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Black Hole Sun

von

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[ Still standing ]

Ein paar Minuten später stehen wir vor einer Tür ganz aus Metall. Ein schweres Eisenrad wird von Sladis gedreht und als die Tür aufschwingt, bemerke ich, dass sie doppelt so dick sein muss wie eine Tresorwand in Fort Knox. Nicht, dass ich diesen Tresor schonmal gesehen hätte, aber man stellt sich sowas doch schon mal ziemlich massiv vor. Jedenfalls, dahinter ist ein kurzer Gang, der in rötliches Licht getaucht ist. Zögernd steigen Sladis, Steinbeck und Elena vor mir durch die Tür und ich folge mit einem ziemlich mulmigen Gefühl. Das Licht ist schwummrig und macht mich irgendwie.. schläfrig. Ich sehe den anderen an, dass es ihnen ebenso geht, immer heftiger ist dieses dösige Gefühl, je näher wir den drei Türen kommen, die vor uns liegen. In die Müdigkeit mischt sich aber ganz allmählich eine andere Empfindung. Als.. als würde etwas durch meine Ohren durch den Kopf spuken, wie ein Gewissen, das leise flüsternd Dinge fragt, die völlig belanglos sind. Wieso schmeckt die Luft so leise? Warum kann ich nicht auf Haarspitzen schwimmen? Kann ich dich etwas Blaues fragen? Langsam aber sicher machen mich diese Fragen ganz durcheinander, ich weiss nicht, woher sie kommen und was sie erwarten, sie fragen einfach weiter ganz leise wie ein schlafendes Kind, das im Traum wandelt. Sladis ganz an der Spitze schüttelt den Kopf, als wolle er die Stimme aus seinem Kopf verbannen und bleibt vor der rechten Tür stehen. Wie hypnotisiert kommt Elena näher und bleibt neben ihrem Vater stehen, die Pistole nicht mehr auf ihn gerichtet, aber er tut nichts dagegen, ihr sie abzunehmen oder sonstiges. Auch Steinbeck sieht durch das grosse Türfenster und auf seinem Gesicht ist ein entspannter, fast glücklicher Ausdruck. Elena senkt träumerisch die Lider und lächelt sinnlich durch die Scheibe. Endlich bin ich auch bei ihnen angelangt und recke neugierig den Kopf, um auch einen Blick zu erhaschen.
 

Das junge Mädchen mit dem langen, weissen Haar, das rosa im roten Licht schimmert, sitzt noch immer auf dem Bett, ohne sich bisher bewegt zu haben. Und sie.. ist schön. Sie ist wunderschön.. nie im Leben habe ich etwas Schöneres gesehen, wie dieses sitzende Mädchen, das gedankenverloren an die Wand schaut, nicht in unsere Richtung. Diese bleiche Haut, die feinen Finger und Hände, die weichen, endlosen Haare, die wie Silberfäden über den schmalen Rücken gleiten wie Erdbeermilch. Ich kann meine Augen nicht mehr von der Gestalt wenden, es ist wie ein Bann. Ich kann nur noch sehen, wie.. oh wie schön sie ist. Wie wunderbar dieses Wesen sein muss. Diese Wärme, diese Liebe.. Alles in mir fühlt sich leicht und voller Glück. Steinbeck seufzt leise neben mir und ich muss weiter lächeln. Ja.. wie könnte man dieses Geschöpf nicht lieben? Ich spüre es, den Menschen neben mir geht es ganz genauso. Aber sie sind bedeutungslos geworden. Alles ist bedeutungslos. Ausser dieser Gestalt. Welch ein Glück, in meinem Leben so etwas Wundervolles sehen zu dürfen. Und wir stehen nur da und bewundern dieses himmlische Wesen mit den roten Augen, so träumerisch, so lieblich und sanft, wie sie blicken. Wie ein Engel persönlich, der seine Schwingen um uns legt, weich und warm, schützend und so voller Güte. Und mich niemals wieder alleine lässt. Und jegliches Bedürfnis verlässt mich, jeder Wunsch verpufft zu einem Nichts. Nur hierbleiben und dieses göttliche Wesen anzuschauen. Bis in alle Ewigkeit..
 

