachsen für jemanden wie dich.“

Der Mechaniker schien Lachen zu wollen. „Und das sagst ausgerechnet du, du Federvieh?“

Bevor Connor zurückfeuern konnte, tauchte Hailey auf. Und als sie sich hingesetzt hatte, kehrte sie zum ersten Thema zurück. Oder zumindest ging es in diese Richtung. Sie erzählte ein weiteres Mal von ihrem Sohn. Nur das sie diesmal nicht ganz so begeistert zu sein schien. Offenbar hatte sich das Verhalten von Noah in den letzten drei Jahren verändert. Sehr zum Negativen.

Hailey senkte den Blick auf ihren Teller. Seit er die Highschool besuchte, fiel er in der Schule unangenehm auf. Sie hatte schon Anrufe bekommen, in deren Verlauf sie zum Direktor zitiert wurde. Zu einem großen Teil wegen Drogen, Schlägereien und Alkoholmissbrauch.

Auch die Noten ihres Sohnes hatten sich drastisch verschlechtert. Vor ein paar Monaten wurde Noah für eine längere Zeit suspendiert. Sie wusste nicht, wie sie sich verhalten sollte. Selbst der Therapeut, den sie konsultiert hatte, kannte keine Antworten. Hailey verzweifelte daran. Sie fühlte sich so hilflos. Für eine Mutter gab es nichts Schlimmeres auf der Welt.

Connor lehnte sich in seinem Stuhl zurück und hörte aufmerksam zu. Das deckte sich ungefähr mit dem Zeitrahmen, als er von Noah die Nachricht mit dem verheirateten Mann erhielt. Dabei hatte er ihren Sohn für sehr vernünftig gehalten. Es war ein merkwürdiges Gefühl, dass er sich scheinbar geirrt hatte.

Viele Mitteilungen wirkten zwar bedenklich, doch Noah hatte es immer geschafft, den besten Weg zu finden. Und daran ließ er die Person, die nicht antworten konnte teilhaben.

Sein Smartphone vibrierte.

An dieser Stelle brach Hailey den Abend vorzeitig ab, womit Connor einverstanden war. Sie wollte nach Hause. Offenbar fiel es ihr schwer, über diese Dinge zu reden. Sie fühlte sich wie eine schlechte Mutter. Verständlicherweise. Jake erfüllte den Wunsch seiner Frau. Im Anschluss wollte er sich in die Werkstatt begeben, die er seit 25 Jahren in Eufaula führte. Angeblich hatte er Papierkram liegen lassen, den er bis morgen durchgehen musste.

Connor ging allein zum Apartmentkomplex zurück. Es gab Dinge, die ihn beschäftigten und die frische Luft würde ihm dabei helfen, einen klaren Kopf zu bekommen. Oder zu behalten.

Es war still um diese Zeit. Auf der Straße hielten sich nur wenige Menschen auf, leise in Gespräche vertieft. Die Geschäfte waren schon geschlossen. Doch die Lichter der bunten Reklameschilder, die an den Außenfassaden der Häuser hingen, konkurrierten mit der Dunkelheit. In der Luft lag Musik und das Plätschern von Wasser aus dem nahegelegenen Brunnen. Der Wind strich raschelnd durch die Kronen der Bäume.

Connor ließ seinen Blick schweifen. Eufaula war wirklich eine gottverlassene Kleinstadt. Bei näherer Betrachtung hatte er das Gefühl, die Moderne hätte dieses Fleckchen Erde noch nicht erreicht. Aber das lag vermutlich nur daran, dass er London gewöhnt war.

Er nahm sein Smartphone zur Hand.

[Noah: April 2020, 21:12 Uhr] Eyyy Ssteve komm euber unnf brinh mwehr Alkohol mit ¡

[Noah: April 2020, 21:12 Uhr] Die jüngst ve miysen dich

[Noah: April 2020, 21:12 Uhr] Oh fucck Falschgeld nummer sorrx

Connor hob die Augenbrauen. Er las die Nachrichten wieder. Dann noch einmal. Es blieben die gleichen Sätze. Eine Grimasse schneidend, starrte er auf die schwarzen Buchstaben. Kurz und bündig. Kein Roman. Und diesmal bekam er tatsächlich die Chance, auf die Nachrichten zu reagieren.

