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Psycho-Pass | Ω

Wrath of the Wraith
von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Das ist sie also. Ich bin mir durchaus bewusst, dass ich hier einige unfertige Fanfics rumliegen habe. Leider habe ich mit meiner eigenen Homepage im Augenblick so viel zu tun, dass ich zu mehr nicht komme.
Die Idee zu dieser Fanfiction kam mir, weil ich nur wenige gute deutsche Psycho-Pass Fanfiction gelesen hatte und das ändern wollte. Selbstredend obliegt es eurem Urteil, ob dies gelungen ist oder nicht. Wem die Geschichte gefällt, der kann dies gerne äußern. Wem sie nicht gefällt, der soll das natürlich auch kundtun.
Ich muss auch sagen, dass diese Geschichte sehr viele Spoiler zu Staffel Eins und Zwei enthält. Wer diese also noch nicht gesehen hat, möge dies erst tun, bevor er diese Geschichte liest.
Nun noch der gute alte Disclaimer: Psycho-Pass und alle darin vorkommenden Personen sind Eigentum des Autors/der Autoren.
Ebenso gilt, dass alle real existierenden Orte und Personen nur sich selbst gehören.

Theme song: Kirby Superstar - Revenge of Meta-Knight - Intro Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Hier ist ohne weitere Umschweife Kapitel 1. Viel Vergnügen und sagt mir, was ihr denkt.

Theme song: Ocean's Eleven - Main Title Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Hier ist es endlich! Ich musste das Kapitel in zwei Teile spalten, weil es sonst noch länger mit der Veröffentlichung gedauert hätte und der Titel dann nicht mehr zum ersten Teil gepasst hätte.
Tut mir leid für die lange Wartezeit. Ich hoffe doch, sie hat sich gelohnt. Ich musste mir noch über einige künftige Twists und Charakterentwicklungen klar werden.
Dann also viel Vergnügen!

Theme song:
Ten Thirty - Inside Man OST Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Ich muss mich in aller Form entschuldigen bei jenen, die dies hier vielleicht noch lesen, für die lange Wartezeit. Leider ist der erste Versuch dieses Kapitels durch einen Absturz meiner App gelöscht worden und ich musste von vorn anfangen. T_T
Nun ist es dafür aber da und ich gelobe feierlich von nun an kontinuierlicher daran zu arbeiten. Ein wenig Geduld kann dennoch nicht schaden, weil die künftigen Kapitel alle in etwa so lang werden könnten wie dieses.
Nun aber viel Vergnügen und sagt mir, was ihr denkt! Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Hier ist also Kapitel 4, mit größerer Verzögerung als beabsichtigt. Dafür sind nun die Kapitel der Geschichte vorausgeplant.
14 Kapitel wird es geben, exklusive Prolog und Epilog, allerdings sind diese Angaben ohne Gewähr.
Jedenfalls viel Spaß beim Lesen. Im nächsten Kapitel wird es dann mehr Action geben. Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Erneut muss ich mich entschuldigen, wieder so lange mit dem Update gebraucht zu haben.
Dieses Kapitel ist zweimal so lang wie das Letzte.
Ein so langes Kapitel ohne Datenvolumen nachzuformatieren und hochzuladen ist ein Alptraum.
Ab sofort werde ich aber am Ende eines jeden Kapitels einen Ausblick auf das Nächste geben.
Außerdem will ich in meinem Weblog Update-Einträge zu der Geschichte und ihren Kapiteln hinterlassen. Nur falls jemand genau wissen möchte, wann es weitergeht.
Nun aber ohne weitere Verzögerungen zum Kapitel. Danke fürs Lesen. Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Es reicht wohl kaum mehr zu sagen, dass ich untröstlich bin, so lange gebraucht zu haben. Ich will gar keine Ausreden aufzählen. Diejenigen, welche ich durch die lange Wartezeit verprellt haben sollte, bitte ich, mir eine letzte Chance zu geben. Ich hoffe, dieses bisher längste Kapitel entschädigt für die lange Wartezeit und macht genug Lust auf mehr. Dieses Mehr wird denn auch garantiert rascher kommen.
Nun aber möglichst viel Vergnügen und teilt mir eure Meinung mit, wenn ihr mögt. Komplett anzeigen

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Subadachan

Ministery of Welfare Public Safety Bureau - Direktorat
 

Farbe… die physikalische Folge von Lichtbrechung und Absorption.

Fügte man alle Farben zusammen, erhielt man weiß.

Weiß, die absolute Farbe. Eine, die alle anderen Farben beherrschte und über die selbst nicht zu richten war.
 

Es barg eine gewisse Ironie, dass das Direktorat des Amtes für öffentliche Sicherheit im genauen Gegenteil - das heißt in schwarz - dekoriert war.

Direktorin Kasei saß an ihrem Schreibtisch, die Hände auf der Tischplatte verschränkt und tauschte sich wortlos mit den übrigen Mitgliedern des Kollektivs über künftige Pläne aus.

Die vergangenen Ereignisse - sei es der Fall Kirito Kamui oder die Offensive gegen Shambala - hatten ihre Spuren an den Einheiten des Amtes hinterlassen.

Nun aber hatte bereits der nächste Widersacher des Systems das Spiel um die Zukunft des Landes eröffnet.
 

Direktorin Kasei öffnete den Kommunikationskanal.

“Inspektorin Akane Tsunemori soll sich in 15 Minuten in meinem Büro melden.”
 

Ein Computer-Terminal auf dem Schreibtisch zeigte plötzlich incoming message an.

Die Direktorin wandte sich vom Schreibtisch ab und der hinteren Wand zu, die sich mit einem Videopanel überzog und bald darauf das Bild eines Mannes zeigte:
 

Seine asiatischen Züge wurden noch unterstrichen von dem grünen, goldverzierten Seidengewand. Das Auffälligste an ihm waren seine Augen deren Iris blutrot gefärbt war - ob natürlichen oder künstlichen Ursprungs war nicht feststellbar.

Er fuhr sich mit dramatischer Geste durch den langen schwarzen Schnauzbart und den dreigeteilten Kinnbart und verneigte sich knapp.
 

“Ich grüße die Direktorin des Amtes für öffentliche Sicherheit”, sprach er auf kantonesisch.

Ein kaum merkliches Lächeln huschte über die sonst unbewegten Züge der Direktorin.

“Wenn das nicht die unerwartete Gelegenheit ist mit dem berühmt-berüchtigten Subadachan zu sprechen.”

“Wohl eher berüchtigt als berühmt”, gab der Anrufer grinsend zurück.

“Es dürfte unter den Aufwieglern von Shambala einige geben, die einen hohen Preis für Ihren Kopf zahlen würden.“

Ob dieser Kommentar provokant gemeint war, war an dem gleichgültigen Tonfall der Direktorin nicht erkennbar.

“Jede Menge Leute würden einen hohen Preis für meinen Kopf zahlen”, erwiderte Subadachan mit einem Schulterzucken, “Ich fasse mich kurz. In Zukunft beabsichtige ich meine Geschäfte auf Japan auszuweiten und bin deshalb so höflich mich vorzustellen.”
 

Direktorin Kasei zog die Augenbrauen hoch.

“Dann sollten Sie wissen, dass Produktion, Vertrieb und Konsum von Drogen in diesem Land nicht geduldet werden. Sie werden hier gar keine Geschäfte betreiben.”

“Wissen Sie, Fidel Castro war ein unglaublich brutaler Diktator. Doch bei seiner Beisetzung feierten ihn die Menschen in Havanna wie einen König. Die Sterblichen streben danach zu sterben wie ein König und die Unsterblichen streben danach zu leben wie ein Gott. Was sagt Ihnen das, Direktorin?”

Die Augenbrauen der Direktorin senkten sich nun bedrohlich.

“Ich habe keine Ahnung, wovon Sie reden. Sie sind eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und als solche werden Sie in diesem Land nichts Anderes erreichen als gejagt und eliminiert zu werden. Das ist alles, was ich dazu sage.“
 

Sie betätigte einen Schalter und das Computer-Terminal auf dem Schreibtisch zeigte Disconnected an.

Das Bild Subadachans verblieb jedoch auf dem Wandmonitor. Direktorin Kasei wandte sich ihm wieder zu.

“Die Leitung ist nun sicher. Sagen Sie, was Sie wirklich zu sagen haben.“
 

Ein weiteres Grinsen glitt über die Züge des Mannes, ehe er auf Japanisch fortfuhr.

“Direktorin, der Drogenhandel ist nicht mehr das, was er mal war. Heute treiben sich schmierige Dealer nicht länger auf Hinterhöfen herum, machen vorübergehende Passanten mit einem ‘Psst’ auf sich aufmerksam, um sie dann zu fragen, was sie brauchen.

Die klassischen Plantagen, auf denen puerto ricanische Leiharbeiter ausgebeutet werden, haben ausgedient. Sie sind unwirtschaftlich: Zu aufwendig im Anbau, in der Pflege und wenn die Polizei sie entdeckt, brennt sie alles nieder.

Durch solche Aktionen ist mir jedes Jahr ein Warenwert von mehreren Milliarden Yen in Flammen aufgegangen.

Nein, heutzutage nehmen die Regionalkuriere Bestellungen der Endverbraucher auf, meine Leute die Bestellungen der Kuriere. Ich erhalte dann eine Massenbestellung, wende mich an ausländische Pharmaunternehmen, die mir die erforderten Mischungen und Substanzen zusammen stellen, sie mir liefern und so findet die Ware ihren Weg letztendlich wieder zu den Endverbrauchern.

Das Beste daran ist, dass ich nicht mehr mit reinen Drogen handele, sondern mit chemischen Ersatzstoffen. Die Wirkung ist die gleiche, doch die molekulare Zusammensetzung lässt die Stoffe nicht unter das Betäubungsmittelgesetz fallen.

Anders gesagt: Diese Stoffe bestellen, kaufen und weiter verkaufen ist nicht einmal illegal.”

Direktorin Kasei trommelte mit den Fingern auf der Armlehne ihres Stuhls.

“Worauf wollen Sie damit hinaus.“

“Ich will darauf hinaus, dass es nicht mehr nur um Drogen geht. Die Unternehmen, mit denen ich kooperiere, können alles herstellen: Von allen üblichen und unüblichen Drogen, über Doping und Aufputschmittel für die Guerillas in Shambala bis hin zu biologischen Nährmitteln.”

Bei dem Ende des Satzes hob sich der Blick der Direktorin langsam wieder zu dem Mann auf der Leinwand.
 

“Direktorin Kasei”, fuhr Subadachan fort, “Kinder lernen bereits in der Schule, dass das Gehirn wodurch Energie bekommt: durch Zucker. Sie lernen aber auch, dass jeder Mensch nur einen geringen Prozentsatz des vollen Potentials seines Gehirns nutzen kann.

Das Sibyl-System ist zweifellos ein absolut fortschrittliches System, das auf hochmoderner Technik basiert. Die Gehirne, aus denen es besteht, sind aber nach wie vor menschlich und deshalb nicht in der Lage ihr volles Leistungspotential zu nutzen.”

“Sie verfügen über interessante Informationen”, bemerkte die Direktorin mit latenter Drohung in der Stimme, “Informationen, über die Sie nicht verfügen dürften.“

“Ich habe meine Quellen, das muss Ihnen reichen. Was ich Ihnen anbieten kann, sind gleich zwei Dinge.

Sagen wir, ich wäre in der Lage ein Nährpräparat zusammen stellen zu lassen, mit dem jedes einzelne an das Sibyl-System gekoppelte Gehirn sein Potential nicht mehr zu - sagen wir - 15 %, sondern zu 75 % nutzen könnte.

Sie könnten die gleiche Arbeit, die Sie jetzt vollbringen, mit nur noch einem Viertel der gerade aktiven Mitglieder bewältigen. Nicht auszudenken, wozu Sie fähig wären, wenn Sie alle Mitglieder auf voller Leistung arbeiten ließen.

Wir reden hier nicht mehr nur über kleine, koreanische Provinzen, wir reden über den asiatischen Kontinent.

Das Sibyl-System könnte das römische Weltreich in den Schatten stellen.”

“Und Ihre Bedingung für die Lieferung dieses Mittels ist, dass Sie in diesem Land den Drogenhandel starten wollen?”

Subadachan schüttelte den Kopf.

“Mitnichten, der Handel mit Ihnen würde mir vollkommen reichen. Die einzige Bedingung, die ich hätte, wäre das Exklusivrecht. Ich bin der Einzige, der sie beliefert und der Einzige, von dem sie sich beliefern lassen.

Sehen Sie, ich bin kein Moralapostel, ich bin Geschäftsmann. Die Vita meiner Klienten interessiert mich nicht: Ob barmherziger Kirchengründer, Massenmörder oder eine Bande freilaufender Gehirne - wer zahlt, ist Kunde.”
 

Die Augen der Direktorin zuckten in ihren mechanischen Höhlen hin und her, während die Mitglieder des Kollektivs über dieses Angebot entschieden.

Schließlich wandte Kasei den Blick wieder Subadachan zu.

“Nennen Sie Ihren Preis.”

Der Mann lehnte mit einem Schwenken des Zeigefingers ab.

“Nein. Wir machen das so: Ich liefere Ihnen eine Probe der entsprechenden Nährmittel. Sie verwenden Sie und entscheiden, ob wir ins Geschäft kommen. Der Preis ist dann Verhandlungssache.”
 

“Sie sagten anfangs, Sie wollten uns gleich zwei Dinge anbieten“, erinnerte die Direktorin.

“Richtig. Unter den von Ihnen am Anfang erwähnten Personen, die einen hohen Preis für meinen Kopf zahlen würden, ist zufällig eine Person, für deren Kopf Sie einen hohen Preis zahlen würden. Eine, die Ihnen das letzte Mal in Shambala entwischt ist, weil Ihre beste Inspektorin diese Person zu liquidieren versäumt hat.“

“Sie sprechen vom flüchtigen Shinya Kogami.“

Es war eine Feststellung, keine Frage.

“Wie man so läuten hört, soll er wieder in Japan sein. Ich denke doch, ich kenne Mittel, um an ihn heran zu kommen. Was wären Sie bereit mir zu geben, wenn ich dieses Problem für Sie aus der Welt schaffe?”

Das Lächeln der Direktorin war nun nicht mehr zu übersehen.

“Tun Sie es und der Preis ist dann von unserer Seite aus Verhandlungssache.”

“Ist ein Vergnügen mit Ihnen Geschäfte zu machen”, schloss Subadachan mit einer Verneigung und die Leinwand wurde schwarz.
 

Direktorin Kasei hatte gerade wieder ihren Platz am Schreibtisch eingenommen, als sich die Doppeltür zu ihrem Büro teilte und Akane Tsunemori eintrat, Chefinspektorin von Einheit 1.

“Sie wünschten mich zu sprechen, Direktorin”, sagte Sie mit einer Verbeugung.

Allerdings währte ihre Höflichkeit nur, bis sich die Tür wieder geschlossen hatte und sie sicher sein konnte, mit der Direktorin allein zu sein.

Akane marschierte ungefragt nach vorn, stemmte beide Hände auf den Schreibtisch und beugte sich vor.
 

“Der abschließende Bericht über Shambala ist noch nicht fertig, was wollt ihr?”

Die Direktorin konnte ein Schmunzeln nicht verhindern.

“So respektvoll wie immer. Der Bericht über Shambala kann warten. Wir haben eine andere Aufgabe für dich: In Kürze soll es ein Briefing für die Einheiten 1 bis 4 über die bisherigen Aktivitäten von Wraith geben. Wir wünschen, dass du die Leitung übernimmst.”
 

Akane musste beinahe lachen über die Ironie, die darin lag. Wäre sie noch ein rehäugiger Frischling gewesen, hätte sie über diesen offensichtlichen Vorzug vermutlich gejubelt.

So wie die Dinge lagen, war sie nur misstrauisch.

“Wieso kommt ihr da auf mich?”

“Diese Frage kannst du dir selbst beantworten. Auch dir dürfte klar sein, dass Wraith - gleich ob es sich dabei um eine Person oder eine Gruppe von Personen handelt - auf seine eigene Art wesentlich gefährlicher ist als Makishima oder Kamui.”

Die erdrückende Ernsthaftigkeit im Raum hatte nun auch Akane ergriffen.

“Ihr meint wegen dieses Graffitis. Die anderen halten es bloß für kindischen Vandalismus, aber es kann natürlich sein, dass Wraith euer Geheimnis ebenso kennt wie ich.

Allerdings gab es schon in der Vergangenheit Aktionen, die vom Stil zu Wraith gepasst hätten. Wenn sie das Geheimnis von Sibyl schon so lange kennen, lässt die Tatsache, dass sie sich bisher nicht damit an die Öffentlichkeit gewandt haben, nur einen Schluss zu: Sie haben keine Beweise.

Dass unsere Gesellschaft von einem Kollektiv aus den Gehirnen kriminell asymptomatischer Menschen gesteuert wird, ist selbst für unsere modernen Verhältnisse nur schwer zu glauben.”

“Um so wichtiger ist”, betonte Direktorin Kasei, “dass Wraith solche Beweise niemals bekommt. Womöglich haben wir bald schon die erforderlichen Mittel in der Hand, solche fehlerhaften Teile der Gesellschaft gleich auszumerzen.”

Akane machte große Augen.

“Ihr spielt damit auf den kollektiven Psycho-Pass an.”

“Es haben sich Umstände ergeben, die uns diesen nächsten Schritt der Evolution bald erlauben könnten. Dann werden Gruppen wie Wraith nirgendwo in der Gesellschaft mehr sicher sein.“

Akane schob frustriert die Unterlippe vor.

“Euer einziges Ansinnen ist es, mit einem kollektiven Psycho-Pass Störenfriede auszurotten statt die Gesellschaft zu verbessern?“

“Wir meinen doch, dass man die Gesellschaft vor allem dadurch verbessert, dass man schädliche Elemente aus ihr tilgt. Halte diese Präsentation für die anderen Einheiten - natürlich mit einigen notwendigen Aussparungen.

Danach soll es die Aufgabe von Einheit 1 sein, in den Archiven nach vergangenen Aktionen zu suchen, die vom Muster auf Wraith hätten passen können. Je eher wir wissen wie ihre künftigen Aktionen aussehen desto eher können wir die Wurzel dieses Problems angehen. Das wäre alles.”
 

Akane wandte sich ohne ein weiteres Wort ab und verließ das Direktorat.

Als sich die Aufzugtüren wieder geschlossen hatte, stützte sie die Fingerknöchel gegen den Mund und dachte angestrengt über das Gespräch nach.

Sie musste unwillkürlich lachen, als sie ihr Spiegelbild im kalten Metall der Fahrstuhlwand sah und schüttelte den Kopf.

“Ich sehe schon aus wie diese Figur von Rodin. Aber… ein kollektiver Psycho-Pass könnte eine Entscheidung bringen. Entweder Sibyl entwickelt sich endlich weiter oder das System geht unter. Wraith… Habt ihr diese Entwicklung kommen sehen? Dann wäre es jetzt an der Zeit für euch aus dem Schatten herauszutreten. Kommt nur, ich warte.”

Das Ass der Schwerter

6 Monate zuvor…
 

Resorts World Sentosa Casino, Singapur

1:23 Ortszeit
 

Er kam sich vor wie ein Hund, den man zwang, ein Strickjäckchen zu tragen.

Erstens war es sehr lang her seit er seinen letzten Anzug gegen Militär-Tarnkleidung getauscht hatte und zweitens hätte er einen Anzug niemals so getragen wie es die Umstände nun erforderten:

Die Ärmel nicht hoch gekrempelt und beide Manschettenknöpfe geschlossen ebenso wie den obersten Hemdsknopf und die Krawatte saß so eng als wolle er sich selber strangulieren.
 

Es ließ sich jedoch nicht vermeiden, sagte er sich, als er die langen röhrenartigen Rolltreppen bei lärmender Musik und wechselnden Farben herunterfuhr.

Ein Glücksfall war es schon, dass man ihn mit seinem gefälschten Pass überhaupt durch die Sicherheitsschleuse vor dem Casino gelassen hatte.

Im Grunde waren das Casino von Sentosa und Sibyl sich gar nicht unähnlich.

Auch im Casino arbeiteten alle Menschen wie eine Einheit am Erhalt des Systems.

Sie waren wie die flirrenden, ewig zuckenden und surrenden Nervenzellen eines Organismus, der - im Glauben an seine eigene Bereicherung - immerzu Geld in die Kassen des Hauses spülte.

Während Sibyl die Menschen durch den Wunsch nach einem immer reinen, immer klaren Psycho-Pass beherrschte, beherrschte das Casino die Menschen durch den Wunsch nach der einen glücklichen Nacht, die alles verändern sollte.
 

Als er sich also durch die rot-goldene Welt der Spieltische, Automaten und Slot Machines zwängte, musste er sich vollends auf die bevorstehende Aufgabe konzentrieren.

Aus der Tasche seines Jacketts zog er noch einmal das Kärtchen auf dessen Vorderseite vor einem gezeichneten Farbspektrum der Name Hue Grant zu lesen war und auf der Rückseite die Aufschrift Private Lounge 160.

Der vereinbarte Ort kam in Sicht: Eine lackierte Holzwand, in der die Umrisse einer Tür kaum erkennbar waren und zwei Gorillas in Anzügen davor.

Er hoffte alles richtig auszusprechen, sein Chinesisch war nämlich etwas eingerostet.

Vor den beiden blieb er stehen und sprach einen beiläufig an, während er vorgab, woanders hinzusehen.

“Ich habe eine Verabredung mit Hue Grant.“

“Träum weiter, du Spinner”, erwiderte der Angesprochene, doch das war genau die vereinbarte Antwort, die er bekommen sollte.

Aus dem Augenwinkel sah er den Mann hinterrücks einen Schalter betätigen, woraufhin sich die Tür öffnete.

Er schritt hindurch, nicht ohne den beiden in ihre auf dem Rücken verschränkten Hände jeweils zwei 100 Singapur-Dollar-Scheine zu drücken.

Durch eine Reihe nur spärlich erleuchteter Gänge gelangte er zu den privaten Casino Lounges.

Private Lounge 160 war ein vollkommen dunkler Saal dessen halbes Dutzend Spieltische wie erleuchtete Inseln hervor stachen.

Er fühlte einen dumpfen Schmerz in der Brust, als er seinen Kontaktmann sah, denn der erinnerte ihn ungemein an den alten Masaoka. Gleichzeitig bediente er wohl auch jedes in Asien vorherrschende Klischee eines Amerikaners: Aschgrauer Trenchcoat, der zur Farbe seiner wirren Haare passte und eine verspiegelte Sonnenbrille selbst hier, wo es kaum Licht gab.
 

“Wie es aussieht, könntet ihr noch einen Spieler brauchen“, wandte er sich an den Amerikaner und die zwei anderen Spieler um den halbkreisförmigen Tisch.

Der Mann mit der Sonnenbrille blickte auf und ein breites Grinsen trat auf seine faltigen Züge.

“Aber klar, Junge. Nur zu, setz dich. Wir spielen Caribbean Stud Poker. Die Bank gegen alle und alle gegen die Bank. Ich bin Hue Grant, nenn mich Hue.”

Er wollte gerade den Mund öffnen, um mit seinem Namen zu erwidern, da hielt ihm der andere einen Finger entgegen.

“Eh, eh! Keine Namen, nenne niemals Namen. Glaubst du denn vielleicht, Hue Grant wäre mein richtiger Name?”

Er hatte vom Croupier gerade seinen Satz Karten bekommen, da wandte sich Hue bereits wieder an ihn.

“Kubaner”, fragte er und schob ihm ein samtbezogenes Holzkästchen mit dicken, unförmigen Zigarrenzinken hin.

Er verneinte mit einem Kopfschütteln und kramte eine ziemlich zerknitterte Zigarettenpackung aus der Tasche.

“Hab meine eigenen”, erwiderte er und steckte sich die erste Zigarette an diesem Abend an - endlich!
 

“So, Jungs”, eröffnete Hue, “lasst doch mal die Bank sehen, was ihr so auf der Hand habt.”

Er legte seine Karten auf den Tisch und sein Nachbar tat es ihm gleich.

Hue beugte sich so weit über die Karten des Anderen, dass er sie mit der Nase hätte berühren können, nur um gleich darauf in lautes Lachen auszubrechen.

“Das darf ja nicht wahr sein. Ein Royal Flush und das, wo er kaum am Tisch gesessen hat. Du hast Glück, Junge. Lass es dir schnell auszahlen und verschwinde. Du weißt ja: Das Glück verlässt dich schneller als dir lieb sein kann.”

Nach dem Spiel stand Hue Grant auf und reckte sich, um dann wie zu sich selbst zu sagen.

“Also, ich verziehe mich jetzt. Wer von den Herrschaften noch anderes zu bereden hätte als illegale Gehirnamputationen in Singapur, der möge mir folgen.”
 

Er wartete noch einen Moment, um Desinteresse vorzutäuschen und folgte Hue dann durch weitere Gänge, bis zu einer zweiten Holztüre.

Sie führte in einen edlen Raum mit grünem Teppich und braunen Holzschränken.

Im Zentrum des Raumes ein Tisch, zwei Sessel, eine Flasche mit honigbraunem Inhalt und zwei tulpenförmige Gläser.
 

Hue schloss und verriegelte die Tür.

“Keine Kameras, keine Wanzen, keine Scanner. Was immer in diesem Raum gesagt wird, bleibt auch hier drin.”

Sein Gesprächspartner weitete die Augen, als er das goldene japanische Schriftzeichen auf der schwarzen Banderole der Flasche erkannte.

“Das kann nicht sein. Ist das etwa-”

“Jaaa”, antwortete Hue ohne auch nur hinzusehen, “Das ist ein 18 Jahre alter Yamazaki aus der Destillerie Suntory - japanischer Single Malt Whisky. Eine der letzten Flaschen, die es über die Grenze geschafft hat, ehe Sibyl das Embargo verhängte… Elende Spielverderber!”

“Machen wir den heute Abend auf?”

Hue schnaubte.

“Spinnst du? Den machen wir heute Abend leer! So ein Treffen wie das unsere muss gefeiert werden.”
 

Beide setzten sich an den Tisch und Hue schenkte beiden zwei Finger breit des japanischen Whiskys ein.

Während er selbst die Nase fast in das Glas steckte, hielt sich sein Gegenüber das Glas an die Stirn und flüsterte kaum hörbar.

“Auf dich, alter Mann.”
 

“Also, Junge. Zum Geschäftlichen. Was kann ich für dich tun?”

Der Angesprochene holte seine zweite Zigarette hervor. Vier verblieben noch in der Packung.

“Ich muss nach Japan zurück”, gab er zu verstehen.

Hue warf einen Blick auf die Schachtel in den Händen seines Gesprächspartners und zog ein schiefes Lächeln.

“Doch nicht nur wegen der Kippen.”

“Ist meine letzte Schachtel”, antwortete er ungerührt.

“Spinels, heh? Wenn es dir nur darum geht, da kenne ich ungefährlichere Alternativen. Das Lager der ATF zum Beispiel. Was glaubst du, wie viel Schmuggelware wir konfiszieren? Da sind auch ein paar von diesen dabei. Und wenn ein, zwei Kartons davon mal aus dem Lager verschwinden, merkt das sowieso keiner.”

Der Andere musste lachen.

“Es geht natürlich nicht nur um Zigaretten. Ich muss mich bei einigen Leuten entschuldigen und habe noch andere Dinge zu erledigen. Ich hatte gehört, es wäre möglich wieder über die Grenze zu kommen.”

Hue presste die Lippen zusammen.

“Es ist ziemlich schwierig, ziemlich kostspielig, ziemlich gefährlich und ziemlich dämlich, aber möglich ist es.“

“Ich hatte auch gehört, du könntest dabei behilflich sein.“

Hue Grant nickte.

“Ja, könnte ich. Betonung auf dem Konjunktiv. Wenn nämlich einer deiner Ex-Kollegen dort mit einem Dominator auf dich zielt und von dir gerade mal so viel übrig bleibt, dass man’s in ein Suppentütchen füllen könnte, zeig nicht mit dem Finger auf mich!”

“Du meinst, wenn ich dann noch einen Finger hätte, mit dem ich auf dich zeigen könnte.”

Hue prustete beinahe seinen Whisky wieder aus.

“Du hast das Prinzip verstanden.”
 

Die Flasche war schon halb leer und die Uhr zeigte 3:15 Uhr Ortszeit, als sich beide über das genaue Vorgehen einig waren.

Inzwischen zeigte der Alkohol seine Wirkung und machte ihn wohl redseliger als er sonst gewesen wäre.

“Du willst mir aber noch nicht sagen, welche Pläne du dort genau hast”, stellte Hue fest.

Der Andere schüttelte den Kopf.

“Es ist absolut wichtig, dass ich keine sensiblen Informationen preisgebe, ehe die Zeit reif ist.”

Hue konnte nun ein breites Grinsen nicht mehr verbergen.

“Sag mal, hier geht es aber nicht primär darum deine kleine Inspektorin wieder zu sehen?”

“Sie ist keine kleine Inspektorin und meine schon gar nicht. Inzwischen wird sie ein besserer Bulle sein als ich es damals war. Und es geht nicht nur um sie. Es geht um sie alle, verstehst du? Um Gino und seinen Vater. Ich war damals dort, als er starb. Ich weiß nicht, ob ich hätte helfen können, aber… alles wäre wohl besser gewesen, als einfach weiter zu rennen wie ein wildes Tier auf der Jagd nach seiner Beute. Und sie… sie hat mir vertraut. Hat geglaubt, ich könne ein guter Mensch sein und ich... “

“Du bist nie für alle gleich gut und für alle gleich schlecht. Mach dir nichts draus, Junge. “
 

Er blickte abwesend über den Rand seines Glases hinweg.

“Ihre Haare riechen nach kandierten Pfirsichen. “

Hue beugte sich nun weit vor.

“Jetzt wird’s interessant. Woher zum Teufel weißt du wie ihre Haare riechen?”

“Damals, als der Lastwagen von Makishima verunglückte, wurde sie verletzt. Ich habe sie getragen, deswegen. Ich höre den Schuss heute noch. Und mittlerweile glaube ich, dass ich damals nicht nur ihn, sondern auch sie erschossen habe.”

“Dann, Junge, wird es Zeit das gerade zu biegen. Du kannst auf mich zählen. Und sei es nur damit es in Zukunft wieder mehr von dem hier”, er schwenkte den letzten Schluck des Whiskys in der Flasche, “auf dem ausländischen Markt gibt.”

“Du weißt, dass Subadachan dort sein könnte?”

“Das will ich doch hoffen, dann kriegen wir ihn endlich”, antwortete Hue.

“Sei vorsichtig mit ihm. Ich bin ihm einmal in Angkor Wat begegnet. In dem einen Kampf bin ich gleich dreimal knapp mit dem Leben davon gekommen.”

“Ich weiß, er ist gefährlich. Wir schaffen das schon. Alles weitere aber dann, wenn wir über die Grenze sind. Und jetzt hau dich aufs Ohr, Junge. Hab eine Hotelsuite für dich reserviert. Hoffe, es macht dir nichts aus.”

“Im Gegenteil. Es wird schön sein mal wieder in einem richtigen Bett zu schlafen.”
 

Hue und er stießen mit dem letzten Tropfen Whisky an auf neue Pläne, neue Gefahren und neue Hoffnung.

Vielleicht, dachte er, war dies für ihn auch ohne das Glücksspiel die eine Nacht, die alles veränderte.

Σίβυλλα τί θέλεις

Public Safety Bureau

Freitag, 4. November 2118

18:00 Uhr Ortszeit
 

Sie kam sich vor wie ein Hund, den man zwang, ein Strickjäckchen zu tragen. Weil sie sich in eine Situation hinein gezwängt fühlte, in die sie nicht hinein gehörte und aus der sie wieder entkommen wollte.

Mit Daumen und Zeigefinger rieb Akane sich den Nasenrücken und atmete tief durch - zum fünfzehnten Mal.

Es war nicht das erste Mal, dass sie eine Besprechung mit ihrer eigenen Einheit hatte, aber das erste Mal, dass sie vor sämtlichen Inspektoren und Vollstreckern aller vier Einheiten sprach.

Den Blick auf ihre Füße gerichtet schaffte sie es durch den Saal bis zu dem Podium, auf dem ein holographisches Display und dahinter eine große Videomembran warteten.

Erst als sie dort stand, wagte sie einen Blick in die Gruppe. Die Inspektoren saßen in der ersten Reihe, dahinter die Vollstrecker - von Einheit 1 aufwärts.

“Guten Abend. Wir sind hier zusammen gekommen, weil wir einer Irritation der öffentlichen Ordnung Herr werden sollen.

Es tut mir leid Sie alle nach den Vorfällen um Kirito Kamui bereits wieder beanspruchen zu müssen, doch die Lage ist ernster als sie scheint. Sie alle werden inzwischen von einem Phänomen gehört haben, das in den öffentlichen Netzwerken begann und sich langsam seinen Weg in die physische Öffentlichkeit bahnt: Der Name Wraith, das englische Wort für Geist oder Gespenst.

Da uns genauere Informationen fehlen, müssen wir annehmen, dass es sich dabei um eine Gruppe aus mehreren Personen handelt.

Es hat in den vergangenen Monaten einige Aktionen gegeben, die zu dieser Gruppe gepasst hätten, doch sie haben sich erst am 14. Oktober offiziell zu einer ihrer Aktionen bekannt.”
 

Akane sah einen Vollstrecker aus Einheit 3 die Hand heben und erteilte ihm das Wort.

“Bei allem Respekt: Wieso machen wir so ein Aufhebens um ein paar maskierte Kids, die mit Hoverboards durch die Nacht brausen und Häuserwände mit Graffitis beschmieren?”

Sie verneigte sich gegen den Vollstrecker.

“Danke, Hatano-san, das war eine gute Frage. Tatsächlich könnte man die erste offizielle Aktion von Wraith für einen Jungenstreich halten.”

Akane rief über das Holo-Display das Tatort-Bild auf, eine Häuserfassade, an der ein riesiges Graffiti prangte.

Dieses zeigte ein grinsendes Gehirn mit Hut und Reisekoffer und darunter den Schriftzug:

S.I.B.Y.L. - Since It’s your Brain You Loose

Amüsiertes Schmunzeln war zu sehen und zum Grunzen abgeschwächte Lacher wogten durch den Raum.

Akane fiel auf, dass Mika Shimotsuki als einzige nicht lächelte, sondern eher schockiert aussah.

So schockiert wie sie selbst damals beim ersten Anblick des Bildes gewesen war.

“Selbst, wenn dieser Streich zu vernachlässigen gewesen wäre, hat Wraith zwei Wochen später erneut eine Aktion durchgeführt, die uns allen erheblich mehr Schwierigkeiten bereitet hat.”
 

Akane ließ nun zwei nebeneinander geschaltete Videos über die Leinwand laufen.

“Dies sind zwei Videos die so nebeneinander im CommuField verbreitet wurden. Wie Sie sehen zeigt das Eine die Erschießung flüchtender Menschen an der Grenze der ehemaligen deutschen DDR. Das Andere zeigt die Aufzeichnung der Erschießung flüchtender Geiseln aus der Mentalpflegeeinrichtung im Kamui-Fall. Der Titelschriftzug: The perfect society.

Sie werden sich sicher erinnern, dass das Amt für öffentliche Sicherheit nach Verbreitung dieser Videos einem nie da gewesenen Proteststurm ausgesetzt war.”

“Inspektorin Tsunemori”, unterbrach nun Inspektorin Maya Haragi, die die verblichene Inspektorin Aoyanagi ersetzt hatte, “was, denken Sie, sollen diese Aktionen?”

Akane wusste, dass diese Frage irgendwann kommen und ihr detektivisches Gespür herausfordern würde. Sie spielte am Knopf ihres Jacketts, als sie antwortete.

“Jemand… Jemand, der mir viel beigebracht hat, hat einmal gesagt, dass man sich nicht mit dem offensichtlichen Motiv einer Tat zufrieden geben sollte, sondern es sich lohnen kann, wenn man tiefer gräbt.

Nun, das offensichtliche Motiv in diesem Fall ist, Sibyl und auch uns in einem möglichst schlechten Licht erscheinen zu lassen. Das Sibyl-System - soll das heißen - sei ein diktatorisches Regime, das unbewaffnete und offensichtlich traumatisierte Menschen wie altersschwache Tiere zum Abschuss freigibt.

Wraith hat aber mit diesem Video noch etwas anderes gezeigt, nämlich durch die der Verbreitung folgenden Proteste. Sie haben bewiesen, dass selbst in einer Gesellschaft wie der unseren, in der ein Mensch mit einem Kriminalkoeffizienten über 300 ein potentieller Schwerverbrecher ist und seine Tötung vom Gesetz autorisiert, die Tötung eines solchen Menschen nicht akzeptiert wird, wenn er unbewaffnet ist und kein Verbrechen begangen hat.

Die Aussage ist die, dass dem Menschen ein Sinn für Gerechtigkeit innewohnt, dem auch Sibyl nichts anhaben kann.”

“Gab es noch mehr solcher Aktionen”, fragte ein weiterer Vollstrecker.

“Wie schon zu Anfang gesagt, ähneln einige Ereignisse der Vergangenheit dem Muster der ersten offiziellen Aktion von Wraith. Unsere Analytikerin Shion Karanomori ist im Augenblick dabei eben jene Fälle zu analysieren. Und es gibt da noch etwas…“
 

Akane sah Ginoza in der zweiten Reihe leicht den Kopf schütteln als wolle er sie davon abhalten.

Sie aber rief über das Display ein weiteres Bild auf die Leinwand. Es war das Bild einer Glasflasche, in der eine kleine gesichtslose Holzpuppe steckte. Um das Glas herum schlängelten sich blutrote sonderbare Symbole:

“Σίβυλλα τί θέλεις”
 

Akane befeuchtete sich die Lippen mit der Zunge, nicht etwa aus Nervosität, sondern aus Schuldgefühlen, weil Ginoza ihr davon abgeraten hatte dieses “Beweisstück” vorzuzeigen.

“Dieses Objekt hier wurde vor einer Woche bei mir abgegegen. Es stand einfach - in Papier gewickelt - vor meiner Türe.

Natürlich habe ich keinen Beweis, dass diese Puppe in der Flasche von Wraith stammt, doch mein Instinkt als Polizistin sagt mir, dass es nur von ihnen kommen kann. Sie musste innerlich schmunzeln, als sie den Begriff ‘Bulle’ vermied.

“Leider kann ich weder sicher sagen, dass es von Wraith kommt noch kann ich - für den Fall, dass es doch so ist - sagen, was es zu bedeuten hat. An diesem Puzzlestück arbeite ich noch.

Ich möchte Sie alle bitten, in der Zukunft auf Dinge wie die eben Gezeigten zu achten. Je eher wir die Mitglieder dieser Gruppe aufspüren und in Gewahrsam nehmen desto unwahrscheinlicher ist, dass sie Schaden anrichten können.”

“Glauben Sie”, fragte Inspektor Nagano aus Einheit 4, “dass Wraith in Zukunft öffentliche Aktionen durchführen könnte.”

Akane nickte entschlossen.

“Ja, davon bin ich überzeugt. Sie haben in den vergangenen Fällen immer mehr die Öffentlichkeit gesucht. Es kann nur noch eine Frage der Zeit sein, ehe sie sich erstmals öffentlich zeigen. Genau dann müssen wir zugreifen. Je mehr ihrer Mitglieder wir festnehmen und verhören können umso mehr Informationen bekommen wir.”
 

18:30 Ortszeit

“Ist doch gut gegangen oder nicht?” Akane blickte zu Ginoza auf, als er ihr einen Kaffeebecher reichte.

“Shimotsuki wäre nicht begeistert, wenn du einen Vollstrecker nach seiner Meinung fragst.”

“Weichen Sie nicht aus, Ginoza-san. Shimotsuki-san ist nicht hier. Ich habe ihr den Abschlussbericht über Shambala übertragen-”

“Und ihr damit wohl effektiv den Abend ruiniert. Nicht, dass ich etwas dagegen hätte.“

“Sie weichen wieder aus. Sagen Sie mir, was Sie denken.”

“Ich weiß nicht, ob es so klug war ihnen die Flasche zu zeigen. Du hast keine Beweise. Wenn die Fährte kalt ist, vergeudest du deine Energie und die Anderen suchen nach Indizien, die keine sind.“

Akane seufzte und lehnte sich gegen die Wand im Vorraum zu den Büros des Amtes für öffentliche Sicherheit. Es war spät genug, dass inzwischen die Reinigungsdrohnen an ihr emsiges Werk gingen.

“Es fühlte sich einfach nicht richtig an diese Information zu verschweigen und dadurch einen entscheidenden Hinweis zu verpassen. Ich weiß einfach, dass die Flasche von Wraith stammt.”

“Diese…” Ginoza presste die Lippen zusammen. “Diese Besessenheit den Täter zu fassen, du wirst noch genau wie-”

Er unterbrach sich und wandte beschämt den Kopf ab.

Einige Sekunden des Schweigens verstrichen.

“Entschuldige, ich wollte nicht-”

“Nein”, unterbrach ihn nun Akane, “es muss Ihnen nicht leid tun. Ich merke es ja selbst. Aber irgendwie kann ich es nicht verhindern. Er war da, verstehen Sie. Er war da, als meine Großmutter gestorben war. Ich habe ihn so deutlich gesehen wie ich Sie jetzt sehe, Ginoza-san.”

Ihr Lächeln wurde bitter.

“Ich lerne selbst jetzt noch von ihm, wo er ein von der Gesellschaft ausgestoßener Verbrecher und außerdem so weit weg ist.”

Ginoza rang sich ein Lächeln ab, das nicht weniger bitter war als ihres.

“Klingt fast so als sei er dein persönlicher Geist, Tsunemori. Wie ironisch, dass jetzt jemand auftaucht, der sich Wraith nennt.

Aber zurück zu unserem Fall. Nehmen wir wirklich einmal an, die Flasche kommt von Wraith: Was soll eine Puppe in einer Flasche?”
 

Akane hob besagte Flasche vom Boden auf und betrachtete sie.

“Das gerade ist mein Problem, sie könnte alles bedeuten. Steht die Puppe in der Flasche für Sibyl? Also, ein beschränktes System, das nicht wahrnimmt, was um es herum geschieht. Oder steht sie für die Menschen in dieser Gesellschaft? Ist sie deshalb gesichtslos? Keine Augen, um zu sehen, was falsch ist. Keine Ohren, um zu hören wie die Menschen um Hilfe rufen. Kein Mund, um die Stimme gegen die falschen Götter zu erheben.”

Ginoza nahm die Flasche von ihr entgegen und sah sie sich selbst an.

“Jedenfalls hat sich wer auch immer viel Arbeit damit gemacht. Die Puppe ist zu groß, um durch den Flaschenhals zu passen. Sie muss also direkt in der Flasche zusammen gebaut worden sein.”

“Mhm.”

“Ich denke”, sinnierte Ginoza weiter, “wir kommen am weitesten, wenn wir herausfinden, was diese Symbole zu bedeuten haben.”

Er fuhr die die Flasche umlaufenden roten Zeichen mit dem Finger ab und hielt plötzlich bei einem an.

“Moment. Dieses Zeichen hier kenne ich. Das auf dem Kopf stehende Ypsilon. Das ist kein Symbol, das ist ein Lambda, ein griechischer Buchstabe.”

Erkenntnis durchflutete Akane plötzlich, die elektrische Aufregung, wenn sie der Lösung eines Rätsels ganz nah war.

Sie schnappte Ginoza die Flasche aus der Hand und spurtete los, nicht ohne den verdutzten Vollstrecker mit sich zu zerren.
 

Shion Karanomori war stolz darauf, dass sie sich durch nichts aus der Ruhe bringen ließ. Allerdings musste sie zugeben einigermaßen verblüfft zu sein, als Akane Tsunemori vor Energie strotzend in ihr Labor platzte. Shion quittierte diesen Aufmarsch jedoch lediglich mit einem Anheben der Augenbrauen.
 

“Akane-chan! Schön, dass du vorbeischaust. Ich habe die Daten über die hypothetischen Wraith-Fälle. Es sind etwa zwei Dutzend Fälle aus den letzten zwei Jahren, die die gleiche oder eine ähnliche Handschrift tragen. Die Informationen dazu befinden sich bereits auf euren Rechnern.”

“Danke, Karanomori-san”, sagte Akane mit hastiger Verbeugung und zeigte ihr im gleichen Zug die Flasche.

“Ich muss Sie leider um noch einen Gefallen bitten.”

“Das ist doch die Flasche, die du gefunden hast. ”

Shion nahm sie nachdenklich entgegen und betrachtete sie.

“Ginoza-san hat erkannt, dass diese Zeichen auf der Flasche griechische Buchstaben sind. Ich muss wissen, was sie bedeuten.”

Shion stellte die Flasche auf eine holografische Analyse-Plattform. Diese hüllte das Objekt in blaues Leuchten und digitalisierte die auf die Flasche geschrieben Buchstaben.

Σίβυλλα τί θέλεις

Die Analytikerin ließ ihre Finger über die Tastatur fliegen und hatte wenige Sekunden später die Antwort.

“Ergeben diese Buchstaben einen Sinn”, fragte Akane, “Ein Wort vielleicht?”