~*~
 

Wie lange wir so dagestanden hatten, weiss ich nicht, aber es muss sicher eine ganze Weile gewesen sein. Ich musste husten und es entwickelte sich zu einem Hustkrampf, bis meine Augen feucht wurden und als ich dann die Augen wieder öffnen konnte, waren alle aus der Trance erwacht.
 

Inzwischen stehen wir in diesem seltsamen kleinen Zimmer und ich kann das Kind jetzt von Nahem sehen, ohne diesen übermächtigen Drang, es von Herzen lieben zu wollen. Der Zauber ist verschwunden. Elena ist wie ich ebenso irritiert, auch Steinbeck scheint etwas fassungslos zu sein, ausser Sladis, der wohl diese seltsame Begebenheit schon einmal erlebt hat. Das Kind - ich sehe jetzt, dass es erstens kein Mädchen, wie ich angenommen hatte, sondern ein Junge ist und zweitens, das "Kind" schon gute 14-15 Jahre alt sein müsste - sitzt noch immer unbewegt auf dem Bett und scheint uns garnicht zu registrieren. Weder folgt es dem Gespräch, noch blinzelt es ein einziges Mal. Der Junge ist unbekleidet und stört sich anscheinend nicht daran, dass ihn alle anstarren. Erst, als Elena ihre Waffe entsichert (was jeden hier im Raum erschreckt, nicht nur mich!), dreht der Junge seinen Kopf und sieht Elena mit seinen roten Augen an, die noch immer so sanft und verträumt aussehen.. aber auf eine beunruhigende Art auch durchdringend, als könnten sie direkt in die Seele blicken. Unheimlich! Erst jetzt komme ich dazu, mich überhaupt zu wundern! Diese helle, fast durchscheinende Haut, die schneeweissen Haare und dann die roten Augen. Ein Albino.. ich hätte nicht gedacht, dass ich wirklich einmal so einen Menschen mit eigenen Augen sehe! Ich hatte mir immer versucht vorzustellen, wie so ein Mensch aussehen würde.. so ganz weiss mit roten Augen. Ist mir damals vorgekommen wie ein Monster. Natürlich sieht der Junge nicht normal aus, aber es ist auch nicht hässlich. Die roten Augen irritieren und irgendwie ist es schon gruselig. Aber hässlich ist er nicht, im Gegenteil. Aber.. wie hat er das angestellt? Was war das vorhin? Was hat er mit uns gemacht, dass wir alle so fasziniert waren von seiner Gestalt? Ich bin sicher, dass es wirklich etwas mit diesen merkwürdigen Kräften zu tun hat, die Elena erwähnt hatte.
 

Und jetzt sind wir hier. Und dieser Junge sieht uns an, völlig ohne Angst, als wäre es selbstverständlich, dass so viele Menschen um ihn herumstehen und zudem noch eine geladene Waffe auf ihn gerichtet wird. Moment... wieso auf den Jungen? Ich sehe zu Elena und vor Unglauben steht mir der Mund offen. Elena zielt genau auf die Stirn des Jungen und ich sehe, wie ihr Arm zittert dabei. Was ist denn jetzt los?!
 

"Elena! Das wirst du nicht tun! Du wirst ihn hier lassen, unter unserer Aufsicht! Verdammt Elena!" schreit Sladis, als er sich bewusst wird, was Elena vorhat. Wieso tut sie das? "Elena! Tun sie das nicht, sie sind ja wahnsinnig!!" ruft jetzt auch Steinbeck und ich verstehe jetzt nur noch eines: Elena wird diesen Jungen töten. Sie wird ihn nicht kidnappen und über die Grenze bringen, wo er irgendwo in Frieden leben kann. Sie wird ihn hier und jetzt und auf der Stelle töten.
 

"Es tut mir leid!" flüstert sie mit zitternder Stimme. Der Junge blickt sie an, mit seinen blutroten, sanften Augen in denen kein Funken Angst steht. Ob er sie überhaupt versteht? "Du bist zu gefährlich für diese Welt! Wenn ich es jetzt nicht tue, wird dich irgendwann keiner mehr aufhalten können!" Nein, das ist nicht ihr Ernst! "Elena! Was zum Teufel machst du da, du kannst dieses unschuldige Kind doch nicht umbringen! Du wolltest ihnen helfen! Verdammt, nimm die Waffe runter!" schreie ich zu meinem eigenen Erstaunen, aber die Vorstellung, dass Elena dieses hilflose, sanfte Wesen einfach aus der Welt tilgt, bereitet mir fast schon körperliche Schmerzen - das kann sie nicht tun!
 