[Connor: April 2020, 22:01 Uhr] ... Bist du betrunken?

Connor blieb neben einem Automaten stehen. Er wollte sich eine Packung Zigaretten kaufen. Im selben Augenblick erreichte ihn die nächste Nachricht.

[Noah: April 2020, 22:05 Uhr] Ein Burschen

[Noah: April 2020, 22:05 Uhr] *bisschen

Dem folgte ein verschwommenes Foto, das wohl ein Selfie darstellen sollte. Noah hatte scheinbar die falsche Kamera dafür benutzt.

[Noah: April 2020, 22:05 Uhr] Warte shit su schreibts???

[Connor: April 2020, 22:07 Uhr] Du scheinst ja wirklich Spaß zu haben.

[Noah: April 2020, 22:08 Uhr] Jhaaa,, aber die Müsli ist Jacke

[Noah: April 2020, 22:08 Uhr] Kommm auch hier!

Connor bekam noch ein Foto, das wohl eine andere Person aufgenommen hatte. Darauf war Noah zu sehen, der vermutlich mit Freunden bunte Cocktails trank und zu der schlechten Musik tanzte.

[Connor: April 2020, 22:09 Uhr] Für solche, sagen wir, Veranstaltungen bin ich zu alt. Tut mir leid. Mit mir hättest du keinen Spaß.

[Noah: April 2020, 22:09 Uhr] Aktes isz besser, wemn du fabei bost!

[Connor: April 2020, 22:10 Uhr] Ist das so?

[Noah: April 2020, 22:10 Uhr] Aif jeden freak!

[Noah: April 2020, 22:11 Uhr] *Fakl

[Noah: April 2020, 22:12 Uhr] *Gall

[Noah: April 2020, 22:12 Uhr] *F A L L

[Connor: April 2020, 22:13 Uhr] Wenn ich mir das so ansehe, wäre es wahrscheinlich besser, ich würde nicht mit feiern, sondern dich nach Hause bringen.

[Noah: April 2020, 22:13 Uhr] Zu die oder mit?

[Noah: April 2020, 22:14 Uhr] Ojh uf jeden Fakt zu dur!

[Noah: April 2020, 22:14 Uhr] Warze dass wat meine Nachrixht

[Noah: April 2020, 22:15 Uhr] Trotzwm!!!

[Connor: April 2020, 22:17 Uhr] Denk‘ dran, Wasser zu trinken, und pass‘ auf dich auf. Schreib‘ mir, wenn du ausgenüchtert bist.

[Noah: April 2020, 22:18 Uhr] Okk aber sehe du antwirtwst nicht!

Connor hob die Hand, um eine Zigarettenmarke auszuwählen. Doch dazu kam er nicht. Plötzlich rempelte ihn ein Passant an, sodass er zur Seite stolperte und dabei fast über seine eigenen Füße fiel. Im letzten Moment bekam er die Lehne einer Parkbank zu fassen. Innerlich fluchend wandte er sich der Person zu, die jetzt anstelle von ihm auf dem Asphalt saß.

Das war ja noch ein Kind!

Jedenfalls auf den ersten Blick. Beim zweiten fielen die feinen Bartstoppeln an Wangen und Kinn auf. Der Junge hob den Kopf. Er war betrunken und stank wie eine Kneipe zur Happy Hour. In der Luft lag eine Mischung aus Alkohol, Zigaretten und schwitzender Haut. Connor griff nach der Hand des Fremden und zog ihn schwungvoll auf die Füße - er war ungewöhnlich leicht und klein für einen Mann.

„Scheiße Sorry“, lallte der Junge dümmlich lachend und wankte bedrohlich zur Seite. „Alles in Ordnung?“

Und dann wurde Connor etwas bewusst, was er zuvor nicht bemerkt hatte. „Das fragst du mich, Noah?“

Hatte er nicht erst vor wenigen Minuten noch mit ihm geschrieben? Scheinbar war die Party schon vorbei gewesen und Noah längst auf dem Heimweg. Ob er in dem Zustand auch in seinem Elternhaus ankam, blieb fraglich.