“Mehr noch”, antwortete Shion, “sie ergeben einen Satz, noch genauer: eine Frage. Auf der Flasche steht geschrieben: ‘Was willst du, Sibyl?’“

Akane zog die Augenbrauen zusammen und knabberte an ihrer Unterlippe, während sie die Frage in ihrem Kopf hin und her drehte als sei sie ein Zauberwürfel dessen Seiten geordnet werden mussten.

Ginoza dagegen machte seinem Ärger mit einem Seufzen Luft.

“Das wirft doch wieder nur mehr Fragen auf, als es beantwortet. Lass uns die Flasche für heute vergessen und werten wir Shions Daten aus.”

“Ginoza-san, bitte. Ich bitte Sie, helfen Sie mir beim Nachdenken. Wir sind auf dem richtigen Weg, das weiß ich.”

Als sie ihn mit diesem flehenden Bernstein-Blick ansah, konnte er nicht verhindern, dass seine Lippen sich zu einem Lächeln verzogen.

Er hatte plötzlich das unwillkommene Bild eines jüngeren schmollenden Kogami vor sich, damals, als sie beide noch Inspektoren waren.
 

“Komm schon, Gino. Nur noch eine Viertelstunde an diesem Fall. Ich verspreche dir, du kannst noch oft genug in deinem Leben Feierabend machen.“
 

“Also gut. Ganz davon abgesehen, dass du es mir befehlen könntest.”

Akane verzog das Gesicht.

“Jetzt reden Sie wie Kogami-san das getan hätte.”

“Wir wissen jetzt, was auf dieser Flasche steht. So weit, so gut. Was wäre die erste Frage, die man dazu stellen könnte”, frage Ginoza.

“Warum es in griechischer Sprache auf die Flasche schreiben, so dass es kaum ein Japaner auf Anhieb versteht”, fragte Shion in den Raum hinein.

“Genau. Wenn er nur fragen wollte ‘Was willst du, Sibyl?’, warum schreibt er es dann nicht auf Japanisch”, stimmte Akane zu.

“Möglicherweise”, überlegte Ginoza, “weil er diese Frage ursprünglich gar nicht gestellt hat. Vielleicht gibt er nur das wieder, was jemand anderes gesagt oder geschrieben hat.”

“Ein Zitat”, schlussfolgerte Akane, “das ergäbe Sinn. Wir suchen also nach einer solchen Frage, die irgendwo in der Literatur gestellt wurde.”

“Irgendwo in der Literatur”, schnaubte Ginoza, “Hast du eine Vorstellung davon wie lange wir brauchen würden, um so etwas zu finden? Wir wissen nicht einmal, wo wir zu suchen anfangen sollen.”

Er bekam diesmal keine Antwort und als er aufblickte, sah er Akane tief in Gedanken versunken so als habe sie eine präzise Ahnung davon, wo sie zu suchen anfangen sollte.

Sie überraschte ihn jedoch wieder, als sie unvermittelt den Kopf schüttelte.

“Sie haben Recht, Ginoza-san. Lassen Sie uns diese Sache jetzt vergessen und uns den bisherigen Sichtungen von Wraith zuwenden.

Noch einmal herzlichen Dank für Ihre Mühen, Karaonomori-san.”

Mit einem anerkennenden Winken von Shion verließen sie das Labor und Ginoza hatte das starke Gefühl, dass Akane mit dem Fallenlassen des Themas die Tatsache verschwieg, dass sie etwas in dieser Hinsicht plante.

Und wenn immer sie etwas plante, das sie ihm vorenthielt, war es etwas, das ihm gar nicht gefiel.
 

Im Büro der Einheit 1 wurden beide bereits von Mika erwartet, die lautstark mit ihrem Lackschuh auf den Boden tappte als wolle sie die durch die beiden säumigen Mitglieder verlorenen Sekunden zählen.

“Wo waren Sie, Tsunemori-senpai? Wir können die ganze Arbeit nicht allein machen. Außerdem haben wir einen Gast.“

Akane war der fremde Mann sofort aufgefallen, weil er größer war als jedes gerade anwesende Mitglied von Einheit 1. Er war sogar ein Stück größer als Ginoza, hatte kurzes schwarzes Haar und - sehr ungewöhnlich - grüne Augen.

“Bitte keine Umstände”, entschuldigte sich der Fremde und rieb sich den Hinterkopf.

Er verneigte sich vor Akane und fuhr fort:

“Ich bin Inspektor Kojirou Mitsuba und unterstütze Inspektor Domoto von Einheit 3. Da ich gerade meine erste Woche hier habe, dachte ich, es wäre höflich mich vorzustellen.”

“Das ist es”, antwortete Akane mit einem Lächeln und erwiderte die Verbeugung, “Es freut mich Sie kennen zu lernen, Mitsuba-san. Auf gute Zusammenarbeit.”

“Nun, dann werde ich mich besser zu meiner Abteilung begeben. Ich weiß, dass Domoto-senpai länger hier ist als ich. Trotzdem habe ich immer das Gefühl ihn nicht allein lassen zu können.”

Womit er Recht haben könnte, dachte Akane.

Mitsuba empfahl sich und alle gingen an die Arbeit die bisherigen Fälle auf ihre “Wraith-Wahrscheinlichkeit” zu prüfen.
 

22:00 Ortszeit

Sie massierte ihre pochenden Schläfen mit den Fingern.

Seit zweieinhalb Stunden wälzten sie nun die von Shion gefundenen Fälle aus den vergangenen zwei Jahren.

Natürlich konnten maskierte Menschen, die nachts Graffitis versprühten, auf Wraith hindeuten… mussten sie aber nicht.

Die Pause draußen vor dem Hauptquartier hatte sie sich redlich verdient.

Akane suchte einen Augenblick in ihrer Handtasche nach dem Objekt der Begierde und führte es zu ihren Lippen.

Die erste Zigarette an diesem Abend - endlich!

Sie sah den Rauch zusammen mit ihrem Atem in dem Abendhimmel aufsteigen und erinnerte sich daran wie sie mit dem Rauchen - dem richtigen Rauchen - angefangen hatte.

Nicht lange nach dem Fall Kamui hatte Akane probiert die Zigaretten nicht mehr nur abbrennen zu lassen, sondern sie so zu rauchen wie Kogami das getan hatte.

Als sie nach der ersten Zigarette ihren Mageninhalt von sich gab, hatte sie sich plastisch an ihre Zeit als Frischling erinnert gefühlt: nämlich, als sie das erste Mal einen Menschen durch den Lethal Eliminator sterben sah.

Nachdem sie sich daran gewöhnt hatte, war das Rauchen jedoch noch entspannender und denkfördernder geworden.

Die Herbstluft, die schon die ersten Zeichen des nahenden Winters trug, linderte ihre Kopfschmerzen und für einen kurzen Moment verspürte sie Frieden.
 

“Tsunemori!”

Und der Frieden war vorüber.

Als sie sich aber Ginoza zuwandte, erkannte sie an seiner angespannten Miene, dass es etwas Ernstes sein musste.

“Was ist passiert?”

“Ich glaube, du hattest Recht”, erwiderte Ginoza.

“Recht womit?”

“Mit Wraith. Es scheint als seien sie erschienen.”

Akane ließ die halb aufgerauchte Zigarette fallen und eilte an Ginozas Seite zurück in das Büro.

“Gerade vor zehn Minuten wurde ein Area Stress Level in einem Einkaufszentrum in Shinjuku ausgelöst”, berichtete Shion über einen holographischen Bildschirm “Die Kameras haben mehrere Personen mit Umhängen und Geistermasken erfasst, die Graffitis versprühen und Nebelgranaten zünden. Aus irgendeinem Grund sind die Kameras im Einkaufszentrum außer Betrieb.”

“Das sind sie”, sagte Akane, “Alle hergehört: Wir rücken aus!”

Sie verspürte eine seltsame Art der Euphorie wie selten bei einem Fall.

“Auf zur Geisterjagd.“

Ghosts of the Past - Teil 1

Asagi Mall, Shinjuku

22:15 Ortszeit
 

Die Nacht hatte das letzte Abendrot vertrieben und in der Dunkelheit leuchtete die erhellte Fassade der Asagi Mall wie goldenes Glas.

Den Kontrast bildeten die zuckenden roten Warnlichter des Polizeiwagens, aus dem nun Akane Tsunemori und Mika Shimotsuki stiegen und einen ersten Blick auf das in der Ferne liegende Gebäude warfen.

Akane hatte absichtlich weiter davon entfernt gehalten, um die Eindringlinge nicht aufzuschrecken wie Hornissen.

Ein kräftiger Novemberwind trieb finstere Wolken von Süden heran und blies ihr das Haar aus der Stirn, während hinter ihr - fast unsichtbar in der Dunkelheit - die Vollstrecker aus ihrem Transporter stiegen und ihre Waffen nahmen.
 

“Karanomori-san, ich brauche möglichst schnell einen Lageplan des Gebäudes und eine Barrikade aus Komissa-Dronen. Niemand darf das Gelände betreten und wer es verlassen möchte, muss vorher gründlich gescannt werden.”

Sie wartete Shions Antwort erst gar nicht ab und wandte sich gleich an die Vollstrecker.

“Nehmt bitte die Dominatoren UND die Elektroschocker. Nur für den Fall, dass diese Leute einen Weg gefunden haben, Sibyls Urteil auszuweichen.”

“Akane-chan”, meldete sich Shion, “das Gebäude hat drei Eingänge: Einen im Norden, also direkt vor euch sowie einen westlichen und einen östlichen. Es gibt vier Ebenen. Diese Informationen musste ich aber den Bauplänen entnehmen, denn die Kameras im Gebäude sind offensichtlich gehackt worden. Ich bekomme von außen keinen Zugriff darauf.”

“Die Informationen reichen mir bereits”, antwortete Akane und lächelte Shions holographischem Bild an ihrem Handgelenk zu, “Haben Sie vielen Dank.”

Sie vergrößerte das digitale Bild des Einkaufszentrums und versammelte die Mitglieder von Einheit 1 um sich.

“Shimotsuki-san. Ich schlage vor, dass Sie und Hinakawa-kun das Gebäude durch den Osteingang betreten. Kunizuka-san und ich nehmen den Nordeingang, während Teppei-san und Ginoza-san durch den Westeingang hineingehen.”

Mika wollte gerade protestieren und warf einen Blick zu Yayoi, die nur wortlos den Kopf schüttelte. Da gab sie es auf.

Ein jeder nahm seine Position ein und so rückten sie vor.
 

Sie hatten sich dem Gebäude gerade auf zwanzig Meter genähert, als plötzlich durch den Vordereingang eine aufgelöste und panische Gruppe Menschen stürmte.

Es war zu chaotisch, um jemanden zu befragen. Ein ältere Frau stürzte, eine Jüngere half ihr auf. Ein mittelalter Mann drehte sich einmal um sich selbst so als müsse er sich erst orientieren.

Akane schaffte es einen von ihnen anzuhalten, einen Mann Mitte 30 mit Mittelscheitel und Brille.

“Haben Sie keine Angst, wir bringen die Situation unter Kontrolle. Sind die Täter immer noch im Gebäude?”

Der Mann nickte.

“Ja. Es sind viele. Sie kamen ganz plötzlich aus den Geschäften und fingen zu randalieren an. Überall waren Rauch und Lärm und Menschen haben geschrien. Bitte unternehmen Sie etwas.”

“Keine Sorge”, beruhigte Akane, “lassen Sie sich bitte von den Dronen scannen. Alles weitere können Sie uns überlassen.”
 

Akane und Yayoi betraten die Eingangshalle der Asagi Mall, einen langen Saal mit zwei überdachten Säulengängen, die parallel zum Mittelgang links und rechts verliefen.

Am Ende des Saales führte eine breite Treppe auf einen Absatz, von dem aus man in die Geschäfte kam.

Nachdem die Menschen geflohen waren, war der Saal still wie der Tod, so dass das Echo jedes Schrittes in den Ohren dröhnte.

Sie waren fast an der Treppe angelangt als Akane Yayoi mit einem Handzeichen gebot anzuhalten.

Sie hatte sich nicht verhört. Ihre Schritte waren nicht die einzigen, die hier widerhallten.

Durch die verborgenen Gänge im Westtrakt kamen weitere Schritte in ihre Richtung.

Akane hoffte insgeheim, dass es Ginoza und Teppei waren, doch sie wurde enttäuscht.
 

Die Dunkelheit im Westkorridor schien sich plötzlich aufzublähen und in den Saal hineinzuwachsen, ehe Akane bemerkte, dass es ein Mensch war.

Ein Mensch von beachtlicher Größe, der Statur nach männlich. In einem Umhang so schwarz wie Rabenfedern, der ihm beim Gehen gegen die Fußknöchel schlug und mit einer Maske, die sein ganzes Gesicht verbarg und wie die eines Ninjakämpfers anmutete.

Bei seiner Größe konnte man seinen Begleiter fast übersehen. Der schien das absolute Gegenteil des Großen zu sein. Ein Junge auf einem blauen Hoverboard, der Größe nach gerade ein Jugendlicher in einer schwarzen Kapuzenjacke mit blutroten Flammenmustern und einer Maske, die keine Öffnungen für Augen trug, nur einen übergroßen, grinsenden Mund.
 

“Die Kavallerie ist bereits da. Sag ihm, es ist Zeit für das Finale”, befahl der große Geist, indem er durch einen Stimmverzerrer sprach.

Der Kleinere zeigte mit dem Daumen nach oben und war schon auf seinem Board in Richtung Osten aus dem Saal verschwunden.

Nun standen sie einander gegenüber: Akane und Yayoi auf der einen Seite und der große Geist am oberen Ende der Treppe.

Obwohl der Saal durch zehn gläserne Deckenleuchter erhellt wurde, ließ die bloße Präsenz dieses Mannes es in dem Raum dunkler und kälter werden.

Akane schluckte und fand als erste ihre Stimme wieder.

“Wer seid ihr?”

Zwar wusste sie die Antwort schon, doch sie wollte es aus seinem eigenen Mund hören.

“Wir sind Wraith, der Geist im System. Ihr könnt uns jagen, doch ihr könnt uns nicht sehen”, antwortete der Große gebieterisch.

“Dich sehe ich gut genug”, gab Akane zurück, ehe sie ihren Dominator auf den großen Geist richtete und das blaue Leuchten ihre Augen erfüllte.

Kriminalkoeffizient 89.

Kein Objekt zur Vollstreckung.

Auslöser bleibt gesperrt.

‘Was?’ Akane sprach die Frage nicht aus, sie formte das Wort lediglich mit den Lippen.

Als hätte der Mann ihre Gedanken gelesen, antwortete er.

“Der Kriminalkoeffizient erhöht sich, wenn man in dem Bewusstsein handelt ein Verbrechen zu begehen.

Wir begehen keine Verbrechen, Inspektorin.

Wir begehen einen Dienst an der Menschheit.”

Damit ließ er eine kleine Dose die Treppe herunterrollen, von der die zwei bis dahin gar nicht bemerkt hatten, dass sie in seiner Hand gewesen war.

Aus ihren beiden Enden schoß dicker dunkelroter Rauch hervor, der bald den gesamten oberen Absatz eingehüllt hatte.

Akane wich zurück, Yayoi aber steckte ihren Dominator in den Holster und zog ihren Elektroschocker.

“Selbstgerechter Mistkerl”, knurrte sie und stürmte die Treppe herauf.

“Kunizuka-san, greifen Sie ihn nicht allein an!”

Akanes Warnung verhallte und Yayoi war in dem Rauch nicht mehr zu sehen.

Yayoi hatte noch auf der Treppe einen Haken nach rechts geschlagen und konnte ihren Gegner selbst in dem dichten Rauch gut ausmachen.

Und sie hatte Glück. Er blickte noch immer in die Richtung, aus der sie auf ihn zugestürmt war.

Fast zu leicht, dachte sie und zielte mit dem Elektroschocker auf seine linke Schulter.

Dass es nicht fast, sondern viel zu leicht gewesen war, erkannte sie, als sie den erhofften Widerstand nicht fand.

Der Mann wandte die Schulter von dem Angriff ab und drehte sich um sich selbst, wobei er sie mit der rechten Schulter anstieß.

Es war genug, um sie aus dem Gleichgewicht zu bringen.

Yayoi sprang wieder auf.

Der Blick in die andere Richtung war also eine Finte. Er ist gut.

Sie griff erneut an, nur um festzustellen, dass ihr Gegner trotz seiner Größe beachtlich schnell war.

So schnell, um ihre Angriffe anscheinend mühelos zu blocken.

“Wer im Zorn angreift, macht Fehler”, warnte er, “tödliche Fehler.”

Er hatte gerade ihren linken Arm abgewehrt, als Yayoi etwas in seiner rechten Hand aufblitzen sah.

Er zog mit dem rechten Arm durch und Yayoi spürte einen kalten, schneidenden Schmerz in der Kehle.
 

Akane fluchte in sich hinein. Ginoza hatte sichergestellt, dass nur die Vollstrecker Elektroschocker bei sich trugen. “Weil das Kämpfen unsere Aufgabe ist”, hatte er gemeint.

So war Akane dazu verdammt mit ihrem nutzlosen Dominator auf den roten Qualm zu zielen.

Das Aufkeuchen einer Frau ließ sie aufhorchen.

“Kunizuka-san!” Stille.

“Kunizuka-san, geht es Ihnen gut?” Noch immer keine Antwort.

Ginoza-san, Hinakawa-kun… Wo bleiben sie nur?

Sie versuchte sich an ihren Kampf gegen Kogami auf Shambala zu erinnern - für den Fall, dass der große Geist aus dem Rauch hervortreten sollte.

Allerdings konnte sie sich nicht vorstellen, dass Kogami damals vollkommen ernst gekämpft hatte.

“Ich bin… unverletzt”, antwortete Yayoi und war selbst fassungslos über das, was sie da sagte.

Die linke Hand gegen ihren Hals gepresst, hatte sie geglaubt, dass ihr Blut mit dem Rhythmus ihres Herzens hervorsprudeln müsse.

Doch als sie ihre Hand wegnahm, war kaum Blut daran. Es war nur ein Kratzer.

Er hätte mich töten können. Wieso hat er nicht-
 

“Der Ostflügel ist gesichert, Senpai”, unterbrach Mikas Stimme Yayois Gedanken.

Hinter ihr her trottete Sho.

“Shimotsuki-san, Hinakawa-kun! Vorsicht, einer von den Tätern ist vermutlich immer noch-”

Sie brach unvermittelt ab, als direkt vor Mika und Sho der große Geist aus dem Blutnebel trat.

Mika wich gegen die Wand zurück und Sho riss seinen Dominator hoch, doch Sibyls Urteil blieb gleich.

“Hinakawa-kun, nimm den Elektroschocker, der Dominator funktioniert nicht”, rief Akane und zum zweiten Mal in dieser Nacht blieb ihre Warnung ohne Wirkung, denn Sho war erstarrt.
 

Er war ein Genie wann immer es an das Entschlüsseln von Hologrammen und grafischen Codes ging, doch er war kein Kämpfer - mental und physisch nicht fähig einem überlegenen Gegner zu trotzen.

In diesem Wissen stand er vor dem riesigen vermummten Mann wie eine Maus im Angesicht einer Schlange.

“Sho!”

Akane stürmte los, bereit, den Mann mit ihrem Dominator nieder zu schlagen, wenn es sein musste.

Dieser war Sho nun so nahe, dass der in seinen Händen zitternde Dominator beinahe die Brust des Mannes berührte.

Akane sah den großen Geist Shos Dominator einfach mit der Hand herunterdrücken.
 

“Mach dir nichts daraus, Junge”, sprach der Geist zum Vollstrecker, “beim nächsten Mal vielleicht.”

Er tätschelte Shos rotes Haar und schritt einfach durch den linken Gang davon.

Akane und Yayoi kamen gemeinsam bei Sho an.

“Kunizuka-san. Sie und Shimotsuki-san verfolgen ihn. Aber seien Sie vorsichtig.”

Yayoi nickte. Sie musste Mika zweimal ansprechen, ehe diese aus ihrer Starre erwachte und ihr folgte.

Sho starrte auf seinen zu Boden gerichteten Dominator.

“Onee-chan… es… es tut mir leid, ich wollte-”

Akane berührte ihn lächelnd am Arm.

“Sshh, es ist nicht deine Schuld, dass du Angst hattest. Ich verrate dir etwas: die hatte ich auch.”
 

“Was in drei Teufels Namen ist denn hier nur los?”

Beim Klang dieser neuen Stimme fuhren Akane und Sho herum.

Ein älterer Herr war eben aus dem linken Säulengang in die Eingangshalle getreten und kratzte sich an seinem halbkahlen Kopf.

“Sind Sie von der Polizei, junge Dame? Ich wollte nur ein Geschenk für meine Enkelin kaufen und schon spielt alles verrückt. Erst dachte ich ja, jemand hätte ein Gewinnspiel gewonnen, aber dann liefen alle davon und ich dachte, es wäre vielleicht das Klügste mich zu verstecken, bis alles vorbei ist. Ist es das denn nun?”

Akane wollte gerade etwas Beruhigendes erwidern, als ihr Yayois Ausruf zuvorkam.

“Bleiben Sie stehen!”

Ein weiterer unkostümierter Mann rannte in den Raum, offenbar in wilder Flucht und hielt - so wie er Akane erblickt hatte - ein längliches Objekt drohend in die Höhe.

Ein Objekt an dessen oberem Ende ein Schalter war.

Akane riss bereits ihren Dominator hoch.

Kriminalkoeffizient 112.

Objekt zur Vollstreckung.

Vollstreckungsmodus: Non-lethal Paralyzer.

“Hören Sie mir zu! Sie können nicht entkommen. Legen Sie bitte den Zünder auf den Boden und treten Sie zurück.”

Ein blauer Blitz zuckte aus dem linken Gang hervor und traf den abgelenkten Mann unvermittelt.

Es gab keinen Schrei. Durch den Paralyzer krampfte sich der Körper des Mannes so sehr zusammen, dass sein Daumen den Auslöser des Zünders fand und kleine Sprengladungen an den Verankerungen der Deckenleuchter aktivierte.

Durch den Lärm der berstenden Leuchter hörte Akane ihre eigene Stimme kaum.

“Gehen Sie da weg”, brüllte sie dem alten Mann zu, der direkt unter dem letzten der Leuchter stand.

Der Alte hatte sich bei den repetierenden Explosionen beide Hände gegen die Ohren gepresst, als ihn plötzlich etwas von der linken Seite traf und er das Gleichgewicht verlor.

Als er mit zugekniffenen Augen die Schwerkraft spürte wie sie ihn zu Boden riss, hörte er das Krachen von Glas und das folgende Klimpern umherspringender Splitter.

Doch der Aufprall auf den Boden und der erwartete Schmerz kamen nicht.

Jemand hatte mit einem kräftigen Arm hinter seinem Rücken den Sturz abgefangen.

Als er seine Augen öffnete, blickte der alte Mann in sein eigenes verdutztes Gesicht, das sich im schwarzen v-förmigen Visier eines Helmes spiegelte.

Der Mann, dem dieser Helm gehörte, richtete sich auf und zog den Alten mühelos auf die Füße.

“Geht es Ihnen gut”, fragte eine ebenfalls durch einen Stimmverzerrer verfremdete Stimme.

“J-Ja. Danke”, antwortete der alte Mann, noch immer verwirrt von dem Anblick des Anderen.
 

Akane hatte all dem mit hämmerndem Herzen zugesehen.

Der Maskierte trug einen Ganzkörperanzug wie ihn Motorradfahrer tragen und ebenso wie bei dem Jungen auf seinem Board waren Anzug und Helm schwarz mit roten Flammen verziert.

“Sind Sie auch von der Polizei”, erfragte der alte Mann leutselig.

Ein Schmunzeln erklang über den Stimmverzerrer.

“Nein, mein Herr. Ich bin bloß ein besorgter Bürger. Gehen Sie nach Hause, hier ist alles wieder gut.”

Sobald der alte Mann sich zum Gehen abgewandt hatte, widmete der Maskierte seine ganze Aufmerksamkeit Akane.

Sie konnte sich nicht erklären, weshalb sie derart aufgeregt war.

“Also bist du der wahre Wraith”, fragte sie.

“Wraith ist ein Name, der für alle steht, die unsere Überzeugungen teilen”, erwiderte der Fremde,

“Markus Kapitel 5, Vers 9: Und er fragte ihn: Wie heißt du? Und er antwortete ihm und sprach-”

“Mein Name ist Legion, denn wir sind viele”, vervollständigte Akane.

Der Maskierte vollführte eine dramatische Verbeugung.

“Inspektorin Akane Tsunemori. Eine Freude, Ihnen endlich persönlich zu begegnen. Ich hoffe doch, Sie haben unser Präsent erhalten.”

Die Flasche… ich wusste, sie war von euch!

Akane richtete ihren Dominator auf den Maskierten.

Fehler.

Ungültiges Objekt.

Auslöser bleibt gesperrt.

“Was soll die Puppe in der Flasche”, verlangte Akane zu wissen, “Sag mir: Was will Sibyl?”

Ihr Gegenüber schwenkte den Zeigefinger wie ein Lehrer, der eine aufsässige Schülerin tadelt.

“Aber, aber… Inspektorin, Sie enttäuschen mich. Dass Sie sich von einem Verbrecher helfen lassen würden. Nein. Sie müssen sich Ihren hübschen Kopf schon selbst zerbrechen.”

Akane fühlte wie ihr die Ohren heiß wurden, aber mehr aus Ärger denn aus Verlegenheit.

“Ich sage nur: Es zählt allein, was Trimalchio sprach. Kapitel 26 bis 78.”

Akane schüttelte den Kopf, als sie spürte wie sich die Zahnräder in ihrem Geist erneut in Bewegung setzten, um das eben Gehörte zu entschlüsseln.

“Du wirst ausreichend Gelegenheit haben uns alles zu erzählen, und zwar im Verhör.”

Inzwischen war auch Sho mit seinem Elektroschocker an Akanes Seite getreten.

“Sie kommen besser widerstandslos mit”, empfahl Sho und versuchte so bedrohlich wie möglich zu klingen.

“Aber, mein Junge, das ganze Leben ist Widerstand. In Sibyls Welt ist das so wahr wie nirgendwo sonst. Bis zum nächsten Mal, Inspektorin.”

Akane wollte Sho gerade den Angriff befehlen, als der Maskierte seine Handfläche öffnete, in der sich zu Akanes Überraschung eine augapfelgroße schwarze Kugel befand.

Er ließ sie fallen und im ersten Augenblick glaubte Akane, er hätte eine Bombe gezündet.

Ein Kreischen wie von hundert Messern auf Porzellantellern fuhr durch den Raum, gepaart mit einem Lichtblitz, der sich wie eine glühende Klinge in ihre Augen bohrte.

Akane zwang sich aufrecht zu stehen und mit noch tränenden Augen und pfeifenden Ohren richtete sie ihren Dominator auf den Ausgang ohne etwas erfassen zu können.

“Karanomori-san, behalten Sie die Außenkameras im Auge, er darf nicht entkommen!”

“Tut mir leid, Akane-chan. Seine Blendgranate muss ebenfalls infrarotes Licht ausgesendet haben. Es hat die Kameras erledigt, ich kann nichts sehen.”

“Verdammt”, entfuhr es Akane aus zusammengebissenen Zähnen.

“Tsunemori!” Das war - wenn sie es durch das noch immer dominante Pfeifen auf den Ohren richtig hörte - Ginozas Stimme.

Sie wandte sich ihm zu und sah, dass neben ihm und Teppei auch Yayoi und Mika zurück waren - allerdings mit leeren Händen, was ihre Laune keineswegs verbesserte.

“Es tut mir leid, Inspektorin”, erklärte Yayoi, “wir haben den gesamten Osttrakt durchsucht, aber von den beiden fehlt jede Spur.” Das sagte sie mit einem Gesichtsausdruck als wolle sie es selbst nicht glauben.

“Wir müssen das Beste aus dem machen, was wir haben. Kunizuka-san, suchen Sie bitte zusammen mit Hinakawa-kun die Außenbereiche um die Asagi Mall nach dem Maskierten ab. Er kann trotz seiner Blendgranate nicht weit gekommen sein.”

Yayoi nickte knapp und machte sich zusammen mit Sho auf die Suche.

Die nur vom Knistern der offenen Stromleitungen an den zerstörten Kronleuchtern unterbrochene Stille nutzte Ginoza.

“Tsunemori, wir sollten uns den dritten Stock ansehen. Teppei und ich waren vorhin dort. Diese Leute sind zwar keine Geister, aber sie haben uns aussehen lassen wie eine Bande Spinner, die Geistern nachjagt.”

“Gut”, erklärte Akane, “Teppei-san, bringen Sie und Shimotsuki-san doch den Verdächtigen in den Wagen und warten dort auf uns.”

Sugo Teppei salutierte und legte sich den noch immer paralysierten Mann einfach über die Schulter. Mika wirkte einen Augenblick als wolle sie sich beschweren so abkommandiert zu werden, trottete dann aber folgsam hinter Teppei her.
 

Es mochte an der späten Stunde liegen oder an dem arbeitsreichen Tag, der all dem hier vorausgegangen war, dass Akanes Spürsinn einen Moment brauchte, um aus dem Bild im dritten Stock etwas Verwertbares zu machen.

Vor ihr und Ginoza lagen am Boden der weiten Halle lauter Umhänge, Handschuhe, Kutten und Masken verstreut. Wenn sie die Zahl der Masken schätzen sollte, hätte sie grob zwei Dutzend gesagt. Was in ihr einen unheilvollen Gedanken weckte.

“Wenn sie die Kostüme hier einfach liegen lassen, dann heißt das ja… “

“...dass sie als ganz normale Besucher hier hereingekommen sind”, vervollständigte Ginoza, “Jemand muss die Kostüme hier bereits platziert haben. Die angeblichen Geister haben sich hier wie Schauspieler vor einem Bühnenauftritt umgezogen, ihre Show geliefert und sind zusammen mit den anderen verängstigten Menschen aus dem Gebäude geflohen.”

“Das allerdings bedeutet auch, dass die drei Geister, die wir heute Abend gesehen haben, permanente Mitglieder von Wraith sein müssen”, folgerte Akane,

“Dass all diese Leute sich spontan versammeln und so etwas tun können ohne dass sich ihr Farbton trübt, ist nur möglich, wenn es eine einmalige Sache war. Der einzige Unschuldige, der zuletzt noch hier gewesen war, müsste der alte Mann gewesen sein.”
 

“Sie haben uns sogar eine Botschaft hinterlassen”, sagte Ginoza und deutete auf die vor ihnen liegende Wand.

An dieser prangte - passenderweise mit Graffiti geschrieben - ein roter Zug japanischer Schriftzeichen:

Yamanote 742 1030pm
 

“Die Yamanote-Linie”, fragte sich Akane laut, “und das hinter 1030 sind zwei westliche Buchstaben, P und M. Das müsste die Uhrzeit sein. Also 22:30. Das war vor zehn Minuten.”

Sie aktivierte ihren Communicator.

“Karanomori-san. Können Sie bitte herausfinden, welcher Zug heute mit der Yamanote-Linie 742 unterwegs war?”

“Ich fürchte, das muss ich gar nicht mehr, Akane-chan. Die Yamanote-Linie 742 war ein Materialtransport für das Amt für öffentliche Sicherheit. Er wurde heute um 22:30 umgeleitet und ausgeraubt, weil jemand das Streckennetz gehackt hatte. Die Kameras haben wieder Menschen in Kostümen mit Geistermasken gefilmt.”

“Aber wieso sollten sie einen Materialtransport überfallen? Diese Transporte führen Dominator, die sie nicht benutzen können, Ersatzteile für Drohnen, mit denen sie nichts anfangen können…”

“Wenn es nur das wäre”, unterbrach Shion, “Sie haben schließlich ein halbes Dutzend Antriebsgeneratoren für strategische Drohnen gestohlen und leider auch zehn voll funktionsfähige EMP-Granaten.”

Bittere Schwärze wie kalter Kaffeesatz setzte sich in Akanes Magen ab.

“Was können sie damit schlimmstenfalls anrichten”, traute sie sich zu fragen.

“Schlimmstenfalls könnten sie in ganzen Straßenzügen sämtliche Scanner, Drohnen und Kameras ausfallen lassen ebenso wie den Empfang der Dominator stören”, erklärte Shion, “Hoffen wir aber, dass sie nicht darauf kommen.”
 

Ginoza schnaubte vor kaum gezügelter Entrüstung.

“Hoffen wir nicht, dass sie darauf kommen? Weswegen sollten sie all das denn überhaupt durchgezogen haben?

Sie haben uns an der Nase herumgeführt. Die ganze Randale im Einkaufszentrum war ein Köder für uns, um ihren richtigen Coup durchführen zu können. Wir sind diesem Area Stress Level hinterher gerannt wie ein Hund hinter seinem Stöckchen.”

“Ginoza-san hat Recht”, gestand Akane nicht ohne Reue, “Sie haben uns ausgetrickst. Die erste Runde geht an die Geister. Ich übernehme vor der Direktorin die Verantwortung für alles.”

“Tsunemori…” Aus Ginozas Mund klang Akanes Name fast wie eine Warnung.

“Nein, Ginoza-san. Es ist Aufgabe der Inspektorin die Verantwortung zu tragen.”

“Falsch. Es wäre Aufgabe der Inspektorinnen Verantwortung zu übernehmen.”

"Wie dem auch sei. Wir haben zumindest einen mutmaßlichen Mittäter in Gewahrsam, den wir verhören können, um genauere Informationen zu bekommen. Das ist immerhin mehr als nichts. Überlassen wir also den Rest hier den Drohnen und kehren zum Hauptquartier zurück.”
 

Akane verfluchte ihr Glück an jenem Tag, als sie aus der Asagi Mall heraus traten und der Himmel just in diesem Moment all seine Schleusen öffnen musste.

Trotzdem sie alle es unversehrt und in Rekordzeit zum Amt für öffentliche Sicherheit zurück geschafft hatten, waren sie bei ihrer Ankunft nass bis auf die Knochen.

Als Ginoza zu ihr in das Büro kam, war sie immer noch damit beschäftigt sich das Haar trocken zu rubbeln, sorgte damit aber eher dafür, dass es aussah als hätte sie mit feuchten Händen ein offenes Stromkabel angefasst.

“Die wichtigsten konnten entkommen.”

Ihre Stimme klang dumpf durch das Handtuch, mit dem sie sich das Gesicht rieb.

“Sie sind nicht einfach entkommen”, entgegnete Ginoza, “sie sind wie vom Erdboden verschwunden. Fast so als seien es wirklich Geister.”

Sein Ausdruck wurde weich, als er Akanes frustriertes Gesicht hinter dem Handtuch auftauchen sah.

“Na ja. Wenigstens einen konnten wir schnappen.”

Dabei blickte Akane zu ihm auf.

“Was wissen wir über ihn?”

“Shoichi Yakuda. 38 Jahre alt. Ledig, alleinstehend, keine Kinder. Er war Sicherheitsmanager in der Asagi Mall, das heißt, er hat die Computersysteme kontrolliert und Drohnen gewartet.“

“War”, fragte Akane.

“Ja. Vor zwei Monaten wurde seine Schwester Opfer einer Geiselnahme. Sie kam zwar unverletzt frei, doch ihr Farbton trübte sich daraufhin. Um ihr bei der Therapie beizustehen, vernachlässigte Yakuda seinen eigenen Farbton. Mit dem Ergebnis, dass sein Kriminalkoeffizient den Grenzwert für Sicherheitsbeamte der Asagi Mall überschritt.”

“Welcher ist das?”

“60. Ihm wurde fristlos gekündigt.”

Ginoza sah wie Akanes Augenbrauen sich zornig zusammenzogen.

“Wieso schickt man solche Mitarbeiter nicht in die Therapie? Das Sibyl-System finanziert solche Therapien, die Unternehmen müssen nicht einmal dafür zahlen.”

“Nein, aber sie müssen den Ausfall eines Mitarbeiters für mehrere Wochen oder gar Monate kompensieren. Ihn auszutauschen ist einfacher. Seit seiner Kündigung war Yakudas Kriminalkoeffizient nicht mehr gemessen worden.”

“Wo ist er jetzt”, wollte Akane wissen.

“Im Verhörzimmer. Bisher hat noch niemand mit ihm gesprochen. Wir dachten, dass du das vielleicht übernehmen möchtest.”

Ein dankbares Lächeln erhellte nun Akanes Gesicht.

“Wenn Sie mich begleiten, Ginoza-san.” Mit einem verschlagenen Zug um den Mundwinkel fügte sie hinzu: “Immerhin muss jemand für meine Sicherheit sorgen.”

Und Ginoza fragte sich - übrigens nicht zum ersten Mal - ob diese Frau inzwischen Gedankenlesen gelernt hatte.
 

“Shoichi Yakuda.”

Der halbkahle, runde Kopf des Mannes zuckte bei der Erwähnung seines Namens hoch und traf den Blick von Inspektorin Akane Tsunemori, die sich ihm gegenüber an dem schwarz lackierten Tisch niederließ.

Hinter ihr, direkt neben der Tür, wachte Ginoza.

“Bitte”, flehte Yakuda, “ich hab nichts Anderes gemacht! Ich hab nur die Kameras ausgeschaltet und die Knallkörper an den Deckenleuchtern gezündet. Es war nicht geplant, dass dabei jemand verletzt wird.”

“Es ist ja niemand verletzt worden. Ich interessiere mich nicht dafür, was Sie getan oder nicht getan haben, Yakuda-san. Ich interessiere mich eher dafür, was Sie wissen. Noch ist Ihr Kriminalkoeffizient nicht weit über 100 Punkte gestiegen. Ich kann Ihnen helfen, wenn Sie mit uns zusammenarbeiten.”

Der Mann schluckte und unterdrückte ein Schluchzen, bevor er einmal kurz nickte.

Akane lehnte sich erleichtert zurück.

“Erzählen Sie mir bitte wie Wraith Sie kontaktiert hat.”

Shoichi Yakuda brauchte beide Hände, um sein Wasserglas ruhig zu halten.

Er leerte es in einem Zug, bevor er sprach.

“Das erste Mal haben sie mich eine Woche nach meiner Kündigung kontaktiert. Im CommuField sprach mich jemand an, der sich Spectre nannte.”

“Haben Sie seinen Avatar gesehen?”

“Er hatte keinen Avatar, nur ein einfaches Logo, auf dem ‘voice only’ stand. Er fragte mich, ob ich denen eine Lektion erteilen wolle, die mich dafür bestraft haben ein Mensch zu sein.”

Dabei blickte er zu Akane hoch als suche er Absolution für etwas, das er falsch gemacht hatte. Sie nickte ihm als Antwort ermutigend zu.
 

“Ich wollte wissen, wer die sind. Er sagte, sie seien Visionäre, die Menschen wie mir eine Stimme geben wollen. Und, und… ich war wütend, verstehen Sie? Deshalb habe ich zugestimmt.”

“Zugestimmt wozu?”

“Sie nannten es eine ‘Spontan-Party’ in der Asagi Mall. Von mir wollten sie, dass ich die Kameras und Drohnen im Gebäude abschalte. Ich habe unter der Bedingung zugesagt, dass niemand verletzt wird.”

“Haben Sie die Gesichter von irgendeinem der Geister gesehen?”

“Nur von denen, die sich hinterher verkleidet haben. Einige von denen kannte ich persönlich. Die fanden wohl, es sei eine witzige Idee mitzumachen. Die anderen drei habe ich erstmals im Wartungstrakt der Drohnen getroffen.”

“Wer sind die drei?“

“Ich habe keine Ahnung. Der Kleine auf seinem Board, der Große und der mit dem Helm waren schon verkleidet, als ich sie das erste Mal sah. Sie gaben mir den Zünder für die Mini-Sprengsätze an den Leuchten und sagten, ich solle auf ihr Kommando Kameras und Drohnen ausschalten und als Finale die Leuchter zum Absturz bringen.”

“Was haben die drei Ihnen zum Raubüberfall auf die Yamanote-Linie gesagt”, fragte Akane, in dem sie sich vorbeugte.

“Was, wozu? Ich weiß nichts von einem Überfall. Bitte, die haben mir nichts weiter gesagt.”

Akane stand auf und verbeugte sich knapp.

“Danke, Yakuda-san. Eine Stress-Therapie wird Ihnen sicher helfen in die Gesellschaft zurück zu finden. Ich glaube, dass Sie ein guter Mensch sind.”

Der untersetzte Mann verneigte sich im Sitzen gegen sie und bedankte sich mehrfach, als Akane und Ginoza den Raum verließen.
 

“Kurz und schmerzlos formuliert: Wir wissen gar nichts.”

Ginozas Frustration brachte Akane zum Lächeln. Es erinnerte sie an die Zeit, als er noch Inspektor gewesen war.

“Da steh ich nun, ich armer Tor und bin so klug als wie zuvor”, zitierte sie.

“Was?”

“Das ist aus Goethes Faust. Es trifft die Situation ganz gut. Obwohl wir doch schon mehr wissen als vorher. Besonders, was er über die erste Begegnung mit diesem Spectre erzählt hat, ist wichtig. Wraith will Menschen wie ihm also eine Stimme geben…”

“Ich denke, ich weiß, was du meinst”, sinnierte Ginoza, als Akane bereits wieder ihren Communicator aktivierte.

“Karanomori-san, gleichen Sie doch bitte-”

Akane hielt inne, als sie am anderen Ende der Verbindung ein Rascheln und Poltern hörte und sich Sekunden später eine atemlose Shion in ihren Schreibtischstuhl warf.

“Akane…chan… Hatte noch gar nicht… mit dir gerechnet. Ist das Verhör schon vorbei?“

“Ja, es verlief besser als erwartet. Karanomori-san, können Sie etwas für mich nachschauen?“

“Schon dabei.” Das Klicken eines Feuerzeugs war zu hören, gefolgt vom gierigen ersten Zug an der Zigarette.

Akane ertappte sich dabei wie sie sich die Lippen leckte.

“Sie haben das Profil des verhafteten Yakuda vorliegen. Vergleichen Sie es doch bitte mit den bisherigen Wraith-Sichtungen. Ich wüsste gern, ob Personen mit ähnlichem Profil damals schon beobachtet wurden.”

“Das könnte eine Weile dauern”, erklärte Shion, derweil man bereits das Klappern der Tastatur hörte, “Schnappt doch etwas frische Luft in der Zwischenzeit.”

“Oh ja”, murmelte Akane halblaut und Ginoza konnte nur annehmen, dass die Luft, die sie zu schnappen vor hatte, alles andere als frisch sein würde.

“Ich hoffe, es stört dich nicht, wenn ich mich anschließe.”

Einen Moment lang erblickte Ginoza Scham in Akanes Augen, ehe sie es mit einem Lachen kaschierte.

“Nicht doch. Kommen Sie, Ginoza-san.“
 

Auch er schämte sich ein wenig, da er ihr immerhin nur nachfolgte, um auf ihre Gesundheit zu achten.

In seinen Erinnerungen hörte er Kagari glucksen und zu den Anderen etwas von “Oberhenne” flüstern.

In jenen Tagen, da er noch Inspektor gewesen war, hatte er sich darüber geärgert. Nun wünschte er, er würde es noch ein Mal aus Kagaris Mund hören.

Er wurde durch einen Tumult im Büro von Einheit 1 aus seinen Gedanken gerissen und hörte Wortfetzen von Mika wie “nichtsnutziger” und “Krimineller”.

Akane betrat das Büro als erstes und sah Sho, der auf seinem Bürostuhl zusammen gesunken war, Mika, die mit den Fäusten in den Hüften gerade dabei gewesen war ihm eine Standpauke zu geben und Sugo Teppei, der - nach Ordnung suchend - zwischen den beiden stand. Yayoi war abwesend, was Akane nicht überraschte.
 

“Geht es Ihnen gut, Shimotsuki-san“, fragte Akane höflich, nur um gleich eine Breitseite von derselben zu bekommen.

“Es ginge mir vielleicht gut, wenn dieser Köter” - dabei zeigte sie mit dem Finger auf Sho - “seinen Job gemacht hätte anstatt zu schlottern wie ein Waisenknabe.”

Ginoza fiel auf, dass Akane die Hand, die sie hinter ihrem Rücken hielt, zur Faust geballt hatte.

“Sie hätten seinen Elektroschocker nehmen und selbst kämpfen können, Shimotsuki-san. Ihre Ausbildung beinhaltete immerhin den Umgang mit solchen Waffen. In Extremsituationen wäre es also ratsam auch Tätigkeiten zu übernehmen, die nicht in ihr unmittelbares Aufgabenfeld fallen.”

Akane holte tief Luft.

“Und unterstehen Sie sich jemals wieder einen der Vollstrecker als Köter zu bezeichnen.”

Mika war einen Augenblick sprachlos über Akanes Ausbruch, dann sah sie aus als wolle sie etwas erwidern, ließ sich schließlich aber in ihren Stuhl zurückfallen und setzte den Bericht fort, an dem sie gearbeitet hatte.

“Teppei-san, bitte kümmern Sie sich um Hinakawa-kun”, bat Akane, ehe sie zusammen mit Ginoza ihren Weg an die frische Luft fortsetzte.
 