Und Elena zittert, ich kann sehen, wie sie mit sich kämpft. Sie hat einen Auftrag, aber ihr Gewissen bestreitet eine Schlacht, und gewinnt an Stärke. "Ich.. ich muss.." stammelt sie, aber in ihren Augen sammeln sich Tränen. Sie kann es nicht! Sie kann es nicht tun! schreit es in mir und langsam lässt sie die Arme sinken. Die Anspannung fällt von mir wie ein Zentner Blei und ich sehe Elenas leidendes Gesicht, und dann wandert mein Blick und trifft auf die naiven, roten Augen, die sie immernoch ansehen. Und ein plötzliches Lächeln auf dem ausdruckslosen Gesicht des schneeweissen Jungen. 'Viel Glück, mein Bruder..'
 

Mit schreckgeweiteten Augen sehe ich, wie der Junge langsam die Augen schliesst und im selben Moment Elenas Arme wieder in die Höhe schnellen, bis sie wieder auf die Stirn des Jungen zielen, ich sehe Elenas entsetzen Gesichtsausdruck, als ihre Finger nicht mehr ihrem Willen gehorchen, ich sehe Steinbeck und Sladis, die in verzweifeltem Horror nach vorne stürzen um sie aufzuhalten - wie in Zeitlupe. Und dann geht alles viel zu schnell. Ein Knall. Und dann ist es still. Schrecklich still. Meine Brust schmerzt, als hätte ich mir selbst ein Messer hineingebohrt.
 

~*~
 

Mit einem heiseren Keuchen knickt der Junge in die Knie und fasst sich mit zitternden Händen an den Kopf. Die Augen vor Panik aufgerissen steht der Atem still, das Herz stockt einen Moment. Als es wieder zu schlagen beginnt, reisst jeder Pulsschlag eine tiefe, grauenhafte Wunde in den schmalen Brustkorb. "Nein.. nein.." haucht er ungläubig gegen den dunklen Boden und fühlt, wie warmes Blut aus seiner Haut quillt, über die Stirn rollt und von der Augenbraue tropft. Sein bleicher Körper zittert und bricht vollends zusammen. Lautlos benetzt sich der Boden mit heissen Tränen. Die Arme um den Kopf geschlungen versucht er es aufzuhalten, doch wie Dampf gleitet es einfach durch seine Finger, raubt einen Teil seiner Seele und verschwindet im Nichts. Der Junge bleibt liegen und gibt diesen Teil auf.
 

~*~
 

Das erste, was ich wahrnehme, ist ein Schreien. Dann ein tiefes, langgezogenes Brummen und gleich darauf bebt die Erde. Der tote Junge auf dem Bett bewegt sich nicht mehr, sein leerer Blick hängt an der Decke, das Gesicht vom Blut zu einer grauenhaften Maske entstellt. Sladis schreit etwas, aber es geht unter in einem unbeschreiblichen Lärm, der von einer Sekunde zur nächsten anbricht. Die Luft vibriert und meine Ohren klappen zu, als würde der Luftdruck stetig zunehmen. Das Zimmer wird nun so heftig erschüttert, dass der Tisch polternd umfällt, ein Grollen und unendlich tiefes Brüllen rollt sich durch die Gänge, wie ein uraltes, gigantisches Ungeheuer, das seinen Zorn in die Welt hinausschreit. Die Leiche des Jungen rutscht zu Boden, Steinbeck fällt ebenfalls, nur Sladis, Elena und mir gelingt es noch stehen zu bleiben, was aber alles andere als einfach ist. Wie ein Erdbeben, dessen Epizentrum genau unter uns liegt, wackeln die Wände, bekommen Risse, der Druck nimmt weiter zu und mein Kopf fühlt sich an als wolle er bersten! Ein ohrenbetäubendes Donnern prallt in das kleine Zimmer, die rote Lampe an der Decke zerplatzt und es ist stockdunkel. Überall mischen sich Schreie von Menschen zwischen die wütenden Brüller dieses Erdbebens, die wie Paukenschläge in die Gänge einfallen. Überall herrscht jetzt Nacht, nichts mehr ist zu sehen, aber ich kann hören, wie sich Stahlplatten verbiegen, geschweißte Titanium-Bahnen quietschend an den Nähten zerren, Betonwände mit einem grauenhaften Krachen Risse bekommen. Von der Decke regnet es Staub und kleine Trümmer, die mit jeder Sekunde grösser werden.
 

