weg
02. April 2005, Samstag
Ein Rascheln, fast schon ein Flüstern, wie wenn jemand eine Jacke anzieht. Ich sehe nur die Dunkelheit meiner geschlossenen Lider, fühle meine weiche Matratze und die Kissen unter mir. Eine Tür wird geöffnet und kurz darauf leise ins Schloss fallen gelassen. Die sich rasch entfernenden Schritte klingen dumpf durch die dünnen Wände des Mehrfamilienhauses, bis sie verhallen.
Stille.
Endlose, grausame Stille.
Einen Augenblick noch halte ich die Augen geschlossen. Erst, wenn ich sie öffne, ist es Wahrheit, ist es unwiderruflich. Ich muss nur die Augen zu lassen...
Schließlich öffne ich sie doch.
Sie ist weg.
Wo anders.
Nicht mehr hier.
Nicht bei mir.
Ich bin aufgestanden. Irgendwann hätte ich es ja doch machen müssen.
Irgendwann...
Sie ist weg.
Ich hatte es doch gewusst. Von Anfang an. Wie hatte ich etwas anderes erwarten können?
Es hätte nie anders sein können.
Niemals.
Der Wasserkocher pfeift leise und bewegt mich dazu, vom ungemütlichen Küchenstuhl aufzustehen. Ich gieße die heiße Flüssigkeit in meine Tasse, in der bereits Zucker und zwei Teebeutel sind. Sofort färbt es sich rötlich. Mit dem langsam warm werdenden Becher kehre ich zum Tisch zurück.
Ich trage nur ein bis zu den Kniekehlen reichendes T-Shirt, das ich als Nachthemd benutze. Wozu auch anziehen? Es ist doch niemand hier.
Sie ist weg.
Mit meinen Eiswürfeln gleichen Fingern umklammere ich die inzwischen verdammt heiße Tasse. Sie müssen längst verbrannt sein, doch ich spüre es nicht. Ich spüre überhaupt nichts mehr.
Ich hab ihr zu viele Probleme gemacht.
Ich war zu schwierig.
Ich ziehe die Knie an meinen Körper. Meine Beine sind auch kalt, wie tief gefroren. Egal.
Ich nehme einen Schluck aus der Tasse. Der heiße Tee brennt in meiner Kehle und in meinem Hals. Eigentlich sollte das fürchterlich wehtun.
Mein Blick schweift zu der alten IKEA Uhr, die ich schon mein halbes Leben lang besitze. Halb 7. Wann bin ich aufgestanden? Kann keine 15 Minuten her sein.
Was für ein Tag ist es? Mittwoch? Nein, kann gar nicht sein. Gestern war meine Kampfsportstunde, also muss es Freitag gewesen sein. Wenn gestern Freitag war ist heute Samstag. Gut. Dann muss ich wenigstens nicht zur Lehre.
Sie ist weg.
Weg. Weg. Weg. Weg, weg, weg, weg, weg, weg, weg, weg, weg, WEG!!!!!!!
Ich spüre wie sich eine Träne aus meinem Augenwinkel stiehlt und die Wange hinunter gleitet. Dann noch eine. Und noch eine. Es werden immer mehr und sie wollen einfach nicht aufhören aus den Augen heraus zu quellen. Eine nach der anderen tropft von meinem Gesicht in den Becher mit dem gesüßten Tee. Ein Schluchzer, den ich nicht länger zurückhalten kann, entrinnt nun meiner Kehle und meine Nase beginnt zu laufen.
Sie ist weg.