“Ich weiß nicht, was ich mit ihr machen soll”, gestand Akane ehrlich ratlos, als sie an Ginozas Seite draußen stand und den ersten Zug einer Zigarette genoss seit sie zur Asagi Mall aufgebrochen waren.

“Ihr seid euch im Grunde sogar ähnlich”, erklärte Ginoza, während er sich an die Wand des Gebäudes lehnte und die Lichter der Stadt beobachtete, “Ihr beide habt geliebte Menschen durch ein grausames Verbrechen verloren. Während du dich entschieden hast das Gesetz zu schützen und darauf zu warten, dass die Gesellschaft eine Bessere wird, hat sie sich entschieden alle faulen Stellen auszulöschen. Ich kann nicht beurteilen, welche Entscheidung die Bessere ist.”

Akane musste schmunzeln, als sie sah wie Ginoza sich die Brille mit dem Finger hochschob, die er schon lange nicht mehr trug.

“Sie meinen, ich sollte nachsichtiger mit ihr sein?”

“Das habe ich nicht gemeint. Sie wird keine Gelegenheit ungenutzt lassen an deinem Thron zu sägen. Außerdem musst du zugeben, dass deine Art mit den Vollstreckern umzugehen unter allen Einheiten des Amtes ihresgleichen sucht. Früher war ich es, der dich dafür getadelt hat, dass du zu nett zu ihnen warst. Heute ist es Mika auf ihre eigene Art.”

“Ihre Art war mir aber lieber, Ginoza-san”, gab Akane zurück und wurde mit einem seltenen Lachen von Ginoza belohnt.
 

Sie verbrachten einige Augenblicke kameradschaftlichen Schweigens, ehe Akane ihre Gedanken wieder dem vorliegenden Fall zuwandte.

“Machen Ihnen die EMP-Granaten nicht auch Sorgen?”

Ginoza nickte.

“Jedenfalls dann, wenn sie sie wahllos einsetzen wollen, um Scanner und Drohnen auszuschalten. Das könnten sie überall tun, ohne dass wir vorgewarnt wären. Unser Vorteil ist, dass sie es nicht jederzeit tun können. Wenn sie die Mitglieder für ihre Aktionen immer kurz vorher und spontan rekrutieren, um deren Psycho-Pass zu schonen, müssen sie zunächst eine ausreichend große Gruppe zusammen bekommen. Die Zeit, die sie dafür brauchen, können wir nutzen, um ihnen auf die Spur zu kommen.”

“Sie denken da an das Gleiche, woran ich auch denke”, wollte Akane wissen.

“Das Commu-Field, ja. Wenn Yakuda dort das erste Mal angesprochen wurde, ist es sehr wahrscheinlich, dass sie auch die übrigen Mitglieder dort anwerben. Das Commu-Field ist der sicherste Weg so etwas zu tun ohne gleich in das Visier von Sibyl zu geraten. Es wird wohl wieder einmal Zeit sich dort einzuschleusen.”

“Gut. Ich werde Hinakawa-kun bitten mir einen neuen Avatar zu basteln. Der alte wird dort inzwischen zu auffällig sein.”

“Wir hatten wirklich noch niemanden, der sich so drastisch von Makishima oder Kamui unterschieden hat.”

Akane nickte.

“Ja. Die beiden waren bereit brutale Gewalt anzuwenden, um ihre Ziele zu erreichen. Wraith dagegen scheinen peinlich genau darauf zu achten, dass bei ihren Aktionen kein Mensch verletzt wird und nicht einmal ein Farbton zu Schaden kommt. Die einizige verbleibende Frage ist: Was ist ihr Ziel? Worin besteht ihr Endspiel? Makishima wollte Sibyl bloßstellen, der Gesellschaft die Wahrheit sagen. Damit wäre die Gesellschaft wie wir sie kennen zerbrochen und ein heilloses Chaos wäre ausgebrochen. Kamui wollte nur die seinen rächen, indem er das System richtet. Aber was wollen Wraith? Mit ihren Graffitis, Aufständen und auch mit EMP-Granaten können sie das System nicht stürzen, das muss ihnen doch klar sein.”

“Vielleicht haben sie so etwas wie ein Endspiel gar nicht”, vermutete Ginoza, “Ihre Aktionen sollen womöglich nur die Öffentlichkeit wachrütteln - so lange, bis ihr Zorn auf das System wächst und die Menschen es dann selbst demontieren. Sibyl ist von Menschen erschaffen worden und Menschen können es auch wieder zerstören.”

Akane wollte gerade etwas erwidern, als sich Shion über ihren Communicator meldete.

“Die Auswertung ist beendet, Akane-chan. Glückwunsch, du hast wieder voll ins Schwarze getroffen. So gut wie alle Mitglieder, die bei den vergangenen Aktionen verhaftet wurden, hatten ein ähnliches Profil wie Yakuda. Auch ihr Farbton hatte sich wegen eines traumatischen Erlebnisses getrübt, woraufhin sie ausgegrenzt oder zurückgelassen wurden.”

“Ich wusste es. Danke, Karanomori-san. Sie können dann Schluss machen für heute.”

“Sehr verbunden”, bedankte sich Shion in einem nicht unironischen Singsang.

“Wraith lassen diese Leute absichtlich verhaften”, folgerte Ginoza, “Aber wieso?”

“Aus zwei Gründen, nehme ich an. Auf diese Weise kommen diese Menschen in Therapie und ihr Farbton trübt sich nicht noch weiter. Zum Anderen ist es wieder eine Botschaft. Wraith zeigt dadurch, dass Sibyl nicht von außen bedroht wird. Das System erschafft seine Gegner selbst. Dadurch, dass diese Menschen ausgestoßen und allein gelassen werden, wächst ihre Bereitschaft gegen das System zu kämpfen. Eine glückliche Gesellschaft leistet keinen Widerstand. Wogegen auch?”

Wie um einen Schlussstrich unter ihre Ausführungen zu ziehen, reckte sich Akane und konnte ein lang zurück gehaltenes Gähnen nicht länger unterdrücken.

“So. Jetzt noch die Berichte und dann-”

“Nein”, widersprach Ginoza und legte ihr seine künstliche Hand auf die Schulter, “Du bist seit heute früh auf den Beinen. Du wirst jetzt nach Hause fahren und dich ausschlafen.”

“Aber Sie sind auch seit heute früh auf, Ginoza-san”, entgegnete Akane und klang dabei fast wieder so wie die junge, schmollende Akane von damals.

“Mag sein, aber ich habe mein Quartier gleich hier. Du musst immer noch nach Hause fahren. Also noch einmal: du fährst nach Hause und schläfst dich aus. Morgen wieder zur gleichen Zeit.”

Akane straffte sich, salutierte und antwortete

“Jawohl, Inspektor Ginoza”, nicht ohne ihm die Zunge heraus zu strecken.

Erst als sie in ihrem Wagen saß und ihre Adresse einprogrammiert hatte, um sich vom Autopiloten fahren zu lassen, bemerkte sie, wie müde sie tatsächlich war. Die Lichter der vorbeiziehenden Gebäude und Laternen vermischten sich mit dem Grün des vorbeiziehenden Parks und Akane war eingeschlafen, noch ehe sie zu Hause ankam.
 

So konnte sie auch nicht mehr den auffälligen Mann bemerken, der mitten im Park stand und die vorbeifahrenden Autos beobachtete - einen Mann im grauen Trenchcoat und einer Zigarre in der Linken.

Ein Jugendlicher schlenderte an ihm vorbei und beäugte ihn kritisch.

“Alter, es ist finstere Nacht. Wieso trägst du eine Sonnenbrille?”

Der Mann wandte sich dem Jüngeren zu und zog die Sonnenbrille mit zwei Fingern herunter.

“Krass”, antwortete der Andere mit einem Kopfschütteln und ging weiter.

“Mann, der Drogen- und Alkoholmissbrauch hier nimmt ja geradezu Überhand”, sagte der Mann laut zu sich selbst, “Wird Zeit, dass hier jemand für Ordnung sorgt.”

Mit einem tiefen Zug von seiner Zigarre und einem breiten Grinsen, aus dem der Rauch hervor quoll, spazierte der Mann in die Nacht.

Ghosts of the Past - Teil 2

Akane saß an ihrem Schreibtisch, brütend über Bergen von Papieren, Berichten und Akten zu Graffitis, Gehirnen und grinsenden Geistern.

Bereits die vierte Zigarette steckte in den Aussparungen ihres Aschenbechers und ließ ihre blauen Schwaden über den Glutherden aufsteigen, sich mit den anderen mischen und vereinen wie tanzende Gespenster.

“Akane, Akane, das ist aber gar nicht gesund”, ermahnte Candy, ihre holografische Haushälterin, “Und so gefährliche Leute in deine Wohnung zu lassen, kann auch nicht gesund sein.“

Akane runzelte die Stirn. Sie wollte gerade fragen, was Candy damit gemeint hatte, als sich zwei Arme um ihre Schultern legten und ein Mann sein Kinn auf ihren Scheitel stützte.

“Sie hat recht”, bestätigte eine tiefe und wohl vertraute Stimme.

Akane konnte den beleidigten Zug um ihre Mundwinkel nicht abwehren.

“Auf welcher Seite stehen Sie eigentlich, Kogami-san?”

“Schwierigkeiten mit dem Fall”, fragte er, ohne auf ihre Frage einzugehen.

“Ich komme nicht weiter. Es liegt alles vor mir. Im Grunde müssten wir nur noch zugreifen, die Drahtzieher einsperren und es wäre getan, aber-”

“Aber das würde dir nicht reichen. Du willst nicht nur den Täter schnappen, sondern auch verstehen, was er vor hatte. Wissen, was er am Ende erreichen wollte”, vervollständigte Kogami ihre Gedanken.

“Mhm.”

Kogami richtete sich auf und tätschelte ihr den Kopf wie er es früher getan hatte.

“Du bist ein guter Bulle geworden.”

Sie wandte sich ihm zu und lächelte dankbar.

Kogami wandte seinen Blick den Zigaretten in ihrem Aschenbecher zu.

“Wenn du mich fragst, ist das reine Verschwendung”, sagte er und schnappte sich eine mit zwei Fingern.

Was von ihr übrig war, erledigte er mit einem Zug und drückte den Stummel in den Becher.

“So macht man das”, kommentierte er mit einem überheblichen Lächeln, “Nimm das jetzt aber nicht als Ermunterung.“

“Genauso hat es sich aber angehört.”

“Du fragst dich also, worauf sie hiermit abzielen”, stellte Kogami fest und hielt die Flasche mit den griechischen Buchstaben hoch.

“Die Frage ‘Was willst du, Sibyl’ muss ein Zitat aus der Literatur sein. Aus ziemlich alter Literatur sogar”, überlegte Akane laut, während ihre Zähne an ihrer Unterlippe nagten.

“Hattest du die Informationen von einem Computerarchiv suchen lassen”, fragte Kogami, der nun mit dem Rücken an ihrem Schreibtisch lehnte.

“Ich habe die Befürchtung, dass ein Archiv diese Zitate nicht kennen wird.”

“Nicht kennen oder nicht erlauben wäre eine interessante Frage.”

“Was?”

“Nicht so wichtig”, wiegelte er ab, “Wusstest du übrigens, dass Professor Saiga - bevor er sich der Psychologie zuwandte - Geschichte gelehrt hatte?”

Akane fuhr dabei aus ihrem Grübeln hoch.

“Nein, woher?“

“Hm, dachte, ich hätte es mal erwähnt. Allerdings” - Er nahm ihr die Flasche aus der Hand und stellte sie auf den Tisch zurück - “solltest du dich jetzt ausruhen. Wenn du nicht entspannt bist, wirst du nicht gut ermitteln können.”

Wie um seinem Vorschlag nachzukommen, straffte Akane den Rücken und rollte mit den Schultern, um die Verspannungen zu lösen.

“Sie haben immer sehr gut ermittelt, dafür, dass Ihre Entspannungstechniken daraus bestanden, entweder zu rauchen oder Sparringsdrohnen zu verprügeln”, gestand sie offen, nicht ohne ironisches Lächeln.

Mit enerviertem Schnauben stieß er sich vom Schreibtisch ab, positionierte sich hinter ihr und legte beide Hände auf ihre Schultern, um in langsamen, genüsslichen Zügen seine Finger durch die verspannte Muskulatur zu kneten.

Auch wenn sie die Augen geschlossen hatte, fiel Akane auf wie groß sich seine Hände auf ihren Schultern anfühlten.

“So hast du mich also immer gesehen”, fragte er und ging damit auf ihren vorherigen Kommentar ein.

Als er das nächste Mal sprach, war es so dicht an ihrem Ohr, dass ihr Gänsehaut über Nacken und Rücken fuhr.

“Also, ich kenne da noch andere Arten, Stress abzubauen”, flüsterte er gedehnt, wobei seine rechte Hand einen nach dem anderen Knopf ihrer Bluse öffnete, “Viel angenehmer als gegen Drohnen kämpfen und viel gesünder als rauchen.“

Akanes Atemzüge hatten inzwischen erschreckende Ähnlichkeit mit der Herzfrequenz eines Kolibris angenommen. Sie krallte die Finger um die Armlehnen ihres Stuhls, als ein überraschend kühler Daumen endlich den gewonnenen Spielraum der offenen Knöpfe nutzte, um in ihr Dekolleté vorzudringen.

Plötzlich stieß Candy einen äußerst schrillen Alarmton aus, der sie an die Blendgranate von Wraith erinnerte.
 

Akane riss den Kopf von ihrem Bett hoch und blinzelte verwirrt in den dunklen Raum. Erst als eine wütende Faust auf die schwebende, schwach leuchtende Kugel niedergegangen war und sie damit zum Schweigen gebracht hatte, kehrten vernünftige, zusammenhängende Erinnerungen und Erkenntnisse zu ihr zurück.

Das erste Mal in dieser Nacht war sie von dem Piepen des Autopiloten geweckt worden, der ihr ebenso monoton wie energisch mitteilte: “Sie haben Ihr Ziel erreicht.”

Sie hatte es danach gerade so geschafft ihre Haustür mit dem Communicator an ihrem Handgelenk zu entriegeln, Schuhe, Rock, Blazer und Bluse auszuziehen und sich so wie sie war auf ihr Bett fallen zu lassen.

Natürlich war sie längst nicht mehr in ihrer alten Wohnung, Kogami konnte natürlich nicht hier sein und auch ihre Haushälterin Candy hatte sie nicht mehr.

Derart unsanft geweckt worden zu sein und das - mit einem Blick auf den Wecker - zudem um 6:00, verdankte sie dem Umstand, dass Ginoza sie - vor einer Woche schon - dazu gedrängt hatte, diesen Samstag frei zu nehmen.

Dabei hatte er weniger wie ein untergebener Vollstrecker als vielmehr wie ein Drillsergeant geklungen.
 

Bei dem Versuch, aus der frühen Zeit etwas Positives zu ziehen, wanderten Akanes Gedanken zu dem Traum zurück.

Sie brauchte einen Moment, um ihren Kopf von den späteren Szenen des Traumes abzulenken und sich der Information zuzuwenden, die ihr der Traum geboten hatte.

Kogami-san hatte gesagt, dass Professor Saiga Geschichte unterrichtet hatte. Er muss es mir irgendwann einmal erzählt haben und ich habe es wieder vergessen. Alles andere wäre auch absurd.

Akane entledigte sich ihrer restlichen Kleidung und war nach einer kalten Dusche bereit, sich wieder anzuziehen und aus dem Haus zu marschieren, nicht ohne vorher im Vorbeigehen ihren Communicator vom Tisch zu schnappen.

Sie war zwar nicht im Dienst, für das, was sie vorhatte, würde sie ihn jedoch brauchen.
 

Joji Saiga hatte noch nie viel geschlafen. Er hielt es mit Thomas Alpha Edison, dem man nachsagte, er habe nur zwei Stunden Schlaf benötigt.

Daher war es auch nicht überraschend, dass er - seit er sich selbst in die mentale Korrektureinrichtung eingewiesen hatte - noch nie den Drohnenweckdienst um 7:00 Uhr in Anspruch nehmen musste.

Er stand also bereits an der gepanzerten Tür zu seinem Domizil, als die Kontrolldrohne vorbei schwebte und auf Höhe des Sichtfensters hielt.
 

“Guten Morgen, Saiga Joji. Ihr Kriminalkoeffizient an diesem Morgen beträgt 127. Das ist eine Verbesserung von zwei Punkten zu vorheriger Woche. Ihr Farbton ist hellgrün…”

Saiga ließ die Drohne schwafeln. Gleich würde sie wieder mit den Worten ‘Sie haben keine Termine’ einen weiteren ereignislosen Tag ankündigen.

“Sie haben…einen...Termin.”

Saigas Kopf fuhr dabei wieder hoch.

“Was? Wiederhole.”

“Sie haben einen Termin. Zeit: 8:00 Uhr. Treffen mit: Tsunemori Akane, Chefinspektorin Einheit 1, Amt für öffentliche Sicherheit. Dieser Termin kann nicht abgelehnt werden.”

Ein Lächeln zeigte sich auf den Mundwinkeln des ehemaligen Professors.

“Da ist aber jemand früh.”
 

An die Sicherheitsschleuse vor dem Eingang hatte sich Akane inzwischen gewöhnt - so sehr, dass sie die zuständige Scandrohne ungeniert angähnte und sich am Kopf kratzte, während diese ihre Arbeit tat.

“Guten Morgen, Inspektorin Tsunemori. Scan abgeschlossen. Kriminalkoeffizient 21, Farbton Puderblau. Bitte passieren Sie die Sicherheitsschleuse.”

Was ihr beim Betreten von Joji Saigas Domizil entgegen kam, war der belebende Duft von frisch aufgebrühtem Kaffee… gefolgt von Joji Saiga selbst.

“Ich hatte nicht vor nächster Woche mit einem Besuch gerechnet, Inspektorin. Ist etwas passiert?”

“Bitte, nennen Sie mich Akane, Saiga-sensei.”

Saiga senkte die Augenbrauen.

“Dann nenne Du mich nicht Sensei.”

Akane streckte ihm mit verlegenem Lächeln ihre Hand hin.

“Deal”, sagte sie.

Nachdem sie Platz genommen hatte und sich die von der Novemberluft kalten Hände an der dampfenden Kaffeetasse wärmte, holte Akane tief Luft. Es war kein einfaches Anliegen, das sie an Kogamis ehemaligen Lehrer hatte.

“Saiga-s… ich meine: Es gibt da einige Dinge in Bezug auf Wraith, die ich noch nicht ganz verstehe. Sie haben die Akte gelesen?”

“Dank deiner Autorisierung, ja. Also, oberflächlich betrachtet wirken die Drahtzieher wie einfache Aufwiegler. Menschen, die durch gezielt orchestrierte Aufstände Panik verbreiten und die Menschen am Urteil des Sibyl Systems zweifeln lassen, da keines der teilnehmenden Mitglieder einen Kriminalkoeffizienten hat, der hoch genug für eine Vollstreckung wäre. Sie handeln, wenn man so will, also mit Sibyls Zustimmung.”

Er hielt kurz inne für einen Schluck Kaffee.

“Aber! Der Diebstahl dieser EMP-Granaten deutet doch darauf hin, dass noch mehr hinter diesen Aktionen stecken könnte.”

“Es deutet darauf hin, dass sie etwas Größeres planen. Etwas entscheidend Größeres”, pflichtete Akane bei, “Und ich rätsele immer noch über die Bedeutung dieser Flasche, die sie mir zugesandt hatten.”

“Wie lautete dieser griechische Satz auf der Flasche noch gleich”, fragte Saiga.

“Σίβυλλα τί θέλεις (Sibylla ti theleis). Was willst du, Sibyl.”

Als Akane den Blick hob bemerkte sie, dass Saiga angestrengt nachdachte - so, als habe er diesen Satz schon einmal gehört.

“Stimmt es, dass Sie einmal Geschichte gelehrt hatten, ehe Sie sich der klinischen Psychologie zuwandten”, wollte sie nun in Anspielung auf ihren Traum wissen.

Das riss Saiga erfolgreich aus seinem Grübeln.

“Das schon, aber nicht offiziell gelehrt. Ich war Tutor und habe anderen Studenten in alter Geschichte geholfen.”

“Dann wissen Sie etwas mit der Frage anzufangen”, fragte Akane begierig.

“Jedenfalls weiß ich, dass sie alt ist. Sehr alt. Das erkennt man schon allein daran, dass es sich dabei um Altgriechisch handelt, eine Form des Griechischen, die heute gar nicht mehr gebraucht wird. Eine tote Sprache.”

Akane fiel dabei ihre Begegnung mit dem maskierten Geist wieder ein.

“Wissen Sie, einer der Drahtzieher von Wraith hat mir in Bezug auf diese Flasche etwas Seltsames gesagt.”

“Sie geben dir Tipps, interessant. So als wollten sie, dass du das Rätsel löst. Sie haben die Flasche dir zukommen lassen. Dir allein, nicht dem Amt für öffentliche Sicherheit. Das legt doch den Schluss nahe, dass sie nur dich für fähig halten, ihr Geheimnis zu lüften.”

Akane war wieder einmal dankbar dafür, dass sie auf Saigas Hilfe zählen konnte, denn diese Überlegungen hatte sie bisher noch nicht angestellt.

Wissen Wraith vielleicht, dass auch ich die Wahrheit über das Sibyl System kenne?

“Aber ich schweife vom Thema ab”, entschuldigte sich Saiga, “Was hat dir der Mann von Wraith gesagt?”

“Er sagte, es zähle allein das, was Trimalchio sprach. Und dann fügte er noch etwas von Kapitel 26-78 hinzu.”

“26 bis 79”, korrigierte Saiga ohne eine Sekunde des Zögerns.

Akane hielt es nicht mehr auf ihrer Couch.

“Sie wissen, worauf er sich bezogen hat?!“

Saiga nickte mit geschlossenen Augen.

“Auf das Satyricon, ein Buch des römischen Senators Titus Petronius, das vor mehr als 1500 Jahren geschrieben wurde. Die Kapitel 26 bis 79 umfassen die sogenannte “Cena Trimalchionis”, das Gastmahl des Trimalchio.

Darin geht es um einen freigelassenen und zu großem Wohlstand gekommenen Sklaven, der ein Festmahl für seine Gäste gibt. Ich bin ziemlich sicher, diesen griechischen Satz, der auf der Flasche steht, aus eben diesem Buch zu kennen.”

“Wissen Sie auch wie man an dieses Buch herankommen kann, Saiga-san?“

Saiga seufzte und nahm sich die Brille von der Nase, um sie zu putzen.

“Ich fürchte, gar nicht. Das Satyricon ist ein nur fragmentarisch überliefertes Buch. Große Teile davon existieren schon lange nicht mehr. Und selbst wenn es das Gastmahl des Trimalchio noch als Auszug gibt, steht es unter Garantie auf Sibyls schwarzer Liste. Das heißt, alle bekannten Ausgaben wurden vernichtet und das Werk wurde aus den Archiven gelöscht.”
 

Saiga hatte eine Ahnung, wer so eine Ausgabe besessen haben könnte, aber er ließ das Gesagte zunächst so stehen.

Akane war von der wenig aussichtsreichen Antwort auch weniger entmutigt als sie gedacht hatte.

Stattdessen tigerte sie im Raum umher, unbewusst am Fingernagel kauend und ging alle möglichen und unmöglichen Optionen durch, als ihr aus dem Augenwinkel Saigas Bücherschrank auffiel.

“Äh… darf ich”, wandte sie sich fragend an Saiga.

Der stimmte mit einem Nicken zu, ohne wirklich zugehört zu haben. Eben weil er gerade im Zwiespalt war, ob er versuchen sollte Akane weitere Nachforschungen zu diesem Thema aus Sorge um ihren Farbton auszureden. Er ahnte bereits, dass es bei dem Versuch bleiben würde.

Akane bekam das nicht mit, da sie - noch immer in ihren eigenen Gedanken - mit dem Zeigefinger an den Buchrücken entlangfuhr und schließlich bei einem roten Band stehen blieb.

“T.S. Eliot - collected poems” las sie vom Buchrücken.

Vielleicht hilft es mir beim Denken, dachte Akane und schlug das Buch auf.

Im Inhalt entdeckte sie ein Gedicht, das ihr bekannt vorkam. “The Wasteland” lautete der Titel.
 

Sie erinnerte sich an einen grauen verregneten Montagmorgen im April, damals, als Kogami, Kagari und Masaoka noch bei Einheit 1 gewesen waren.

Sie hatte an den Ringen unter Kogamis Augen gesehen, dass er genauso unausgeschlafen war wie sie selbst und hatte die Stimmung lockern wollen…

Schlägt Ihnen das Wetter auch aufs Gemüt, Kogami-san”, hatte sie gefragt.

April is the cruellest month”, war seine Antwort gewesen.

Sie hatte verwirrt die Stirn gerunzelt, bis er ihr erklärte, dass dies die ersten Wörter des Gedichtes “The Wasteland” von T.S. Eliot seien.

Ein nostalgisches Lächeln stahl sich auf ihre Lippen, als sie diese ersten Wörter las. Dann hob sie den Blick zu dem kleinen Text über dem Beginn des Gedichtes.

Joji Saiga wäre beinahe von seinem Sessel aufgesprungen, als er Akane Aufkeuchen hörte und gleichzeitig mit dumpfem Aufprall das Buch den Boden traf.

“Was ist passiert, hast du dich am Papier geschnitten?“

Akane schnappte das Buch vom Boden und warf es beinahe vor Saiga auf den Tisch.

“Können Sie mir das übersetzen, Saiga-san?”

Er sah auf den Text, auf den sie deutete.

“Eureka”, entfuhr es ihm.

“Was?“

Saiga wiegelte mit der Hand ab.

“Ach, das ist ein Ausruf von Archimedes. Er bedeutet wörtlich: ‘Ich habe es gefunden’. Dieser Text ist genau das, was Trimalchio sprach. Es ist ein Zitat aus dem Satyricon.”

Er las den Text vor.

Nam Sibyllam quidem Cumis ego ipse oculis meis vidi

in ampulla pendere, et cum illi pueri dicerent: Σίβνλλα τί ϴέλεις; respondebat illa: άπο ϴανεΐν ϴέλω.

Das bedeutet: ‘Denn ich sah einst mit eigenen Augen die Sibylle in Cumae in ihrer Flasche hängen. Und wenn die Jungen sie fragten: ‘Sibylle, was willst du?‘ antwortete sie: ‘Sterben will ich.’”
 

Akanes Gedanken schnellten zurück zu der Puppe in der Flasche.

Sibylle in der Flasche. Die Puppe ist also Sibyl selbst.

Was bedeutet das Andere. Cumae war doch eine alte italienische Stadt, nicht wahr? Und als Letztes die Antwort auf die Frage, was Sibyl will. ‘Sterben will ich’. Was will Wraith damit sagen?

“Akane.“

Dass sie Sibyl töten wollen? Nein, zu banal.

“Akane.”

Dass Sibyl selbst sterben will. Aber wieso? Und wieso hängt sie in einer Flasche? Das ergibt keinen Sinn.

“Inspektorin Tsunemori!”

Akanes Kopf fuhr schlagartig hoch.

“Jawohl!”

Saiga konnte das Lachen nicht verhindern.

“Da habe ich ja etwas angerichtet. Nicht dass sich durch das viele Grübeln dein Farbton trübt.”

“Wissen Sie vielleicht, ob diese Aussage von Trimalchio von etwas Anderem herrührt”, fragte sie, ohne auf Saigas Warnung zu reagieren.

“Ja, ich bin sicher, dass es das tut. Es gibt viele Legenden zu den Sibyllen, insbesondere der Sibylle von Cumae. Trimalchios Aussage muss Bezug nehmen auf eine davon. Leider erinnere ich mich nicht mehr daran, auf welche.”

“Saiga-san. Darf ich Sie um einen Gefallen bitten?”

Saiga ahnte Übles, aber er nickte dennoch.

“Ich würde mir gern die Bücher ansehen, die Ihnen Kogami-san vor seinem Fortgehen hinterlassen hat.”

Ist das alles, fragte sich Saiga.

Er hob den Gedichtband von T.S. Eliot.

“Das ist eines davon. Die anderen stehen dort ganz oben im Bücherschrank.“

Akane lächelte schuldbewusst.

“Nein, ich meine eher die anderen Bücher, die Ihnen Kogami-san hinterlassen hat.”

Saiga seufzte in sich hinein. Es musste ja einen Haken geben.

“Das sind… verbotene Bücher, Akane. Gefährliche Bücher. Kogami hatte sie mir nur symbolisch vermacht, sie sind aber nicht hier.”

“Das dachte ich auch nicht”, sagte Akane, während sie mit den Knöpfen ihres Blazers spielte, “Ich dachte eher daran, dass Sie mir sagen können, wo ich sie finde.”

“Akane, Akane.”

“Bitte, Saiga-san”, flehte Akane, “Das könnte der einzige Weg sein zu verstehen, was Wraith von mir will.“

“Und warum ist das so wichtig? Glaubst du, dass - wenn sie etwas Größeres vorhaben - sie dir auch nur eine kleine Chance lassen es herauszufinden und ihnen zuvor zu kommen?”

“Ich weiß, dass ich nicht weiß”, erwiderte Akane.

“Nun zitiere nicht Sokrates.”

Saiga nahm ein Kärtchen für eine Opernübertragung aus seiner Hemdstasche und schrieb etwas auf die Rückseite.

“Wenn Kogami noch lebt, wird er kommen und mich dafür umbringen, dass ich dir das gebe. Und wenn er nicht mehr lebt, wird er mich heimsuchen.” Er reichte Akane das Kärtchen. “Darauf steht eine Adresse und ein Code. Es ist ein Safe House am äußersten Rand der Stadt. Dort gibt es keine Scanner und Drohnen. Wenn der Code nicht geändert wurde, kommst du mit ihm in das Gebäude.

Darin findest du eine Kommode in der linken Ecke des Raumes. Zieh sie weg und hebe die Holzbretter unter ihr an. Was du suchst, befindet sich in einer grünen metallenen Kiste.”

Akane hatte gerade den Mund geöffnet, um sich überschwänglich zu bedanken, als ihr Saiga mit der Hand zu schweigen gebot.

“Danke mir nicht. Du könntest mir danken, wenn ich es geschafft hätte, dich davon abzubringen. Wenn du wieder zurückkommst und dein Psycho-Pass hat keinen Schaden genommen, können wir von Glück reden.”

Akane runzelte die Stirn.

“Wenn ich wieder zurückkomme?”

“Lass es mich so sagen”, erklärte Saiga, “Vielleicht solltest du die Möglichkeit erwägen, dass Wraith dir gar nicht helfen will. Wie gesagt: Dort draußen gibt es keine Scanner und Drohnen. Wenn dich jemand auf dem Präsentierteller haben wollte, wäre das der ideale Ort.”

Akane ließ sich das einen Moment durch den Kopf gehen.

“Ich werde nicht allein sein”, antwortete sie dann.

Saiga bemitleidete denjenigen aus Einheit 1 bereits, der diesmal zu der waghalsigen Reise mitgeschleift werden sollte… und verpasste beinahe, als Akane sich für alles bedankte.

“Mir ist in den Berichten noch etwas aufgefallen”, hielt er sie auf, “Dieser Mann mit der Maske hat eine ungewöhnliche Reaktion des Dominators ausgelöst, nicht wahr?“

“Ja. Der Dominator zeigte seltsamerweise eine Fehlermeldung an: dass das Objekt ungültig sei.”

Saiga nickte. “Ich nehme an, du hast Shion bereits darauf angesetzt.“

“Noch nicht”, erwiderte sie, “Ich hatte das vor, wenn ich wieder im Büro sein werde.”

“Wenn du möchtest, kann ich mich darum kümmern. Die Tage hier sind nicht gerade sehr ereignisreich.”

Ein herzliches Lächeln trat auf Akanes Gesicht.

“Das wäre wirklich sehr nett von ihnen, Saiga-sensei.”

Sie griff sich mit der Hand an den Mund, als sie ihren Fehler bemerkte. Saiga schüttelte nur den Kopf und schob sich die Brille hoch.

“Der alte Titel wird mich wohl noch eine Weile verfolgen.”
 

Es schneite nicht - obwohl Schnee vorhergesagt worden war.

Ginoza musste schmunzeln, als er aus dem Fenster des Büros sah.

Sibyl konnte prophezeien, welcher Mensch in Zukunft ein Verbrechen begehen wird, aber das Wetter konnte das System so wenig vorhersagen wie die Menschen vorher.

Zumindest ein paar Unwägbarkeiten bleiben noch. Er brauchte diese Ungewissheiten, sonst würde alles sinnlos festgeschrieben wirken.

Ebenso wie aus dem Sohn wurde, was der Vater gefürchtet hatte.

Du bist heute unverhältnismäßig sentimental, schalt er sich. Morgen würde er das Grab seines alten Herrn besuchen, vielleicht lag es daran. Morgen am 8. November.

‘08.02.2113’, tippte er in das Suchfeld des Computers.

Niemand außerhalb dieser Abteilung wusste, was dies für ein Datum war, Niemanden interessierte es.

Wider besseres Wissen bestätigte er die Suchanfrage.
 

Zunächst glaubte er an einen Fehler des Systems.

Dann an einen Scherz.

Dann breitete sich heißkalte Wut in seiner Magengrube aus.

Das CommuField hatte auf die Eingabe des Datums reagiert.

Dort war auf dem Portal “L. Coholic’s Whistleblow” ein Artikel veröffentlicht worden.

“Tomomi Masaoka Obituary”, las er halblaut, dann konnte er sich nicht mehr beherrschen, “Was fällt denen ein?!”

Mika, die gerade auf dem Weg zu ihrem Platz gewesen war, horchte dabei auf.

“Wer sind die? Woher haben die solche Informationen und wieso werfen sie sie der Öffentlichkeit zum Fraß vor”, lamentierte er wie zu sich selbst.

“Hm?”

Er musste plötzlich mit seinem Stuhl zur Seite rücken, weil Mika sich vorgebeugt hatte, um den Artikel zu überfliegen. Dabei kam ihr Gesicht seinem so nahe, dass er einen Duft von Jasmin in der Nase hatte, der wohl von ihren Haaren ausging.

Er war so verblüfft darüber, dass sie einem Vollstrecker freiwillig so nahe kam, dass es seinen ganzen Ärger völlig verpuffen ließ.

Hatte das etwas mit Tsunemoris Standpauke von neulich zu tun?

Ihre Augen zuckten zeilenweise über den Bildschirm und ihre Augenbrauen zogen sich zusammen.

Das ist doch ein Ereignisbericht von Shougo Makishimas Anschlag auf die Hyper Oats Fabrik im Jahr 2113. Die Frage stellt sich wirklich. Wie sind sie an die Informationen gekommen?

Als Inspektorin hatte Mika Zugriff zu den Akten über Makishimas Tod gehabt. Aber wer sollte sonst davon wissen?
 

Sie las den letzten Abschnitt des Artikels und schluckte...

“Tomomi Masaoka starb, weil er sein Leben gab. Nicht sein Leben als Vollstrecker. Nicht sein Leben als latenter Verbrecher, sondern sein Leben als Vater - aus Liebe zu seinem Sohn. Und nun frage ich euch alle dort draußen: welche Farbe hatte er?”

Unter dem Artikel hatten bereits Kommentarschreiber begonnen ihre Meinung zu äußern.

Wiz-Key: “Dass man davon nichts gehört hat. Gab es denn kein offizielles Begräbnis?“

What-Ka: “Du weißt doch wie Sibyl mit seinen Jagdhunden umgeht. Wenn sie sterben, dann ist es eben so. Man verscharrt sie im Dreck und fertig.”

Gin of the Lamp: “Daran sehen wir wieder, dass man die Ehre eines Mannes nicht an seinem Kriminalkoeffizienten erkennt.“

What-Ka: “Das glaubte Sibyl nur leider nicht.“

Sherry Blossom: »snorting« “Sibyl glaubte auch, dass es heute schneien würde.”
 

Mika musste darüber den Kopf schütteln.

“Es ist ja nicht so”, äußerte sie, “dass sie nun schlecht über ihn gesprochen hätten.”

“Ich weiß.“ Ginoza ließ die Schultern hängen. “Ich weiß das. Darum geht es auch nicht. Es geht darum, dass sie etwas nehmen, das sie nichts angeht und sich das Maul darüber zerreißen. Etwas, das-” Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar. “Etwas, von dem ich wollte, dass es nur mir allein gehört.”

“Ich verstehe”, antwortete Mika.

Ginoza wartete… auf einen herablassenden Kommentar, eine Beleidigung oder eine bissige Anmerkung. Aber sie sagte nichts weiter darauf. Er hatte auch keinen Sarkasmus in ihrer Aussage hören können - so als konnte sie es wirklich verstehen.

“Meiner Meinung nach”, erklärte sie, “gibt es nur drei Möglichkeiten wie sie an dieses Wissen gekommen sein können: Die Erste und Wahrscheinlichste ist, dass sie sich Zugang zu den Aufzeichnungen der Kameras in der Hyper Oats Fabrik verschafft haben. Die Zweite und weniger Wahrscheinliche ist, dass sie Zugriff auf die Polizeiakten hatten. Die Dritte und Unwahrscheinlichste ist, dass einer von ihnen damals dabei gewesen war.”

“Glaubst du, dass die Betreiber dieser Plattform zu Wraith gehören”, fragte Ginoza.

“Das werden wir wohl erst dann wissen, wenn wir uns in das CommuField begeben haben.“

Ginoza nickte.

“Tsunemori wird sich im CommuField umsehen, sobald ihr neuer Avatar fertig ist.”

“Nein, das dauert zu lange”, widersprach Mika, “Ich gehe mit meinem Avatar hinein, der ist weniger bekannt und fällt nicht gleich auf.“

“Was”, zischte sie verärgert, als sie bemerkte, dass Ginoza sie anstarrte, “Du glaubst nicht, dass ich einen Avatar im CommuField habe? Nun, im Gegensatz zu dir habe ich noch ein Leben außerhalb der Arbeit, Vollstrecker!”

Sie hatte den Vollstrecker am Ende bewusst betont, mit den Fäusten in den Hüften und roten Wangen.

Dann drehte sie sich ohne ein weiteres Wort auf dem Absatz um und stampfte an ihren Platz.

Ginoza konnte nur den Kopf schütteln über das, was sich da eben ereignet hatte.
 

Nach Ginozas Entdeckung ging Abteilung 1 auf die Jagd nach Spuren zu L. Coholic, dem Urheber des Portals.

Akane beteiligte sich daran und suchte, die Augen an den Bildschirm geheftet, nach verwertbaren Hinweisen.

Nachdem sie den Artikel über den alten Masaoka gelesen hatte, war sie noch viel begieriger darauf, einen Verantwortlichen zu überführen.

Sie überflog gerade einen Artikel aus dem Portal, der sich mit möglichen Sicherheitslecks in den Leitsystemen von Militärdrohnen befasste, als ihr gleich drei Dinge gleichzeitig auffielen.
 

‘Japan auch im Jahr 2117 größter Exporteur von Militärdrohnen’, las sie den Titel eines Artikels.

‘Sibyl-Experte bestätigt: Anti-Dominator-Drohnen kein Mythos!’, lautete der Titel des Zweiten.

Dazu gesellte sich die Erinnerung an das, was Shoichi Yakuda im Verhör gesagt hatte.

Im CommuField sprach mich jemand an, der sich Spectre nannte, hatte er erklärt.

“An alle”, rief sie in den Raum, “sucht bitte im CommuField nach einem User, der sich Spectre nennt. Er hat keinen Avatar, nur ein Logo auf dem ‘voice only’ steht.”

“Natürlich” Nun traf auch Ginoza die Erkenntnis, “Das war dieses Wraith-Mitglied, von dem Yakuda gesprochen hatte.”

“Bin schon auf der Suche danach”, bestätigte Yayoi die Anweisung ihrer Inspektorin.
 

Akane wandte sich daraufhin den Artikeln zu deren Titel sie stutzig gemacht hatten.

“Japan der größte Exporteur von Drohnen”, murmelte sie zu sich selbst, “Das ist doch Unsinn. Sibyl hat alle Im- und Exporte abgebrochen, als es offiziell für ganz Japan ans Netz ging.”
 

Unser guter Freund und Forschungsgenosse, What-Ka, hat sich einmal im Darknet umgesehen und herausgefunden, dass 60 % aller militärischen Drohnen, die im jahr 2117 in Umlauf gingen, von ein und demselben Unternehmen vertrieben wurden. Der Name dieses Unternehmens lautet Equiretra, ein auf K.I. spezialisierter Konzern mit 12 bekannten Niederlassungen auf der Welt.

Unsere Recherchen in Vietnam, Korea, China, Indien und Taiwan aber ergaben, dass es sich bei 11 der 12 Unternehmen um Fake-Firmen handelt. Die Fabriken, in denen gefertigt werden soll, stehen schon seit Jahren leer.

Nur eine einzige Fabrik ist tatsächlich in Betrieb. Diese befindet sich - wen wundert es - auf koreanischem Boden und steht offiziell unter der Leitung der SEAUn.

Inoffiziell ist diese Fabrik jedoch schwer bewacht und wird augenscheinlich nur von Maschinen betrieben. Die Scans, die zur Kontrolle der ein- und ausgehenden Drohnen erfolgen, ähneln sehr stark den kymatischen Scans des Sibyl-Systems.

Das wäre zunächst nicht weiter bedenklich, wissen wir doch alle, dass sich die SEAUn inzwischen unter Sibyls Kontrolle befindet.

Bedenklich daran ist nur, dass von diesem Unternehmen aus Drohnen, die eben solche Scans durchführen können, über die ganze Welt verteilt werden.

Und wie weit ist es schon von einer Militärdrohne bis zu einem Computersystem, mit dem man das Sibyl-System selbst über die ganze Welt verteilen könnte?

Unsere weiteren Forschungen, liebe Leser, widmen sich der Suche nach einer Antwort.
 

Akane hatte gar nicht bemerkt, wie sie an ihrem Daumennagel kaute, während sie las.

“Was soll das sein? Das Geschwätz von Verschwörungstheoretikern? Wenn das wahr wäre, dann-“

Sie wurde von Mika unterbrochen.

“Tsunemori-Senpai, finden Sie es nicht etwas… unreif mit sich selbst zu sprechen”, fragte sie in respektvollem Ton, der nicht ganz ernst gemeint klang.

“Herbert George Wells hat gesagt: Interessante Selbstgespräche setzen einen klugen Partner voraus”, schoss Akane zurück und wandte sich gleich wieder ihren Überlegungen zu, ohne zu bemerken, dass Mikas Ohren wutrot geworden waren.
 

Stattdessen hatte sie bereits den zweiten Artikel aufgerufen.
 

Lange schon gab es Spekulationen um militärische Superdrohnen. Solche, die dem Urteil des Dominators trotzen und damit dessen tödlichste Version, den Destroy Decomposer, nutzlos machen können.

Wir traten in Kontakt mit Senju Midari, einem der führenden Programmierer des ursprünglichen Sibyl Systems, der heute als Exilant in Singapur lebt und baten ihn um eine Einschätzung.

Nach seinen Informationen hatte es einmal eine geheime Operation des Militärs in Zusammenarbeit mit dem Sibyl System gegeben, bei der Drohnen ein Chip eingebaut wurde, der den Scan durch den Dominator blockierte und eine Fehlermeldung auslöste. Somit bliebe der Auslöser gesperrt und der Dominator wäre unbrauchbar.

Nach Midaris Aussage wurden diese Drohnen für den Fall hergestellt, dass Dominator gehackt werden oder Fehlfunktionen aufweisen könnten.

Seitdem aber das System absolut überzeugt von der Unfehlbarkeit seiner Scans ist, wurde die Herstellung solcher Chips gestoppt und die bereits gefertigten Drohnen wurden stillgelegt.

Genauso wie bei der Entsorgung radioaktiver Brennelemente bleibt aber das Unbehagen. Es stellt sich die Frage: Was wäre, wenn solche Drohnen plötzlich wieder auftauchen?

Sind die Menschen sich dieser Gefahr bewusst oder noch viel wichtiger: Ist sich Sibyl dieser Gefahr bewusst?

Möglicherweise müssen wir alle bald erkennen, dass das Vertrauen in ein unfehlbares System unser größter Fehler sein könnte.
 

Statt ihres Daumens war es nun wieder ihre Unterlippe, die zwischen ihre Zähne geriet.

Ein Chip, der einen Fehler auslöst. Ob der maskierte Wraith so einen Chip getragen hat? Das würde erklären, warum der Dominator ihn nicht scannen konnte. Und hatte Wraith beim Überfall auf den Materialtransport nicht Antriebseinheiten von Drohnen gestohlen? Sie werden doch nicht vorhaben-

Wieder wurden ihre Gedanken unterbrochen, diesmal von Yayoi.

“Unglaublich wie dreist diese Leute sind.”

“Was ist denn”, wollte Teppei wissen.

“33 registrierte Besuche gab es auf einen User namens Spectre allein in diesem Monat. Ganze 20 davon auf dem Portal von L. Coholic. Die machen sich nicht einmal die Mühe ihre Spuren zu verwischen.”