Ich bemühe mich, so laut es nur geht nach Elena zu schreien, aber das übermächtige Rumpeln ist so unbeschreiblich betäubend, dass schon der Versuch zum Scheitern verurteilt ist. Als würde überhaupt kein Laut meine Kehle verlassen. Raus hier! Das ist verrückt! Wahnsinn! Eingeschlossen in einem schwarzen Labyrinth, das jeden Moment zusammenfällt wie ein Kartenhaus! War das wirklich ein Erdbeben?
 

Ich taste mich zum Türrahmen, der schon längst zersplittert ist und versuche nicht zu fallen, denn jedes neue Grollen lässt den Boden und die Wände derart erzittern, dass ich fast mit jedem Schritt das Gleichgewicht verliere. Mittlerweile stürzen schon schmerzhafte Betonbrocken von der Decke und ein letztes Mal schreie ich in das Zimmer nach Elena und Steinbeck, aber keine Antwort. Ein plötzlicher Windstoß reisst mich dann doch vom Boden und schmerzhaft knalle ich gegen die Wand.

"Aah,.. au..!" So schnell es geht, rapple ich mich wieder auf und setze den Weg fort, obwohl ich keinen blassen Dunst habe, wo ich hinflüchte in dieser Dunkelheit. Der Wind denkt garnicht daran, abzuflauen und wird immer stärker und während ich vor Wahnwitz noch überlege, woher dieser gigantische Orkan überhaupt herkommen kann in diesem unterirdischen Gewölbe, werde ich diesmal von einem flüchtenden Menschen umgerannt, der genau in die entgegengesetzte Richtung an mir vorbeiläuft und mich wieder gegen die Wand drückt. "Trottel, pass doch auf, verdammt!!" schreie ich, aber es kommt sowieso nicht an genannter Adresse an. Aber jetzt bin ich verunsichert. Soll ich ihm nachlaufen? Wo ist der Ausgang? Wieder brüllt es und der nächste Schlag ist so gewaltig, dass mir der Druck die Luft aus den Lungen presst. Verdammt! Das schaffe ich nie hier raus! Ich habe keine Ahnung, wo ich hin laufen muss! Und dafür wäre es so oder so zu spät, die Decke poltert in immer grösseren Brocken herunter und einer trifft mich in diesem Moment schmerzhaft an der linken Schulter. Der Wind ist jetzt so zahm wie eine cholerische Schwiegermutter - vor Staub und Trümmern wage ich kaum mehr zu atmen, alles ist dunkel und laut und..
 

KNARZ - fomp. "Aua"
 

Überrascht greife ich nach unten, um mich abzustützen. Anscheinend war eine Metallplatte so locker, dass ich durch die Wand gefallen bin. Es ist nach wie vor dunkel und furchtbar laut, aber wenigstens tobt hier kein Orkan und ich stelle ich wieder auf. Vorsichtig taste ich mich entlang und fühle auf beiden Seiten dicht neben mir Metallwände, die vor Vibration leise summen, dem heftigen Druck des Windes aber standhalten. Auch, dass hier nicht pausenlos lexikon-große Trümmer von der Decke fallen, ist ein weiterer Pluspunkt. So schnell es eben geht, schiebe ich mich durch den engen Gang und hoffe dabei inständig, dass Elena noch lebt. Ich hätte ihr helfen sollen! Vielleicht ist sie schon von einem Bruchstück der Decke erschlagen worden.. vielleicht ist sie aber noch immer in dem Zimmer und sucht nach mir, schreit sich die Seele aus dem Leib und hofft auf meine Hilfe? Aber ich bin feige. Jetzt nochmal zurückzugehen wäre mein sicherer Tod, denn hierher würde ich mit Sicherheit nicht mehr rechtzeitig schaffen! In diesem.. Sturm oder was auch immer dieses wahnwitzige Windchen sein möge..
 