Der Junge blinzelte und lehnte sich vor. „Alter Leo, bist du das?“

„Ich muss dich enttäuschen. Mein Name ist Connor.“

„Cool ... meine Eltern bekommen bald Besuch von so ‘nem Connor“, rief Noah fast ein wenig zu enthusiastisch und schlang dem Größeren den Arm um die Schultern - vermutlich in erster Linie, um nicht wieder zu fallen. „Wäre echt scheiße, wenn du das wärst.“

Connor atmete tief durch. Mund. Nicht Nase. Der Junge war sternhagelvoll. „Wahrscheinlich.“

Ein schwarzer Audi a3 fuhr an ihnen vorbei, hielt mit quietschenden Reifen mitten auf der Straße an und setzte langsam einen halben Meter zurück. Als der Motor erstarb, stieg Jake aus dem Wagen. In seinem Gesicht lag Resignation und etwas, das an elterliche Strenge erinnerte. Offenbar war das nicht der erste Abend, an dem er seinen Sohn von der Straße sammeln musste.

Lauter als nötig schlug er die Tür hinter sich zu. Conners Mundwinkel zuckten. Also hatte es sich bei dem ominösen Papierkram um die Suche nach seinem Kind gehandelt.  Jake seufzte und bugsierte den Jugendlichen auf der Rückbank des Autos.

Conner nutzte die Zeit, um endlich eine Packung Zigaretten aus dem Auffangschacht des Automaten zu fischen.

„Hätte nicht erwartet, dass jemand wie du raucht“, sagte Jake zwar in einer amüsierten Tonlage, doch seine Gedanken schienen diesen Ort längst verlassen zu haben. „Sorry, wenn er dir Schwierigkeiten gemacht hat.“

Connor zuckte die Schultern, schob sich eine Zigarette zwischen die Lippen und zündete das vordere Ende an. „Ich verstehe nichts von Erziehung, aber er sollte nicht so viel trinken“, gab er zurück, seine Augen hafteten auf dem Wagen mit den dunkel getönten Scheiben. „Ist die Hölle eingefroren oder warum entschuldigst du dich bei mir?“

Jake warf einen schnellen Blick auf das Display seines Smartphones. „Das war die erste und letzte.“ Er schloss die Tür des Wagens. „Wie war dein Urlaub?“

„Als wenn du mit mir Smalltalk machen willst ... hau‘ endlich ab.“

Der Mechaniker fuhr langsam. Sehr vorsichtig. Damit sich Noah nicht auf die Sitze erbrach, vermutete Conner. Er zuckte die Schultern, drehte sich auf dem Asphalt um und setzte seinen Weg fort. Für den Bruchteil einer Sekunde, als ihm dieses Kind buchstäblich in die Arme gefallen war, schien sich die Form der Welt zu verändern, zu verzerren.

Vertieft betrachtete er den verhangenen Horizont. Wenn seine Umgebung zuvor grau, fast schon schwarz wirkte, hatte sie mit dem Auftauchen von Noah an Farbe gewonnen. Durch Farben erwachte diese Welt pulsierend zum Leben. Schillernd und leuchtend wie der Regenbogen. Warm, freundlich, lockend. Das Herz dieses Planeten begann zu schlagen.

Seine Gefühle mussten eine enorme Intensität besitzen. Faszinierend.

Connor glaubte, in dieser warmen Freundlichkeit der Farben zu ertrinken. Und dann war es vorbei gewesen und ließ nichts als leere Dunkelheit zurück. Die Welt verblasste. Gedankenverloren sah er die Straße entlang. Das Licht der Laternen glitzerte auf dem Asphalt wie Schneekristalle. Durch einzelne Lücken in der Wolkenfront fiel das Mondlicht.



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (0)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.

Noch keine Kommentare



Zurück