“Dann ist es offiziell. Ich gehe ins CommuField, sobald Karanomori-san-”

“Nein”, unterbrach Mika, “Ich meine: ich wollte vorschlagen, dass ich mich mit meinem Avatar auf das Portal begebe und dort nachforsche, weil das schneller geht und weniger auffällt.”

Akane blinzelte wegen des energischen Ausbruchs ihrer Stellvertreterin.

“Ähm… ja sicher. Wenn Sie meinen, übernehmen Sie die Aufgabe, Shimotsuki-san”, stimmte sie zu.

Mika nickte lediglich zum Dank für die Erlaubnis.

“Ich überlasse dann alles weitere Ihnen. Ginoza-san” Er wandte ihr den Kopf zu, “Kommen Sie dann?”

Er runzelte die Stirn.

“Und wohin genau?”

“Ich dachte einfach”, erklärte Akane, “es könnte gut sein, wenn wir heute etwas früher gehen. Natürlich nur, wenn das für die anderen in Ordnung geht.”

Yayoi hatte den Gesichtsausdruck, den Akane dabei hatte, richtig interpretiert.

“Ich denke, das ist eine gute Idee. Und das denken die Anderen sicher auch”, sagte sie beipflichtend.

Teppei zuckte die Schultern, Sho schwieg und Mika schnaubte wohl leise vor sich hin, sagte aber nichts, da sie wohl froh war, die Führung übernehmen zu können.
 

“Sagst du mir jetzt, wohin die Reise geht”, drängte Ginoza, als er versuchte mit Akanes Schritt mitzuhalten, als sie zum Parkdeck eilte.

“Vielleicht sollten wir Masaoka-san heute bereits besuchen. Sie sollten von all dem hier den Kopf frei bekommen. Sonst könnte sich - wie Sie immer sagen - Ihr Farbton trüben.“

Dabei zwinkerte sie ihm neckisch zu.

“Darauf kommt es bei mir ja wohl nicht mehr an”, erwiderte er und hielt zum Beweis das Armband des Vollstreckers hoch.

“Nun spielen Sie nicht den harten Vollstrecker, Ginoza-san. Ich habe gemerkt, dass Ihnen dieser Artikel zu schaffen gemacht hat. Deshalb kommen Sie jetzt mit und vergessen das alles.“

“Ist das ein Befehl, Inspektorin Tsunemori”, fragte er amüsiert.

“Nun, ich möchte es nicht so formulieren, aber wenn Sie mir keine Wahl lassen... “

Sie schwiegen während der Fahrt, was Akane Zeit gab den vielen losen Fäden zu folgen, die sich um Wraith, exportierte Drohnen und die Frage nach einem möglichen Endspiel wanden.

Eine Schachpartie bestand aus der Eröffnung, dem Mittel- und dem Endspiel.

Wenn alle vorherigen Aktionen nur kleine Spielereien gewesen waren, dann war die wahre Eröffnung von Wraith der Überfall auf den Materialtransport gewesen.

Und dieser verriet mehr über Wraith als Akane zunächst bemerkt hatte.

Ein Ablenkungsmanöver für uns, rekapitulierte sie in Gedanken, um das Gleisnetz der Yamanote-Linie zu hacken und Material zu stehlen. Das erfordert sorgfältige Planung, Vorbereitung und ein hohes strategisches Verständnis. Die Drahtzieher von Wraith können also nicht alle aus Japan stammen. In einer Gesellschaft wie der, die Sibyl geschaffen hat, besteht keine Notwendigkeit für irgendjemand, Militärstrategien zu kennen.

Wer also sollte die Kenntnisse darüber haben, wenn nicht jemand, der aus dem Ausland kommt oder jemand, der im Ausland war.

Ihr Herz sank, als sie an ihren Traum dachte und ihre Lippen wollten gerade den Namen formen.

“Hey.”

Akane fuhr zusammen, als sie Ginozas Stimme hörte.

“Dieses Gesicht kenne ich. Du fügst gerade Puzzleteile zusammen.”

“Wie kommen Sie denn darauf, Ginoza-san?“

Es war eine schäbige Taktik sich dumm zu stellen, aber etwas Besseres war ihr nicht eingefallen.

“Kogami hat früher das gleiche Gesicht gemacht, wenn er Ordnung in seine Gedanken bringen wollte. Man konnte die Zahnräder in seinem Kopf praktisch sehen.“

“Bin ich ihm so ähnlich geworden”, fragte sie mit schuldhaftem Lächeln.

“Nein”, schnaubte Ginoza energisch, “und das ist auch gut so.”

Nach einer Pause, die sich für sie länger anfühlte als sie war, fragte er:

“Verrätst du mir, was du gedacht hast?”

Akane nickte.

“Wenn wir da sind.”
 

Das Grab von Tomomi Masaoka war so friedlich und unbesucht wie immer.

Es war bewusst außerhalb des flirrenden Tumultes der Stadt angelegt worden. Fort von dem Lärm der modernen Welt und hingewandt zu der Stille der Alten.

Akane hatte im Wagen warten wollen wie üblich, doch Ginoza hatte darauf bestanden, dass sie mitkommt.

So stand sie sowohl berührt als auch verlegen vor dem grauen Stein, auf dem ein einzelnes Grablicht stand und eine halbvolle Flasche “Highland Park” Whisky. Der Whisky von den Orkney-Inseln war immer Masaokas Lieblingssorte gewesen.

“Haben Sie die Flasche dorthin gestellt, Ginoza-san?”

“Immer wenn ich den alten Mann besuche, trinke ich einen Schluck auf ihn”, erklärte er nickend, während sein Blick ins Leere, vermutlich in die Vergangenheit, gerichtet war.

“Und heute nicht”, fragte sie mit einem Blick auf die Flasche.

Er wandte den Kopf ab und sie konnte schwören, dass er errötete.

“Ihnen ist es peinlich vor einer Frau zu trinken?”

Ginoza räusperte sich, um das Aufkeuchen des Ertappten zu vertuschen.

“Vor einer Vorgesetzten, Tsunemori.”

“Halten Sie sich meinetwegen nicht zurück. Sie erinnern sich vielleicht, dass ich mit Shuusei Kagari in einer Abteilung war.“

Ginoza musste lachen und entkorkte die Flasche.

“Ich will nicht, dass es herablassend klingt, aber… alle beide wären sehr stolz auf dich.”

Akane biss sich auf die Unterlippe und nickte nur, während sie den feuchten Schleier vor den Augen weg blinzelte.

Schließlich schaffte sie es mit einiger Anstrengung auch zu einem Lächeln.

“Masaoka-san hätte mir wahrscheinlich einen Klaps auf den Rücken gegeben und gesagt: ‘Lass es dir nicht zu Kopf steigen, Missy.‘“

Sie ließ einen Moment lang Stille einkehren. Dann tat sie etwas, das Ginoza noch immer nicht glaubte, als er längst wieder im Auto saß.

Sie schnappte ihm die Whisky-Flasche aus der Hand, setzte sie an und nahm einen kräftigen Schluck.

Sie verzog das Gesicht, als der Alkohol ihr den Rachen versengte, brach aber gleich darauf in glockenhelles Lachen aus, als sie sah, dass Ginoza sie angaffte wie ein Koboldmaki.

“Jetzt weiß ich, woher ihr Vater seine kratzige Stimme hatte”, scherzte sie, als sie ihm die Flasche zurück gab.
 

“Du hast mir noch nicht gesagt” - Ginoza pausierte als sie einstieg und die Tür zuschlug - “zu welchem Schluss du vorhin gekommen warst.”

“Wer in diesem Land kennt sich wohl mit Kriegs- und Militärstrategien aus?”

Ginoza blickte sie mit gerunzelter Stirn an.

“Ich verstehe nicht-”

“Überlegen Sie, Ginoza-san. Die Aktion von Wraith den Materialtransport zu überfallen. Wenn Wraith seine Mitglieder immer kurz vor der eigentlichen Aktion anwirbt, um ihren Farbton zu schonen, müssen diese Leute ein umfassendes Briefing bekommen haben.

Sie müssen jemanden gehabt haben, der das Streckennetz geprüft hat, um zu wissen, wann der Zug eintrifft.

Sie brauchten einen Hacker, der das Gleisnetz unter Kontrolle bringt, eine Einheit, die den Zugriff auf den Transporter erledigt, eine weitere Einheit, die zur Deckung da war und sie brauchten einen Plan für einen schnellen Rückzug. Unter dem Sibyl-System gibt es nur wenig Verbrechen in diesem Land. Die Kenntnis von Taktiken oder Strategien dieser Art ist damit obsolet.”

“Also haben sie entweder Verbindungen zu jemand Älterem, der noch die Zeit vor Sibyl kannte oder es befindet sich jemand in ihren Reihen, der nicht von hier stammt”, schlussfolgerte Ginoza.

“Oder jemanden, der sich im Ausland die Kenntnisse angeeignet hatte und nun zurück gekommen ist.”

Ginoza brauchte einen Moment, um das Gesagte zu verarbeiten, dann schoss der Kopf, den er in Gedanken gesenkt hatte, wieder hoch.

“Kogami?! Du glaubst, Kogami könnte ein Mitglied von Wraith sein?”

“Es wäre eine Möglichkeit. Natürlich brauchen wir mehr Informationen, um darüber Gewissheit zu haben.”

Ginoza verschränkte die Arme vor der Brust.

“Er ist besser nicht Mitglied von Wraith. Sollte ich herausfinden, dass er zu denen gehört, mache ich einen richtigen Geist aus ihm.”

Zufrieden mit diesem Aktionsplan entspannte er sich wieder.

“Da wir wieder bei Wraith sind: Konnte dir Saiga beim Enträtseln der Flasche helfen?”

“Was das betrifft, möchte ich Sie um einen Gefallen bitten, Ginoza-san; nämlich, ob wir vor unserem Rückweg noch einen kleinen Umweg einschlagen können. Saiga-san hatte mir da eine sehr interessante Adresse genannt.”

“Deswegen also wolltest du das Grab schon heute besuchen.“

Er klang dabei gekränkter als er beabsichtigt hatte.

“Das war nicht der vorherrschende Grund”, wehrte sie sich, “Ich habe das spontan entschieden.”

“Ich habe da nicht mitzureden”, gestand Ginoza ehrlich, “Du bist meine Vorgesetzte und ich darf ohne deine Begleitung ohnehin nirgendwo hin.”

Akane seufzte resignierend.

“Die Vollstrecker-Karte spielen Sie immer nur dann, wenn Sie sich um eine Antwort drücken wollen, Ginoza-san.”

“Gut, ich antworte ehrlich: Ich bin dagegen, diese Adresse aufzusuchen. Aber das wusstest du vorher schon, sonst hättest du mir eher davon erzählt. Warum mich also jetzt nach meiner Meinung fragen?”

Akane versuchte sich mit einem Lächeln zu entschuldigen.

Schließlich gab sich Ginoza geschlagen.

“Dann fahr schon los. Wenn ich mich weigere, bringst du mich nur zurück und fährst dann allein dorthin. Da komme ich doch besser mit.”
 

Der holografische Navigator in Akanes Auto hatte sie zuverlässig immer weiter nach Westen geführt - bis an die Grenze der Stadt, die von einem mit zwei Drohnen bestückten Außenposten gesichert war.

Dahinter begann das Niemandsland mit weitläufigen Feldern, auf denen die Gräser so lang wuchsen, dass sie im Wind hin und her wogten.

Bald würde auch diese Fläche der sich immer weiter ausbreitenden Stadt zum Opfer fallen.

Bis dahin aber existierten hier keine Scanner, Drohnen oder Kameras und auch der Navigator wusste hier nicht weiter.

Akane zog den Zettel Saigas hervor.

Das darauf Geschriebene war eher eine Wegbeschreibung als eine Adresse.

“Nach vierzehn Kilometern soll hier ein Hügel in Sicht kommen. Oben soll sich ein Endlager für Militärbauteile befinden. Das Safe House befindet sich zwischen den Containern. Die Kennung lautet 31-00-S2.”

“Und Saiga hat dich noch davor gewarnt herzukommen. Ein Ort, an dem Sibyl dich nicht schützen kann, an dem du eine ideale Zielscheibe für Wraith abgibst und an dem sich Bücher befinden, die nachweislich deinen Farbton trüben können… Was kann er nur dagegen gehabt haben?“

Akane verzog den Mund.

“Seien Sie bitte nicht sarkastisch, Ginoza-san.”
 

Saigas Safe House war schnell gefunden, da es das einzige Gebäude inmitten einer Spalier aus schweren Gütercontainern war.

Akane tippte den von Saiga notierten Code in das Bedienfeld neben der Tür ein, die Leuchte sprang auf Grün und mit einem Klicken sprang die Tür aus der Verriegelung.

“Ich bleibe hier draußen und halte die Umgebung im Auge”, informierte Ginoza und zog seinen Dominator, “Versuche nicht länger zu bleiben als irgend nötig.“

“Geht klar.“

Akane schloss die Tür hinter sich.

Das Haus bestand bloß aus einem wie ein Wohnzimmer eingerichteten Raum.

Einige Schränke, ein Holzstuhl, ein grüner Teppich und eine Staubschicht, so dick, dass Akane nicht wagte, wie eine gute Japanerin die Schuhe auszuziehen.

Zu ihrer Rechten führte ein kurzer Gang zu noch einem weiteren kleinen Raum, doch das war vergessen, als sie die von Saiga beschriebene Kommode in der Ecke des Raumes sah.

Seiner Anweisung versuchte sie zu folgen.

In den Jahren als Inspektorin hatte sie wohl gelernt, sich selbst zu verteidigen, doch über enorme Körperkraft verfügte sie nicht.

So musste sie sich erheblich anstrengen und die Kommode von der Stelle mehr zerren als ziehen, die Holzplatten darunter mehr aufhebeln als anheben und die besagte grüne Metallkiste mehr aus ihrem Versteck hieven als heben.

Ihr erster Blick in die Kiste fiel auf ein altes zerknittertes Buch mit dem Titel “Ovid - Metamorphosen”.

“Jedenfalls ist es alt”, rechtfertigte Akane ihre Wahl und nahm es zur Hand.

Nach einigem Suchen durch viele griechische Legenden fand sie es.

Ihre Herzfrequenz verdoppelte sich, als sie las.

“Die Sibylle von Cumae”, las sie sich selbst vor.

Plötzlich war es so als entfaltete sich die ganze Wahrheit vor ihr wie ein mittelalterlicher Wandteppich und sie verstand, weshalb Wraith nur ihr die Flasche anvertrauen konnte.

Weil nur sie Sibyls Geheimnis kannte und deshalb den Wert der Legende, die da vor ihr stand, verstehen konnte.

Gleichzeitig umfing sie ein Gefühl immenser Einsamkeit, weil sie die gewonnenen Erkenntnisse mit niemandem würde teilen können.

Weil niemand außer ihr die Wahrheit kannte und kennenlernen sollte, war sie verdammt, das alles mit sich selbst auszumachen.
 

Sie war so auf das Lesen konzentriert, dass sie ganz ihr detektivisches Gespür für Gefahr vergaß und nicht bemerkte, dass sie nicht mehr allein in dem Raum war.

Nicht mehr, weil sie versäumt hatte, den kleinen Gang und den am Ende liegenden Raum zu prüfen.

Es war erst die lautlose Bewegung der Holzbretter unter ihr, die ihr verriet, dass jemand hinter ihr stand.

Ginoza müsste seine Anwesenheit nicht verbergen.

Ihr Dominator befand sich immer noch im Holster an ihrer Hüfte. Ihn zu ziehen war es bereits zu spät, wenn die andere Person bereits eine Waffe auf sie gerichtet haben sollte.

Was sie aber anstelle einer Kugel oder eines Schlages als Erstes traf, kam völlig unvorbereitet, als sie durch die Nase einatmete:

Der Geruch von Gras, von Leder und - darüber dominierend - absolut zweifellos der Geruch von Spinel-Zigaretten.

“Sieh an, eine Inspektorin, die ihre Deckung vernachlässigt”, stellte eine amüsierte Stimme fest.

Das tiefe, warme Timbre der Stimme weckte für Akane die Geister der Vergangenheit.

“Kogami-san.”

Pandoras Büchse

13. Juli 2117

Angkor Wat, Kambodscha
 

Sibyl gab den Menschen Sicherheit.

Das war ein Gedanke, der ihm kam, als er in der tropischen Hitze durch das hohe Gras auf den Haupttempel von Angkor Wat zusprintete - ungesehen, nur gefolgt von den steinernen Blicken der Götter und Dämonen des alten Khmer-Volkes.

Seit er die sicheren Grenzen Japans verlassen hatte, musste er vermeiden, gesehen zu werden, wann immer es ging.

Sibyl gaukelte den Menschen eine Sicherheit vor, in die sie sich einspinnen konnten wie eine Raupe in ihren Kokon.

So viel Ordnung, so viel Ruhe, so viel Sicherheit, dass es Geist und Körper träge machte, unfähig zu fliehen oder sich zu wehren.
 

Flucht ist keine Option, dachte Kogami. Trotzdem konnte er nicht leugnen, dass das Herz in seiner Brust lauter hämmerte als sonst. Während der Rest seiner Leute im Lager in Phnom Penh geblieben war, sollte er sich in der verlassenen Tempelruine auf die Jagd nach Subadachan machen.

Dessen letzte bestätigte Sichtung soll in Angkor Thom gewesen sein, etwa einen Kilometer nördlich von hier.

Seitdem Präsident Han die Wahl gewonnen hatte und Südostasien in die Klauen des Sibyl-Systems gefallen war, wurde das Gebiet nördlich der Hauptstadt zum Sperrgebiet erklärt und die bisher starken Touristenströme nach Angkor Wat versiegten.

Die Hauptstadt Phnom Penh war technisch noch nicht gut genug aufgestellt, um das Sibyl-System vollständig zu übernehmen, weshalb man sich an den richtigen Orten noch immer gefahrlos aufhalten konnte.
 

Kogami blieb stehen. Er hatte ein rostiges Schild passiert, das vor Guerilla-Kämpfern und Warlords in der Umgebung warnte, hatte zwei Treppen zu einem höheren Plateau erklommen und horchte nun.

Um ihn herum lagen die Eingänge in den Tempelkomplex.

Tiere, Blätterrauschen, Steinchen, die in tiefere Ebenen fielen und sein eigener gehetzter Atem waren alle Geräusche, die in der dunstigen Luft zu hören waren.

Dann ertönte ein Pfiff. Zunächst war nicht klar, ob von einem Tier oder Menschen.

Darauf folgte dann eine Stimme.

“Söhnchen!”

Die Stimme des Mannes hallte von allen Wänden wider, so dass unmöglich zu bestimmen war, woher sie kam.

Die Handgriffe, die Kogami ausführte, waren alle Routine: Waffe ziehen, entsichern und die Sinne nur auf die Umgebung konzentrieren.

“Wenn sie kommen - und sie kommen immer - schicken sie ein ganzes Bataillon, bestehend aus zwölf Militärdrohnen und einer 30-Mann starken Fußtruppe mit Sturmgewehren, mit Panzerfäusten, mit Granatwerfern, mit Miniguns, mit Lasern und allem, was das Herz begehrt, nur um Mich zu erwischen.”

Der Mann machte eine Kunstpause.

“Und du kommst hierher: ganz allein, nur mit Marschausrüstung und Handfeuerwaffe. Ich bin gerade nicht ganz sicher, ob ich nun beeindruckt oder beleidigt sein soll.

Entweder deine Leute in Phnom Penh haben übermenschlich großes Vertrauen in dich…” Wieder eine Kunstpause.

“...Oder sie können dich nicht mehr leiden und wollen dich loswerden.”

Da Kogami nur annehmen konnte, dass der andere seine Position sowieso bereits kannte, rief er:

“Du bist also Subadachan!”

“Zumindest so lange, bis mir der Name nicht mehr gefällt und ich mich entschließe, einen anderen zu tragen, ja.

Ein Name verbreitet sich schneller als ein Ruf, Söhnchen. In ganz Siem Reap zerreißen sie sich schon das Maul über Shinya Kogami. Sie nennen dich den weißen Wolf, einen furchtlosen Jäger. Du sollst auch Desmond Rutaganda in Shambala kalt gemacht haben.”

“Und wenn”, fragte Kogami, während er noch immer versuchte, die Position des Mannes zu bestimmen.

“Ist ein Jammer. Er und seine Leute waren gute Kunden.”

Kogami grinste, diesmal wie ein wirklicher Wolf.

“Erwartest du, dass ich mich bei dir entschuldige?“

“Nein”, antwortete Subadachan, “Ich erwarte nur, dass du stirbst. Denn deshalb sind wir beide doch hier, nicht wahr? Ein kleiner Showdown für zwischendurch?”
 

Kogami wusste, dass dies der Moment war. Entweder würde Subadachan fliehen wie üblich oder angreifen.

Deshalb war er wider die Einwände seiner Leute allein gekommen - um den Drogenboss zum Angriff zu bringen.

Trotz all seiner Jahre in der Wildnis und im Kampf bemerkte er den Mann zu spät.

Er erschien plötzlich aus einem Torbogen keine zwanzig Meter vor Kogami, während dieser sich dem Osttrakt zugewandt hatte.

Obwohl der kleine Asiate vier Stufen auf einmal herunter sprang, verursachte er beim Aufkommen nicht mehr Geräusch als ein trockenes Blatt, das auf den Steinboden fiel.

Als Kogami ihn aus dem Augenwinkel heran stürmen sah und seine Waffe in diese Richtung lenkte, erkannte er, dass der schwarze Stock in der rechten Hand des Mannes ein Katana war, das nun eben aus seinem Schaft glitt.

Subadachan hatte bereits zu Sprung und Schlag angesetzt und Kogami wusste, dass er die Pistole nicht mehr rechtzeitig in Schussrichtung bekam, bevor das Schwert seinen Unterarm abtrennte.

Er wich schnell zurück und parierte den Schlag mit der Pistole selbst.

Da riss Subadachan - das Moment des Aufpralls nutzend - sein rechtes Bein hoch und trat gegen die Rückseite der Klinge.

Mit dem linken Arm konnte Kogami nicht dagegen halten, das Schwert drang durch seine Verteidigung und die Spitze streifte seinen Hals auf Höhe der Schlagader.

Noch bevor er sein Gleichgewicht wiederfinden konnte, hatte sein Gegner sich um sich selbst gedreht und einen Tritt gegen Kogamis Körpermitte gelandet.

Noch im Fallen riss Kogami das Metallschild mit sich und stürzte drei Stufen hinab.

Der Aufprall presste ihm die Luft aus den Lungen und ließ keine Zeit sich zu sammeln.

Schrecken durchzuckte ihn, als er die Waffe in seiner Linken nicht mehr fand.

Ein Blick nach oben und er sah die Pistole - in Subadachans linker Hand, wie sie sich gerade auf die Stelle zwischen seinen Augen zubewegte.

Subadachan lächelte ohne großen Triumph, als enttäusche ihn wie einfach das gewesen war.

Kogami sah mit einem Mal Akane vor sich.

Wie sie ihm mit zornigen Tränen in den Augen irgendetwas zurief.

Er wusste nicht, wann er sie schon einmal so gesehen hatte, wenn überhaupt, doch er wusste, dass es hier nicht enden durfte.

Noch ehe der Schuss durch den Tempel peitschte, riss er das Schild hoch und betete zu Vishnu, er möge ein Wunder tun.

Tatsächlich geschah, was Kogami nie für möglich gehalten hätte, die Kugel blieb in dem alten Schild stecken.

Nur Sekunden später explodierte gleißender Schmerz in seiner rechten Schulter, als Subadachans Katana, das dieser wie einen Speer geworfen hatte, das Schild und auch seine Schulter durchschlug.

Auch ohne die Augen zu öffnen, wusste er, dass Subadachan bereits wieder auf seinen Kopf zielte und diesmal würde er wohl nicht so viel Glück haben.

Das metallische Klicken, das Sekunden später durch die Stille des Tempels hallte, überraschte ihn wohl ebenso sehr wie Subadachan selbst, denn als er hinsah, war sein Gegner gerade dabei, die Pistole zu inspizieren.

“Nanu”, begann er und hob den Blick zu Kogami, “hat da jemand vergessen, seine Waffe nachzuladen? Böse, böse. Aber Glück für dich. Dann geht unser Showdown wohl unentschieden aus. Behalt das Schwert als Andenken, Söhnchen und gib es mir beim nächsten Mal wieder.”

Subadachan winkte ihm noch zu, dann warf er ihm die leere Waffe hin und spurtete davon.

Shinya Kogami saß noch eine Weile dort, ein rostiges Schild mit feststeckender Kugel in den Händen, die ersten zehn Zentimeter eines Katana in der Schulter und konnte nicht recht glauben, dass er immer noch lebte.

Seine Gedanken schossen wie die Verästelungen eines Blitzes in alle Richtungen und verdichteten sich erst nach und nach auf einen festen Punkt - eine Nachricht, die er zwei Wochen nach seiner Flucht von den Hyper Oats Feldern erhalten hatte.

Sogar diese Begegnung mit Subadachan hatte er überlebt. Offenbar sollte er noch nicht sterben. Und in eben diesem Moment fasste er einen Entschluss, einen Entschluss, was er mit dem Rest seines Lebens anfangen wollte.
 

Dienstag, 08. November 2118

Safe House 31-00-S2
 

“Kogami-san” Der Name kam Akane als ein kaum hörbares Flüstern über die Lippen und nun fühlte sie sich wirklich von Geistern heimgesucht.

Wie sollte sie jemals nach vorn schauen und die Vergangenheit begraben, wenn dieser Mann immer wieder auferstand?

Was würde er tun? War er ein Freund, ein Feind oder nichts dergleichen? Und was um alles in der Welt brachte ihn nach Japan zurück?

“Ich hätte nicht gedacht, dass du einmal deine Deckung vernachlässigen würdest”, unterbrach er ihre Gedanken.
 

Die Tür zum Safe House flog auf, knallte lautstark gegen die Wand und schon im nächsten Moment zielte die Mündung eines Dominators auf Kogamis Hinterkopf.

“Hat sie auch nicht”, knurrte Ginoza.
 

Kriminalkoeffizient 346.

Objekt zur Vollstreckung.

Vollstreckungsmodus ist Lethal Eliminator.
 

“Wie habe ich diese Stimme doch vermisst”, verkündete Kogami mit einem schiefen Lächeln.

“Meine”, fragte Ginoza.

“Nein, die des Dominators.”

“Ich hatte dir beim letzten Mal gesagt, dass wir dein Gesicht besser nie wieder sehen. Hast du mir nicht zugehört.”

“Auch wenn dich das traurig macht, Gino, ich bin nicht deinetwegen hier. Und wenn du so sehr wünschst, dass ich verschwinde, dann sei nicht mehr so ein Feigling, sondern drück endlich den Abzug und sieh was passiert.”

“Warten Sie, Ginoza-san”, rief Akane, die nicht sicher sagen konnte, ob Ginoza es nicht wirklich getan hätte.

“Wir müssen ihn verhaften wie wir es das letzte Mal vorhatten. Er steht immerhin im Verdacht, ein Mitglied von Wraith zu sein.”

Kogami zog dabei die Augenbrauen hoch.

“Von Wraith? Du meinst diese Randalierer. Das letzte Mal hast du mich also für einen Terroristen gehalten und nun bloß noch für einen Vandalen. Ist das jetzt eine Verbesserung?”

“Reden Sie sich nicht heraus, Kogami-san. Wraith verfügt eindeutig über strategische Kenntnisse, die in unserer Gesellschaft keinem gewöhnlichen Menschen zugänglich sind”, hielt sie ihm vor.

Ihr ehemaliger Vollstrecker verschränkte die Arme.

“Hast du schon erwogen, dass sich Wraith diese Kenntnisse schlicht angelesen haben könnte? Wenn diese Leute in den Kreisen verkehren, die man vermuten kann, dann haben sie leichten Zugriff zum Darknet und dort finden sie alles: alle Informationen und Kenntnisse, die sie brauchen.

Aber ihr gebt wohl nur wenig darauf, wenn ich versichere, dass ich nichts mit denen zu tun habe.”

“Verdammt richtig”, grollte Ginoza, “Wir nehmen ihn am besten mit und führen an ihm einen Memory Scoop durch, dann haben wir Gewissheit.”

“Und wenn ich euch sage, dass ich erst seit zwei Wochen wieder im Land bin”, fragte Kogami, während er in seiner Tasche vergeblich nach einer Zigarette suchte, “Wraith ist, soweit ich gehört habe, bereits seit mindestens einem Monat aktiv.”

“Sie könnten auch erst kürzlich zu ihnen gestoßen sein. Übrigens, hier.”

Akane hielt ihm plötzlich etwas hin, das Kogami erst beim zweiten Blick als eine Spinel-Zigarette erkannte.

“Woher-”

“Fragen Sie nicht, nehmen Sie sie”, unterbrach ihn Akane, “Betrachten Sie sie als die letzte, die Sie für lange Zeit bekommen. Denn wenn wir mit dem Memory Scoop fertig sind, werden Sie ziemlich sicher in Isolationsverwahrung kommen.”

“Das glaube ich weniger”, warf Ginoza plötzlich ein.

“Ich auch”, stimmte Kogami unerwartet zu und Ginoza fuhr fort:

“Bei einem Kriminalkoeffizienten wie seinem wird Sibyl fordern, dass er umgehend beseitigt wird, sobald wir alle nützlichen Informationen aus ihm heraus bekommen haben.”

Kogami hatte sich seinem früheren Freund zugewandt und sah nicht wie Akane sich auf die Unterlippe biss.
 

“Ich möchte euch etwas vorschlagen”, begann Kogami erneut und sprach sofort weiter, als er Ginozas Blick sah, “und lass mich erst aussprechen, bevor du Nein sagst, Gino. Ich bin hier, weil ich einen Mann suche, der viel gefährlicher und viel schädlicher für diese Gesellschaft ist als ich. Wenn ihr mir helft, ihn zu fassen, komme ich danach mit euch und ihr könnt tun, was immer Sibyl will, das ihr tut.”

“Und wer soll dieser Mann sein”, fragte Akane.

“Hör nicht auf ihn, Tsunemori. Das ist nur ein Bluff, um seine Haut zu retten.”

Nein, dachte Akane, das passt genau zu Kogami-san. Das Wichtigste ist es, die Mission zu erfüllen, auch wenn er am Ende dabei umkommen sollte.

Ginoza ignorierend, wollte Kogami gerade antworten, als ein Knarzen und Rauschen am Gürtel seiner grünen Cargohose die Aufmerksamkeit der drei auf sich lenkte.

Eine Sekunde später ertönte eine krächzende Männerstimme am anderen Ende der Leitung.

“Yoko kommen… Yoko kommen… Yoko-”

Kogami riss das Sprechgerät von seinem Gürtel und hielt den Knopf für die Übertragung gedrückt.

“Ich höre dich, Hue. Was gibt es?”

Zwischen weiterem Knacken und Rauschen hörten sie den Mann wieder.

“Ich weiß ja nicht wie viel Zeit ihr Ladies für euer Häkelkränzchen eingeplant hattet, aber das halbe Dutzend Militärdrohnen, das da gerade von Südwesten anrollt, macht den Eindruck, als wollte es eure Party platzen lassen. Und wenn ihr nicht als Cocktailwürstchen enden wollt, schlage ich vor, dass ihr nun ganz schnell eure Stulpen unter die Arme klemmt und rennt.”

Akane zog die Stirn in Falten.

Der Mann hatte wohl Japanisch gesprochen, jedoch mit starkem amerikanischem Akzent und einer so grotesken Wortwahl, dass sie noch immer nicht ganz verstand, was er gewollt hatte.

“Wir müssen weg!”

Kogami eilte zu einem der Schränke, riss die Tür auf und kramte eilig einige Dinge heraus, von denen Akane nicht erkannte, was es war.

Aber sie kannte diesen Blick in seinen Augen. Die Ruhe, die er normalerweise ausstrahlte, war fort. Nun wirkte er wieder wie ein Jagdhund.

“Wärst du wohl so gut, uns zu sagen, was hier vorgeht”, verlangte Ginoza und machte einen drohenden Schritt auf ihn zu.

Kogami hielt inne.

“Es scheint so” - Er machte eine Pause, holte tief Luft und fuhr sich mit der Hand durch sein wie üblich struppiges schwarzes Haar - “als hätte der Mann, den ich finden wollte, uns zuerst gefunden. Wir müssen hier weg, bevor er hier ist.”

Und schon war er in Richtung Tür unterwegs.

“Verdammt, Kogami! Das ergibt überhaupt keinen Sinn”, fluchte Ginoza, “Du hattest vorhin noch gesagt, du wolltest diesen Mann fassen.”

Kogami wirbelte herum und Akane sah etwas in seinen Augen, das sie darin nur sehr selten gesehen hatte, wenn überhaupt jemals zuvor: Furcht.

“Aber nicht ohne Plan, Gino. Nicht ohne ein halbes Dutzend Militärdrohnen auf unserer Seite und am besten noch alle Vollstrecker aus Einheit eins bis drei.”

Er ließ mit einer Bewegung seiner Schulter den Rucksack von seinem Rücken rutschen und suchte darin nach etwas.

“Hier, nimm das.”

Er hielt Ginoza ein Fernglas hin.

“Geh nach draußen und halt damit nach allem Ausschau, was verdächtig aussieht. Wenn du etwas entdeckst, schieß! Denk nicht nach, ziele einfach und schieß.”

“Ich lasse mir nichts sagen von-”

“Ginoza-san!”

Er riss den Kopf herum und begegnete dem flehenden Blick seiner Vorgesetzten.

“Würden Sie das tun? Bitte?”

Ginoza wandte sich schwer seufzend von ihr ab und riss Kogami das Fernglas aus der Hand.

“Halt damit nach allem Ausschau, was verdächtig wirkt, nicht nur nach den Drohnen”, forderte Kogami.

Ginoza antwortete nicht, sondern stampfte nach draußen.

Kogami warf sich den Rucksack über, hängte sich das Sturmgewehr, das kurz zuvor noch an der hinteren Wand gelehnt hatte, über die Schulter und eilte zusammen mit Akane hinaus.
 

Sie hielt inne, als sie herauskam. Die Nachmittagssonne senkte sich bereits dem Abend entgegen und von hier oben war der Ausblick unvergesslich. Das Gras der Felder sah nun beinah golden aus und wurde immer wieder in Wellen von dem Wind bewegt wie Wasser von einem geworfenen Kiesel. Und weit in der Ferne wirkten die Türme der Stadt wie ein Wald aus glitzernden Stalagmiten unter Wolken, die brennenden Wattebäuschen glichen.

“Gino, siehst du etwas?”

Ginoza hielt das Fernrohr gen Süden.

“Nein, die Drohnen sehe ich nicht und auch sonst ist da nichts- Warte.”

Kogami, der schon fast erleichtert die Schultern sinken lassen wollte, verspannte sich wieder.

“Da kommt eine kleine schwebende Reinigungsdrohne auf uns zu… und... auf ihr steht ein Mann.”

Ginoza sagte das, als wolle er sich selbst davon überzeugen.

Kogami schnappte ihm das Fernglas weg, stellte aber fest, dass er es bereits mit bloßen Augen sehen konnte.

Eine schwebende Müllsammlerdrohne, auf der ein kleiner Asiate stand; einer mit grünem, goldverziertem Gewand, ein Katana im schwarzen Schaft wie einen Spazierstock neben sich und mit langem, im Wind wehendem schwarzem Kinnbart.

Die blutrote Iris seiner Augen konnte er aus der Entfernung nicht sehen, aber er ahnte sie.

“Wie weit ist es bis zum Auto?”

Ginoza und Akane blickten einander an.

“Etwa fünf Minuten den Weg dort runter”, antwortete Akane.

Kogami fluchte etwas auf Chinesisch, das sie nicht verstand.

“Das ist zu lang, er ist vor uns hier.”

“Ja, aber wir sind zu dritt und er hat nur einen Stock”, gab Ginoza verständnislos zurück.

“Das ist kein Stock. Und glaub mir, Gino, es würde nicht einmal reichen, wenn wir zu zehnt wären. Wenn er zu nah kommt, erschieß ihn mit dem Dominator.”

Kogami drehte sich zu seiner ehemaligen Inspektorin um.

“Du läufst los und holst den Wagen. Wenn Gino ihn nicht erwischt, versuche ich, ihn weg zu locken.”

“Kommt nicht in Frage, Kogami-san”, widersprach Akane kopfschüttelnd, “Sie warten doch nur darauf, das Ginoza-san abgelenkt ist, um dann fliehen zu können.”

Sie wusste, dass er nie so handeln würde, doch sie wollte sich nicht wegschicken lassen.

“Ich habe Gino damals gegen Rutaganda nicht im Stich gelassen und ich werde es auch jetzt nicht”, konterte er gekränkt.

“Gut”, antwortete sie, “und ich darf meinen Vollstrecker nicht unbeaufsichtigt lassen.”

Seinerseits den Kopf schüttelnd, nahm Kogami das Funkgerät zur Hand.

“Hue, komm endlich her und hilf uns! Er ist hier, verstehst du? Subadachan ist hier!”

“Heul nicht, ich bin unterwegs”, krächzte es vom anderen Ende der Leitung.

Subadachan sprang von der Reinigungsdrohne und beide Seiten standen einander gegenüber, zunächst noch im Abstand von etwa 30 Metern.

Ginoza hoffte bis zuletzt, dass der Mann die Gefahr ahnen und umkehren würde.

Doch der Asiate marschierte plötzlich auf sie zu, immer schneller werdend, bis er rannte.

Akane hätte beinahe den Kopf geschüttelt wie jemand, der von den Fähigkeiten eines Dominators wusste, darauf zu rannte als sei er nicht in Gefahr.

Ginoza zielte.

Kriminalkoeffizient 4810.

Objekt zur Vollstreckung.

Vollstreckungsmodus ist Lethal Eliminator.

Das muss doch ein Fehler sein, schoss es Ginoza durch den Kopf.

“Gino schieß!”

Das war Kogami. Der Asiate war nahe genug gekommen.

Ginoza drückte ab.

In dem Augenblick, da sein Finger den Abzug drückte, vollführte sein Gegner einen beeindruckenden Sprung mit einem aus der Bewegung genommenen Spin, so dass er - sich wie eine Schraube drehend - in der Luft lag.

Der Schuss des Lethal Eliminator war unsichtbar wie ein Lufthauch.

Einer, der erst in der Drastik des Tötens seine Kraft zeigte - nämlich, wenn die Haut des Getroffenen Blasen warf und sich aufblähte, wenn die Flüssigkeit in den Zellen verdampfte und den Körper erst unnatürlich anschwellen und dann platzen ließ wie einen Wasserballon aus Blutplasma und verkochten Eingeweiden.

Während Akane bereits wusste, dass der eben abgegebene Schuss längst hätte wirken müssen, geschahen mehrere Dinge gleichzeitig.

Ginoza schrie, von irgendetwas getroffen, auf und ging in die Knie, Kogami fluchte und stellte sich vor Akane. Ihr Gegner machte einen weiteren Sprung und trat mit dem rechten Fuß auf Ginozas rechte Schulter, stieß sich ab und rammte Ginoza im selben Augenblick den Schaft des Katana in den Nacken.

Zum zweiten Mal in seinem Leben wusste Kogami, dass seine Waffe nicht rechtzeitig in Position wäre.

Diesmal nur deshalb, weil er mit seinem Sturmgewehr auch Ginoza zu treffen riskiert hätte.

Zum zweiten Mal parierte er das Katana seines Feindes mit dem Lauf seiner Waffe... und zum zweiten Male war er nicht schnell genug für eine Reaktion, als ihm Subadachan im Zuge des Angriffs das Magazin aus dem Gewehr riss und sich mit einem Tritt gegen seine Hand von ihm abstieß.

Akane sah ihre Chance zum Schuss gekommen, als Kogamis Widersacher wieder am Boden landete.

Doch Subadachan warf das dem Sturmgewehr entrissene Magazin mit beachtlicher Kraft und traf Akane am Handgelenk.

Akane bekam den fallenden Dominator nicht mehr zu fassen und sprang ihm nach, verlor so aber die Konfrontation zwischen Kogami und seinem Gegner aus den Augen.

Gerade hatte sie die Finger nach dem Griff ihrer Waffe ausgestreckt, als sie die Spiegelung ihrer Augen in der blanken Klinge eines Katana sah.

“Liegen lassen”, befahl der Mann, der das Schwert hielt.

Akane hörte Kogami stöhnen und sich wieder aufrichten.

Sie selbst blieb in derselben Position - erstarrt wie eine letzte Bewohnerin von Pompeji in den Fluten des Lahar.
 

“Hör mal, Söhnchen”, sprach Subadachan, “Ich bin im Grunde ein fairer Kämpfer. Die Kleine und der da drüben können gerne gehen. Ich bin nicht ihretwegen hier.

Du bist der einzige, der diesen Ort nicht in einem Stück verlassen wird. Komm schon: Sei der Held, der du immer sein wolltest. Schick sie weg und stirb allein.”

Sag nichts, befahl Akane in ihrem Kopf, bitte, antworten Sie ihm nicht!

“Er hat Recht”, hörte sie Kogami sagen, “Du wurdest schon viel zu weit hinein gezogen, Inspektorin. Nimm Gino mit und verschwinde. Wenn wir uns gegenseitig umbringen, dann sind zwei deiner Probleme auf einen Schlag gelöst.”

Akanes Kopf fuhr zu ihm herum und er sah sie so wie er sie damals in Angkor Wat gesehen hatte, als er glaubte, sterben zu müssen.

Die Augen aggressiv entschlossen, mit einer Vorahnung von Tränen und die Zähne in einer MIschung aus Zorn und Trotz zusammen gebissen, einen energischen Widerspruch auf den Lippen.

Doch sie sagte nichts. Langsam entfernte sie ihre Hand von ihrem Dominator und erhob sich.

Im Vorbeigehen vernahm er noch einmal ihre Stimme.

“Leben Sie wohl, Kogami-san”, war alles, was sie sagte.
 

Kogami hätte sich fast nach ihr umgedreht, doch er traute Subadachans Fairness nicht so weit, um anzunehmen, dass der ihn nicht von hinten erschlüge, wenn er die Chance bekäme.

“Also, Söhnchen”, fragte Subadachan, während er die Schulter lockerte und sein Schwert herum wirbelte, “Wollen wir da weitermachen, wo wir beim letzten Mal aufgehört haben?”

Kogami wandte sich seinem Rucksack zu, den er beim Kampf abgestreift hatte und zog aus einer seitlichen Lasche einen glänzenden schwarzen Schaft.

“Oh, du hast das Schwert tatsächlich aufgehoben. Hast du auch fleißig geübt?“

“Es wird meine Grabbeigabe für dich sein”, schwor Kogami.

“Das haben schon vier Dutzend vor dir gesagt.”
 

Schweiß tropfte Akane von den in ihr Gesicht hängenden Haarsträhnen, als sie Ginoza den Hang herunter schleppte.

Subadachan hatte ihm während seines Sprungs einen Dolch in das linke Bein geworfen.

Und immer war da dieser Widerstand in seiner Bewegung. Als wolle er sich mit aller Macht zum Umkehren bewegen.

“Warte”, brachte er endlich hervor, “Wir können… wir dürfen… nicht einfach…”

Sie zog ihn wieder auf die Füße und nutzte die Bewegung, um nah an sein Ohr zu kommen, damit Sibyl sie über den Dominator nicht hören konnte.

“Vertrau mir”, flüsterte sie ihm zu.
 

Kogami erkannte, dass alles Schwerttraining mit Juu-Hyan Park - einem Kameraden aus dem Lager der Shambala-Befreiungskämpfer - ihn nicht auf diesen Kampf hätte vorbereiten können.

Vielleicht hätte er doch Parks fehlende linke Hand - die Folge eines Kampfes gegen eben jenen Subadachan - bedenken sollen. Denn anders als der klassische japanische Kendo-Kämpfer führte Subadachan sein Katana mit nur einer Hand und einer Mühelosigkeit, als spiele er mit einem im Wald aufgelesenen Zweig.

Er hatte schon ebenso viele unmögliche Angriffe pariert wie er unmögliche Paraden seines Gegners gesehen hatte.

Dann kam der Stein - ein einzelner Kiesel nur, auf den er beim Zurückweichen trat und glaubte, seine Balance zu verlieren.

Nur für den Bruchteil einer Sekunde wandte er den Blick von seinem Gegner ab - und Subadachan sah seine Chance…

Noch bevor er losschlug, sah er in der Spiegelung seiner Klinge den fernen Feuerstoß, als ein Projektil seinen Lauf verließ.

Subadachan schaffte gerade noch den Satz zurück, als die Kugel dort die Luft zerschnitt, wo eben noch sein Gesicht gewesen war.

Er hielt sich hinter einem der Gütercontainer versteckt, geradezu amüsiert über Kogamis offensichtliche Frustration, dass die Kugel ihn nicht getroffen hatte.

“Hue Grant ist bei dir”, rief ihm Subadachan zu, “Diese 500er Magnum kenne ich doch. Da habe ich dir wohl zu viel zugetraut, als ich annahm, du könntest es allein über die Grenze geschafft haben, Söhnchen.“

“Hue hatte eben auch erhebliches Interesse an deinem Ableben. Ich wollte ihm dabei helfen.”