Was hier wohl gerade passiert? Dieses ganze Gefasel von gigantischen Kräften, die sie nicht kontrollieren konnten.. irgendwie habe ich ein ganz ganz böses Gefühl. Ich bin mir mittlerweile absolut sicher, dass dieses Inferno hier etwas mit dem Tod dieses Jungen zu tun hat. Natürlich könnte es auch einfach sein, dass irgendjemand über diesem Bunker uns gerade mit Atombomben bewirft. Wobei ich das dann doch eher für unwahrscheinlich halte. Obwohl - ist die Geschichte mit den übermenschlichen Kräften nicht noch viel unwahrscheinlicher? Ist ja wie im Comic...
 

Fast wäre ich gegen eine Wand gerannt, die sich urplötzlich vor mich hinplaziert hat und nach ein paar Tastversuchen habe ich begriffen: der Gang macht eine Biegung nach rechts. In den nächsten paar Minuten muss ich sehr vorsichtig gehen, denn immer öfter biegt und zweigt der Gang nun ab. Hinter der Wand also? Es scheint, als hätte der Architekt, der verantwortlich für diesen Bunker war, eine ausgesprochene Vorliebe für versteckte Geheimgänge gehabt zu haben. Es war, als habe er um jedes Zimmer, um jeden Gang einen schmalen Geheimgang miteingeplant, in dem ich jetzt gerade herumlatsche. Ich bemerke, dass das Toben und Heulen des Orkans leiser wird, dafür ist das Zittern und Vibrieren hier hinten unheimlich viel stärker geworden, dass ich kaum noch einen Schritt machen kann ohne nach rechts und links gegen die Wand geworfen zu werden. Aber lieber riesige blaue Flecke auf den Schultern als ganz tot. Und der Sturm scheint hier auch viel schwächer zu sein - das halte ich zumindest für ein gutes Omen.
 

Und das, was ich hinter der nächsten Biegung gesehen habe, werde ich mein ganzes Leben nicht vergessen können. Schon von Fernem hatte ich das schwache Licht gesehen und womöglich für den Ausgang gehalten und hatte mich um so mehr beeilt. Aber ein Ausgang war das nicht. Ich sah etwas Helles, etwas schwach Leuchtendes und je näher ich diesem Leuchten kam, desto stiller wurde es und das Vibrieren und Rütteln hörte fast ganz auf.
 

"Das... das gibt's doch nicht!" Fassungslos starre ich auf den jungen Körper, der zusammengekauert mitten im Weg liegt, lange, schneeweisse Haare, die sich wie in der Schwerelosigkeit des Wasser vom Boden heben und in der Luft schweben. Und schliesslich das Faszinierendste von allem: Um die gesamte Haut leuchtet ein milchiger Schein aus Helligkeit, wie eine Hülle, und aus dieser Hülle lösen sich feurige Fäden aus weissem, bleichen Licht, wie Feuerausbrüche auf der Oberfläche einer Sonne. Und diese milchigen Flammen tanzen dampfartig in der Luft, glühen mal heller und mal schwächer - und, das bemerke ich gerade - jedesmal, wenn eines der Flammen grell genug aufleuchtet, brüllt draussen der Sturm auf wie ein wütendes Monster. Der Junge von vorhin!
 

Geschockt starre ich lange nur auf diese wahnsinnige Erscheinung und weiss nicht, ob es nun wunderschön oder grauenhaft ist, wahrscheinlich aber beides. Aber... der Junge ist doch tot! Ich habe ihn selbst sterben sehen! Dieser Schuss in den Kopf - nie konnte er ihn überlebt haben! Oder.. womöglich ich das garkein Mensch?
 

Wieder leuchtet eins der Flämmchen grell auf und der Sturm kreischt gedämpfte wieder von neuem los und bringt die Metallplatten um mich zum Knirschen und Quietschen. Zum Glück kann ich wenigstens dies mir nun erklären: Der Junge ist schuld an dem Desaster da draussen! Zweifel ausgeschlossen. Ich bin ein Mensch, der glaubt grundsätzlich nur, was er sieht und anfassen kann. Atheist und Realist. Und DAS habe ich jetzt gesehen und bin endgültig überzeugt, dass sich da etwas über meinem Verstand abspielt. Fakt ist: Ich muss den Jungen irgendwie stoppen, sonst fällt mir hier doch noch die Decke auf den Kopf!
 