“Da haben sich ja zwei gefunden. Aber, wenn er bei dir ist, wird er dir bereits gesagt haben, dass ich nicht allein bin. In fünf Minuten werden die Militärdrohnen hier sein.

Du bist ganz allein und kommst so schnell nicht von hier weg. Ebenso gut könntest du dich in mein Schwert hier stürzen. Wenn du schon nicht ehrenhaft kämpfen kannst, könntest du zumindest ehrenhaft sterben.”

Subadachans Grinsen verbreiterte sich, als er Kogami angestrengt seine Optionen durchgehen sah.

Allerdings wurde dieses Grinsen von seinem Gesicht gewischt, als er das immer näher kommende Brüllen eines bis zum Äußersten beschleunigten Autos hören konnte.

“Ich hatte doch irgendwie geahnt, dass das passieren würde”, fluchte er.

Staubfontänen hinter sich ausspeiend, raste Ginoza am Steuer von Akanes Wagen auf den Gegner zu.

Kogami war vorsichtshalber aus dem Weg verschwunden, doch der Asiate reagierte nicht, wie Ginoza gedacht hatte.

Statt dem Wagen auszuweichen, rannte er direkt darauf zu, um im richtigen Moment zu springen, mit dem Fuß auf der Motorhaube zu landen und einen Salto über den Wagen hinweg zu machen.

Jedoch fiel Subadachan während dieses Sprungs ein fatales Detail auf.

Moment mal. Die Kleine hat gar nicht mit im Wagen gesessen. Wo steckt sie?!

Erst als er wieder am Boden landete, wurde ihm das ganze Ausmaß seines Fehlers bewusst, als direkt neben ihm eine blau leuchtende Stimme erklang.

Kriminalkoeffizient 4790.

Objekt zur Vollstreckung.

Vollstreckungsmodus ist Lethal Eliminator.

Er wandte den Kopf nach links und sah in den Lauf von Ginozas Dominator in den Händen von Akane, die hinter dem Container gelauert hatte.

“Game over“, sagte sie und drückte ab.

“Verdammte Schei-”

Der letzte Fluch Subadachans wurde durch den Einschlag des Eliminators erstickt und von einer vertrauten Explosion.

Akane, die vorsorglich ihre Augen geschlossen hatte, war jedoch überrascht, als sie nicht das Gefühl von heißem, geradezu kochendem Blut fühlen konnte, das auf sie spritzte.

Sie öffnete die Augen und von Subadachan waren nur die Schienbeine übrig. Kein Tropfen Blut weit und breit, nur der schwefelige Geruch von Hydraulikflüssigkeit.

Auch die Beine des vermeintlichen Schwerverbrechers bestanden im Inneren nur aus Kabeln, Leitungen und mechanischen Gelenken.

Sie wollte sich gerade den Kopf darüber zerbrechen, als ihre Hand gepackt und sie fortgerissen wurde.

Im Augenwinkel erkannte sie den Grund für all die Eile.

Im Licht der Abendsonne rollten aus der Richtung, aus der zuvor Subadachan gekommen war, sechs massive Militärdrohnen vor.

Die Drohne an der Spitze der Formation hatte Akane noch nie gesehen:

Ein massiger, torsoartiger Hauptbau auf zwei gepanzerten Ketten, mit vier Geschützarmen und drei roten Kameras in der Kopfpartie. Sie war doppelt so groß wie die anderen Drohnen, mitternachtschwarz und schnell.
 

Akane fand sich gleich darauf auf dem Rücksitz ihres eigenen Wagens wieder, während Ginoza bereits wie ein Besessener das Gaspedal trat.

“Fahr schneller, Gino”, schrie Kogami über das Brüllen des Motors hinweg, in dem er - den Oberkörper gedreht - nach hinten starrte.

“Sag mir nicht wie ich fahren soll!”

Gefahr! Geschwindigkeit reduzieren!

Ginoza warf einen Blick auf die Anzeige des Navigators und fluchte.

“Was ist los”, fragte Kogami, wagte aber nicht, den Kopf von der Drohne abzuwenden.

“Eine Kurve in zehn Kilometern, also in etwa fünf Minuten. Bei diesem Tempo kriegen wir die nie. Was sollen wir machen?!”

“Wir können die Drohne bitten, langsamer zu werden.”

Ginoza fletschte die Zähne.

“Ich schwöre dir, Kogami, wenn wir das hier überleben, bringe ich dich um.”

“Ginoza-san, konzentrieren Sie sich nur darauf, zu fahren. Um die Drohne kümmere ich mich”, rief Akane, ehe sie mit Kogamis Sturmgewehr die Rückscheibe ihres Wagens einschlug und den verbliebenen Dominator zur Hand nahm.

Sie richtete ihn auf die schwarze Drohne, bereits mit hämmerndem Herzen, weil sie das Ergebnis fürchtete.

Fehler! Ungültiges Objekt. Auslöser bleibt gesperrt.

Genau wie ich befürchtet hatte, dachte Akane, Das ist eine von denen. Es gibt sie also wirklich.

Kogami war derweil in eigenen Gedanken.

Sie ist jetzt vielleicht noch zwanzig Meter hinter uns und sie besitzt zwei Miniguns und zwei Panzerbrecher. Wieso benutzt sie die nicht?

Als wollte der Metallkoloss seine Frage beantworten, verlagerte er den Oberkörper nach vorn und entblößte eine eigentümliche Konstruktion auf seinem Rücken.

Und plötzlich war es Kogami, der etwas befürchtete.

“Was ist das auf ihrem Rücken, Kogami-san?“

Er riss das Funkgerät von seinem Gürtel.

“Hue! Hue, hörst du mich?!”

“Die Tonqualität entspricht einem 80er Jahre Grammophon, aber: ja.“

“Siehst du die schwarze Drohne vorn an der Formation?“

“Die böse Boss-Drohne? Ja. Beeindruckend, nicht wahr? Ich wollte so einen Negator immer schon mal in Aktion sehen“, gestand er so freimütig als sitze er gerade gemütlich in einer Kneipe.

“Bist du jetzt zufrieden?! Was ist das auf ihrem Rücken? Und sag mir bitte, dass es nicht ist, was ich befürchte.“

“Was befürchtest du denn, Yoko? Ich sehe zwei stromführende Stahlschienen und ein Wolfram-Wuchtgeschoss in der Mitte.”
 

“Scheiße!”

“Kogami-san!”

“Es ist eine Railgun, Akane”, antwortete er und hielt ihr das Funkgerät hin, damit sie Hue Grant hören konnte.

“Eine elektromagnetische Schienenkanone. Sie beschleunigt das Projektil auf 7000 Meter die Sekunde. Zum Vergleich: Der Destroy Decomposer eines Dominators schafft gerade einmal 100 in der Sekunde.”

“Wann hat sie die Waffe vollständig aufgeladen”, fragte Kogami.

Hue machte eine Pause.

“Lass mich überlegen. Diese Wunderwaffe wird keine Kondensatoren zum Aufladen benutzen, die wären zu schwer. Ich vermute, sie benutzt einen Spulenbeschleuniger, also etwa dreieinhalb Minuten bis zum ersten Schuss. Und bei der Feuerkraft braucht sie nur einen.”

“Was können-”

Kogami wurde unterbrochen, als Akane ihm das Funkgerät weg schnappte.

“Kennen Sie die Baupläne dieser Maschine?“

“Ich habe in Senju Midaris Dokumenten mal einen Blick darauf geworfen, wieso?“

“Wo befindet sich der Chip, der die Drohne vor dem Dominator schützt?”

“Ich glaube zwischen den drei Kameras, in der Mitte der Kopfpartie.“

Akane hatte den Satz nicht einmal zur Hälfte angehört, schon legte sie das Sturmgewehr an und schoss mit beachtlicher Präzision.

Die Kugeln jedoch prallten Funken stiebend an der Außenpanzerung der Drohne ab.

“Vergiss es”, meldete Hue durch das Knarzen des Funkgerätes, “da könntest du gleich Kieselsteine auf einen Güterzug werfen.”

“Hue! Das ist nicht hilfreich”, brüllte Kogami.

“Was ist mit einer EMP-Granate?”

Akanes Frage brachte selbst Ginoza dazu, den Kopf nach ihr umzudrehen.

“Die Drohne selbst hat eine integrierte Spannungssicherung, die sie insgesamt vor elektromagnetischen Impulsen schützt”, erklärte Hue, “Aber: Eine Railgun braucht unvorstellbar viel Energie. Zum Aufladen leitet die Drohne daher 80 % ihrer Kapazität in die Primärwaffe und nutzt den Rest für die Manövrierung. Das heißt, dass eine EMP-Granate zwar die Drohne nicht lahmlegen kann, aber den Chip. Vorausgesetzt, du hättest eine EMP-Granate im Handschuhfach.”

Alle Zuhörer waren von einer Hypothese ausgegangen, bis Akane sich Kogami zuwandte.

“Kogami-san, öffnen Sie das Handschuhfach.”

Das meint sie doch nicht-

Seine Gedanken verstummten, als er das Handschuhfach öffnete und tatsächlich den grünen Metallzylinder einer EMP-Granate darin sah.

“Woher-”

“Fragen Sie nicht, geben Sie her!”

Sie hatte die Granate zu fassen bekommen, brach den Stift ab, der den Zünder schützte, drückte ihn und beugte ihren Oberkörper zur Seite, um mit mehr Kraft aus dem niedrigen Fenster werfen zu können.

Die Zündung der Granate war eine geräuschlose Verdumpfung, als würde ein Unterdruck die Ohren taub werden lassen.

Durch den Staub, den der rasende Wagen aufwirbelte, war zunächst nichts zu erkennen.

Aus dem Staub brach dann wieder die Drohne hervor. Sie schien unbeschädigt, doch sowohl Akane als auch Kogami sahen, dass die drei roten Kameras an der Kopfpartie ausgefallen waren.

“Sie fährt also blind”, folgerte Kogami.

“Macht euch keine Hoffnungen”, relativierte Hue durch das Funkgerät, “Sie hat wahrscheinlich schon automatisch auf Bewegungssensoren umgestellt. Jetzt schieß oder willst du ihr den Vortritt lassen?”

Akane riss darauf den Dominator, die Zeit über in ihrem Schoß geruht hatte hoch.

Noch nie war ihr das Adrenalin so durch den Körper gerauscht wie jetzt.

Bewertung des Zielobjektes wurde angepasst.

Vollstreckungsmodus ist Destroy Decomposer.

Das Ziel wird vollständig zerstört.

Seien Sie vorsichtig.

“Ja!” Akane drückte ab.

Was keiner der drei nun noch für möglich gehalten hätte, geschah.

In dem Moment, da Akane den Abzug drückte, senkte sich die Drohne fast bis auf den Boden und vollführte, als sich der Schuss vom Dominator löste, einen beachtlichen Sprung wie eine Heuschrecke - aus der Bewegung zehn Meter in die Höhe - und wich dem Schuss aus, der stattdessen die Drohnen hinter ihr traf.

“Schieß nochmal!”

In dem Dröhnen hatte sie Kogamis Stimme kaum gehört und schoss zum zweiten Mal, auf den Punkt zielend, an dem die Drohne aufkommen würde.

Jetzt galt es - eine dritte Chance würde sie nicht bekommen.

Die Landung der Drohne ließ selbst den Wagen einen kleinen Sprung machen.

Das Letzte, was Akane sah, als sich der Schuss löste und bevor sie die Augen zu kniff, war wie die Signalleuchten an der Railgun der Negator-Drohne aufflammten.

Wie durch Wasser hindurch hörte sie Kogami brüllen.

“Gino, dreh den Wagen!”

Dann traf sie etwas Schweres von hinten, das sie in den Sitz der Rückbank drückte und eine Detonation, die jedes andere Geräusch verschlang, erfasste den Wagen.

Habe ich zu spät geschossen? Werden wir nun sterben?

Nein, das konnte nicht sein. In diesem Fall wären sie bereits tot.

Stattdessen war alles ein blindes, kakophonisches Chaos. Scheiben zerplatzten, Glassplitter pfiffen wie Gewehrkugeln umher, Staubfontänen schnürten die Kehle ab und immer das Gefühl, sich um sich selbst zu drehen, so als stecke sie in einer Waschmaschinentrommel.

Jede Sekunde erwartete sie sengende, gleißende Schmerzen, doch keine kamen. Sie prallte nicht wie eine umher geworfene Puppe gegen Wände. Etwas hielt sie sicher in Position.
 

Dann verlangsamte sich der Schleudergang und erst da wurde Akane klar, dass es der Wagen gewesen sein musste, der sich mehrmals überschlagen hatte und dass nicht etwas sie in Position hielt, sondern jemand.

Eine große Hand drückte ihren Hinterkopf sicher gegen eine nach Zigaretten und Leder riechende Schulter.

Sie hörte heftiges Atmen und wusste nicht, ob es von ihr oder jemand anderem kam.

Etwas Warmes tropfte auf ihre Stirn, als sich die Umklammerung um sie lockerte.

Als Akane die Augen öffnete, blickte Kogami auf sie herab.

Er hatte - wie damals auf Shambala - ihren Körper mit seinem geschützt.

Nun aber tropfte Blut von seinen Haarspitzen auf sie.

“Bist du verletzt”, presste er hervor.

Akane blinzelte.

“Sie fragen mich, ob ich verletzt bin? Was ist mit Ihnen?“

Sie hatte reflexartig die Hand gehoben, um die Verletzung zu inspizieren, doch er hielt ihre Hand mit seiner fest.

“Lass. Ist nur ein Kratzer.”

Sie war plötzlich daran erinnert, dass noch jemand mit im Wagen gesessen hatte.

Akane fuhr hoch und wäre beinah mit ihrem Kopf gegen Kogamis gestoßen.

“Ginoza-san! Geht es Ihnen gut?”

Sie sah eine Hand, die eben das Lenkrad griff, um sich aus dem Fußraum des Wagens herauf zu ziehen und hörte ihn stöhnen.

“Nein”, antwortete er, “Es geht mir nicht gut. Haben wir gewonnen?”

Akane blickte durch die verbeulte linke Seitentür des Wagens und sah, dass keine der kleineren Drohnen sich mehr rührte. Manche waren durch den Impuls der Granate zerstört wurden, andere hatte der erste Schuss des Decomposers zerlegt.

Von der Negator-Drohne war nur noch ein qualmender Unterbau übrig.

“Es scheint so. Aber was hat dann das Auto getroffen”, fragte Akane mehr sich selbst als sie die beeindruckenden Krater betrachtete, die der Wagen bei seinen Überschlägen in den Boden gehauen hatte.

“Ich vermute, das war die Druckwelle. Weil die Drohne in dem Moment geschossen hat, nachdem du gerade abgedrückt hattest. Der Dominator hat das Projektil zerstört, aber nicht den Druck.”

“Das war dann um Haaresbreite”, schnaubte Ginoza.
 

Nachdem sie aus dem Wagen gestiegen waren, Staub aus ihrer Kleidung geklopft und Glassplitter aus ihrer Haut gezupft hatten, erwiesen sich mehrere Versuche, den Wagen wieder zu starten, als vergeblich.

Ginoza verband notdürftig sein Bein.

Als sie gerade besprechen wollten, wie es nun weiterging, wurden sie von einer vierten Stimme aufgeschreckt.

“Oha! Der Wagen sieht aus, als hätte er einen Kuss mit einer Abrissbirne hinter sich - und ihr übrigens auch.”

“Wie habe ich dich vermisst, Hue”, gab Kogami sarkastisch zurück, ohne sich umzudrehen.

Kogamis ominöser Begleiter trat nun aus den Schatten hinter einem der Gütercontainer und Akane - der noch immer der Schrecken in den Knochen saß - richtete instinktiv ihren Dominator auf ihn.

Kriminalkoeffizient 14.

Kein Objekt zur Vollstreckung.

Auslöser bleibt gesperrt.

“Whoa”, beschwerte sich Hue und hob beide Hände, “Sachte! Ein einfaches ‘Danke’ hätte auch gereicht.“

“Wer sind Sie!” Akane formulierte es mehr als Forderung denn als Frage.

Nun, da sie den Dominator herunter nahm, konnte sie den Unbekannten besser erkennen.

Er war deutlich kleiner als Kogami und Ginoza, eher nicht athletisch, trug einen Trenchcoat, der genau so faltig war wie sein Gesicht und genau so grau wie seine wirren Haare.

Auffälligste Merkmale waren aber das in sein Gesicht gemeißelte Grinsen und die blau verspiegelte Sonnenbrille.

“Hi, ich bin Hue. Hue Grant. Das da ist Yoko”, polterte er mit seinem amerikanischen Akzent und deutete ungeniert mit dem Zeigefinger auf Kogami.

“Wieso gibt er dir einen japanischen Mädchennamen”, fragte Ginoza.

Kogami verschränkte die Arme und wandte den Kopf zur Seite wie ein Kind, das sich sträubt, einen Fehler zuzugeben.

“Er hat sich angewöhnt, mich bei jedem Funkspruch mit ‘Yo, Kogami’ anzusprechen. Da ihm aber mein Nachname zu lang war, hat er es in ‘Yo, Ko’ abgekürzt und daraus ist Yoko geworden.”

“Ich verstehe. Yoko also”, bestätigte Ginoza, mit einem Zug um die Mundwinkel, den Kogami nur als rachsüchtig beschreiben konnte.

“Ich wusste es”, stöhnte er, “Das werde ich nie mehr los werden. Danke, Hue.”

Hue Grant machte eine zu sich winkende Handbewegung, als wolle er Kogami herausfordern.

“Komm schon. Komm schon, Yoko. Sag es ihnen. Sag ihnen, dass alles meine Schuld ist:

Dass wir auf einem alten Müllfrachter über die Grenze schippern mussten und deshalb eine Woche lang gestunken haben wie vier Wochen alte Lethal-Eliminator-Suppe.

Dass ich - so wie wir über die Grenze waren - angefangen habe - wie hattest du dich noch gleich ausgedrückt? Ach ja - zu quatschen wie eine Thai-Nutte.

Und jetzt, dass dein Kollege dich für immer mit dem japanischen Mädchennamen aufziehen wird. Was, bitte, ist denn ausnahmsweise nicht meine Schuld?“

“Kogami-san!” Akanes energischer Tonfall lenkte alle Aufmerksamkeit auf sich.

“Ich finde, Sie schulden uns eine Erklärung”, forderte sie, “Wer war der Mann, dem wir heute begegnet sind?“

“Verrate du mir, was eine EMP-Granate in deinem Handschuhfach macht.”

Akane zuckte die Schultern. So viel Information konnte nicht schaden.

“Sie erinnern sich noch an den Aufstand, den Makishima damals ausgelöst hatte. Jeder von uns bekam zwei von diesen EMP-Granaten. Ich hatte nach dem Einsatz zu Protokoll gegeben, eine davon verwendet zu haben. Das… war aber nicht die Wahrheit.”

“Stimmt. Jetzt wo du es sagst. Ich habe dich damals keine Granate einsetzen sehen”, pflichtete Kogami mit einem Kopfnicken bei.

“Ich dachte mir: Man weiß nie, wofür sie vielleicht einmal gut ist”, rechtfertigte sich Akane.

Ginoza kratzte sich am Hinterkopf.

“Wer hätte gedacht, dass ein Regelverstoß von dir uns allen mal das Leben retten würde.”

“Zurück zu meiner Frage, Kogami-san.”

“In Ordnung: Der Mann, den wir heute getroffen haben, nennt sich Subadachan. Es heißt, dass er allein für 80 % aller Waffen-, Drogen-, Alkohol- und Tabakgeschäfte auf dem asiatischen Kontinent verantwortlich ist. Lasst euch von dem, was ihr gesehen habt, nicht täuschen. Er verwendet Verkleidungen, Hologramme und - wie wir heute gesehen haben - sogar Cyborgs, um seine Identität zu verschleiern.

Seine Macht besteht darin, dass niemand weiß wie er wirklich heißt und niemand weiß wie er wirklich aussieht.”
 

Akane griff sich ans Kinn.

“Cyborg, sagen Sie? Sie meinen, das, was wir heute gesehen haben, ist kein cyborgisierter Mensch gewesen?“

“Nein, ganz sicher nicht. Das war eine reine Maschine mit einem positronischen Gehirn”, bestätigte Kogami.

“Wie soll denn das möglich sein? Um sich so zu verhalten und zu bewegen wie ein Mensch benötigt ein Cyborg das zentrale Nervensystem und die Persönlichkeit eines Menschen”, zweifelte Ginoza.

“Subadachan wird einen Soul Scoop auf den Cyborg aufgespielt haben”, erwähnte Hue und sah gleich die gerunzelte Stirn von Akane und Ginoza.

“Ihr wisst, was ein Memory Scoop ist”, stellte er fest, “Ein Soul Scoop ist so ziemlich das Gleiche. Nur, dass hier nicht Erinnerungsfetzen eines Menschen visualisiert werden, sondern seine gesamten Erinnerungen, von der ersten bewussten Erinnerung bis zum aktuellen Stand.“

Ginozas Stirn zog sich dabei in noch tiefere Falten.

“Wie lange soll denn so etwas dauern?“

“In etwa drei Sitzungen täglich einen Monat oder länger, abhängig von Alter und Erfahrungsschatz des Menschen. Das ist aber noch nicht alles. Die visualisierten Erinnerungen werden anschließend in Datensätze umgewandelt. Daten, die mühelos transferiert, heruntergeladen und kopiert werden können. Man kann sie auch auf solche Maschinen aufspielen, die wir gesehen haben.”

“Ist das denn legal”, fragte Akane und ließ einen Augenblick ihre Naivität aus der Zeit durchscheinen, als sie noch ein Frischling gewesen war.

“Legal”, spottete Hue, “Scheiße, nein. Illegaler geht es kaum. Weswegen ja auch Subadachan diese Methode nutzt.“

“Aber Akane hat seinen Cyborg zerstört”, bekräftigte Kogami, “Damit dürfte der Spuk ein Ende haben.“

“Wenn es nur den einen Cyborg gäbe”, widersprach Hue und erstmals wich das Grinsen von seinem Gesicht.

“Du meinst, es gibt noch mehr wie diesen”, fragte Ginoza.

“Nein, ich meine das nicht nur. Bis vor einer halben Stunde war es nur eine Vermutung, aber jetzt weiß ich, dass meine schlimmsten Befürchtungen sich bewahrheitet haben.

Seht mich nicht so entgeistert an, ihr habt es doch selbst bemerkt. Habt ihr seinen Kriminalkoeffizienten nicht gesehen? Ihr hattet schon recht mit eurer Skepsis: Kein Mensch hat einen so absurd hohen Koeffizienten, jedenfalls kein einzelner.”

“Wenn du das freundlicherweise erklären würdest”, drängte Kogami.

“Hetz mich nicht! Also, wenn ein Mensch seine Persönlichkeit per Soul Scoop auf ein anderes Objekt überträgt, dann kopiert er damit auch seinen eigenen Psycho-Pass. Mit anderen Worten: Sibyl kann dann nicht mehr zwischen Original und Kopie unterscheiden, weil die Kopie dieselben Verhaltens-, Denk- und Gefühlsmuster hat wie das Original.

Kopiert dieser Mensch aber seine Persönlichkeit auf gleich zwei androide Objekte, erkennt Sibyl die Diskrepanz. Das System versucht also, den Fehler zu beheben, nur mit der falschen Herangehensweise.

Sibyl sucht nach einem Fehler in seinem eigenen System, der den doppelten Psycho-Pass erzeugt und erkennt nicht, dass der Fehler von außerhalb kommt.

Die Psycho-Pässe der zwei Kopien werden also durch Sibyl als einer erfasst. Dadurch aber verdoppelt sich auch der Kriminalkoeffizient der Kopien. Subadachans Kriminalkoeffizient ist also sein ursprünglicher Koeffizient, multipliziert mit den Soul Scoop-Kopien, die er besitzt.”

“Wie viele Cyborgs, glaubst du, besitzt er?“

“Warst schlecht in Mathe, was Yoko? Ich fürchte, es können gut und gerne zehn Cyborgs sein. Das heißt also, dass sich hier momentan noch neun Cyborgs und das Original herumtreiben.”

Akane ertappte sich dabei wie sie wieder an ihrem Daumennagel knabberte.

“Sehen alle Cyborgs so aus wie der, den wir getroffen haben oder war das nur eine holografische Software und sie können aussehen wie auch immer sie wollen?“

“Du stellst clevere Fragen, Kleine. Ich denke, Letzteres passt eher zu Subadachan”, erwiderte Hue.

“Wie geht es jetzt weiter? Wir haben gerade eben einen Angriff dieses Irren und die Drohnen von Wraith überstanden.“

“Ginoza-san, wir können noch nicht sicher sagen, dass die Drohnen-”

“Tsunemori, komm schon! Der Anführer von Wraith hatte einen dieser Chips benutzt, um den Dominator zu blockieren und Wraith hat Drohnen-Bauteile gestohlen. Wie viele Beweise brauchst du noch, dass sie dahinter stecken? Sie haben dich mit dieser Flasche hierher gelockt und dann die Drohnen auf uns los gelassen.“

Wieso hat die Drohne uns dann nicht mit Miniguns und Panzerbrechern beseitigt, sondern hat ihre Primärwaffe eingesetzt? Das ist wie mit Kanonen auf Spatzen schießen, dachte Akane und wiederholte damit unbewusst Kogamis frühere Gedanken.

Sie konnte diese Bedenken aber nicht laut aussprechen. Das, was sie herausgefunden hatte, durften die anderen nicht erfahren. “Ich schlage vor, dass Hue und ich weitere Informationen zum Verbleib von Subadachan und seinen übrigen Kopien sammeln und euch dann kontaktieren.“

“Damit du deiner Verhaftung entkommst, was”, fragte Ginoza, unverhohlen drohend.

“Wir wissen doch jetzt, dass Kogami-san kein Mitglied von Wraith sein kann”, entgegnete Akane ihrem Vollstrecker, “Das war doch ihre eigene Schlussfolgerung, Ginoza-san. Wenn die Drohnen wirklich von Wraith geschickt wurden, kann er nicht zu ihnen gehören. Sie würden doch keine Drohnen auf uns hetzen, wenn die Gefahr bestünde, dabei ihren eigenen Mann zu töten. Aber Ginoza-san hat recht: Ich brauche etwas mehr von Ihnen als die bloße Zusage, dass Sie uns kontaktieren werden, Kogami-san.“

“So leicht kommt man nicht aus diesem Land heraus, wenn man einmal drin ist. Außerdem ist Hue bei mir.”

Akane verschränkte die Arme.

“Ihm traue ich noch weniger als Ihnen, Kogami-san.“

Hue zog eine Grimasse.

“Shroom“, murmelte er.

“Tsunemori, ich gebe dir mein Wort, dass ich nicht einfach versuchen werde, das Land zu verlassen.“

“Du kannst kein Wort geben, dem ich trauen würde”, zischte Ginoza.

“Verzeihung, ich aber: Und ich gebe Ihnen mein Wort, Ginoza-san, dass, wenn sich mein Vertrauen in Kogami als falsch erweist, ich die alleinige Verantwortung dafür tragen werde. Ich erwarte eine erste Rückmeldung von Ihnen in genau einer Woche, Kogami-san. Bleibt diese Rückmeldung aus, werde ich Jagd auf Sie machen so wie Sie einst auf Makishima.”

Kogami konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.

“Das klingt fair... Hue, kommst du?”

Akane sah, wie Hue - bevor er sich zum Gehen abwandte - einen Schluck aus einem silbernen Flachmann nahm.

“Dich werden wir auch im Auge behalten”, warf Ginoza Hue Grant entgegen.

Der drehte sich um und deutete, wieder in westlicher Unhöflichkeit, mit dem Zeigefinger auf Ginoza.

“Ach ja? Nur damit du’s weißt, ich habe Bullen noch nie vertraut!”

“Hue, du bist selbst ein Bulle”, erinnerte ihn Kogami aus dem Hintergrund.

“Na eben drum”, gab der zurück.
 

“Eines würde mich aber noch interessieren”, sprach Kogami, ohne sich umzudrehen, “Wieso hattest du meine Zigarettenmarke dabei?“

Akane spürte wie ihre Ohren heiß wurden. Sie war seit Jahren nicht mehr errötet und deshalb froh, dass Kogami sich nicht umdrehte.

“Der Rauch hat... mir im Kamui-Fall geholfen, mich zu konzentrieren und zu beruhigen. Weil Sie immer ein so guter Ermittler waren, glaube ich. Ich habe erst nach Shambala angefangen, sie wirklich zu rauchen.”

“Hilft noch besser, sich zu konzentrieren, was?”

“Ja.” Sie rieb sich verlegen den Nacken.

Kogami seufzte.

“Von allen Angewohnheiten, die du von mir hättest übernehmen können, ist das die Schlechteste. Gib sie lieber wieder auf…”

Dann ging er und sagte leiser, in dem Glauben, Akane könne ihn nicht mehr hören.

“...und mich auch.“
 

“Das ist der sinnvollste Rat, den Kogami dir je hätte geben können”, erwähnte Ginoza fast beiläufig.

“Sagt der Mann, der nach dem Tod seines Vaters dessen Whisky trinkt.“

Erst einige Sekunden später, als Schweigen sich ausbreitete, wurde Akane bewusst, was sie da gesagt hatte.

“Ginoza-san, es tut-”

“Lass nur”, er wiegelte mit seiner prothetischen Hand ab, “Du hast wieder einmal recht. Ich bin ein Heuchler. Nicht nur, dass wir alle unsere Bürden immer selbst tragen, wir kommen auch beide nicht von der Vergangenheit los.”

Um die düstere Stimmung zu heben, fragte er daraufhin.

“Wie kommen wir jetzt von hier weg?“

“Ginoza-san, sobald Sie das wissen, werden Sie es bereuen, mich gefragt zu haben.
 

Hätte ich bloß nicht gefragt, dachte Ginoza, als er auf der Rückbank eines Wagens des Ministeriums saß und die fühlbare Gewitterstimmung zwischen Akane (auf dem Beifahrersitz) und Mika Shimotsuki (am Steuer) ertragen musste.

Er konnte Mika lediglich zugute halten, dass sie sich nicht beschwert hatte, wie eine Chauffeurin den ganzen langen Weg fahren zu müssen - jedenfalls noch nicht.

“Das ist eine verbindliche Frage, Inspektorin Tsunemori: Safe House 31-00-S2, was hatten Sie da zu suchen?”

“Das ist nicht-”

“Doch, es ist wichtig”, fuhr Mika Akane über den Mund, “Sie wollen mir nicht erzählen, dass Sie zu Ihrem Privatvergnügen dort gewesen waren. Sie hatten einen Vollstrecker und einen Dominator dabei. Außerdem wurden Sie offenbar von Drohnen angegriffen und der Wagen wurde zerstört.

Es betrifft die Ermittlungen, also geht es uns alle an. Haben Sie nicht einmal selbst gesagt, dass wir nur dann effektiv arbeiten, wenn wir uns aufeinander verlassen können? Wie ernst haben Sie das bitte gemeint?“

Akane blinzelte. Sie war überrascht, dass sie diesmal die Standpauke von Mika bekam - und das auch zu Recht.

Wäre die ganze Einheit 1 dort aufgetaucht, hätte Subadachan sich vielleicht nicht blicken lassen.

Kogami-san aber auch nicht, widersprach sie sich selbst.
 

“Es könnte sein, dass ich vergesse, einen umfassenden Bericht des Vorfalls an die anderen Einheiten weiterzugeben, wenn Sie mir erzählen, was genau passiert ist.“

Akane seufzte. Was sollte es schaden.

“Einverstanden.”
 

Donnerstag, 10. November 2118

MWPSB - Direktorat
 

Ein System konnte immer nur dann als vollkommen gelten, wenn es Fehler und Unwägbarkeiten einkalkulierte, bevor diese geschahen, so Sibyls eigene Schlussfolgerung.

Es war kennzeichnend für die Verbindung zwischen beiden wie beharrlich Akane Tsunemori das System - zuweilen unbewusst - an diese Folgerung erinnerte.

Als sie daher - wie immer unangemeldet - aus dem Fahrstuhl in das Büro von Direktorin Kasei trat, war es ihr nicht mehr anzumerken wie sehr sie dieser Begegnung entgegen gefiebert hatte - um endlich etwas Entscheidendes aussprechen zu können.

“Akane Tsunemori. Wir haben dich nicht herzitiert. Etwas mehr Zurückhaltung in dieser Sache wäre wünschenswert, damit die übrigen Mitglieder von Einheit 1 keinen Verdacht schöpfen.”

“Ich bin nur hier, um euch etwas zu zeigen”, erwiderte Akane und marschierte ungehemmt nach vorn, um etwas auf dem Schreibtisch der Direktorin abzustellen, was man als die Flasche mit der Puppe erkannte, die von Wraith geschickt worden war.
 

Akane beobachtete mit unverhohlener Faszination wie die Direktorin die Hände vom Tisch nahm und ein unmerkliches Stück davon weg rückte:

Wie ein Dämon, der vor einem Kreuz zurückwich.

“Ihr wisst, was das ist”, stellte Akane fest, “Nicht nur, was es ist, sondern was es bedeutet. Falls nicht, erzähle ich es euch. Ich erzähle euch eine Geschichte, von der ich kürzlich erfahren habe. Ovid berichtet in seinen Metamorphosen von einer antiken Prophetin, der Sibylle von Cumae.

Diese wünschte sich einst vom Gott Apollon, sie möge so viele Lebensjahre erhalten wie sie Sandkörner in ihre Hände hüllen konnte. Apollon gewährte ihr den Wunsch, wohl wissend, dass sie vergessen hatte, um eben so lang währende Jugend zu bitten. Er bot ihr an, diesen Wunsch ebenso zu erfüllen - unter der Bedingung, dass sie ihm zu Willen sein sollte.

Doch die Sibylle verweigerte sich Apollon.

Also war sie verdammt. In den Jahrhunderten, die sie lebte, wurde sie immer älter, verwitterte und schrumpfte - so sehr, dass man sie irgendwann in eine Flasche stecken und diese an einem Baum aufhängen konnte.

Und wenn die Kinder kamen und sie fragten: ‘Sibylle, was willst du?‘, antwortete sie: ‘Sterben will ich.’

Erkennt ihr euch darin wieder?

Wie kommt es, dass ihr all diese Anstrengungen auf euch nehmt, ein Briefing für alle Einheiten geben lasst, um Wraith zu unser aller Top-Priorität zu machen und das für eine Gruppe von Leuten, die Graffitis an Wände sprühen und ansonsten hier und da einen harmlosen Area-Stress-Level erzeugen?

Ihr wisst, dass Wraith etwas über euch weiß und deshalb fürchtet ihr ihn.

Er hat euer Geheimnis entdeckt - nicht nur das Geheimnis, das auch ich kenne, sondern eines, von dem ich bisher nur Vermutungen hatte. Nämlich, dass ihr der Sibylle in der Legende gar nicht unähnlich seid, denn auch ihr habt vergessen, euch die ewige Jugend zu wünschen.“

“Akane Tsunemori” - die Direktorin hob den Blick von der Flasche - “wir kommen nicht umhin, eine gewisse Bewunderung deinerseits für die Schlussfolgerungen von Wraith zu erkennen.”

“Nein. Nicht Bewunderung. Aber beeindruckt bin ich. Beeindruckt, dass sie an etwas gedacht haben, das aus eurer Frühzeit stammt, um damit den unsterblichen Propheten zum verfluchten Propheten zu machen.

Die erste Vermutung in diese Richtung hatte ich bereits, kurz nachdem ihr mir euer wahres Gesicht gezeigt hattet.

Nach meinen Informationen waren der erste kymatische Scan und damit die Erfassung des ersten Psycho-Pass im Jahre 2050. Da ihr von Anfang an in der Lage sein wolltet, jeden Psycho-Pass des Landes zu erfassen, vermute ich, dass die meisten eurer aktiven Mitglieder auch von Anbeginn dabei waren. Wie viele mögen das gewesen sein? 40 % oder 50 %? Bedenkt man das vorherige Alter ihrer physischen Körper, kann man davon ausgehen, dass die meisten eurer Mitglieder heute an die Einhundert Jahre alt sein dürften oder gar älter.

Und hier kommt die Überlegung von Wraith ins Spiel: denn euer System, so vollkommen es auch sei, besitzt den menschlichen Makel und das ist der Verfall. Ihr könnt Gehirne mit Nährmitteln versorgen, ihr könnt sie konservieren und pflegen wie ihr wollt, aber es bleiben menschliche Organe und als solche werden sie verschleißen und sterben.

Ich bin sicher, ihr habt bereits alles versucht, um diesen Fehler im System zu beheben. Ihr braucht Mitglieder mit selbstbegnadigender, kriminell asymptomatischer Konstitution. Mir hattet ihr aber bereits gesagt, dass ein solcher Mensch wie Makishima vielleicht einmal unter zwei Millionen vorkommt.

Eure Möglichkeiten, neue Mitglieder zu bekommen, sind also begrenzt. Und Gehirne zu klonen, war keine Lösung. Ihr könnt die Gehirne klonen, aber nicht die Asymptomatik. Also habt ihr den Soul Scoop entwickelt. So ist es doch.

Als ich gestern von dieser Variante des Memory Scoops erfuhr, wurde es mir klar. Der Soul Scoop war ein weiterer Versuch, die asymptomatische Konstitution zu kopieren und zu übertragen.

Aber auch das hat nicht funktioniert. Woraufhin ihr den Soul Scoop als illegal erklärtet.”

“Wir erkennen nicht ganz, worauf du mit dieser Geschichte hinaus willst”, warf Kasei ein und zog eine Augenbraue hoch, in dem bemühten Versuch, die Oberhand zu gewinnen.

“Worauf ich hinaus will, ist einfach: euer ganzes theatralisches Geschwafel, weshalb ihr euch auf den asiatischen Kontinent ausbreiten wolltet, war eine Lüge. Eure Intrige, die euch die Herrschaft über SEAUn einbrachte und die Übernahme von Shambala Float waren nicht euer Versuch, den Menschen den Segen des Sibyl Systems zu schenken. Es waren Verzweiflungstaten. Die meisten eurer Gründungsmitglieder machen es wohl nicht mehr lange. Im Kamui-Fall hattet ihr euch bereits von einigen Mitgliedern getrennt.

Und wenn ihr einen Ausfall von 40 oder gar 50 % aller aktiven Mitglieder erleidet, werdet ihr nicht länger in der Lage sein, jeden Psycho-Pass des Landes zuverlässig zu erfassen.

Die Menschen werden beginnen, am Sibyl System zu zweifeln und gleichzeitig tun sich Schlupflöcher auf - für Leute wie Wraith.

Im schlimmsten Fall bricht die Gesellschaft, die ihr erschaffen hattet, zusammen und es kommt zu einem Bürgerkrieg - zwischen jenen, die euch treu ergeben sind und jenen, die euch loswerden wollen.

Da ihr in Japan keine asymptomatischen Kriminellen mehr findet, musstet ihr euch ausbreiten. Südostasien ist das Tor zum asiatischen Kontinent und damit zu 75 % der Weltbevölkerung.

Tut ihr das nicht, geht es euch wie der Sibylle in der Legende: Ihr schrumpft so lange, bis ihr verschwindet.

Die letzte Frage, die bleibt, lautet: Hat Wraith nun ein Endspiel, einen Plan, mit dem sie euch vernichten wollen oder verbauen sie euch nur die Möglichkeit, neue MItglieder zu gewinnen und lassen die Zeit ihre Arbeit tun?”
 

“Du machst den Eindruck, als wollest du darauf bereits eine Antwort geben”, deutete Kasei und schob sich die Brille hoch.

“Wenn euch meine Meinung dazu interessiert.“

Mit einer Handbewegung lud die Direktorin Akane ein, fortzufahren.

“Ich glaube nicht, dass Wraith die Zeit abwarten wird. Bisher waren sie immer darum bemüht, dass bei ihren Aktionen keine Menschen zu Schaden kommen - weder physisch noch psychisch. Ein Bürgerkrieg, in dem euer Niedergang mit vielen Opfern bezahlt wird, kann nicht in ihrem Sinne sein.“

“Aber gerade du müsstest den Widersinn in dieser Vorstellung erkennen. Sobald das Sibyl System endet, wird die Gesellschaft untergehen, ob sie dies nun wollen oder nicht.“

“Deshalb frage ich mich ja gerade, welches Endspiel sie im Sinn haben”, erklärte Akane und nahm die Flasche wieder zurück, “Habe ich mich am Ende in ihnen geirrt und sie lassen die Gesellschaft doch zusammenbrechen? Oder haben sie gar eine Möglichkeit gefunden, euch los zu werden, ohne dass die Gesellschaft dabei Schaden nimmt?“

Die Augen der Direktorin färbten sich blau - ein Zeichen für Akane, dass sich nun auch die anderen Mitglieder des Kollektivs zugeschaltet hatten.

“Akane Tsunemori! Wir müssen uns nach diesen Ausführungen fragen, auf welcher Seite du in dieser Sache stehen wirst. Daher beantworte uns nun diese Frage: Gilt deine Loyalität nach all dem noch immer dem Sibyl System?“

Akane schlug die Handflächen auf ihre Seite des Schreibtisches und biss die Zähne zusammen.

“Ihr seid so maßlos arrogant! Meine Loyalität galt niemals euch, sondern der Gesellschaft. Ich habe euch bisher nur deshalb geschützt, weil ich davon überzeugt war, dass euer Fortbestehen auch die Gesellschaft schützen würde.”

Direktorin Kasei lehnte sich nun erwartungsvoll vor.

“Und bist du noch immer dieser Überzeugung?“

“So viel sollt ihr wissen: Ich werde tun, was in meiner Macht steht, um den Plan von Wraith - welcher das auch immer sei - zu vereiteln. Sollte mir das nicht gelingen, seid ihr auf euch gestellt. Immerhin sind das Geister, die ihr selbst gerufen habt.”

Akane wollte gerade die Antwort der Direktorin erwarten, als ihr Communicator sich meldete - es war Yayoi.

“Verzeihen Sie die Störung, Inspektorin. Können Sie sofort kommen?”

“Was gibt es, Kunizuka-san?”

“Wraith hat eine weitere Flasche geschickt.”

Akane versicherte Yayoi, sie werde sofort da sein und wandte sich der Direktorin zu, während ihr Herz vor Aufregung in ein wildes Stakkato verfallen war.

“Ich empfehle mich nun. Die Ermittlungen gehen vor.”

Ohne auch nur eine Antwort abzuwarten, marschierte sie zu dem doppeltürigen Aufzug und war verschwunden.

Direktorin Kasei legte den Kopf gegen die Lehne des Stuhls.

“Ja, das sehe ich auch so”, beantwortete sie die stumme Aussage des Kollektivs. Darauf aktivierte sie den Kommunikationskanal.

“Inspektor Kojirou Mitsuba von Einheit 3 soll sich umgehend in meinem Büro melden.“
 

Donnerstag, 10. November 2118 - gleiche Zeit

L. Coholic’s Whistleblow - CommuField
 

Ein Mensch konnte nur dann strebsam und erfolgreich sein, wenn er sich seine Schwächen und Unsicherheiten eingestand.

Eine Fähigkeit, die bei Mika Shimotsuki - wie diese nur ungern zugab - noch ausbaufähig war.

Wenigstens in diesem Sinne nutzte ihr der Ausflug ins CommuField: Sie gestand sich ihre Unsicherheit ein, denn sie hatte ihren Avatar, ehrlich gesagt, seit ziemlich langer Zeit nicht mehr benutzt - genau genommen nicht mehr seit sie ihren Abschluss an der Oso Akademie gemacht hatte.

Zwischen all den verrückten, flirrenden Gestalten und leuchtenden Phantasiegebilden, verspürte sie eine beruhigende Anonymität: Niemand hier wusste, wer sie war und niemanden schien es zu kümmern.
 

L. Coholic’s Residenz im CommuField sah von außen aus wie eine riesige Druckerpresse deren Bänder sich wanden wie eine undurchschaubare Wasserrutschte. Diese Bänder produzierten am laufenden Band virtuelle Zettel, Zeitungen und Plakate, die in das Netz geschleudert wurden.

Ungefilterte Informationen, auf die Sibyl keinen Einfluss nehmen konnte, waren wie eine moderne Droge, die die Menschen in ihren Bann gezogen hatte.

Der Empfangsschalter war ein Schreibtisch, der in seiner Länge den ganzen Raum einnahm. An ihm saß eine an ein japanisches Chibi erinnernde alte Frau mit grauer Lockenperücke, die ihre Arme beliebig verlängern konnte und so eine den ganzen Schreibtisch ausfüllende Tastatur bediente, so dass das Klicken der Tasten mit einer Regelmäßigkeit erklang wie das Tick-Tack einer Uhr.

“Sie wünschen…”, fragte die Frau ohne von der Arbeit aufzusehen.

“Ich würde gern L. Coholic sprechen, es geht um einige seiner Artikel”, erklärte Mika und machte eine Verbeugung mit dem Kopf.

“Presse“, fragte die kleine Frau, in dem sie weiter tippte.

“Nein.”

“Polizei?“

Mika konnte den Schock darüber verbergen, dass die Empfangsdame so nah an der Wahrheit war.

“Natürlich nicht.“

“Lieutenant Coholic ist nicht zu sprechen. Bitte versuchen sie es später erneut”, wiegelte die Frau ab.

“Aber nicht doch, Frau Fies-Ling”, ertönte eine Stimme aus dem Nichts.

“Neugierige Gäste und engagierte Entdecker sind immer willkommen. Nur hereinspaziert.”

Bevor Mika sich in Bewegung gesetzt hatte, knurrte die kleine Alte noch:

“Namen zu Protokoll geben.“
 

L. Coholic’s Avatar war eine Militäruniform, in der kein Mensch steckte. Sie saß auf einem Sessel am Ende einer langen Treppe und überwachte einen weiten Raum voller Sitzgruppen, Couches und weiteren Sesseln.

“Meine Freunde”, verkündete L. Coholic feierlich, ”heute begrüßen wir eine neue Besucherin, Geheimniskrämerin, Forscherin und Zweiflerin. Heißen wir sie willkommen: Hell_Kitty.”

Mika betrat den Raum als ihr Avatar: eine pechschwarze Katze, groß wie ein Ozelot mit Augen, ebenso bernsteinfarben wie ihre eigenen und meterlangen Schnurrhaaren an deren Enden violette Flämmchen brannten.

Sie gesellte sich zu jenen Sitzen, die besetzt waren mit einer Gruppe von Avataren, die ebenso verrückt waren wie L. Coholic.

Sie kam sich fast vor wie Alice, die zum Tee mit den verrückten Kreaturen des Wunderlandes eingeladen war.

“Ich war neugierig wie oft ein User namens Spectre sich hier blicken lässt”, erklärte sie und versuchte, nicht zu sehr nach Polizistin zu klingen.

“Der kommt schon mal hierher”, antwortete What-Ka, eine Vodka-Flasche über der ein Fragezeichen hing und auf der etwas auf Russisch geschrieben stand.

“Mal weniger, mal mehr”, mischte sich Sherry Blossom ein - ein kleines Bäumchen an dessen Zweigen Sherry-Trauben aller Art wuchsen, die immer wieder als fertige Tropfen des alkoholischen Getränks zu Boden tropften.

“Wer will das überhaupt wissen”, fragte Whiz-Key, eine Sphäre der goldbraunen Spirituose, die so etwas wie eine Wahrsager-Kugel darstellen sollte.

“Jemand, der ihm einen Deal anbieten möchte. Eine Information für eine Information.“

“Was für einen Deal”, wollte Whiz-Key wissen.

Mika sah sich mehrmals im ganzen Raum um und flüsterte dann.

“Was hier gesagt wird, bleibt doch wohl hier drin.“

Nun meldete sich L. Coholic selbst zu Wort.

“Die Dinge, die hier gesagt werden, sind Informationen, von denen die Öffentlichkeit erfahren soll. Aber vielleicht… machen wir diesmal eine Ausnahme. Je nachdem, was die Information wert ist.”

“Gut”, stimmte Mika zu, “Ihr alle kennt oder besser kanntet doch sicher Shogo Makishima.“

“Den ersten wahren Gegner des Sibyl Systems, wie sollten wir den nicht kennen”, spottete What-Ka.

“Was, wenn ich an einen originalen Memory-Scoop einer Inspektorin des Amtes für öffentliche Sicherheit herankommen könnte, auf dem er zu sehen ist?”

Ein Raunen ging durch den Saal.

L. Coholic hatte seinen Sessel verlassen und hatte sich von seiner Treppe herunter begeben.

“Wie zum Teufel soll denn ein Zivilist an solche Informationen kommen”, fragte Whiz-Key, während die flüssige Substanz seines Avatars ein Fragezeichen formte.

“Ich habe mich in das System gehackt und bin zufällig auf diese Daten gestoßen.”

Dafür, dass der Bluff improvisiert war, war er recht gelungen, gestand sich Mika schulterklopfend.

“Quatsch nicht! Die Kriminalabteilung des Amts für öffentliche Sicherheit. Und du willst dich da hinein gehackt haben? Kleine, wenn du uns verarschen willst, solltest du dich mehr anstrengen“, warnte Sherry Blossom.

“So schwierig ist das gar nicht”, kommentierte nun eine andere Stimme, die aus dem Off zu kommen schien.
 

Sekunden später erschien direkt neben ihrer Runde ein rechteckiges Logo.

“Spectre - Voice only” war darauf zu lesen.

“Ah, da ist er ja”, verkündete Whiz-Key in eindeutig übertrieben ehrfürchtigem Ton.

“Du meinst also, man kann sich einfach so dort rein hacken?“

Sherry Blossom wirkte noch immer skeptisch.

“Natürlich. Das habe ich selbst schon gemacht. Das Amt ist so arrogant, dass sie es nicht einmal für notwendig halten, ihre Codierungsprogramme zu aktualisieren. Deshalb glaube ich unserem Gast erst einmal. Aber eine andere Frage: Diese Information ist zweifellos wertvoll. Was willst du dafür?”

Mikas Katzen-Avatar bleckte die Zähne in einem Grinsen.

“Ich gebe euch diese Information im Austausch für eine ähnlich wertvolle Information. Ich will mehr über Wraith wissen und ich habe mir sagen lassen, dass ich hier an solche Infos kommen kann.“

“Wenn du von Wraith erfahren willst”, begann Spectre, “dann bist du eine Gegnerin des Sibyl Systems?”

Jetzt wird es ernst, Mika. Pokerface.

Sie nickte.

“Lass hören? Was hat die geniale, barmherzige Sibyl dir wohl getan?“

“Einer von Makishimas Handlangern hat jemanden getötet, der mir wichtig war. Und ich weiß, dass Sibyl diesen Makishima verschonen wollte. Das kann ich nicht verzeihen.“

Die anderen MItglieder machten verständnisvolle und bestätigende Gesten.

“Das ergibt Sinn”, sprach Spectre, “Noch mehr sogar, wenn man bedenkt, dass du damit noch das Amt bloß stellst.”

Auf Mikas fragenden Blick hin fuhr Spectre fort.

“Nun ja, die Kriminalabteilung hat etwas mit Makishima gemeinsam: Beide benutzen latente Verbrecher, die sie für geringer halten, als ihre Sündenböcke, ihre Schutzschilde und um die Drecksarbeit zu machen.”

Mika wollte bereits protestieren, doch sie hatte sich schnell genug wieder unter Kontrolle, um nicht preiszugeben wie sie wirklich über all das dachte.

“Du setzt dich also für latente Verbrecher ein, ja”, fragte sie stattdessen.

“Nein, ganz und gar nicht”, erwiderte Spectre, “Aber, siehst du, es geht gar nicht darum, ob latenten Verbrechern Unrecht getan wird, ob sie gerechter behandelt werden sollten oder ob sie von der Gesellschaft verkannt werden.

Es geht nur darum, dass jeder Inspektor des Amtes, der latente Verbrecher für sich sterben lässt oder sie gar selbst exekutiert, sich auf eine Stufe mit Makishima stellt.

Haben also latente Verbrecher verdient, so behandelt zu werden? Oder können wir unserer eigenen Farbe noch trauen, wenn wir sie so behandelt haben?“

What-Ka schaltete sich nun in die Diskussion ein.

“Ein latenter Verbrecher auf der Flucht hat meine Frau umgebracht. Ich habe daraufhin ihn umgebracht. Dann trübte sich mein Farbton und nach einigen Jahren in der Internierung bin ich abgetaucht. Wozu macht mich das dann? Sibyl können wir nicht fragen. Sibyl fällt immer das gleiche Urteil, oder etwa nicht?“

Etwas an der Art wie er die Frage stellte, gefiel Mika nicht.

“Wusstest du, dass es dokumentierte Fälle gibt, in denen der Dominator einen Modus annimmt, der dem Kriminalkoeffizenten des Zielobjektes widerspricht”, fragte Spectre.
 

Das ist völlig unmöglich, wollte Mika zunächst herausplatzen, doch sie zügelte sich, da sie sich von der Person hinter dem Logo genau beobachtet fühlte.

Ihr Schweigen schien Spectre als Unglauben zu verstehen.

“Es ist wahr. Zur Zeit des Makishima-Falles richtete der damalige Inspektor, Nobuchika Ginoza, einen Dominator auf den Vollstrecker, Shinya Kogami. Dieser wollte die Flucht antreten. Obwohl sein Kriminalkoeffizient unter 300 lag, wechselte der Dominator in den Modus Lethal Eliminator.

Damals wurde offiziell ein Defekt am Dominator dafür verantwortlich gemacht. Ich frage mich: War der Dominator defekt? Oder kann Sibyl gegen seine eigenen Regularien verstoßen, um Personen loszuwerden, die unbequem geworden sind?”

Die echte Mika, die derweil an ihrem Computer saß, spürte, wie ihr Herz flatterte und ihr die Handflächen feucht wurden. Dies alles ging zu sehr in eine Richtung, die sie so gern verdrängen wollte.

“Habt ihr das bereits der Öffentlichkeit mitgeteilt”, fragte ihr Avatar schließlich.

“Was, denkst du, würde passieren, wenn die Öffentlichkeit das wüsste? Im schlimmsten Fall würden die Menschen anfangen, am Urteil des Dominators und somit am Urteil von Sibyl zu zweifeln. Der Psycho-Pass, der den Menschen so lange schon Sicherheit gibt, wäre auf einmal unsicher geworden? Das blanke Chaos könnte ausbrechen.“

“Das müsste doch dann genau in Wraith Sinne sein”, erwiderte sie.

“Nein”, widersprach Spectre, “und jetzt kommen wir zu dem Punkt, an dem ich meinen Teil unseres Handels erfülle. Was, wenn ich dir sage, dass Wraith Sibyl nicht abschaffen, sondern ersetzen will? Wraith will Sibyl beseitigen, aber die Gesellschaft soll dabei ihre Ordnung behalten. Die Sucht nach einem reinen Farbton und einem niedrigen Kriminalkoeffizienten ist eine Droge für die Menschen. Eine Droge, von der sie langsam entwöhnt werden müssen.

Der Plan wie das gelingen soll, ist noch nicht vollkommen ausgereift. Deshalb hat Wraith bis jetzt noch nicht losgeschlagen.“
 

Ich verstehe, dachte Mika. Das heißt, ihre nächste Aktion wird uns verraten, ob sie bereit sind, ihren Plan umzusetzen.

“Dann kommen wir nun zu dem, was du uns versprochen hast”, forderte Spectre.

“Gut. Ich lade die Daten in diesem Augenblick auf eure CommuField-Domain hoch”, bestätigte Mika.

Ebenso schnell wie sie dies ausgesprochen hatte, floh ihr Katzen-Avatar aus der Domain und sie loggte sich aus.

Deshalb bemerkte sie nicht mehr wie die Person hinter dem Logo sagte:

“Wir werden sehen, ob dir die Informationen nutzen, die du eigentlich wolltest, kleine Detektivin. Ihr anderen macht weiter wie geplant. Projekt Prometheus startet am 14 November, um Mitternacht.“

Damit verschwand das Logo.
 

Mika nahm sich den VR-Helm ab und atmete tief durch, ignorierte die blinkende Warnleuchte am Scanner ihres Computers.

Sie hatte sich gerade überlegt wie sie es ihrer eigensinnigen Kollegin beichten sollte, als Yayoi in das Büro platzte.

“Hier steckst du”, entfuhr es ihr.

Mika hatte den völligen Wegfall der Höflichkeitsformel wohl bemerkt, ging aber nicht darauf ein.

“Wir brauchen dich in Shions Labor. Wraith hat eine neue Botschaft geschickt.”

Mika stand auf. Also hat das Spiel begonnen.
 

Als sie Shions Analyse-Labor betrat, zuckte sie instinktiv zusammen.

Nicht weil die ganze Einheit 1 dort versammelt war, sondern weil unter ihnen auch ein Mann war, von dem sich die Studenten der Oso Akademie Schauergeschichten erzählt hatten.

“Was macht dieser latente Verbrecher hier”, fuhr sie Akane an, die neben dem Mann stand und freundlich lächelte.

“Willkommen, Shimotsuki-san”, grüßte sie, “Ich habe einen temporären Freistellungsantrag für Professor Saiga gestellt, damit er uns im aktuellen Fall assistieren kann.”

Saiga schob sich die Brille hoch.

“Bevor wir uns der Botschaft zuwenden”, fuhr Akane fort, “erzählen Sie uns doch, was Sie im CommuField erreicht haben.”
 

Es brauchte eine Zeit, bis Mika alles berichtet hatte.

“Du hast was getan”, platzte es aus Ginoza heraus.

“Untersteh dich, so mit mir zu sprechen, Vollstr-”

“Inspektorin Shimotsuki”, unterbrach Akane, “Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein so akribischer Mensch wie Sie eine Information weitergeben sollte, für die sie suspendiert werden könnten.“

“Das habe ich natürlich auch nicht getan. Alles, was ich ihnen hoch geladen habe, war ein Werbevideo für Haushalts-Hologramme. Ich hatte nicht erwartet, dass er so freimütig von Wraith Plänen sprechen würde.”

Das ist mir allerdings immer noch ein Rätsel, fragte sich Akane. Warum lassen sie uns, den Feind, an ihren Plänen teilhaben? Wollen sie versuchen, uns für sich zu gewinnen?

“Wenn Sie nicht davon ausgingen, Informationen über Wraith zu bekommen, was hatten Sie sich von dem Treffen erhofft”, fragte sie laut.

“Ich wollte Spectre auf die Spur kommen. Tatsächlich ist eine Rückverfolgung unmöglich, weil er etwa zehn Dutzend verschiedene IP-Adressen verwendet, die immer wieder die Datenweitergabe wechseln.

Das ist aber nicht das Interessante. Ich habe mir seine Log-in-Daten angesehen. Er verwendet mehrere Log-Ins. Einen dieser Datensätze habe ich aber als einen von unseren identifiziert.”

“Sie meinen, er benutzt die Log-in-Daten von einem Mitarbeiter des Amtes.”

Akane hatte schlimme Befürchtungen dabei.

“Eines ehemaligen Mitarbeiters. Die Log-in-Daten sind die von Shusei Kagari. Den Regularien des Amtes zufolge müssen diese Daten genauso wie die Habseligkeiten eines Vollstreckers fünf Jahre aufbewahrt werden, ehe man sie löscht.”

“Können wir herausfinden wie er an diese Daten gekommen ist”, fragte Akane und blickte dabei Shion an.

Diese antwortete nach dem ersten Zug von ihrer Zigarette.

“Ich versuche es, könnte aber eine Weile dauern.”

“Gut. Danke an Sie, Inspektorin Shimotsuki, das war gute Arbeit.“

Mika wusste nicht recht, ob sie sich nun über das Lob freuen oder ärgern sollte.

Die Aufmerksamkeit aller wandte sich nun dem größten Monitor in Shions Labor zu, auf dem gerade die Aufnahme von Sicherheitskameras wiedergegeben wurde.

“Diese Aufnahme stammt von heute morgen, 2:23 Uhr”, fügte Shion hinzu.

Man sah den von zwei Drohnen flankierten Eingangsbereich des Nona Tower.

Im Sichtfeld der Kameras tauchte plötzlich ein Mann auf, den Akane sofort als den Mann mit dem Motorrad-Helm erkannte.

Er spazierte einfach zu den Eingangstoren des Turmes, tätschelte den Kopf einer der Drohnen und winkte in die Kamera.

“Dieser unverschämte-” Yayoi unterbrach sich selbst, um nicht zu fluchen.

Dann sah man wie der Mann ein in Papier gewickeltes Objekt einfach am Boden abstellte und verschwand.

“Genauso haben wir sie gefunden”, meldete Shion sich wieder und deutete auf die Flasche, die auf der Analyse-Plattform stand, “Aber aus forensischer Sicht ist sie sauber: keine DNA, keine Fingerabdrücke, nichts.”

“Euch ist schon aufgefallen, dass der Mann uns bereits wieder etwas mitgeteilt hat”, sagte Professor Saiga in den Raum, “Spielen Sie doch die Aufnahme noch einmal ab”, bat er Shion.

Als die Stelle kam, an der der Mann der Kamera zuwinkte, sagte Saiga:

“Stop. Können Sie die Aufnahme, wie er winkt, wiederholen lassen?“

Shion tat dies.

“Was sollen wir denn übersehen”, fragte Teppei, der in einer Ecke saß und kaum zu sehen war.

“Achten Sie nicht auf die Hand, mit der er winkt, achten Sie auf seine Linke.“

Akane riss die Augen auf. Mit dem Zeigefinger der linken Hand, die er - während er mit dem ausgestreckten rechten Arm winkte - auf Hüfthöhe hielt, schien er etwas in die Luft zu schreiben.

“Japanische Schriftzeichen sind das nicht. Es sieht mehr wie Zahlen aus.“

Saiga nickte.

“Korrekt. Spiegelverkehrt geschrieben, damit wir sie lesen können. Du sagtest doch, dieser Mann habe bereits im Einkaufszentrum etwas aus der Bibel zitiert.”

Nun war es Akane, die nickte.

“Dann ist es am wahrscheinlichsten, dass diese Zahlen wieder auf ein Zitat verweisen. Sie hin, was er schreibt: 1 18. Ich dachte da an die Offenbarung, Kapitel 1, Vers 18: Ich bin der Lebendige und ich war tot.”

“Und was soll uns das jetzt sagen”, fragte Mika, während sie mit dem Fingernagel auf die Armlehne ihres Stuhls klopfte.

Saiga zuckte die Schultern.

“Das weiß ich nicht. Ich sagte nur, dass er uns etwas mitgeteilt hat, nicht, dass ich wüsste, was es bedeutet.”
 

In einem japanischen Anime wäre dies nun der Moment, in dem alle Charaktere zu Boden fallen und ein riesiger Schweißtropfen neben Saigas Kopf erscheinen müsste.

“Zurück zu der Flasche”, rief Shion sie wieder zur Raison.

“Sie ist zwar im Aussehen identisch mit der ersten Flasche. Aber seht mal, was die Puppe in der Hand hält.“

Alle warfen einen weiteren Blick auf die Flasche und bemerkten nun tatsächlich etwas in der Hand der Holzpuppe: eine winzige Schriftrolle, mit einem roten Band verschlossen.

Shion stand auf und zupfte mit einer langen Pinzette das Papier aus der Hand der Puppe.

Sie öffnete die Schriftrolle und musste sie nah vor ihr Gesicht halten.

“Es ist in Englisch geschrieben. Wartet, ich scanne es ein und übersetze es, damit es alle lesen können.”

Shion brauchte nur einen Augenblick, bis der Text der Schriftrolle auf dem Hauptmonitor erschien.
 

Doch sterben muß sie, sonst betrügt sie andre.

Tu' aus das Licht und dann – Tu' aus das Licht; –

Ja, lösch' ich dich, du flammenheller Diener –

Kann ich dein vorig Licht dir wiedergeben,

Sollt' ich's bereun; – doch dein Licht ausgetan,

Du reizend Muster herrlichster Natur,

Nie find' ich den Prometheusfunken wieder,

Dein Licht zu zünden. Pflückt' ich deine Rose,

Nie kann ich ihr den Lebenswuchs erneun,

Sie muß, muß welken; dufte mir vom Stamm!
 

Kaum hatten sie es gelesen, riefen Akane und Mika gleichzeitig.

“Das ist aus Othello.”

Sie blickten einander überrascht an und dann wieder auf den Monitor.

“Das geht wieder so los wie beim letzten Mal. Eine Hexenjagd, die nichts bringt, als uns die Zeit zu stehlen oder uns in eine Falle zu locken.”

“Etwas anderes als das haben wir im Augenblick leider nicht, Ginoza-san. Überlegen wir also, was es bedeuten könnte.”

“Dürfte ich derweil noch etwas anderes anbringen”, meldete sich Mika.

Als sie die Aufmerksamkeit aller hatte, erklärte sie.

“Dieser Mann von der Aufnahme verwendet doch einen Chip, der jeden Scanner und jede Drohne, die ihn erfassen, eine Fehlermeldung produzieren lassen.”

Alles nickte.

“Darf ich dann vorschlagen, dass wir alle von Drohnen und Scannern gemeldeten Fehler aufzeichnen und kartieren? Auf diese Weise, können wir seine Bewegungen durch die Stadt verfolgen und wissen, wo er sich aufhält. Zugreifen sollten wir aber noch nicht, um seine Hintermänner nicht aufzuschrecken. Es dürfte ausreichen, ihn erst einmal zu observieren.”

Akane fühlte etwas Neid, dass ihr dies nicht eingefallen war und wusste plötzlich, wie sich Mika ihr gegenüber immer gefühlt haben musste.

“Das ist eine brillante Idee, Inspektorin Shimotsuki. Karanomori-san, könnten Sie das übernehmen?“

“Schon dabei. Ist ja nicht so, als hätte ich sonst schon genug zu tun, aber für dich tue ich alles, Akane-chan.”

“Wir überlegen uns derweil, was die Botschaft zu bedeuten haben könnte.”

Akane wollte gerade ihre ersten Überlegungen dazu kundtun, als ihr Communicator eine Nachricht anzeigte. Es war Vollstrecker Hatano von Einheit 3.

“Hatano-san, das ist äußerst ungünstig, ich befand mich gerade in einer-”

“Es ist wichtig. Inspektor Mitsuba ist bereits vor Ort. Er sagte, Sie sollen sofort kommen.“

Sie hatte den Vollstrecker so noch nicht gehört. So als sträube er sich, eine schlimme Wahrheit auszusprechen.

“Was habe ich denn mit den Ermittlungen von Einheit 3 zu tun? Wir wurden nicht als Begleitung beauftragt.“

“Keine Ermittlungen. Mitsuba sagte, es gehe um Ihre Eltern.”

Für Akane kamen alle Bilder ihrer Großmutter wieder hoch und grässliche Kälte nistete sich in ihrer Magengrube ein.

“Ich muss sofort los.“

Ohne jemandem die Chance, sie aufzuhalten zu lassen, stürmte sie aus dem Raum.

Prometheus

10. November 2118

Chiba - Kanto Region
 

Das Alltägliche an der Szenerie machte sie noch erschreckender.

Komissa-Drohnen riegelten das abseits gelegene Haus ab und wirkten auf Akane wie eine Horrorclown-Kolonne.

Sicherheitsdrohnen surrten mit flirrenden Lichtern zwischen dem Streifenwagen von Einheit 3 und dem schweren Panzerwagen der Vollstrecker umher.

Akanes Wagen hielt. Erst beim Aussteigen fiel ihr auf wie fest sie die Hände um das Lenkrad gekrallt hatte.

Zum Glück ragte der neue Inspektor, Kojirou Mitsuba, deutlich über die kleinen Japaner vor Ort hinaus.

Sie stürmte derart energisch auf ihn zu, dass alle anderen Beamten sicherheitshalber zur Seite wichen.

“Was geht hier vor? Wo sind meine Eltern”, fuhr sie ihn an als sei er persönlich Schuld an diesem Schauplatz.

“Keine Sorge, Inspektorin, es geht ihnen gut”, beschwichtigte Mitsuba mit erhobenen Händen, “Das hier ist eine reine Sicherheitsvorkehrung. Ich hatte Sie deswegen rufen lassen, weil es zum Einen um Ihre Eltern geht und wir zum Anderen annehmen müssen, dass Wraith in diese Sache verwickelt ist.“

Das kam unerwartet.

“Wiederholen Sie das”, bat Akane.

“Hier” - Mitsuba hielt ihr einen Umschlag hin - “Dies kam heute bei Ihren Eltern an. Kein Kurier, kein aktiver Scanner, nichts. Niemand hat etwas gesehen. Wir hielten es aber für besser, Ihre Eltern in eine Sicherheitseinrichtung zu bringen.”

Akane zog eine kleine, stabile Karte aus dem Umschlag. Nur eine Seite davon war in dunkelgrüner Schrift mit erneut westlichen Buchstaben beschriftet.

“Et tu, Brute”, las sie vor.

“Das ist alles, mehr nicht. Wir dachten, vielleicht können Sie uns sagen, was das bedeutet.“

“Es ist Latein”, antwortete Akane und hielt die Karte noch immer fest im Blick, “und wieder ist es Shakespeare. Das Stück Julius Cäsar. Et tu, Brute bedeutet ‘Auch du, Brutus’. Es bezieht sich auf die Szene, in der Cäsar bei seiner Ermordung in den Reihen seiner Verräter auch seinen treuesten Mann, Brutus, entdeckt. Er fragt ihn dies, weil er nicht glauben will, dass einer der Seinen ihn verraten hat.”

“Wissen Sie, was Wraith damit sagen will?“

Akane schüttelte den Kopf.

“Nein, leider weiß ich das nicht. Noch nicht. Das sind jetzt drei Botschaften, mit denen ich noch nichts anfangen kann: Erstens das Bibelzitat, dass der Maskierte in die Luft geschrieben hat. Zweitens das Shakespeare-Zitat aus Othello, das die Puppe in der Hand hielt. Und drittens jetzt diese Nachricht. Langsam frage ich mich, ob Sie mir tatsächlich etwas sagen oder einfach nur ihre Spuren vernebeln wollen.”

“Wir haben hier alles im Griff. Kommen Sie, Tsunemori-san. Fahren wir zu dem Sicherheitszentrum, in dem man Ihre Eltern untergebracht hat. Vielleicht möchten Sie sich vergewissern, dass sie wohlauf sind.“

Er fuhr sich durch das kohlschwarze kurze Haar, das fast so ordentlich gekämmt war wie das von Vollstrecker Teppei, doch in der Stirn waren bei Mitsuba immer einige Strähnen, die stur abstanden.

“Ja, das möchte ich sehr gern. Fahren Sie voraus, Mitsuba-san.”
 

Hikaru no Yuu - Correctional & Safety Center
 

Beim Anblick dieses Gebäudes war Akane unangenehm an die Internierungseinrichtungen für latente Verbrecher erinnert, die sie bereits gesehen hatte.

Der Besucherraum war überfüllt mit Menschen, die vor etwas Zuflucht suchten, ihren getrübten Farbton therapieren oder einfach einer Trübung vorbeugen wollten.

Akane suchte noch die Menge nach ihren Eltern ab, als-

“A-chan!”

Sie blickte in die Richtung, um gerade noch jemanden auf sich zustürmen zu sehen und schon wurde sie von zwei Armen umklammert und hatte einen urvertrauten Geruch von Lavendel in der Nase.

“Ma-Mama.”

Sie presste es hervor, da sie sich auf das Atmen konzentrieren musste. Obwohl Akiko Tsunemori einen ähnlich filigranen Körperbau wie ihre Tochter hatte, verfügte sie über erstaunliche Kräfte.

Insbesondere dann, wenn sie sich um ihre Tochter sorgte.

“Ach, Akane-chan, wir haben uns solche Sorgen um dich gemacht. Geht es dir gut?“

Das brachte Akane zum Schmunzeln.

“Du fragst, ob es mir gut geht? Wie ist es mit euch?“

“Wie soll es uns schon gehen? Es ist bloß ein einzelner Brief gewesen, dieses ganze Aufhebens um unsere Sicherheit ist doch vollkommen unnötig”, wetterte jemand aus dem Hintergrund.

Papa… wie er leibt und lebt, dachte Akane.

Shoichi Tsunemori bahnte sich einen Weg durch die Menge an die Seite seiner Frau.

Die Menschen, die ihn sahen, wichen ihm bereitwillig aus.

Zum Einen war ein blonder Japaner etwas sehr Seltenes, zum Anderen strahlten seine Augen - trotz der leichten Falten um sie herum - von enormer Klugheit.

Eine Klugheit, die andere Menschen einschüchtern konnte.
 

“Es tut mir ausgesprochen leid für die Unannehmlichkeiten”, entschuldigte sich Mitsuba mit einer tiefen Verbeugung, “Wir dachten, dass Wraith Ihre Frau und Sie selbst als Köder für Akane würde benutzen wollen.“

“Glauben Sie”, fragte Akanes Vater, “Nach allem, was ich von ihnen gelesen und gehört habe, denke ich nicht, dass Wraith Köder auslegen oder Geiseln nehmen würde, um jemandem zu schaden - auch dann nicht, wenn dieser jemand ihr erklärter Gegner ist.“

Das denke ich auch nicht, pflichtete Akane ihrem Vater im Stillen bei.

“Die Ermittlungen in dieser Sache werden sicher nicht lange dauern. Ich gehe davon aus, dass Sie in etwa zwei Wochen spätestens in Ihr Haus zurückkehren können”, erklärte Mitsuba, “Ich lasse Sie jetzt mit ihrer Tochter allein, es gibt noch einige Formalitäten zu klären.“

Damit entfernte er sich bereits und Akane - die gerade von ihrer Mutter zu einem der Tische geschleift wurde - blickte ihm fast flehend nach - denn sie wusste, was nun kam:

Eine nicht enden wollende Flut von Fragen über ihre körperliche und psychische Gesundheit, über Bestand und Sauberkeit ihrer Wäsche, bis zu Fragen, ob sie auch genug esse und schlafe - das wirke nämlich beides nicht so - und ob sie auch genug Freunde unter ihren Kollegen hätte.

Akane konnte ein wenig mitfühlen wie es einem latenten Verbrecher im Polizeiverhör erging.

Und immer wenn sie ihren Vater - um Hilfe bittend - anblickte, bekam sie von ihm, wie früher schon, diesen entschuldigenden Blick, der sagte:

‘Was soll ich machen? Wenn ich sie stoppe, dann wird sie wieder sauer und wirft mir vor, ich kümmerte mich zu wenig um unsere Tochter.’

Das alles begleitet von einem mentalen Schulterzucken.

Als ihre Mutter endlich pausierte, um Luft zu holen, ergriff Shoichi Tsunemori das Wort.

“Der Mensch ist frei geboren und überall liegt er in Ketten.”

Akane unterdrückte den Drang, vor Lachen zu prusten, als ihre Mutter ihren Mann dafür bitterböse anfunkelte.

“Du musst nicht Rousseau zitieren, um vom Thema abzulenken”, warnte sie.

“Machen deine Ermittlungen zu dieser Bande denn Fortschritte“, erkundigte sich ihr Vater und lenkte damit erfolgreich die Aufmerksamkeit seiner Frau auf etwas Anderes als das Wohlergehen ihrer Tochter.

“Bisher bin ich noch nicht weiter gekommen. Sie haben eine weitere Flasche geschickt und ein Shakespeare-Zitat beigelegt, aber-”

“Shakespeare? Ist denn dann die Botschaft, die wir bekommen haben, nicht auch von Wraith”, fragte Akanes Mutter.

“Ja, davon gehen wir aus. Ich habe diese Zeichen und Spuren alle vor mir und trotzdem weiß ich nichts damit anzufangen. Ich kann nicht sagen, ob sie mich mit diesen Hinweisen zu einem bestimmten Ziel oder doch bloß in die Irre führen wollen.”

“Das erinnert mich doch schwer an deinen alten Freund Kintaro.”

Akane sah ihren Vater fragend an.

“Sag bloß, du hast den seltsamen Jungen schon vergessen, den du damals eine Weile besucht hast, als du gerade einmal zehn warst.“

Erkenntnis flammte in Akanes Augen auf.

“Du meinst Taro. Ich habe ihn nie bei seinem vollen Vornamen genannt, deshalb war ich verwirrt. Und wieso nennst du ihn seltsam? Doch nicht nur, weil er an Albinismus litt.“

“Nein, deshalb gar nicht”, antwortete Akanes Vater, “Seltsam, weil niemand wusste, wo er herkam und was mit seinen Eltern passiert war. Seltsam, weil er bereits in so jungen Jahren ein latenter Verbrecher gewesen war.”

“MIr hatte er erzählt, dass seine Eltern von Scannern als latente Verbrecher erkannt worden waren und man sie ihm danach weg genommen hat. Er selbst kam danach in die Internierungseinrichtung, in der wir ihn dann besucht hatten.”

“Worauf ich hinaus wollte: Hatte er dir früher nicht auch immer Geheimcodes und Schatzkarten geschrieben? Und du solltest anhand der Hinweise dann entscheiden, ob dich etwas Gutes oder Schlechtes erwartet.”

“Ja, jetzt, wo du es sagst. Du willst aber nicht mutmaßen, er könne hinter Wraith stecken. Nach dem, was ihr mir erzählt habt, ist Taro nicht mehr am Leben.”

“Nun, wir wissen, dass er an Bord eines Schleppers ging, der Sibyl-Flüchtlinge nach Südkorea bringen sollte.

Das Schiff kenterte aber während der Überfahrt. NIemand überlebte”, wiederholte ihr Vater seine Erkenntnisse.

“Wir dachten, dass jemand bei Wraith deinen Freund Taro gekannt haben könnte”, erklärte Akanes Mutter.

“Möglich”, stimmte Akane zu und lächelte ihre Eltern an, “Erst einmal bleibt mir wohl nichts anderes übrig als die Spuren von Wraith zu entschlüsseln und zu sehen, wohin sie mich führen.”
 

Inspektor Kojirou Mitsuba sprach währenddessen mit einem Mann an der Essensausgabe.

“Dieser Ort gilt als sicher. Ich möchte, dass ihr diese Sicherheit pflegt, ihr aber nicht allzu sehr vertraut. Wenn also irgendetwas Verdächtiges geschehen sollte, wollen wir vom Ministerium unverzüglich darüber informiert werden.”

Er reichte dem Mann über die Theke hinweg seine Karte.

Der Bedienstete konnte beim Entgegennehmen der Karte zwei an deren Unterseite befestigte, ovale Objekte erfühlen - Pillen.

“Hör zu”, befahl Mitsuba so leise, dass nur der Mann ihn hören konnte, “Sorge dafür, dass dieses Pulver in das Essen der zwei gelangt. Und gib mir Bescheid, wenn das getan ist.”

Der Mann nickte und steckte die Karte ein, so dass die zwei daran befestigten Pillen auf den Bildern der Kameras nicht auftauchten.

“So, wir können dann wieder zurück”, erklärte Akane, als sie an Mitsubas Seite kam.

“In Ordnung. Ich werde mich vorerst zurück zum Haus Ihrer Eltern begeben und die Spurensicherung unterstützen, wenn das für Sie in Ordnung geht.“

“Ja, das wäre sehr nett von Ihnen. Haben Sie vielen Dank für die Hilfe, Mitsuba-san.”

Akane hatte sich gerade von ihren Eltern verabschiedet (und ihrer Mutter einige tausend Male versichert, dass sie auf sich aufpassen würde) und war wieder bei ihrem Wagen angelangt, als sich über ihren Communicator Kunizuka meldete und nur drei Wörter sagte, die Akane alles verrieten, was sie wissen musste:

“Ich habe ihn.“
 

~
 

Yayoi Kunizuka starrte auf ihren Monitor und die Stadtkarte, die dort angezeigt wurde. Ihr Blick war auf das kleine gelbe Warndreieck geheftet, das eine Fehlermedlung bei einem kymatischen Scan anzeigte.

Sie wusste, woher diese Fehlermeldung kam. In diesem Gebiet hatte sie sich früher aufgehalten, als sie noch keine Vollstreckerin gewesen war.
 

Tokyos Hotspot für die Underground Rave-Szene war immer schon ein lärmendes Pflaster, auf das sich Menschen für gewöhnlich nur dann trauten, wenn sie ohnehin bereits Rebellen waren oder sich einmal ganz besonders rebellisch fühlen wollten.

Im Untergrund herrschte ein selbst für die an Menschenfülle gewöhnten Japaner erdrückendes Korsett aus hunderten enthemmten Menschen, zuckenden Lichtern, heißer, feuchter Luft und den immer wieder in Mark und Bein rammenden Bässen.

Rina Takizaki betrat den kleinen Aufenthaltsraum hinter der Bühne und wischte sich den Schweiß von der Stirn.

“Also, wenn ich nicht wüsste, dass es für die Leute ist: Ich würde mir diese Hitze nicht freiwillig antun.”

Sie blickte auf, weil niemand ihr antwortete und fand ihre Assistentin, Ayame, starr vor Schreck.

“Aya, was ist los?“

“Rina, ich glaube, wir haben ein Problem”, presste sie hervor und deutete auf den kleinen Innenraum-Balkon, auf dessen Geländer ein junger Mann lehnte, der eine Maske mit einem breiten, grinsenden Mund trug.

“Wie unhöflich”, schalt er wenig ernsthaft, “Wolltest du nicht eher sagen ‘Wir haben Besuch’?”

“Ihr seid Wraith”, stellte Rina fest und blickte zu dem jungen Mann mit der grinsenden Maske.

“Was wollt ihr?“

“Jemand möchte mit euch reden”, informierte der grinsende Geist, als noch ein Zweiter durch einen bis eben noch veschlossenen Durchgang kam:

Ein Mann in schwarzem Biker-Anzug mit roten Flammen und passendem Helm.

“Wie… wie seid ihr hier herein gekommen?“ Ayame bemühte sich darum, das Zittern ihrer Stimme zu verbergen.

“Zum Glück”, erklärte der Mann mit dem Helm, als er sich ein Glas aus einer auf dem Tisch stehenden Karaffe einschenkte, “seid ihr nicht die einzigen, die geheime Orte im Untergrund kennen.“

Er schwenkte den Inhalt seines Glases.

“Ihr wisst schon, dass das, was ihr hier trinkt, ebenso gut als Kanalreiniger verwendet werden könnte.“

“Das ist Bourbon”, protestierte Rina.

“Ja, aus Hyper-oats gepanschter Bourbon. Wir haben euch ein Angebot zu machen. Sollten wir erfolgreich sein, könnte es in diesem Land schon bald wieder richtigen Bourbon geben.”

“Ihr wollt Sibyl zerstören, das ist nichts Neues”, spottete Rina, “Glaubt ihr vielleicht, ihr seid die ersten, die das System zerstören wollen? Das haben schon viele vor euch versucht, aber es ist nicht zu schaffen.”

“Nein, jedenfalls nicht, indem man Molotow-Cocktails auf Straßenscanner wirft.”

“Das machen wir nicht mehr. Wir wollen keinen Ärger mehr mit dem System, sondern nur noch Musik machen. Wir werden euch also nicht helfen. Ihr vergeudet eure Zeit.”

Der Maskierte wandte sich von Rina und Ayame ab und betrachtete ein holografisches Fenster, das eine unberührte Graslandschaft zeigte.

“Einige Ereignisse scheinen euch entgangen zu sein. Wusstet ihr, dass die Zahl der an völliger Apathie Erkrankten sich in den letzten zwei Jahren verdreifacht hat? Das Sibyl System leugnet die Existenz des Eustress-Defizit-Syndroms, aber es existiert. Durch die permanente Reizarmut entwickelt sich der Mensch emotional so weit zurück, dass sich irgendwann sein eigener Körper nicht mehr selbst am Leben erhalten kann.

Dazu kommt, dass das Sibyl System vor einer Revolution steht. Bald schon könnte ein kollektiver Psycho-Pass eingeführt werden. Demnach könnten sogar Individuen, die einen hellen Farbton haben, als Mitglieder einer fragwürdigen Gruppe wie latente Verbrecher vollstreckt werden.

Damit hätte Sibyl das Mittel in der Hand, alle schädlichen oder bloß zweifelhaften Elemente aus der Gesellschaft zu tilgen, weil niemand mehr sicher sein könnte.”

“Dann solltet ihr euch wohl eher Sorgen um eure eigene Haut machen”, entgegnete Rina, ehe sie das Glas Hyper-oats-Bourbon in einem Zug leerte.

“Stimmt, zunächst wird Sibyl es auf solche Gruppen wie uns abgesehen haben. Aber fragt euch wie lange es wohl dauert, bis auch ihr, die ihr unautorisierte Musik verbreitet, zum Ziel werdet. Das Sibyl-System wird erst zufrieden sein, wenn es alles vollkommen kontrollieren kann - sogar das Auftreten und Verschwinden aller, die die Gesellschaftsordnung stören oder zerstören wollen.“

Rina legte nachdenklich die Faust gegen ihr Kinn.

“Wir werden nicht für euch den Kopf hinhalten”, stellte sie klar.

“Das verlangt auch niemand”, erklärte der Maskierte, “Wir haben ein größeres Projekt in Planung und brauchen Personen mit euren Fähigkeiten. Personen, die einen Zugang zum Internet herstellen können, den Sibyl nicht überwachen kann. Personen, die sich noch mit analoger Verbindungstechnik auskennen und - mit dem richtigen Material - Kabel verlegen und Generatoren anzapfen können.”

“Und ihr habt das Material, das dafür nötig wäre, nehme ich an.“

“Haben wir. Eine freundliche Spende aus Sibyls letztem Material-Konvoi. Wir stellen die Ausrüstung, ihr sorgt für die Umsetzung. Was sagt ihr?“

“Rina, nein”, flehte Ayame, “Wir wandern alle in Isolationshaft, wenn wir erwischt werden.“

“Wenn es stimmt, was er sagt”, meinte Rina, “könnte das früher oder später sowieso auf uns alle zukommen. Ich habe es satt, mich wie eine Ratte im Untergrund verstecken zu müssen, Ayame. Aber sagt mal” - sie wandte sich wieder dem Anführer zu - “Was macht ihr gegen das Amt für öffentliche Sicherheit? Denkt ihr, die wissen nicht, dass ihr euch gerade hier aufhaltet?“

“Natürlich wissen sie das und das sollen sie auch”, gab der Mann durch den Stimmverzerrer zurück, “Sie werden aber nicht zugreifen - noch nicht. Da sie unbedingt wissen wollen, was wir vorhaben, würde ihnen ein Zugriff nichts bringen. Sie werden beobachten, wohin wir gehen und daraus ein Muster abzuleiten versuchen. Wir haben sie einmal ausgespielt. Das werden wir bald wiederholen. Die Frage ist: seid ihr dabei?“

Rina setzte sich an den Tisch und schenkte nach. Dann winkte sie den Mann mit dem Finger zu sich.

“Also, was genau ist das für ein Projekt?”
 

~
 

MWPSB - Einheit 1
 

“Kunizuka-san”, grüßte Akane, als sie in das Büro kam. Mit einem Blick sah sie an der angespannten Haltung der Vollstreckerin, dass diese nur zu gern los schlagen würde.

Yayoi deutete auf das Warnsymbol.

“Sie halten sich dort schon eine halbe Stunde auf. Vielleicht nicht nur der Mann mit dem Helm, sondern auch die anderen beiden. Wir waren doch schon einmal dort. Das wäre die Gelegenheit, Inspektorin.“

“Steckt dahinter wirklich nur der Wunsch, Wraith zu fassen oder auch der, alte Rechnungen zu begleichen”, fragte Akane und Yayoi wandte den Kopf ab, um ihr Erröten zu verbergen.

“Verzeihen Sie, wenn ich zu direkt war. Aber ich halte es für zu früh. Wenn wir auch alle drei festnehmen können, ist Wraith doch so gut organisiert, dass sie auch ohne Anführer handlungsfähig bleiben. Ich möchte lieber weiter beobachten, wohin er geht, welche Orte er aufsucht. Selbst eine Festnahme würde uns nicht verraten, was ihr nächstes Ziel sein wird. Nicht einmal ein Memory Scoop würde da helfen, weil er nur die Erinnerungen eines Menschen visualisiert, aber nicht seine Absichten.”

“Sie haben Recht. Verzeihen Sie, dass ich zunächst anderer Ansicht war, Inspektorin.”

“Das muss Ihnen nicht unangenehm sein, Kunizuka-san. Wenn irgendjemand - egal ob Inspektor oder Vollstrecker - eine Idee hat, die er für besser hält, als meine: nur raus damit. Ich wäre doch dumm, wenn ich nicht bereit wäre, von denjenigen zu lernen, die schon länger hier sind als ich.“

Yayoi wandte den Blick vom Bildschirm ab und betrachtete die Lebenslinien ihrer rechten Handfläche.

“Ich weiß schon gar nicht mehr, ob ich überhaupt noch so würde abdrücken können wie damals, sollte ich sie noch einmal wiedersehen”, sagte sie mehr zu sich selbst.

“Man kann nicht für immer von seinem Wunsch nach Vergeltung leben. Das hat Kogami-san einmal gesagt. Und er wird es festgestellt haben, nachdem er Makishima getötet hatte.”

“Ja, das passt zu ihm. Gibt es denn schon Neuigkeiten zu dem Mann, den er jagt?”

Das fragte Yayoi mit vorgehaltener Hand. Nach ihrem Geständnis an Mika hatte Akane die Ereignisse im Safe House den anderen Mitgliedern von Einheit 1 erzählt, jedoch unter der Bedingung, dass sie dieses Wissen vertraulich behandeln mögen.

“Bisher noch nicht. Ich werde versuchen, ihn bald zu kontaktieren. ”

“Unglaublich, dass es jemanden gibt, der in der Lage war, Cyborg-Klone von sich selbst herzustellen. Wir hatten in dem Glauben gelebt, dass mit der Entstehung des Sibyl-Systems Cyber-Kriminalität der Vergangenheit angehören würde - wie naiv.”

“Wer immer dieser Subadachan auch in Wirklichkeit ist, er hat einiges geleistet, wenn nicht einmal mehr Sibyl sagen kann, wer das Original ist und wer die Fälschung. Kunizuka-san, erstellen Sie doch bitte schon einmal ein vorläufiges Raster, wo der Mann von Wraith bereits überall war.”