Allerdings habe ich keine Ahnung, wie ich das anstellen soll. Er scheint nämlich zu schlafen, oder ist ohnmächtig, jedenfalls hat er die Augen geschlossen und rührt sich nur ein bisschen, ich kann ihn nämlich atmen sehen. Aber sonst ist er unbewegt. Ausser diese tänzelnden, weissen Flammen auf ihm. Das ist der Wahnsinn.. er sieht aus, als würde er brennen! Dabei ist er ja schon tot.. oder so. Auf seiner Stirn ist tatsächlich ein Blutfleck. Allein die Vorstellung, dass dieser kleine Knirps ein Monsterzombie ist, schlägt sich bei mir in Form von Gänsehaut nieder. Dabei wirkt er doch so harmlos. Aber solche sind ja bekanntlich die Schlimmsten.
 

"Hey.. hey, Kleiner! Kuckuck!" Ihn anzufassen traue ich mich nicht, wer weiss, ob dieses Flammenzeug heiss ist? Oder ansteckend? Oder.. radioaktiv oder sowas. Der Kleine reagiert nicht. Vorsichtig werfe ich einen kleinen Stein auf den Jungen, aber das sollte ich wohl lassen, denn sofort gleisen alle Flammen auf einmal so grell auf, dass ich geblendet die Augen schliessen muss und zudem durch ein markerschütterndes Jaulen fast einen Hörsturz bekomme! Doppelt so wütend wie noch gerade fegt ein regelrechter Hurrikan durch die Gänge und ich kann das Splittern und Krachen der Trümmer hören, die der Wind gegen die Wände schleudert, die jetzt teilweise durch den heftigeren Ansturm einreissen.

"Ich hab's verstanden! Ist ja gut, ich mach's nicht wieder!!" brülle ich in den Lärm und tatsächlich - der wütende Sturm beruhigt sich wieder etwas.
 

Das.. ist einfach Wahnsinn! Der Sturm scheint wirklich auf den Kleinen zu reagieren. Und auf mich in gewisser Weise. Oder war das jetzt nur Zufall? ... Ich könnte es nochmal testen. Aber die Gefahr, dass dann wirklich alles einstürzt, ist mir doch zu hoch. Vielleicht sollte ich es einfach einmal andersrum probieren. Obwohl ich mir dabei saudoof vorkomme. Aber was tut man nicht alles um seine Haut zu retten..

"Shhht, gaaanz ruuhig, bleib ganz cool.. kein Grund dich aufzuregen.." Tatsächlich aber scheint diese gutgemeinte Besänftigung dem Sturm am metaphorischen Hinterteil vorbei zu gehen. Nocheinmal versuche ich meinen Charme spielen zu lassen, aber Fehlanzeige. Zumindest aber, bemerke ich plötzlich, werden die Ausbrüche immer schwächer. Die Flammen sind nicht mehr so hoch, nicht mehr so grell, als würde ihnen die Energie ausgehen. Hm.. also.. so absurd die Situation auch ist, neugierig war ich schon immer. Es wird mich schon nicht umbringen. Hoffe ich.
 

Vorsichtig strecke ich meine Hand nach der leuchtenden Haut aus und kaum habe ich mich einer freien Stelle genähert, zuckt sofort eine Flamme in meine Richtung und berührt mich gerade noch an der Fingerspitze, die ich verschreckt wieder zurückgezogen habe. Das ist.. der helle Wahnsinn! Das ist fast wie bei diesen Glaskugeln mit diesen lila Blitzen, die sofort dahin zucken, wo man die Kugel berührt! Noch einmal probiere ich, dieses Leuchten zu berühren und diesmal gleitet die Flamme langsamer an meine Hand, fast, wie um mich nicht zu erschrecken. Völlig gebannt starre ich auf diese dünne Flamme, die in schwachem Weiss leuchtend um meine Hand streichelt, wie eine schmusende Katze sich an jedem Finger entlangschmiegt. Die Flämmchen sind keineswegs heiss. Sie sind.. irgendwie warm, leicht und umfliessen meine Hand wie Zigarettenrauch. Nachdem die kleine Flamme meine Finger inspiziert hat, verschwindet sie langsam in der glühenden Hülle des Jungen, wie viele der anderen Flammen auch. Mir wird gewahr, dass es draussen plötzlich ganz still geworden ist, die Flammen leuchten nicht mehr zornig auf, sondern wiegen sich mit einem Mal alle um meine Hand, als würden sie sie neugierig betasten, sich anzuschauen, um kurz darauf dann zu verschwinden. Ich schwöre, ich habe noch nie in meinem Leben etwas ähnlich Faszinierendes gesehen. Ich bewege meine Finger und das Flämmchen gleitet ihnen nach, spielt fast mit ihnen und das ist so absurd und gleichzeitig so schön, dass ich anfange zu grinsen.
 

Schliesslich ist auch die letzte kleine Flamme verschwunden und allein die Haut des .. Wesens leuchtet noch schwach wie durch eine Milchglasscheibe. Ich kann nicht anders, aber momentan bin ich einfach noch viel zu beeindruckt durch dieses Schauspiel, als dass ich mich wirklich darüber freuen könnte, dass das Sturmgetobe, das Erdbeben aufgehört hat. Und das hat es tatsächlich. Draussen herrscht gespenstische Stille. Ich hatte fast schon damit gerechnet, langsam vereinzelte Stimmen und Trümmergerücke zu hören, aber Fehlanzeige. Hier ist anscheinend niemand mehr. Oder niemand mehr am Leben. Grausig...
 

Vorsichtig stehe ich auf und lausche. Nichts. Mein Blick fällt nach unten auf den reglosen Jungen, der noch immer zu schlafen scheint, so friedlich. Ich sollte weitergehen. Raus hier. Selbst, wenn jemand hier überlebt hat, wird er mich früher oder später finden und immerhin bin ich mit Elena hierhergekommen. Das heisst, ich würde ganz schöne Probleme bekommen, falls ich geschnappt werden würde. Aber was tun mit dem Kleinen da?
 

Fasziniert bin ich jedes Mal wieder, wenn ich den Jungen anschaue. Die langen, doch etwas schmutzig anmutenden Haare (habe ich nach näherer Betrachtung herausgefunden) wehen immer noch in Strähnen um den schlanken Körper, nur ganz leicht, trotzdem könnte das glatt eine Werbung für ein neues Haarwaschmittel abgeben. Ästhetisch, wirklich. Bis auf... Langsam lasse ich mich in die Knie hinunter und wedle die schwebenden Strähnen zur Seite. Der arme Kleine ist in einem schlechten Zustand. Überall blaue Flecken, dreckig, die Haut ist an vielen Stellen aufgerissen und blutig. Und wenn ich mir das Gesicht ansehe.. irgendwie wirkt es anders als vorher. Seltsam, wirklich.. ich könnte schwören...
 

Ich weiss, dass Mitleid in diesem Fall ziemlich unangebracht ist. Immerhin hat dieser kleine Kerl seit der letzten Stunde mehr Menschen auf dem Gewissen als ein durchschnittlicher Massenmörder. Eigentlich ein purer Wahnsinn. Dieses Kerlchen ist verdammt gefährlich. Ich bekomm ja nachträglich ne Gänsehaut, wenn ich daran denke, dass ich grade mit Flämmchen gespielt habe, die dem Kleinen aus der Haut gewachsen sind. Wenn ich das jemandem erzähle, hält der mich für bekloppt. Wenn ich ehrlich bin, halte ich das alles momentan auch für bekloppt. Inklusive mich selber.
 

"Aber ich träume nicht, denn meine Träume sehen anders aus.." murmle ich und überlege nun endlich, was ich mit dem Kleinen anstellen soll. Und irgendwas in meinem Hirn gerät grade in einen Zwiespalt. 'Lass ihn liegen und verdufte, bevor er sich's anders überlegt!' spricht die eine Seite. Dem kann ich nur zustimmen. 'Du kannst den armen kleinen Kerl doch nicht einfach da liegenlassen?! Nimm ihn mit nach draussen und setz ihn am Waisenhaus ab!' Wie bitte? Bin ich das? 'Bist du bescheuert? Waisenhaus! Der "arme kleine" Kerl ist eine Bedrohung für die Menschheit!' Richtig! Das ist Fakt. Verdammt gefährlich der Kleine. Nichts für mich, ich hatte genug Abenteuer! 'Wenn du ihn hier zurücklässt, bist du ebenso ein Mörder wie Elena!' ICH?? .. ausserdem stirbt der sowieso nicht. Der hat ne Kugel durch den Kopf überlebt, der stirbt so schnell nicht!
 