“Wird erledigt, Inspektorin.”
 

~
 

“Kann ich mich darauf verlassen?”

Ginozas Frage hallte von den Wänden des schmalen Ganges wider. Er und Teppei lehnten an gegenüberliegenden Wänden in identischen Posen - die Arme verschränkt.

“Was meinst du?“

“Kann ich mich darauf verlassen, dass du die Sache mit Kogami für dich behältst? Das Sibyl-System muss nicht noch mehr wissen, als es ohnehin schon tut.“

Teppei biss die Zähne zusammen, als ein berstendes Geräusch durch seine Erinnerung peitschte. Nur Sekunden zuvor hatte er damals den extrem hohen Kriminalkoeffizienten gesehen und nach Vorgabe gefeuert. Erst später wurde ihm klar, dass er nicht irgendeinen Verbrecher erschossen hatte, sondern seine eigene Inspektorin. Es verging kein Tag, an dem diese Bilder ihn nicht verfolgten.

“Du tust gerade so als sei ich ein mieser Verräter. Kogami war auch mein Kollege”, beschwerte er sich, “Meinst du, ich würde mich nicht wie ein mieser Verräter fühlen? Ich war derjenige, der geschossen hat. Das trage ich mit mir, solange ich lebe.“

Ginoza hob den Kopf und sah seinen Kollegen den Blick abwenden.

“Du meinst Aoyanagi? Ob du es mir nun glaubst oder nicht, ich habe dir das nie vorgeworfen. Du hast einen kritischen Kriminalkoeffizienten erkannt und die Person vollstreckt. Hey.”

Teppei sah ihn wieder an.

“Ich will nicht, dass es herablassend klingt, aber: Wenn du es irgendwie schaffst, lass nicht zu, dass es dich auffrisst. Sonst geht es dir wie mir.”

“Du vergisst dabei, ich bin schon Vollstrecker”, erinnerte Teppei.

“Trotzdem. Zuletzt lag mein Kriminalkoeffizient bei 264”, gestand Ginoza, “Kannst du mir etwas versprechen? Sollte mein Kriminalkoeffizient jemals über 300 steigen, dann will ich, dass du deinen Dominator auf mich richtest und abdrückst.”

“Bist du verrückt geworden? Willst du unbedingt sterben?“

“Nein”, antwortete Ginoza und betrachtete seine prothetische Hand, “Vielleicht belüge ich mich auch nur selbst, aber… wenn ich dagegen kämpfe, dass mein Koeffizient noch weiter steigt, habe ich immer noch ein Ziel. Dann fühlt sich alles nicht so vollkommen ausweglos an, verstehst du?“

Zu seiner eigenen Verwunderung fühlte Teppei wie sich Ruhe in ihm ausbreitete, als er gemeinsam mit Ginoza schwieg. Es schien, als hätten sie etwas aus dem Weg geräumt, das zwischen ihnen gestanden hatte.
 

“Kann ich dich etwas fragen?” Wieder war es Ginoza, er das Schweigen brach. Teppei nickte.

“Du hast doch selbst einmal Drohnen konstruiert, programmiert und gewartet. Was weißt du über dieses Negator-Programm?”

“Nicht viel”, gab Teppei achselzuckend zu, “Es steht nicht gerade in den Lehrbüchern, außerdem war das Ganze vor meiner Zeit. Ich weiß, dass die Negator-Drohnen mit einem ganz klaren Ziel konstruiert wurden. Sie sollten den üblichen von Sibyl gesteuerten Militärdrohnen überlegen sein. In der Lage, sie zu vernichten. Anders als die meisten vermuten, wurde das Negator-Programm nicht von Sibyl, sondern von der damaligen Regierung in Auftrag gegeben. Das war zu einer Zeit, als Sibyl die Regierung noch nicht beherrschte. Viele sahen darin den Versuch der Regierung, Sibyl zu vernichten, ehe es zu mächtig wurde. Sibyl sah das leider auch so und kurz darauf wurde die Regierung von Sibyl übernommen und das Negator-Programm eingestellt. Schlimmer ist das, was vor fünf Jahren im Darknet kursierte.”

Als Teppei nicht gleich antwortete, blickte Ginoza ihn fragend an.

“Ich sag es dir, wenn du nicht unbedingt jedem sagst, dass du das von mir weißt.“

Ginoza schnaubte und stieß sich von der Wand ab.

“Jetzt lässt du mich wie ein mieser Verräter aussehen.”

“Schon gut. Also, vor fünf Jahren geisterte das Gerücht durch das Darknet, dass ein ausgewiesener Sibyl-Experte auf asiatischem Boden eine Revolution gegen das System plane. Der Name dieses Mannes lautet Senju Midari, ein Experte für das Computersystem, auf dem das Sibyl System basiert. Er soll das Unternehmen Equiretra gegründet und es durch verschiedene Fake-Fabriken geschützt haben. In einer bis dahin geheimen Einrichtung soll er schließlich an einer ganz neuen Generation der Negator-Drohnen gearbeitet haben. Der Modellname dieser Negator-Drohnen lautete “Gamato-Core”. Darunter liefen Negator, denen man ein KI-Modul eingebaut hatte. KI-Module bei Militärdrohnen waren aus unserer Sicht immer unnötig gewesen, da Sibyl die Militärdrohnen ja sowieso kontrollierte. Diese aber wären in der Lage gewesen, eine komplexe KI aufgespielt zu bekommen. Eine, die sich Sibyl hätte widersetzen können.“

“Hätte”, fragte Ginoza und zog eine Augenbraue hoch.

“Das Programm wurde natürlich durch die Ereignisse in Shambala unterbrochen. Lange bevor man signifikante Mengen dieser Drohnen hatte herstellen oder programmieren können, war es Sibyl gelungen, SEAUn zu übernehmen und damit fiel auch das Werk Senju Midaris und die Drohnenfabrik in Sibyls Hände. Einige Verschwörer behaupten, dass Sibyls ganzes Vordringen auf den asiatischen Kontinent unter anderem dem Ziel diente, der Produktion dieser Drohnen zuvor zu kommen. Jedenfalls führte die Fabrik ihre Produktion fortan nach Sibyls Maßgaben fort und die bis dahin gebauten Gamato-Core-Drohnen wurden vernichtet. Nur Eine ist noch übrig. Sie soll irgendwo in Japan stehen - stillgelegt. Zu Forschungszwecken. Deshalb alleine finde ich das, was Kogami über diesen Subadachan erzählt hat, etwas gruselig. ”

“Du meinst den Soul Scoop. Die ganze Persönlichkeit eines Menschen auf einem Speicherstick?“

Teppei nickte.

“Stell dir nur vor, er würde das letzte Exemplar der Gamato-Core in die Hände bekommen und seinen Soul Scoop auf die Drohne aufspielen. Herkömmliche Kriegsdrohnen könnten solche Datenmengen nicht verarbeiten, aber eine mit KI-Modul schon. 120 Tonnen reine Zerstörungskraft mit der Persönlichkeit eines Massenmörders und Kriegstreibers. Wer oder was sollte ihn dann noch aufhalten?”

“Hoffen wir, dass Kogami sich nützlich macht und ihn schnappt, bevor es dazu kommt”, knurrte Ginoza. Die Vorstellung, etwas so Wichtiges in die Hände seines verräterischen Ex-Kollegen geben zu müssen, stieß ihm noch immer etwas sauer auf. Gemeinsam mit Teppei trat er den Rückweg in die Büroräume an - ihre Pause näherte sich dem Ende.
 

~
 

Für Sho Hinakawa begann sie gerade erst und damit ein jeden Tag gleicher Spießrutenlauf.

Wie ein Gefängnisinsasse beim Ausbruchsversuch stahl er sich durch die Gänge, achtete auf jede Bewegung, horchte auf jedes Geräusch, um bloß jede unliebsame Begegnung mit Inspektoren oder Vollstreckern anderer Abteilungen zu vermeiden und sicher einen der kleinen Aufenthaltsräume zu erreichen.

Es lag nicht einmal daran, dass er die anderen nicht mochte. Sie verunsicherten ihn bloß. Er wusste nicht wie er sich ihnen gegenüber angemessen verhalten sollte und zweifelte daran, dass sie ihn mögen würden.

Wer sollte ihn schon mögen, meldete sich diese unsichtbare, völlig entleibte Stimme aus ihm. Ein Überbleibsel seiner eigenen Geister, das den Umgang mit anderen Menschen so sehr erschwerte.

Endlich war er in einem der kleinen weiß getünchten Räume angekommen. Einige künstliche Farne standen in den Ecken und ein holographischer Wasserfall sollte wohl Ruhe verbreiten.

Er ließ sich in einen der Sitze sinken und bereitete sein Müsli vor.
 

Zu den anderen von Einheit 1 hatte er inzwischen sogar so eine Art von Zutrauen entwickelt, dachte er.

Akane mochte er unverhohlen am liebsten. Wenn sie lächelte, konnte er einen Moment lang daran glauben, dass alles gut werden würde. Mika war schwer einzuschätzen. Aus den vielen Mangas, die er heimlich las, passte vor allem der Typ “tsundere” zu ihr, obwohl er nicht recht wusste, wo bei Mika das “dere” geblieben war. Er konnte nie wissen, ob sie ihn nun loben oder treten würde.

Ginoza und Kunizuka hatten die Autorität des älteren Bruders bzw. der älteren Schwester gemeinsam, waren aber in ihrer Ernsthaftigkeit angsteinflößend. Teppei letztlich war zwar unendlich freundlich, aber - genau wie Sho selbst - nicht der gesprächigste Mensch, so dass zwischen ihnen selten etwas anderes als Schweigen herrschte.
 

Sho hatte gerade die kleine Pillendose um seinen Hals geöffnet und wollte seine Mittagsration an Tabletten in die Cerealien geben-

“Verzeihung, ist der Raum belegt”, fragte eine Stimme, die er so schnell nicht zuordnen konnte.

Er drehte sich um und blickte zu Inspektor Kojirou Mitsuba auf.

“J-Ja”, stammelte er gedankenlos, besann sich aber gleich wieder, als ihm klar wurde, wie unhöflich das klang, “Ähm, ich meine, nein.“

“Dann ist ja gut, ich fürchte immer, die anderen Kollegen würden mich auslachen, wenn sie erfahren, was ich in meiner Pause mache.”

Damit hatte er unbewusst eine von Shos Grundängsten zitiert.

Er nahm gegenüber von Sho Platz und stellte eine weiße, aus dem Schnabel dampfende Teekanne auf den Tisch.

Sho wusste nicht, was er nun machen sollte. Er konnte doch nicht vor einem Inspektor Tabletten in sein Müsli schütten.

Unmerklich hatte er die Hand fest um das Pillendöschen gekrallt.

“Was glaubst du, würde passieren, wenn du dich entschiedest, sie einfach nicht mehr zu nehmen?“

Shos Blick folgte dem des Inspektors zum Pillendöschen. Ertappt ließ er es los.

“Das, äh, das, das geht nicht”, stammelte er.

Mitsuba drängte ihn nicht weiter. Er schwieg einfach und goss den dampfenden, hellgrünen Inhalt der Kanne in eine kleine Porzellanschale, so fein gearbeitet, dass sie fast lichtdurchlässig war.

Sein Schweigen ließ Sho die Wahl, weiter zu schweigen, zu fliehen oder zu reden. Er entschied sich, wofür er sich noch nie zuvor entschieden hatte.

“Ich will nicht werden wie früher”, brachte er hervor und starrte in seine Hände, die wegen der verzögerten Einnahme der Tabletten zu zittern begonnen hatten.

Mitsuba leerte in Seelenruhe seine Teeschale und ließ ihn dabei nicht aus den Augen.

“Ich hatte früher… viel früher mal das Eu… Eu-Stress-S-Syndrom. Das hatte ich für einige Jahre, an die… ich mich gar nicht mehr erinnere. Irgendwann bin ich dann… aufgewacht.”

Er drückte jetzt nervös an seinem Pillendöschen herum. Es fühlte sich an als würden - von seinen Händen ausgehend - Tausende Ameisen unter seine Haut und in ihn hinein krabbeln.

“Nimm diesmal bloß eine von ihnen”, schlug Mitsuba vor.

Sho gehorchte und wusste nicht einmal, wieso. Es fühlte sich beinah unangenehm an, nur eine einzelne Tablette ganz ohne sein Müsli zu schlucken. Fast so, als sei er krank.

“Gut”, ermutigte Mitsuba, “Jetzt versuch es hiermit.”

Er stellte eine weitere kleine Teeschale vor Sho hin und füllte sie.

“Nimm sie. Und konzentriere dich nur darauf. Achte nicht auf deine Hände oder auf mich oder sonst etwas um dich herum, sondern nur darauf.”

Sho hob das Schälchen und atmete die Wärme des Tees ein. Dann nahm er einen Schluck. Ungesüßt, bitter, warm, echt.

“Wenn du es niemandem verrätst” - Mitsuba lehnte sich zu ihm herüber - “das hier ist kein Hyper-Oats-Tee. Der hier ist noch handgepflückt. War nicht ganz einfach, da ran zu kommen.”

Sho stellte die Schale ab, dann blickte er wie versteinert auf seine Hände - sie hatten aufgehört, zu zittern. Auch das Verlangen nach mehr Tabletten war nicht mehr so stark.

“Weißt du: Manchmal sind die Dinge, die wir am meisten fürchten, eben jene, die wir tun müssen, um voran zu kommen. Behalte die Schale. Und trinke mehr Tee. Er ist gesund.”

Mitsuba erhob sich und tätschelte Sho den Kopf, ehe er seine Kanne nahm und ging.

Sho saß noch lange dort und starrte auf die kleine weiße Porzellanschale, bis er aus seinen Gedanken erwachte und langsam - beinah unwillig - sein Müsli aß - ohne weitere Tabletten.
 

~
 

Leider erwiesen sich alle Versuche, die von Wraith geschickte Botschaft zu entziffern, als hoffnungslos. Den Rest des Arbeitstages verbrachten alle Mitglieder von Einheit 1 damit, Vermutungen anzustellen. Egal wie viele Shakespeare-Referenzen Akane vor ihrem inneren Auge rezitierte, die Botschaft konnte alles und nichts bedeuten und sich auf alles beziehen… oder auf nichts.

Während Ginoza und Teppei weiterhin davor warnten, dass Wraith diese Botschaft nutzen konnte, um sie alle in eine Falle zu locken, war Mika höchst unzufrieden damit, dass sie herumsaßen und nichts unternahmen, wo sie doch die Position des Maskierten bestimmen konnten. Yayoi teilte diese Meinung, auch wenn sie es besser zu verbergen vermochte. Sho dagegen hatte keine so klare Meinung und war noch immer etwas abgelenkt von seinem Aufeinandertreffen mit Mitsuba.

Unterschwellig frustriert ließ Akane es darauf beruhen und erklärte, sie werden die Recherchen am Freitag fortsetzen.

Mika seufzte und legte sich die Hand über die Augen. Was immer Inspektorin Tsunemori auch vorhaben mochte, es konnte nicht gut ausgehen. Die ganze Einheit war schon wie eine Bande Möchtegern-Geisterjäger auf der Jagd nach jeder kleinsten Spukmeldung in der Stadt.

Doch für heute war sie erschöpft und hatte keine Lust auf weitere Konflikte.

Sie stand auf, reckte sich und verließ das Büro.

“Schönen Abend”, murmelte sie zu Sho und merkte erst, als sie längst auf dem Gang war, dass sie das eben zu einem Vollstrecker gesagt hatte.

Sie zuckte die Schultern und ging weiter. Nur noch kurz aufs Laufband, duschen und nach Hause.

Sie wusste schon, als sie in den Trainingsräumen ankam, dass sie leider nicht die Letzte dort war.

Um die Ecke spähend, erkannte sie Akane im Kampf mit einem Sparringsroboter. An der Anzeige warf zu erkennen, dass das Sparringsprogramm auf die höchste Schwierigkeitsstufe eingestellt war.

Akane griff aber nicht an. Der Roboter war der Erste, der zum Angriff ansetzte. Mit beeindruckender Geschwindigkeit duckte sich Akane unter dem Angriff weg und nutzte das Bewegungsmoment ihres Gegners, um ihn über sich auf die Matte zu schleudern.

Das ist doch… Aikido. Typisch für Tsunemori, einen friedlichen und passiven Kampfsport zu wählen.

Mika seufzte. Es half wohl nichts. Sie wollte einfach nicht warten, bis ihre Vorgesetzte gegangen war.

Also stand Mika bereits auf dem Laufband, als der Sparringskampf von Akane endete.

Mika versuchte, ihre Vorgesetzte zu ignorieren, wie sie den orange blinkenden Scanner am Laufband ignorierte. Sie hasste es, dass an allen nur erdenklichen Geräten heutzutage Scanner angebracht waren.

Fast empfand sie Sympathie mit dem verblichenen Vollstrecker Masaoka, als sie sich erinnerte, was dieser einmal gesagt haben soll: Du kannst nicht vor dir selbst weglaufen, wohin auch immer du läufst. Wenn du ankommst, bist du bereits da.

Sie war in diese Gedanken hineingezogen worden, so dass sie gar nicht bemerkte, als sie im Trainingsraum Gesellschaft bekam.

Erst das Klicken eines Sturmfeuerzeugs und der erste Zug an einer Zigarette machten ihr das klar.
 

Mika hatte so sehr gehofft, sie könne dem peinlichen Schweigen entgehen und schnell entkommen. Denn ganz gleich wie wenig sie ihre Vorgesetzte auch mochte und wie sehr sie ihr deren Stellung neidete, es gab etwas, das sie getan hatte. Etwas, das sie selbst ihrem verhasstesten Feind nicht wünschen würde und was sie nicht wieder zurücknehmen konnte.

Den Abend, an dem Mika erfahren hatte, was mit Akanes Großmutter geschehen war, hatte sie sich übergeben müssen. Und sich dagegen gewehrt, zu weinen. Das wäre heuchlerisch gewesen. Tränen waren den Unschuldigen vorbehalten.

Doch je länger sie dort schweigend lief und sich der Anwesenheit Akanes bewusst war desto mehr schrie etwas in ihr danach, zu gestehen. Den ganzen verachtungsvollen Schmutz ausspucken und dieses erdrückende innere Gewicht loswerden.

Stattdessen wich sie auf etwas Zwangloseres aus.
 

“Wieso Aikido”, fragte sie schließlich.

“Hm?” Akane, die bis dahin, im Gegensatz zu Mika, nach etwas gesucht hatte, worüber sie reden könnte, hob den Kopf.

“Liegt es daran, dass Aikido eine gewaltlose und friedfertige Kampfkunst ist”, fragte Mika weiter.

Akane drückte die Zigarette aus und erlebte ein Déjà-vu. Einige Jahre war es nun her, dass sie auf solch einem Laufband gestanden hatte und der damalige Vollstrecker Togane war da gewesen und hatte geraucht.

“Ich denke, das hat eher pragmatische Gründe. Die meisten meiner potentiellen Gegner werden größer, schwerer und damit auch stärker sein als ich. Es musste also eine Kampfkunst sein, bei der das keine Rolle spielt und ich die Chance habe, Größe, Gewicht und Kraft des Gegners gegen ihn zu nutzen.

“Ich verstehe”, gab Mika zurück.

“Gibt es noch etwas, das Sie mir sagen wollen, Shimotsuki-san?”

Dass Mika bei dieser Einladung zusammen zuckte, bemerkte Akane nicht.

“N-Nein, es gibt nichts weiter. Ich hoffe nur, wir… finden heraus, was Wraith plant.”

Das sagte sie nicht etwa, weil sie es meinte, sondern weil sie die Richtung des Gesprächs mit aller Macht abwenden wollte.

“Meine Großmutter hat einmal gesagt, dass die wichtigsten Dinge dann zu uns kommen, wenn wir aufhören, danach zu suchen. Vielleicht bin ich zu verbissen an alles heran gegangen.”

Mika stöhnte innerlich bei der Erwähnung von Akanes Großmutter.

“Wir werden es schon herausfinden”, presste Mika hervor, woraufhin sie mit einer hektischen Verabschiedung floh.

“Das ist ja ausgezeichnet gelaufen”, sagte Akane ironisch in den leeren Raum hinein, “Ich fürchte, ich muss direkter werden.”
 

Eine für diese Uhrzeit ungewöhnliche Aufregung hatte Akane ergriffen, als sie nach Hause kam. Sie wollte zwar den Ratschlag ihrer Oma beherzigen, nicht aber all ihre Ermittlungen aufgeben. Und es gab da eine auf deren Fortschritt sie besonders neugierig war.

Sie stieg nach einer schnellen Dusche aus dem noch dampfenden Bad, ihrer Gewohnheit nach nur in Unterhose und mit einem Handtuch über den Schultern und setzte sich an ihren Tisch. Dort lag bereits eine Art graues Amulett mit einer Modellnummer des Amtes für öffentliche Sicherheit und dem Titel “Pillbug Interface”.

Ein Druck auf die Oberfläche rief ein holografisches Display und eine ebenso holografische Tastatur hervor.

Das Display zeigte zunächst nichts an, bis verschwommene Umrisse sichtbar wurden, ähnlich einer sich scharf stellenden Kameralinse. Mehr und mehr war ein spärlich eingerichteter Raum zu erkennen, durch dessen große Balkonfenster die nächtlich erleuchtete Skyline von Tokio sichtbar wurde.

Direkt im Blick des Displays war auch ein Tisch, der verdächtig bestückt war mit einem noch sehr altertümlichen Laptop, einem Aschenbecher, in dem sich bereits die Zigarettenstummel drängten und einer Glasflasche mit bräunlichem Inhalt, auf deren Etikett “Grant Hughes Kentucky Straight” geschrieben stand.

Einen Augenblick später konnte sie, aus einem anderen Raum kommend, eine vertraute Stimme hören.

“Unsere bisherige Sorge war doch immer, dass er Militärdrohnen hacken könnte, nicht wahr?“

Akane stützte die Unterarme auf den Tisch, um dem Display näher zu sein.

Als der Sprecher keine Antwort erhielt, fuhr er fort:

“Ich hätte eine noch schlimmere Vorstellung, denn es gibt noch eine Art Drohne, die solche Datenmengen wie die eines Soul Scoops aufnehmen kann: eine Asseldrohne. Was wenn Subadachan nicht nur seinen Cyborgs, sondern auch einer unbekannten Anzahl dieser Miniaturdrohnen seinen Soul Scoop aufgespielt hätte? Er könnte alle seine Gegner ausspionieren, Drohnen und Computersysteme hacken und sich unbemerkt von überall her Informationen beschaffen.”

Wenn Sie wüssten, dass ich Ihnen damals im Safe House so eine Asseldrohne in die Tasche geschmuggelt habe, Kogami-san, dachte Akane mit einem Lächeln.

Kogami schritt ins Bild, bekleidet nur mit einer schwarzen Hose und ebenfalls einem Handtuch über die Schultern drapiert.

Akane schluckte. Das erste Mal, dass Sie Ihren ehemaligen Vollstrecker so gesehen und auch bewusst wahrgenommen hatte, war bei seinem Training gewesen. Seitdem waren die Situationen, in denen sie ihn ebenfalls so gesehen haben mochte, immer derart gefährlich gewesen, dass sie mit anderen Dingen beschäftigt gewesen war.

Diese Situation war aber eine andere. Sie fühlte sich ein wenig schäbig wie eine Voyeurin, zuzusehen wie noch Wassertropfen in seinen stachelig abstehenden Haaren hingen oder wie die metallenen Militärmarken auf seiner Brust glänzten.

Hör auf, hin zu starren, ermahnte sie sich selbst, während es ihr warm und kribbelnd den Nacken herunterlief.

“Findest du es nicht auch seltsam”, begann Kogami, als er eine Zigarette aus seiner Schachtel fischen wollte, nur um festzustellen, dass sie leer war, und sie frustriert in eine Ecke des Raumes warf, “dass Akane mich nach dem Drohnenangriff einfach so wieder vom Haken gelassen hat?”

Ihr Herzschlag verdoppelte sich, als sie das Display anblinzelte.

Akane? Wenn er allein ist, nennt er mich… Moment: Mit wem spricht er?

Als Antwort auf ihre Gedanken ertönte eine zwitschernde und ihr ebenfalls wohl vertraute Stimme.

“Ich schätze die Wahrscheinlichkeit, dass Akane-chan damit einen Plan verfolgt hat, auf 78 %.”

Akane blinzelte wieder als eine kleine, quirlige und pinkfarbene Qualle in das Display schwebte.

Candy? Das kann nicht sein, ist das etwa meine Candy?

“Ja, das denke ich auch.”

Kogami kam mit schnellen Schritten auf das Display zu und Akane tippte schnell über die holografischen Tasten, um die kleine Überwachungsdrohne außer Sicht zu manövrieren.

Sie hörte Kogami in der Tasche wühlen.

“Ich fürchte, das war tatsächlich meine letzte Schachtel”, hörte sie ihn murmeln und konnte ein Lächeln nicht verbergen.

Ihre vielleicht schon, Kogami-san. Aber nicht meine.

“Was zum-”

Ihr Lächeln verbreiterte sich, als sie hörte, dass er gefunden hatte, was er finden sollte.

“Das ist nicht meine Schachtel”, sagte er mehr zu sich selbst.

“Ah, ich verstehe. Kleine, durchtriebene Inspektorin.“

Akane schob die Unterlippe vor.

Ein einfaches Danke hätte es auch getan, Kogami-san.
 

Als sie hörte wie er eine Zigarette anzündete, rückte sie die Drohne wieder in Position, so dass Kogami wieder auf dem Display erschien.

“Zurück zum Thema”, begann Kogami und wandte sich der immer noch durch den Raum schwebenden Candy zu, “Hue hat gesagt, dass der echte Subadachan zusammen mit seinen Cyborgs irgendwo in diesem Land sein muss. Und auch wenn ich Hue nicht zu Einhundert Prozent vertrauen kann, denke ich doch, dass er in diesem Punkt die Wahrheit gesagt hat. Es ist doch sehr unwahrscheinlich, dass der echte Subadachan sich so einen Spaß entgehen ließe. Ich glaube auch nicht, dass er mit Sibyl zusammenarbeitet. Sibyl strebt Frieden an. Zwar einen pervertierten und durch Versklavung erreichten Frieden, aber Frieden. Das passt nicht mit Subadachans Gesinnung zusammen. Für jemanden wie ihn ist Frieden nicht lukrativ. Er braucht Krieg, Anarchie und Chaos, um den meisten Profit zu machen. Was aber sollte er hier in Japan wollen, wenn er nicht auf Sibyls Seite ist? Aber das können wir uns wohl für später aufheben. Wichtiger finde ich, dass wir herausfinden, wer der ursprüngliche Subadachan war. Er muss früher einmal einen offiziellen Namen und ein einziges wahres Gesicht gehabt haben.”

“Manche Gerüchte besagen, er stamme aus Osteuropa”, informierte Candy, “Andere behaupten, er sei Asiate. Und wieder andere-”

“-sagen, er sei Afrikaner. Um Licht in diese Sache zu bringen, müssen wir dahin gehen, wo das alles angefangen hat. Diese ganze Geschichte begann vor genau zehn Jahren in Südindien. Damals meldete sich aus dem Untergrund ein Mann zu Wort, der sich selbst “King Sutamjeet” nannte und behauptete, der neue Herrscher Indiens zu sein. Das ist, wie ich glaube, Subadachans erste falsche Identität gewesen. Natürlich konnten weder die Regierungstruppen noch diverse Warlords im Land einen neuen Aufrührer gebrauchen. Auf der Jagd nach King Sutamjeet trafen Warlords und Streitkräfte zwangsläufig aufeinander und es kam zu blutigen Kämpfen. Wie sich aber herausstellte, hatte Subadachan es genau auf diese Auseinandersetzungen abgesehen, denn in den folgenden Monaten lieferte er Waffen und Ausrüstungen verdeckt sowohl an die indische Regierung als auch an die Clanführer. Daran verdiente er. Mit diesem - wenn man so will - “Startkapital” setzte er seine Reise nach Südkorea fort. Dort wirkte im Jahre 2110 ein Cyberterrorist mit dem Decknamen Jae-Son Paak. Er legte Krankenhäuser lahm, plünderte Firmendaten und stahl Sicherheitsinformationen, Mastercodes, sensible Militärdaten. Er stellte niemals Forderungen, erpresste nicht und nannte keine Bedingungen. Er nahm sich, was er bekommen konnte und verschwand dann wieder im Nichts. Weiter ging es in Malaysia, 2113. Dekuman Javanatram war dort der Name. Er betrieb vornehmlich Menschenhandel. Schließlich war es ab 2116 Subadachan, der ebenfalls Menschenhandel betrieb. Er war verantwortlich für die Bevölkerung von Shambala Float. Mit Desmond Rutaganda zusammen hat er etwa 45 % der damaligen latenten Verbrecher an die Regierung verkauft. Ich hatte gehofft, als ich damals nach Shambala reiste, auch Subadachan zu erwischen. Leider vergeblich.”
 

“Autsch!”

Akane war froh, dass die kleine Asseldrohne ihren Aufschrei nicht übertragen konnte.

Sie hatte Kogami so gebannt zugehört, dass sie die Zigarette zwischen ihren Fingern ganz vergessen hatte, bis diese heruntergebrannt war.

Wie aber wollen Sie herausfinden, wer Subadachan wirklich ist, fragte sich Akane, während sie an ihrem wunden Finger nuckelte.
 

“Noch vor dem Erscheinen von King Sutamjeet ereignete sich damals in Indien der mysteriöse Mord an 18 Menschen. In einer Berghöhle wurden vier Monate vor Sutamjeets Ankündigung die Leichen dreier Männer gefunden. Sie waren Schlepper gewesen. Menschen, die Sibyl-Flüchtlinge aus Japan schmuggelten und als Billig-Arbeiter über den asiatischen Kontinent verteilten. Da sich SEAUn damals noch nicht in Sibyls Händen befand, war solch ein Transfer möglich. In einer weiteren Höhle etwa 15 Kilometer entfernt wurden zudem die Leichen von 15 weiteren Menschen gefunden. Diese Leute müssen die “Ware” der Schlepper gewesen sein. Menschen, die vor dem Sibyl-System fliehen wollten und in die Fänge der Schlepper geraten waren. Ich habe mich daraufhin mit Freunden in Südkorea in Verbindung gesetzt, die sich den Fall noch einmal vorgenommen haben. Sie konnten unter Kontaktleuten der Schlepper herausfinden, dass diese 16 Personen an Bord ihres Bootes gehabt hatten. Das heißt, unter den ermordeten Personen in Indien fehlt eine. Diese Person muss der Täter sein.

Was ich jetzt sage, ist zwar vollkommen spekulativ, es stellt sich mir zumindest äußerst schlüssig dar.”

Akane ertappte sich dabei wie sie wieder einmal an ihrer Unterlippe kaute.

“Das Boot der Schlepper wurde ebenfalls in Südkorea gefunden. Laut dessen Logprogramm fuhren die drei Männer mitten in der Nacht aufs Meer hinaus in Richtung Japan. Sie kehrten jedoch auf halbem Wege wieder um und erreichten Südkorea mit 16 Personen an Bord ihres Bootes.”

“Erklären Sie wie das möglich war, Mister Kogami”, fragte Candy vergnügt.

“Es kann nur eine, logische Erklärung dafür geben. Es muss mitten auf dem Meer einen Austausch gegeben haben. Vor der Übernahme von SEAUn durch Sibyl war das Verschiffen von Flüchtlingen von Japan auf das Festland ein großes Geschäft. Viele größere Schiffe transportierten solche Menschen nach Südkorea oder an das südostasiatische Festland. Viele solcher Schiffe tauschten unterwegs Menschen mit Schleppern aus und ließen sich dafür bezahlen. Auf diese Weise konnten sie Menschen mit bereits getrübten Farbtönen loswerden. So muss es auch im vorliegenden Fall gewesen sein, denn an dem Abend davor war tatsächlich ein solches Schiff von Japan ausgelaufen. Das war der Abend des 13. November, 2108. Das Schiff kam niemals in Südkorea an. Was genau passierte, bleibt unklar. Es muss auf der Überfahrt kurz nach dem Austausch mit den Schleppern gesunken sein. Alle 110 Menschen an Bord kamen ums Leben.”
 

Akane hatte dabei ein ungutes Gefühl in der Magengegend und war an die Unterhaltung mit ihren Eltern erinnert.
 

“Ich sage dir, was ich glaube. Unterbrich mich, wenn dir etwas nicht logisch vorkommt.

Geht klar, dachte Akane und musste schmunzeln, dass sie Kogami schon in Gedanken antwortete, obwohl er mit Candy gesprochen hatte.
 

“Ich glaube, der echte Subadachan ist Japaner und er ist absichtlich als Flüchtling an Bord des Schiffes gekommen. Er muss irgendwie den Austausch durch die Schlepper eingefädelt und sich selbst an Bord begeben haben. Anschließend aktivierte er unbemerkt Sprengladungen in dem Schiff und versenkte es. Er reiste zusammen mit den Schleppern über den asiatischen Kontinent und tötete diese, als er die Gelegenheit hatte. Zuletzt tötete er die Flüchtlinge, die mit ihm gekommen waren.

Und das war alles: In Japan hielt man ihn für tot, weil das Schiff gesunken war. Sibyl untersucht solche Vorfälle nicht. Zudem waren alle Menschen tot, die seinen Namen kannten oder wussten wie er aussah. Die Geburtsstunde für King Sutamjeet und alle, die folgten, einschließlich Subadachan.”

“Aber wenn alle tot sind, die wussten wie er heißt, wie wollen Sie dann herausfinden, wer er ist“, fragte Candy und verbog ihre Tentakel, um ein Achselzucken zu imitieren.

“Weil er einen Hinweis hinterließ, als er seine Morde beging. 15 Flüchtlinge wurden tot in der Höhle gefunden. 12 davon waren direkt in ihren Zellen mit einer MG erschossen worden. Aber die drei verbliebenen Flüchtlinge wurden aus den Zellen geholt und mit einem Katana getötet. Es musste also eine Beziehung zwischen diesen dreien und ihm bestanden haben, sonst hätte er sie getötet wie die anderen auch. Deshalb musste ich nach Japan zurückkehren. Nur hier konnte ich die Namen der Opfer ermitteln und herausfinden, in welcher Beziehung sie zum Täter stehen. Die Namen der drei mit dem Katana getöteten Flüchtlinge habe ich dir bereits übermittelt. Such doch bitte im Netz nach allem, was du zu diesen Personen findest. Wenn wir wissen, wer diese drei waren, wissen wir vielleicht auch bald, wer er ist.”
 

Von irgendwoher erklang das Krächzen eines alten Funkgerätes und eine kratzige Stimme drang hindurch.

“Yoko kommen. Yoko kommen. Yoko. Kommen, aber komm nicht zu früh, hahahaha!”

“Ich bin hier, Hue”, gab Kogami barsch zurück und wischte sich mit der Hand über das Gesicht, “Hast du etwa getrunken?“

“Yoko, ich schwöre bei Gott, seit wir uns kennen, hast du mich noch nie nüchtern erlebt.”

“Lass es mich anders ausdrücken: Warst du nüchtern genug, um irgendeine nützliche Information zu bekommen?“

“Muss reichen”, hörte er seinen Partner am anderen Ende, “Also, ich war da mal im CommuField unterwegs und da waren in letzter Zeit übermäßig viele Gäste aktiv.“

“Erklär mir das, Hue, ich war nie ein so ambitionierter CommuField-Nutzer.”

“Nun, die wenigsten wissen, dass man sich im CommuField auch ganz ohne Avatar und Nutzeraccount anmelden kann, als Gast sozusagen. Weil dies aber ein Sicherheitsrisiko wäre, muss man sich bei einem erneuten Besuch von derselben IP-Adresse anmelden. Da die meisten Nutzer Bekannte oder Freunde im CommuField haben, macht von diesen Gast-Logins kaum jemand Gebrauch. Das heißt, bis vor ziemlich genau drei Wochen. Seitdem hat es mehr Gastanmeldungen von unterschiedlichen IP-Adressen gegeben, als in den letzten fünf Jahren.”

“Und dahinter vermutest du Subadachan?“

“Er hat sich als jemand ausgegeben, der sogenannte ´Lost Placesˋ in und um Tokyo finden will, also Orte, die-”

“verlassen oder stillgelegt sind”, unterbrach ihn Kogami, “Ja, ich weiß, was Lost Places sind, Hue. Hast du einen Beweis dafür, dass diese Anmeldungen von Subadachan getätigt wurden?”

“Das ist Cop-Intuition, Yoko”, protestierte Hue.

“Bullshit. Die Intuition eines Bullen wird von seinem Wissen um die Fakten geweckt. Solange wir nicht sicher wissen, weshalb sich Subadachan für verlassene Orte interessieren sollte, ist das auch nur eine weitere kalte Fährte.”

“Aber das liegt doch auf der Hand, Yoko. Der Wechsel zum Sibyl-System damals kam doch fast einem Militärputsch gleich. Die Regierung versuchte das zu verhindern und scheiterte. Dutzende Offizielle und Politiker wurden des Landes verwiesen. Das heißt, an den stillgelegten Orten von Japan lagern viele Regierungsgeheimnisse: Baupläne für neue Technologien, Systemprozessoren, einfach alles. Das wurde nach der Automatisierung der Industrie alles nicht mehr gebraucht. Wer wäre Subadachan, wenn er sich das nicht unter die Nägel reißen wollte?“

Das stellt sich mir nun wieder auf äußerst schlüssige Weise dar, dachte Akane.

“Selbst wenn er darauf aus sein sollte, nutzt es uns nichts, wenn wir nicht wissen, welches Lager er ausräumen will. Zudem werden diese Lager auch heute noch so gut gesichert sein, dass man schon in der ganzen Stadt den Strom ausfallen lassen müsste, um hinein zu kommen”, erklärte Kogami.

Akanes Augen wurden groß dabei, denn plötzlich fiel ihr wieder ein, was sie unbedingt noch lösen wollte - sogar lösen musste.

“Wo du gerade auf sowas kommst, habe ich einen Namen für dich: Higetsu Tomoaka. Er war früher für die Wartung von Drohnen und ihre Lagerhäuser zuständig. Allerdings arbeitet er nun für die ansonsten voll automatisierte städtische Energieverwaltung. Man hört, dass er seit zwei Wochen seine Wohnung nicht mehr verlassen hat. Für mich ein eindeutiges Zeichen, dass da jemand was zu verbergen hat.”

“Weißt du, wo sich seine Wohnung befindet?”

“Leider nicht. Das war eine vertrauliche Information und ich besitze keine Autorisierung. Ich werd mich aber umhören und mich melden, sobald ich etwas weiß.”

“Ich verlasse mich auf dich, Hue”, verabschiedete Kogami seinen Partner.
 

Das ist es, schoss es Akane durch den Kopf. Wie konnte sie nur so blind sein? Wraith müssen geplant haben, das Stromnetz der Stadt zusammenbrechen zu lassen.

Sie ließ die Asseldrohne wieder Zuflucht in Kogamis Rucksack suchen und deaktivierte sie. Gleich darauf loggte sie sich in die Datenbank des Amts für öffentliche Sicherheit ein.

“Öffne Kontaktregister. Suche folgende Person: Tomoaka Higetsu.”

Verzeihen Sie mir bitte, Kogami-san. Ich fühle mich schlecht dabei, das von Ihnen gestohlene Wissen auszunutzen. Aber ich muss mit diesem Mann sprechen. Es ist äußerst wichtig.

Tomoaka Higetsu. Eintrag gefunden, gab der Computer zurück.

“Aktuelle Anschrift anzeigen. Autorisierung: Inspektorin Akane Tsunemori, Authentifizierungscode 00475-30157-1.”

Autorisierung bestätigt. Aktuelle Anschrift Tomoaka Higetsu: 1-1-5 Arakawa, Arakawaku, Tokio 116-8501.

Noch während der Computer die Adresse genannt hatte, war Akane bereits in ihre Dienstkleidung geschlüpft. Nun sprintete sie zur Tür.

Keine Sorge, Kogami-san. Ich werde mich für diese Information revanchieren, sagte sie sich.
 

~
 

11. November 2118, 00:23

Bezirk Arakawa - Tokyo
 

Hausnummer 1-1-5 im Bezirk Arakawa war ein alter Bau, noch aus den Zeiten vor Sibyl, also auch eines der wenigen übrig gebliebenen Gebäude, das eine Feuertreppe besaß. Die absolute Stille in dem Gebäudekomplex war nicht ungewöhnlich. In den letzten Jahren hatte eine Entwohnung dieser alten Gebäude stattgefunden, indem den verbliebenen Bewohnern modernere Wohnungen angeboten wurden. Auf diese Weise bekam man sie aus den alten Gebäuden, um diese schließlich abreißen und durch Neue ersetzen zu lassen.

Akane war auf dem Balkon angekommen und las den Namen an der alten Gegensprechanlage. Sie lehnte sich mit dem Rücken an die Wand neben der Tür und zog ihren Dominator.

Sicher ist sicher, sagte sie sich.

“Tomoaka Higetsu”, rief Akane nach einem Druck auf den Knopf der Gegensprechanlage, “Hier spricht das Amt für öffentliche Sicherheit, Kriminalabteilung! Bitte öffnen Sie die Tür!”

Mit angehaltenem Atem stand sie neben der Tür und horchte auf jedes Geräusch, das von innen kommen mochte. Doch es antwortete nur die Stille.

“Ich wiederhole: Öffnen Sie die Tür, Tomoaka-san oder wir öffnen Sie!” Sie verschwieg bewusst, dass sie allein war und wartete wieder. Nichts. Selbst eine dritte Aufforderung blieb unbeantwortet.

Akane schluckte und legte die Hand an den Türgriff. Sie musste feststellen, dass sich die Tür mühelos nach außen öffnen ließ.

Alle Instinkte eines Bullen schlugen dabei Alarm.

Mit der Fingerspitze schob sie die Türen zu den zwei Nebenzimmern, Bad und Schlafzimmer, auf. Alles war ordentlich aufgeräumt. Keine Spuren eines Kampfes oder Einbruchs. Außerdem bemerkte sie, dass keine Jacke an der Garderobe hing. Das könnte darauf hindeuten, dass Tomoaka seine Wohnung nicht überstürzt, sondern überlegt verlassen hatte.

Ob er wohl nur ausgegangen ist? Aber ausgegangen um halb Eins?

Akane betrat den Wohnraum, das größte Zimmer. Die Einrichtungsgegenstände stammten zweifellos ebenfalls aus der Zeit vor dem Sibyl-System, mit Ausnahme des Rechners, der auf einem geräumigen Schreibtisch auf der Stirnseite des Raumes stand.

Aber auch hier schien alles in Ordnung zu sein.

“Wenn er doch ohne große Hast fortgegangen ist, warum ließ er die Tür offen”, fragte Akane in den leeren Raum hinein, als sie sich um sich selbst drehte, um alles im Blick zu behalten.
 

“Also das kommt unerwartet.”

Akane zuckte zusammen. Diese Stimme kannte sie. Sie wirbelte zu dem Schreibtisch herum und sah sich einem Asiaten in grünem Gewand und schwarzem Bart gegenüber.

Instinktiv riss sie den Dominator auf Zielhöhe hoch, doch er empfing kein Signal und führte keinen Scan durch.

Akane wollte die Stirn runzeln, als ihr auffiel, dass das Bild von Subadachan unmerklich flackerte. Da bemerkte sie eine Asseldrohne an der Wand hinter dem Schreibtisch, die - einem Beamer gleich - das Bild in den Raum projizierte.

“Jetzt gebrauchen Sie also schon Asseldrohnen, um sich selbst nicht zeigen zu müssen.” Sie senkte ihren Dominator. “Hat Ihnen die Begegnung am Safe House gereicht?“

Ihr holografisches Gegenüber unterdrückte ein Schnauben.

“Du hast ganz schön Eier so mit mir zu reden, Kleines.“

“Was haben Sie mit Higetsu Tomoaka gemacht?”

“Gar nichts”, antwortete Subadachan mit einem Schulterzucken.

“Wo ist er dann?“

“Um ehrlich zu sein, weiß ich das gar nicht. Er hatte seine Wohnung heute früh verlassen, weil er sich vom System verfolgt fühlte. Offenbar war seine Vorahnung berechtigt. Ich hatte eher damit gerechnet, dass Kogami hier auftauchen würde.”

Akane versteifte sich bei diesen Worten und die Härchen in ihrem Nacken stellten sich unbehaglich auf.

“Woher wissen Sie-”

“Aber, aber”, unterbrach Subadachan, “Wo bleibt dein Spürsinn? Dachtest du, dass die Gewässer, in denen Kogami und sein Partner fischen, um an ihre Informationen zu kommen, sauber sind? Und wann immer es trübe Gewässer gibt, habe ich meine Köder darin ausgeworfen. Ich habe dem fetten, nutzlosen Säufer, Hue Grant, absichtlich den Namen dieses Mannes zugespielt. Ich wusste, er würde diese Information Kogami weitergeben, der dann hierher gekommen wäre. Glück für ihn, dass du ihm zuvor gekommen bist. Für dich aber ist es Pech.”