Entschlossen drehe ich mich um und gehe weiter durch den Gang bis zur nächsten Biegung. 'Erst lass ich Elena im Stich und jetzt dieses Kind' Mmmmmmh..! "Au scheisse!!" Verdammt, jetzt hab ich mir auch noch das Knie angehauen, na toll! Und warum? Ganz einfach, ich sehe absolut überhaupt gar-nichts. Das ist schwärzer als Schwarz.
 

Zwei Minuten später gehe ich denselben Weg noch einmal, diesmal sehe ich aber, wohin ich laufe. Der Grund dafür hängt über meiner Schulter. Was hab ich doch für ein weiches Herz. Ich konnte den Jungen doch nicht einfach mutterseelenallein hier krepieren lassen. Dass die leuchtende Haut des Kleinen mir genug Licht zum Weiterlaufen beschert, ist demnach nur eine positive Begleiterscheinung. Naja. Zum Glück ist das Kerlchen leicht wie eine Feder, ich spür ihn kaum auf meiner Schulter liegen und eigentlich ist er auch eine nette Wärmflasche, denn das Licht ist nicht nur relativ hell sondern auch noch angenehm warm. Scherz beiseite, sobald ich hier raus bin, bleibt der Kleine, wo er ist. Diese ganze Geschichte geht mich nichts mehr an. Das ist Elena's und Sladis' und Steinbeck's Angelegenheit. Wobei..
 

Ich denke zurück an die drei, bzw. die beiden (was aus Sladis geworden sein mag, ist mir definitiv egal) und hoffe inständig, dass auch sie diesen Höllentrip überlebt haben. Elena.. ach.. wie sehr kann man sich in Frauen täuschen.. Ich wusste zwar, dass manche Frau eine bessere Schauspielerin ist, aber das hatte ich wirklich nicht erwartet. Und ich glaubte noch an ein Rendez-vous nach dieser Sache. Aber das scheint wohl kein Happy End zu geben. James Bond ist eben doch nicht das Wahre...



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von: abgemeldet
2004-07-29T17:34:11+00:00 29.07.2004 19:34
Also ich muss sagen, erlich gesagt weiß ich das gar nicht so recht! Deine Geschichte ist so toll da verschlägt es mir doch gleicht die Sprache!
Hast du dir schon mal überlegt ein Buch daraus zu machen??
Ich hoff du lässt uns nicht all zu sehr auf den nächsten Teil warten!
Einfach klasse!

HAIR
Von:  Ley
2004-07-26T19:00:32+00:00 26.07.2004 21:00
Deeeeeeer Wahnsinn! Der absolute Wahnsinn! *.*
Das ist dermaßen geil, da komm ich ned drüber weg! *kreisch*
Nicht nur, das die Story total geil ist (will wissen wie es weiter geht!!!), es ist auch total ansprechend geschrieben - teilweise sehr witzig und die ganze Zeit über super flüssig, da macht es richtig Spaß zu lesen! Außerdem hälst du die ganze Zeit über die Spannung, ich hab nicht einmal die Lust am Weiterlesen verloren und es in eins verschlungen - schade, dass es noch kein achtes und neuntes und zehntes und etc. Kapitel gibt! *.*
Du musst das unbedingt zu Ende schreiben und bitte bitte bitte sag mir Bescheid wenn du einen neuen Teil fertig hast!
Diese Story ist echt endlos geil *hin und weg* Hättest mich ruhig früher drauf stoßen können - meine Güte was hätte ich da verpasst hätte ich sie nicht gelesen *.*
Und du findest meine gut? Das doch Fliegendreck gegen das hier *schrumpf*
Da kann man ja ohne Weiteres nen richtigen Thriller-Roman draus machen XD
Echt wahnsinnig geil geworden mir gefällt es derbe gut ich kanns kaum abwarten zu erfahren wie das nun weitergeht! Du musst ganz schnell fortsetzen! Ich werd erstmal fett Werbung für deine Story machen gehen *smile* Die MUSS man ja einfach gelesen haben! *strahl und leucht vor Begeisterung*
Du bist ein echtes Schreib-Genie! *lob und in Grund und Boden knuddel*

Also, schnell mehr für mich armes Ding! ^^

Baba, dein neuester Fan, das

Ley


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