“Was reden Sie da?“

Während sie sprachen, waren Akane weitere Asseldrohnen aufgefallen, die an den Wänden und der Decke umher krabbelten. Aus den Augenwinkeln hatte sie ein halbes Dutzend gezählt.

“Nun, wie gesagt war das hier für Kogami gedacht, aber jetzt habe ich es mir anders überlegt. Du bist eine lästige kleine Bazille und gefährdest meine Arbeit, also entsorge ich dich besser gleich. Diese Asseldrohnen sind alle mit Sprengköpfen ausgestattet. Es heißt Goodbye in 5, 4, 3-”

Panik hatte gar keine Zeit, in ihr hochzusteigen. Instinktiv wandte sie sich der Wohnungstür zu und sprintete los.

Sie wusste, dass die Tür hinter ihr zugefallen war und erinnerte sich daran, dass das Balkongeländer schon bessere Zeiten gesehen hatte. Sie konnte nur zu allen Kami beten, die ihr einfielen, dass Tür und Geländer morsch genug waren.

Im rechten Moment nutzte sie die Bewegungsenergie ihres Sprints und machte einen Satz mit den Füßen voran gegen die Tür.

Die Tür war gerade aus den Angeln geflogen und hatte - wie erhofft - das Balkongeländer abgerissen, so dass sie über den Balkon fiel, als die Wucht der Detonation sie wie ein Kanonenschlag in den Rücken traf, gefolgt von unbeschreiblicher Hitze. Der Fall aus dem zweiten Stock war kurz und wurde teilweise durch die Tür abgefedert, dennoch entfuhr ihr beim Aufprall ein erstickter Schrei, als sie auf ihrer rechten Schulter landete und sengender Schmerz darin explodierte.

Explosion. Mit zusammengekniffenen Augen, nur auf Glück hoffend, rollte sie sich von der Stelle weg, um Sekunden danach den Aufschlag von Trümmerteilen zu hören. Weiterer Schmerz blieb aus und als das Klingen in ihren Ohren nachgelassen hatte, war es still. Still, bis auf das Knirschen von brechendem Stein und dem Brüllen des Feuers, das nun weithin die Nacht erhellte.
 

Ginoza massierte seinen Nasenrücken mit Daumen und Zeigefinger. In Momenten wie diesen wünschte er sich seine Brille zurück. Dann hätte er ihr die Standpauke halten können, die sie verdiente.

“Ein Außeneinsatz mitten in der Nacht: ohne ausdrückliche Anweisung, ohne Begleitung, nur auf die Vermutung hin, dass der Bewohner etwas wissen könnte. Obendrein das Ausrücken der gesamten Einheit 1, nachdem du dich gemeldet hattest. Soll ich noch weitermachen?”

Akane saß mit gesenktem Kopf und heißen Ohren auf der Rampe des Panzerwagens für die Vollstrecker.

“Ich denke, es ist nicht damit getan, wenn ich mich entschuldige, Ginoza-san.”

“Nein, ist es nicht. Gib mir deinen Arm. Er ist ausgekugelt, also renke ich ihn wieder ein.“

Er legte ihr eine Hand auf die Schulter und fasste ihren Arm mit der anderen.

“Beiß die Zähne zusammen.”

Sie hatte kaum genug Zeit, das zu tun, als Ginoza mit einem kräftigen Ruck ihre Schulter wieder in das Gelenk springen ließ… und Akane zum zweiten Mal in dieser Nacht vor Schmerzen schrie.

“Verdammt”, fluchte sie und versuchte die Tränen wegzublinzeln, die ihr in die Augen geschossen waren.

“Gern geschehen. Allerdings solltest du noch eine Schlinge tragen und den Arm schonen. Was hast du dir dabei gedacht? Du hättest sterben können. Außerdem hätte dich hier genauso gut der echte Subadachan oder ein weiterer Cyborg erwarten können. Woher wusstest du überhaupt von diesem Ort?”

Sie stand von ihrem Platz auf und flüsterte ihm ihre Antwort zu. Obwohl er sich bemühte, unnachgiebig zu blicken, sah sie Ginozas Mundwinkel zucken.

“Du hast Kogami eine Asseldrohne untergejubelt, um ihn auszuspionieren? Das kann wieder nur dir einfallen”, gestand Ginoza nicht ohne Stolz in der Stimme und kratzte sich am Kopf.

“Ich vertraue zwar darauf, dass Kogami-san sich melden wird. Aber, genau wie wir beide, neigt auch er dazu, seine Bürden allein zu tragen weswegen ich glaube, dass er bei einer Rückmeldung mehr als die Hälfte der Dinge, die er weiß, für sich behielte.”
 

Mika gesellte sich nun zu ihnen. Nach den Ringen unter ihren Augen zu urteilen, war sie durch den von Akane abgesetzten Notruf ziemlich abrupt aus der Nachtruhe gerissen worden.

“Bitte verzeihen Sie die Umstände, Shimotsuki-san”, entschuldigte sich Akane mit einer Verbeugung.

“Sie werden hoffentlich verstehen, dass ich diesen Vorfall der Direktorin melden muss”, informierte sie emotionslos, aber der Blick, mit dem sie Akane geradezu erdolchte, sagte eher so etwas aus wie: Hätte die Explosion sie erledigt, dann würde ich jetzt noch schlafen können.

“Andere Frage”, meldete sich Ginoza wieder, als er sicher war, dass sich Mika außer Hörweite befand, “Was wolltest du von dem Mann, der hier gewohnt hat?“

Akane hatte gerade Luft geholt, um zu antworten, als er ablehnend die Hand hob.

“Nein, vergiss es. Du lässt dir jetzt den Arm verbinden und gehst nach Hause, um das an Schlaf zu bekommen, was du noch bekommen kannst. Wir sehen uns mor-” Er unterbrach sich und sah auf seine Uhr: 00:56.

“Wir sehen uns heute, wenn die Schicht beginnt. Allerdings begibst du dich zunächst zu Karanomori. Sie soll deine Schulter auf Knochenabsplitterungen oder andere ernstere Verletzungen untersuchen.”

Er wollte sich gerade abwenden, als Akane seinen Namen rief.

Sie stand hinter ihm, so nahe, dass er sie hörte, ohne sich umdrehen zu müssen.

“Die Sprengfallen hier waren für Kogami-san gedacht, hat er gesagt.“

Er konnte die Sorge in ihrer Stimme hören und so gern er ihr auch zugegeben hätte, dass er diese Sorge teilte, musste er hart bleiben. Daher entrang er sich nur ein genervtes Schnauben.

“Ich habe dir gesagt, du sollst ihn vergessen und einfach irgendwo sterben lassen. Das hier… wäre doch das passende Ende für ihn gewesen.”

“Seien Sie ehrlich, Ginoza-san: Können Sie ihn denn einfach vergessen und irgendwo sterben lassen“, fragte sie und bewies einmal mehr wie gut sie ihn kannte, indem sie durch seinen Panzer der Ablehnung blickte, als sei er aus Glas.

“Ich arbeite daran”, antwortete er abschließend und ließ sie zurück.
 

Als sich Akane auf dem Heimweg befand und der Autopilot das Fahren übernahm, das sie sich mit ihrem lädierten Arm nicht traute, hatte sie genug Zeit, um sich Gedanken zu machen.

Sie hatte Kogami aufgefordert, sich mit ihr in Verbindung zu setzen, aber sie hatte keine Möglichkeit, ihn zu kontaktieren. Dabei gäbe es viele Fragen, die sie mit ihm würde besprechen wollen.

Sie zündete sich eine Zigarette an und stellte sich vor, er stehe ihr zur Seite.

Wie kann Subadachan, wenn er selbst und seine Cyborgs so hohe Kriminalkoeffizienten haben, sich frei in der Stadt bewegen und seine Asseldrohnen hier verteilen? Hue Grant, Kogamis Partner, sagte, dass sich auch der echte Subadachan hier herumtreiben soll. Aber wer ist er und wie sollen wir ihn jemals finden? Wenn er ein so brillanter Verkleidungskünstler ist, wie Kogami-san sagt, dann könnte er wohl jeder sein. Da Tomoaka für Antworten leider nicht zur Verfügung steht, kommt es wohl wieder auf Karanomori-san an.

Zu Hause angekommen, rollte sich Akane auf ihrer großen Couch zusammen und hoffte auf einige wenige Stunden, erholsamen Schlafes.
 

11. November 2118, 2:36

Bezirk Arakawa, Tokyo
 

Er musste eine kurze Pause einlegen und lehnte sich schnaufend an eine Hauswand. Er kramte eine kleine, zündkerzenförmige Glasphiole aus seiner Tasche und blickte gleichzeitig auf die Uhr.

Er hatte gesagt, dass es sechs Stunden nach der Einnahme perfekt wirken sollte. Es sind jetzt über acht Stunden. Das müsste reichen.

Er trat aus dem Schatten in das grellblaue Neonlicht eines Gebäudes, das mit leuchtenden Schriftzeichen “Grand Sapphire Residential Hotel” verkündete.

Auch tiefe Atemzüge konnten sein hämmerndes Herz nicht zähmen, als er durch die Tür trat. Eine androidische Rezeptionistin verbeugte sich vor ihm.

“Herzlich willkommen. Bitte treten Sie auf die Markierung. Wir werden einen Scan zur Feststellung ihrer Persönlichkeitsdaten durchführen.”

Jetzt entschied es sich also. Er trat in den blau ausgeleuchteten Kreis und ein holografisches Display erschien neben der Rezeptionistin.

“Identitfikation: Tomoaka, Higetsu. Kriminalkoeffizient 56, Farbton: Blaugrau”, gab eine Computerstimme bekannt.

Tomoaka starrte auf seine Hände.

Unglaublich. Er hat nicht gelogen. Es wirkt tatsächlich.

“Willkommen in unserem Hotel, Tomoaka Higetsu-san. Wünschen Sie nun ein Zimmer zu buchen?“

Er sagte, ich solle in irgendeinem Hotel absteigen und auf weitere Anweisungen warten.

“Ja. Ein Einzelzimmer für zwei Tage… fürs Erste”, antwortete er der Rezeptionistin und musste fast lächeln. Das schien eine wahrhaft vielversprechende Geschäftsbeziehung mit diesem Mann zu werden.
 

~
 

11. November 2118 - 8:45

Amt für Öffentliche Sicherheit - Analysezentrum
 

Sie fragte sich wie manche Menschen bei Licht schlafen konnten. Wie ein Vampir oder ein an Tollwut erkranktes Tier kam sie sich vor, da sie das Licht nicht sehen wollte.

Im Moment war alles gut. Sie war in Dunkelheit und nur unzusammenhängende Fetzen von Träumen eingehüllt. Alles Mögliche und Unmögliche sah sie an sich vorbeiziehen, alles aber so schnell vorüber wie Wolken im Sturm.

Dann nahmen die Dinge mehr Gestalt an als zuvor. Sie stand auf dem Dach eines Wolkenkratzers und überblickte die Stadt, ihre Stadt, wie sie seltsam leblos und dunkel unter ihr lag.

“Wunderschön, nicht wahr”, fragte eine Stimme hinter ihr. Sie wandte sich nicht um, weil sie wusste, wer da mit ihr sprach.

Der Mann in dem Motorradanzug trat neben sie, das Visier seines Helms so schwarz wie die Nacht, in der sie standen.

“Es ist schön, aber… es ist kein Leben in dieser Stadt. Es gibt keine Hoffnung.”

“Du irrst dich. Nun, da die Menschen dort unten auf nichts mehr aus ihrem alltäglichen Leben vertrauen können, werden sie wieder auf das reduziert, was allein zählt: sich selbst.”

“Sie haben ein sehr großes Vertrauen in die Stärke der Menschen”, kritisierte sie selbstironisch.

“Du nicht?“

Sie nickte anstatt zu antworten.

“Der Mensch ist frei geboren und überall liegt er in Ketten”, zitierte der Anführer von Wraith und Akane erinnerte sich wie ihr Vater das Gleiche zitiert hatte.

“Das heißt, solange der Mensch frei über sich und sein Leben bestimmen kann, liegt er in Ketten. In den Fesseln seiner Begierden und seiner Ängste. Ist er aber nicht mehr frei, sondern wird in größter Not zum Handeln gezwungen, so wird er in diesem Moment wahrhaft frei. Wenn die Menschen nichts anderes mehr haben, werden sie sich von Sibyl und den blinkenden Propheten abwenden und sich wieder einander zuwenden. Daran werden sie erwachen und hoffentlich den Grundstein legen für eine bessere Gesellschaft als wir sie je hatten.”

“Sagen Sie mir: Wie viele Menschen müssen sterben auf dem Weg in die bessere Gesellschaft, von der Sie sprachen?“

Akane-chan.

“Es konnte noch kein Krieg ohne Opfer gewonnen werden. Aber diese Opfer werden es wert sein. Schon bald werde ich dir das beweisen.“

Akane-chan?

“Sie verzeihen, wenn ich weiterhin versuchen werde, Sie daran zu hindern.“

Der Mann wandte sich ihr zu und auch wenn sie sein Gesicht durch den Helm nicht sah, konnte sie erahnen wie er lächelte.

“Ich wäre sehr enttäuscht von dir, wenn du das nicht versuchtest.”

Akane-chan!
 

Sie fuhr hoch und blinzelte nicht ohne Neid Shion Karanomori entgegen, die selbst zu so früher Stunde aussah als käme sie von ihrem privaten Visagisten.

Erst jetzt fiel ihr auf, dass sie sich nicht in ihrem Bett befand, sondern auf der Untersuchungspritsche in Shions Labor.

“Du bist wohl während der Untersuchung eingeschlafen, Akane-chan. Ist wohl eine lange Nacht gewesen.“

Sie kam näher und flüsterte in Akanes Ohr.

“Gibt es Einzelheiten zu dieser langen Nacht, die du mir erzählen willst?“

Akane rieb sich die Augen und schwang die Beine von der Pritsche.

“Geben Sie sich keine Mühe, Karanomori-san. Sie können mich nicht in Verlegenheit bringen.“

Shion seufzte dramatisch.

“Wie hat der gute alte Masaoka doch gesagt: Es ist traurig zu sehen wie schnell dieser Job sie hart macht. Es war so niedlich wie du früher errötet bist. Wirklich zu schade.”

“Können wir zum eigentlichen Grund zurückkommen weswegen ich hier war?“

“Oh. Ja natürlich. Kein Befund. Bis auf einige Zerrungen geht es deiner Schulter gut. Du hast noch einmal Glück gehabt. Schonen solltest du den Arm trotzdem noch.”

“Ich verstehe. Hätten Sie etwas dagegen, wenn ich die Einsatzbesprechung für heute wieder hierher verlege?”

Shion blies einen Schwall Zigarettenqualm aus.

“Wer von uns ist die Inspektorin?”

Akane beschloss, darauf nicht zu antworten.
 

“Einen Stromausfall? In der ganzen Stadt?” Der Unglaube in Teppeis Stimme war unleugbar.

“Ja”, antwortete Akane mit aller Gewissheit, die sie aufbringen konnte, “Das ist die schlüssigste Erklärung für die Botschaft, die uns Wraith hat zukommen lassen. Ich habe zunächst nicht gewusst, worauf genau sie sich mit der Nachricht beziehen. Auf das Stück Othello oder auf die Sage des Prometheus, der den Menschen das Feuer brachte. Sibyl beansprucht das Gleiche für sich: den Menschen das Licht bringen. Und Wraith entscheidet, die Menschen von diesem Licht zu trennen, darauf hoffend, dass sie in der Dunkelheit ihr eigenes Licht finden werden.”

“Diese Überlegung gab es doch schon einmal. Wir mussten aber feststellen, dass es unmöglich ist. Der Nona Tower hat seine eigene interne Stromversorgung. Selbst wenn Wraith es schaffen könnten, in der ganzen Stadt den Strom ausfallen zu ließen, könnten sie damit dem Sibyl System keinen Schaden zufügen.”

Akane nickte zustimmend.

“Ich weiß, Ginoza-san. Allerdings glaube ich auch weniger, dass es Wraith damit auf Sibyl selbst abgesehen hat. Dafür ist es noch zu früh. Wenn sie es aber schaffen, in der ganzen Stadt einen Blackout zu verursachen, käme es zum Zusammenbruch der Gesellschaft im kleinsten Rahmen. Es gäbe praktisch über Nacht eine explosionsartig ansteigende Zahl an Area Stress Level-Warnungen. Wenn die Menschen dem Farbton ihrer Mitmenschen nicht mehr trauen können, weil einfach jeder getrübt ist, wenden sie sich von Sibyl ab. Damit hätte Sibyl seine Unfehlbarkeit eingebüßt. Ein Gott, den die Menschen nicht mehr anbeten, hört auf, zu existieren.”

“Das klingt aber gar nicht nach der Linie, die Wraith bislang verfolgt hat”, gab Ginoza zu bedenken, “Überlegt euch doch einfach, was das für die Gesellschaft bedeuten würde. Jede medizinische Versorgung bräche zusammen. Die Menschen in den Internierungslagern könnten ihre Zellen nicht mehr verlassen, würden aber auch keine Versorgung mehr erhalten. Nach wenigen Tagen wären sie verdurstet.”

“Das waren auch meine Bedenken”, bestätigte Akane, “Wraith hat bisher immer versucht, Menschenleben zu schonen. Da ich einen Stromausfall im Augenblick für die beste Interpretationsmöglichkeit ihrer Botschaft halte, müssen wir wohl vom Schlimmsten ausgehen. Nämlich davon, dass sie die Moral abgelegt haben und nun ernst machen werden.“

“Bei allem Respekt”, meldete sich nun Teppei zu Wort, “ich fürchte, wir stellen uns das ein wenig zu leicht vor. Auch den Strom in der ganzen Stadt ausfallen zu lassen, ist ein nahezu hoffnungsloses Unterfangen. Die Stromversorgung wird - das habe ich noch in der Zeit der Drohnenentwicklung gelernt - von zehn unabhängigen Energiewerken gesichert. Fällt eines davon aus, kompensieren die Anderen den Ausfall. Man kann sie zudem nicht alle auf einmal ausfallen lassen.“

“Wraith hatte immerhin zehn EMP-Granaten gestohlen, wenn wir uns erinnern”, warf Yayoi ein.

“Das mag schon sein. Eine einzelne EMP-Granate könnte meinetwegen auch einen Straßenzug lahmlegen. Aber ein ganzes Energiewerk? Keine Chance.“

Um diese Aussage zu untermauern schüttelte Teppei den Kopf.
 

“Was ist mit dem GES-Modus?”

Alle wandten sich der Stimme zu und waren überrascht, Mika dort stehen zu sehen, die Augenbrauen zusammengezogen und die Hände in die Hüften gestemmt.

“Ich glaube, ich weiß, was sie meint”, sagte Shion, während sie mit dem Zeigefinger gegen ihr Kinn tippte.

“Grid Energy Storage”, erklärte Mika, “Eine Energiespeichermethode von früher, als man sich noch mit der Suche nach erneuerbaren Energien beschäftigte. SIbyl hat dieses Prinzip für die eigene Stromversorgung des Landes aufgegriffen und weiterentwickelt. Das war doch Thema der Schulung, an der alle Inspektoren vor zwei Monaten teilgenommen hatten.”

Akane blinzelte und wandte danach rasch den Blick ab, damit man sie nicht erröten sah.

Die Wahrheit ist, gestand sie sich selbst, ich war zu dem Zeitpunkt so überarbeitet, dass ich die Schulung gänzlich verschlafen habe.

“Alle Energiewerke besitzen einen Speicher, der den Überschuss aller anderen Werke aufnehmen und speichern kann. Das dient dazu, bei einem Stromausfall die gespeicherte Energie für eine Notversorgung bereit zu stellen oder in Zeiten von höherem Verbrauch einzuspringen. Diese Übertragung geschieht einmal im Monat, und zwar immer in der Nacht. Dann fahren alle Energiewerke außer dem einen, das die Übertragung durchführt, die Systeme herunter und schalten in den Diagnose-Modus, um Fehler zu beheben und Updates aufzuspielen, während das eine Energiewerk für die Nacht die Stromversorgung der ganzen Stadt übernimmt und gleichzeitig die Überschüsse einlagert.”

“Du meinst, sie haben es auf dieses eine Werk abgesehen, Mika-chan”, fragte Shion.

“Ja, das scheint mir die schlüssigste Antwort. Vollstrecker Teppei, ist es möglich eines der Energiewerke lahm zu legen, wenn man darin alle zehn EMP-Granaten zündet?“

“Zehn EMP-Granaten auf einmal würden nicht nur das Energiewerk zerstören, sondern auch den Energiespeicher. Nicht auszudenken.“

“Wann ist die nächste dieser Speicherungen, Karanomori-san?“

Akane wandte sich mit wachsender Besorgnis der Analystin zu.

“In der Nacht von Montag, den 14. auf Dienstag, den 15. November. Es beginnt um Null Uhr.”

“Wenn es zehn Energiewerke gibt, welches davon übernimmt dann die Speicherung.“

“Das ändert sich jeden Monat”, antwortete Shion, die Zigarette im Mundwinkel und die Finger auf den Tasten, “Die Energiewerke wechseln sich mit der Speicherung ab, normalerweise gegen den Uhrzeigersinn. Mal sehen, als nächstes ist das Werk ganz im Westen der Stadt an der Reihe.”

“Gut. Heute ist Freitag, es sind also noch etwas mehr als drei Tage.” Akane atmete erleichtert auf.

“Braucht das Werk keine erhöhte Bewachung”, meldete sich nun erstmals Sho Hinakawa zu Wort.

“Drohnen werden gegen Wraith nicht helfen. Und eine Patrouille durch eine Einheit des Amts für öffentliche Sicherheit möchte ich vermeiden”, erwiderte Akane, “Die Präsenz von Inspektoren und Vollstreckern könnte Wraith verraten, dass wir ihre Absichten durchschaut haben. Karanomori-san, können Sie die Kameras, die auf dieses Werk gerichtet sind, anzapfen?“

“Nichts leichter als das.“

“Wir behalten das Werk im Auge und lassen uns jede Abweichung von der Norm melden. Am Abend des 14. November dann legen wir uns dort auf die Lauer und lassen sie kommen.”

“Wir werden trotz allem eine kleine Menge Entschärfungsdrohnen benötigen, die die EMP-Granaten zur Not unwirksam machen können.” Dieser Vorschlag kam von Ginoza und wurde von allen anderen mit einem Kopfnicken quittiert.

“Trotzdem dürfen wir deshalb nicht blind für unsere Umgebung werden. Ich bin ziemlich sicher, dass Wraith wie auch beim letzten Mal versuchen wird, durch einen gezielt ausgelösten Area Stress Level von ihrem eigentlichen Ziel abzulenken. Das letzte Mal sind wir darauf hereingefallen. Das wird uns nicht wieder passieren.”

Mit diesen Worten schloss Akane die Besprechung. Innerlich fasste jeder einzelne den Beschluss, sich auf diesen Tag vorzubereiten. Wenn Wraith das Handwerk gelegt werden könnte, würde womöglich wieder Ruhe einkehren in die von Sibyl errichtete perfekte Welt.
 

~
 

12. November 2118 - 2:37 Uhr

Bezirk Arakawa, Tokyo
 

“Da ist ja nicht viel von übrig geblieben”, stellte er das Offensichtliche fest und nahm einen Schluck aus seinem Flachmann.

“Hue. Wieso trägst du ständig die Sonnenbrille. Das hab ich dich noch nie gefragt”, fragte Kogami ohne auf den Kommentar seines Partners einzugehen.

“Was denn, Yoko”, entgegnete der mit einem Grinsen, “Tauschen wir jetzt intime Geheimnisse aus?“

Kogami zuckte die Schultern.

“Frag mich, was du willst. Ich habe nichts zu verbergen.”

“Pff, am Arsch hast du nichts zu verbergen, Yoko. Jeder Whistleblower würde an dir festkleben wie ein Blutegel, um deine Geheimnisse zu erfahren.”

Kurzes Schweigen breitete sich zwischen beiden Männern aus, während sie sich zwischen Bäumen versteckt hielten und die Ruine betrachteten, die einmal das Zuhause von Higetsu Tomoaka gewesen war.

“Epilepsie”, antwortete Hue Grant schließlich, “jedenfalls ne leichte Variante davon. Ich krieg Probleme mit flackernden oder blitzenden Lichtern. Deswegen.”

“Sie war vor uns hier.“

“Was?” Hue zog die Augenbrauen zusammen.

“Verfolgst du nicht die Nachrichten, Hue”, fragte Kogami vorwurfsvoll, “Nach der Explosion herrschte hier große Polizeipräsenz.“

“Und du meinst, die Kleine war hier?“

“Ja. Ansonsten verstehe ich nicht, weshalb man wegen der Explosion eines Altbaus gleich die Kriminalabteilung ausrücken lässt.”

Hue deutete mit dem Daumen auf das Gebäude hinter sich.

“Hm. Na, wenn du die Kleine im Jenseits wieder siehst, solltest du dich bei ihr bedanken. Wärst du der erste vor Ort gewesen, dann wäre dir die Bude um die Ohren geflogen.“

“Sie ist nicht tot, Hue. Wenn es so wäre, dann wüssten wir das bereits.”

“Jedenfalls weißt du jetzt, dass der liebe Sue dich auf seine Liste gesetzt hat. Das verlängert deine Lebenserwartung nicht gerade.”

Kogami wischte sich einige seiner schwarzen Haarsträhnen aus der Stirn.

“Meine Lebenserwartung hat in den letzten Jahren sowieso nie weiter gereicht als von einem Drink zum Nächsten.“

“Da geht’s dir wie mir… aber aus völlig anderen Gründen, hahahaha!” Hue schlug sich zur Bekräftigung auf den rechten Oberbauch, dort wo die Leber saß.

“Ich denke, wir sollten uns aufteilen. So würde Subadachan im schlimmsten Fall bloß einen von uns erwischen.”

“Du vergisst, dass seine Cyborgs noch frei herumlaufen.“

“Die können sich nicht frei in der Stadt bewegen bei den Kriminalkoeffizienten. Daher bin ich um seine Marionetten erst einmal nicht besorgt. Einzeln erreichen wir aber mehr. Ich würde dich bitten, nach Tomoaka zu suchen. Wenn jemand weiß, worauf Subadachan es hier wirklich abgesehen hat, dann er.”

Hue nickte seine Zustimmung.

“Mhm. Und was machst du?”

“Ich werde sie finden”, antwortete Kogami, “Wir haben viel zu besprechen. Und ich stelle fest, dass ich in ihrer Nähe besser ermitteln kann.”

“Deine lieben Zigaretten werden bestimmt ganz traurig sein und weinen, wenn sie herausbekommen, dass du dir eine neue Sucht gesucht hast.”

“Wenigstens ist diese Sucht gesünder als die Zigaretten”, erwiderte er.

“Wenn du dich da mal nicht täuschst, Yoko. Ich prognostiziere dir, die Nähe zu ihr wird dich noch ins Grab bringen. Oder aber in die Suppentüte, von der wir in Singapur gesprochen hatten.”

“Ich höre dann von dir, Hue”, stellte Kogami fest, als er sich schon zum Gehen abgewandt hatte.

“Früher als dir lieb ist”, rief ihm sein Partner affektiert winkend hinterher.
 

~
 

12. November 2118 - 18:24 Uhr

Domizil von Akane Tsunemori, Bezirk Itabashi, Tokyo
 

Rastlos, wie ein Tier im Käfig, tigerte sie durch den geräumigen Wohnraum, eher schon Wohnsaal ihres Domizils, der Kopf geradezu überbordend vor Überlegungen, Theorien, Hypothesen, Vermutungen und Überzeugungen die vielen Fälle betreffend, mit denen sie konfrontiert war: Wraith neuester bevorstehender Coup, Kogami, Subadachan, Higetsu Tomoaka, die an ihre Eltern gesandte Nachricht und dann natürlich noch-

Sie vertrauen mir nicht mehr, dachte sie, als sie sich an ihre letzte Unterhaltung mit Sibyl zurück erinnerte. Sibyl mochte ein Gedächtniskollektiv sein und nur noch aus Gehirnen bestehen, doch Akane hatte über die Jahre gelernt, aus den Aussagen der Direktorin die ungefähre Meinung des Kollektivs abzuleiten.

“Jedenfalls vertrauen sie mir nicht mehr so wie ehemals”, sprach sie laut in den Raum, “Sie werden im Geheimen bereits die Eventualität eingeplant haben, dass ich mich gegen sie wenden könnte. Wenn sie das annehmen sollten, bringt das alle anderen aus Einheit 1 ebenfalls in Gefahr. In diesem Fall bleibt wohl nur die Flucht nach vorn.“

Sie aktivierte ihren Communicator, nicht ohne trocken zu schlucken. Mit dieser Aktion konnte sie sich selbst direkt ans Messer liefern oder aber-

“Tsunemori-senpai”, antwortete Mika Shimotsuki, das Profilbild im holografischen Display von Akanes Communicator, “nennen Sie mir den Grund Ihres Anrufs?”

“Nicht im Detail, nicht aus der Entfernung”, antwortete sie kryptisch, “Können Sie heute Abend um 22 Uhr ins Büro kommen? Ich würde einige Details des kommenden Einsatzes gerne privat mit Ihnen besprechen.”

Es war lange still am anderen Ende der Leitung und Akane konnte Mikas Stirnrunzeln von hier beinah sehen.

“Wenn Sie meinen, dass das notwendig ist”, antwortete sie schließlich ohne erkennbare Emotion.

“Das meine ich. Ruhen Sie sich bis dahin aus, Shimotsuki-san. Wir sehen uns dann.”

Sie konnte Mika noch irgendetwas wenig Schmeichelhaftes murmeln hören, ehe die Verbindung unterbrochen wurde.

Akane seufzte. Sie hatte sich lange zu diesem Gespräch durchringen müssen. Der Versuch, Inspirationen aus Kogamis Verhalten abzuleiten, war gescheitert, denn als sie wieder Zugriff auf die Asseldrohne hatte, befand sich diese verwaist in einem leerstehenden dunklen Gebäude und von Kogami gab es seitdem keine Spur nicht mehr.

Dass die Drohne zurück gelassen wurde, kann nur bedeuten, dass Kogami sie entdeckt hatte.

Ich hoffe, Sie sind nicht zu wütend auf mich, Kogami-san. Ich brauche Ihre Unterstützung in dieser Sache.

Unfähig noch weiter in ihrer leeren Wohnung herum zu lungern und unwillig, es weiter hinaus zu zögern, nahm Akane ihren Communicator und machte sich auf den Weg zum Nona Tower.
 

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12. November 2118, 19:00 Uhr

Domizil von Mika Shimotsuki, Bezirk Shibuya, Tokyo
 

Es war jeden Abend der gleiche Kampf. Sie stand im Durchgang zu ihrem Schlafzimmer, starrte das Bett an und versuchte irgendwoher die Motivation zu nehmen, ins Bett zu gehen. Sie wusste, was immer Inspektorin Tsunemori auch wollen könnte, dass es belastend sein würde und wenigstens vorher wollte sie einige Stunden schlafen.

Wenn da nicht dieser Kampf gegen die Vorahnung wäre.

Ich darf keine Angst haben, beschwor sie sich und presste ihre Faust gegen den Mund.

Abgesehen davon, dass sie sich nach dem Zubettgehen immer noch lange im Bett hin und her wälzte, ohne eine wirklich entspannende Position zu finden, war es beim Einschlafen immer so als täte sich ein Abgrund auf, ein schwarzer Sumpf, der sie verschluckte.

Und dann war er wieder da.

“Hast du mich vermisst”, flüsterte er ihr aus der Dunkelheit zu.

Sie presste vergeblich die Hände gegen die Ohren. Er war in ihrem Kopf und sie würde ihn immer hören können.

“Sei still. Geh weg. Lass mich in Ruhe. Ich will nichts mehr von dir hören.”

“Das habe ich doch schon mal gehört.” Er dehnte den Satz, mit dem er die Erinnerungen wieder aus der Tiefe holte und man hörte das Grinsen auf seinem Gesicht, als er das sagte.

Aus der Dunkelheit heraus wurde sie von einer brutalen Hand im Nacken gepackt und in einem dunklen Büro auf eine kalte Tischplatte gedrückt. Es wiederholte sich alles.

Die ideale Bürgerin. Sterbenslangweilig ideal.

“Bitte, ich will mich an nichts erinnern”, presste sie zwischen den Zähnen hervor, während ihr heiße Tränen über die Wange liefen, “Warum muss ich das immer wieder erleben?“

Seine Stimme kam wieder, diesmal ekelhaft nah an ihrem Ohr.

“Du scheinst da etwas nicht ganz verstanden zu haben, kleine Mika. Nicht ich bin der Grund, weshalb du hier bist, weshalb du das siehst. Du bist der Grund. Soll ich es dir beweisen?“

Die Szenerie veränderte sich und die Dunkelheit wurde plötzlich von einem beißenden Licht zerrissen, vor dem Mika die Augen schließen musste. Als sie wieder etwas erkannte, sah sie sich selbst dort stehen, wo damals Koichi Kuwashima gestanden hatte. Sie konnte das Licht der lodernden Flammen sehen wie es von der glänzenden Verkleidung des Panzerwagens der Vollstrecker reflektiert wurde. Sie fühlte die Hitze in ihrem Rücken und wagte nicht, sich umzudrehen ob der verbrennenden Leichen der illegalen Einwanderer hinter ihr. Ein passender Ort für sie, auf der Türschwelle zur Hölle.

Und vor ihr stand Akane, die fassungslos in ein kleines Kästchen starrte.

Schon im nächsten Moment stürmte sie auf Mika zu, packte ihren Kragen mit den Fäusten und schüttelte sie, während Tränen aus Qual und Wut in ihren Augen glitzerten.

“Was hast du getan”, schrie sie Mika entgegen, “Was hast du getan?!”

Anders als es tatsächlich passiert war, machte Akane einige schnelle Schritte rückwärts und richtete ihren Dominator auf sie.

Ihre Augen leuchteten in dem mörderischen Blau und Sibyl fällte das Urteil.

Shimotsuki Mika. Kriminalkoeffizient 386. Objekt zur Vollstreckung. Vollstreckungsmodus ist Lethal Eliminator.

Akane drückte den Abzug, noch bevor Sibyl ausgesprochen hatte, ein Licht blitzte vor MIka auf und dann war es als hätte man sie in eisiges schwarzes Wasser geworfen.
 

Sie fuhr hoch, strampelnd und nach Luft schnappend wie eine Ertrinkende. Obwohl es in ihrem Zimmer kalt war, lief ihr der Schweiß von der Stirn.

Auf und ab wiegend presste sie ihre kalten Hände gegen die hämmernden Schläfen und versuchte, die Worte wie ein Mantra flüsternd, ihr Zittern zu unterdrücken.

“Es ist nichts. Alles ist in Ordnung. Er ist tot und er kommt nicht wieder. Wieso kann er nicht verschwinden? Ich bin doch nicht allein Schuld daran.“

Im Bett war es nicht mehr auszuhalten. Sie fühlte sich dort wie eine Fieberkranke, fror und verbrannte zur gleichen Zeit, während die Decken bleischwer waren.

Es war sowieso an der Zeit, aufzustehen. 21:25 Uhr zeigte die leuchtende Anzeige ihrer Uhr.

Es war nicht so, dass sie unbedingt pünktlich zu ihrem Treffen mit Ihrer Kollegin kommen wollte, aber sie hätte es als ein (weiteres) persönliches Versagen gesehen, zu spät zu kommen.

Im Bad schöpfte sie kaltes Wasser in die Hände und erfrischte sich das Gesicht. Die Reflektion im Spiegel sah ihr hohläugig, übernächtigt und erschöpft entgegen. Wie ein Tier auf panischer Flucht.

Ein kleines Display erschien neben dem Spiegel und zeigte mit aggressivem Warnton ihre Werte an.

Inspektorin Shimotsuki Mika. Ihr Kriminalkoeffizient beträgt 97. Eine akute Notfalltherapie wird empfohlen. Soll diese nun eingeleitet werden?

“Nein”, fluchte sie mit zusammengebissenen Zähnen und schlug die Hände auf das Waschbecken, “Ich schaffe das allein!”

Als sie wieder in den Spiegel blickte, war es fast als könne sie ihn hinter sich stehen sehen.

“Wunderschön, nicht wahr”, flüsterte er und fuhr mit dem Zeigefinger ihre Wange entlang, “Woran ich bei Akane Tsunemori gescheitert bin, erreiche ich nun wohl bei dir. Dann hätte ich - sogar im Tod - eine weitere Inspektorin schwarz gefärbt.”

“Sei still!” Ihr Aufschrei hallte durch die Wohnung.

Sie zog die Nase hoch und wandte sich vom Spiegel ab.

“Du bist tot. Und Tote sollen schweigen.”

Über die Ironie musste sie beinahe lachen. Sie war doch eine willige Sklavin des Systems und wäre bereit, alles zu tun, was Sibyl von ihr verlangte. Aus welchen Motiven war doch egal. Und doch wurde sie für ihre Loyalität bestraft, indem sich ihr Farbton immer weiter trübte und sie schon bald zu dem werden würde, was sie einmal so sehr gehasst hatte.

Bei dem Gedanken kam sie nicht an der Tatsache vorbei, dass sich Sakuya Togane und Ginoza völlig unterschieden, auch wenn sie beide Vollstrecker waren.

Und Ginoza war doch auch einmal Inspektor gewesen. Wie schaffte er es, so gelassen damit umzugehen, dass er nun ein latenter Verbrecher war?

Anfangs hatte sie Inspektorin Tsunemori als ihre Rivalin gesehen und hatte sich gut gefühlt, sie bei ihrer Ankunft in Shambala über die wahren Absichten Sibyls belehren zu können.

Inzwischen aber rückte Akane in immer größere Ferne, weil sie immer rein blieb, während Mikas Welt in Dunkelheit versank.
 

~
 

12. November 2118, 22:05 Uhr

Amt für öffentliche Sicherheit, Kriminalabteilung
 

Es überraschte Mika weniger als sie gedacht hatte, Akane nicht im Büro vorzufinden. Stattdessen fand sie eine handschriftliche Notiz, sie solle sich in die Trainingsräume begeben. Dort gab es Ecken ohne Kameras.

“Sie wollten mich sprechen, Tsunemori-senpai”, stellte Mika nüchtern fest, wohl auch um ihre eigene Unsicherheit zu verbergen.

“Wir sollten uns ehrlich unterhalten, Mika.”

Beim Wegfallen jeglicher Höflichkeitsformel zog Mika irritiert die Augenbrauen zusammen.

“Ich denke, mir gefällt nicht-”

“...dass ich dich mit Vornamen anspreche”, vollendete Akane ihren Satz, “Dann antworte mir, und zwar ehrlich. Hat Sibyl dir die Wahrheit über sich erzählt?“

Mika wich instinktiv zurück.

“Ich habe keine Ahnung, wovon Sie reden“, leugnete sie.

“Ich denke, die hast du. Weißt du, als ich damals die Präsentation über Wraith gehalten hatte und das Graffiti des Gehirns gezeigt wurde, haben alle Inspektoren und Vollstrecker entweder geschmunzelt oder gelacht.

Ich habe nicht gelacht, weil ich die tiefere Bedeutung dieser Botschaft verstanden hatte. Und du hast ebenfalls nicht gelacht. Du hast schockiert ausgesehen, weshalb ich nur annehmen konnte, dass du ebenfalls Sibyls Geheimnis kennst. Ich hatte dich lange darauf ansprechen wollen, aber irgendwie nie den Mut gefunden. Man kann etwas aber nicht dadurch auslöschen, indem man es verschweigt, nicht wahr?“

“Sie sollten sich freuen, Tsunemori-senpai. Eine Freundin von Sibyl zu sein. Von ihnen bevorzugt zu werden.”

“Niemand kann Sibyls Freund sein, Mika. Und Sibyl hat keine Freunde, nur Werkzeuge. Puppen, die es manipulieren zu können glaubt. Ich bin auch eine davon.”

“Dann wollen Sie sich also auflehnen, ja?“ Mikas Stimme wurde lauter, obwohl oder gerade weil ihr Rücken an die Wand gestoßen war.

“In dem Stil der künstlichen Menschen aus ‘Träumen Androiden von elektrischen Schafen’? Dann sollten Sie wissen, dass ich Sibyl niemals verraten werde.”

“Furcht und Treue sind nicht dasselbe, Mika. Sibyl ist selbst nicht ohne Furcht. Sie fürchten Wraith. Und sie fürchten die Möglichkeit, dass ich ihnen den Gehorsam verweigern könnte. Dass, was ich über Wraith weiß, kann ich mit niemandem teilen. Die anderen dürfen nicht von Sibyls wahrem Wesen erfahren. Ich will nicht, dass sie zwischen der Loyalität dem System gegenüber und womöglich ihrer Freundschaft zu mir wählen müssen. Deshalb brauche ich jemanden, der das verstehen kann, was ich erfahren habe. Der das gleiche Wissen hat.”

Sie stand nun vor Mika und hatte die Hände auf ihre Schultern gelegt.

“Ich bitte dich nicht, mir zu gehorchen, Mika. Ich bitte dich, mir zu helfen.“

Noch ehe sie losgefahren war, hatte sie sich geschworen, niemals die Erlebnisse aus ihrem Traum an die Oberfläche treten zu lassen. Wenn Akane davon erfuhr, würde sie Mika in den geschlossenen Vollzug bringen.

Doch nun schienen die Dinge unaufhaltsam überzuschäumen.

“Sie wollen mir vertrauen, Tsunemori-senpai”, fragte sie, mehr Verachtung gegen sich selbst in der Stimme als gegen Akane, “Dann sollten sie diejenigen kennen, denen sie vertrauen. Sie sollten wissen, wozu sie fähig sind. Schon bei Togane hatten sie sich täuschen lassen und nun auch bei mir.”

“Ich weiß, was du getan hast.”

Bei diesen Worten schoss Mikas Kopf hoch und sie fixierte ihre Kollegin.

In Akanes Bernsteinaugen lag eine seltsam ferne Traurigkeit.

“Ich weiß, dass du Togane verraten hast, wo er meine Oma finden kann.”
 

Die Zeit war relativ, das war schon lange vor Sibyls Zeiten festgestellt worden. Deshalb verging die Zeit in einem bewegten System schneller als in einem Ruhenden.

Die zwei Frauen sahen einander lange schweigend an, während die Zeit für Mika förmlich still zu stehen schien.

Sie suchte in Akanes Augen fast verzweifelt nach den Gefühlen, die sie selbst empfand, sich aber nicht eingestehen wollte: Wut, Hass, Abscheu, Verzweiflung, Ekel. Irgendetwas, das als gerechte Strafe dienen könnte.

Doch sie fand nichts. Nur Traurigkeit, die aus Verlust geboren wurde.

“Es ist nicht deine Schuld.”

So wenige Worte nur und doch erkannte Mika Shimotsuki in ihnen, dass Vergebung manchmal die schlimmste aller Strafen sein konnte.

Sie kniff die Augen zusammen und kämpfte dagegen an, dass alle ihre Mauern, Dämme und Wälle in sich zusammenstürzten.

Sie konnte kaum Akanes schlanke Hände auf ihren Schultern fühlen.

“Mika, hör mir zu”, befahl Akane mit einem Nachdruck, dem Mika sich beugte und wieder aufsah.

“Hör zu. Du konntest nichts dafür. Er hat dich erpresst, richtig? Ich will keine Rache, Mika. Ich habe gesehen, wohin sie führt.”

Sie hörte den finalen Schuss aus Kogamis Waffe in ihrer Erinnerung erneut und fühlte den Schmerz, als hätte die Kugel ihr eigenes Herz getroffen.
 

Es blieb nichts mehr übrig. Mika wusste das. Sibyl hatte sie im Stich gelassen. Sie fühlte sich wie damals, als sie die plastinierten Leichen Ihrer Freundinnen sehen musste.

Die Tränen, die ihr nun über die Wangen liefen, schienen ihre Haut zu verbrühen, ihre Schultern zitterten, während sie unter Schluchzen nach Luft rang.

Und Akane - diejenige, die Mika einmal aus tiefster Seele verabscheut hatte - schloss die Arme um sie und drückte Mikas Kopf an ihre Schulter und flüsterte ihr ins Ohr “Es ist nicht deine Schuld” - wieder und wieder.

Togane war auch diesmal bei ihr, doch diesmal war sein Gesicht vor Schrecken verzerrt.

“Wieso? Wieso kann ich sie nicht schwarz färben? Warum bleibt sie immer rein? Mutter, vergib mir.“

Von irgendwoher traf der Schuss eines Dokminators seinen Arm und ohne einen weiteren Laut stürzte er in die sich hinter ihm auftürmende Dunkelheit und war verschwunden.
 

Mika hatte ihr Zeitgefühl noch nicht wiedererlangt. Sie wusste nicht, wie lange sie geweint hatte, nur, dass sich nun Wut gegen die eigene Schwäche auflehnte und gegen die Tränen gewann.

“Wenn du mit jemandem sprechen willst, empfehle ich dir jemanden, der etwas mehr Erfahrung damit hat. Was meine Bitte betrifft. Ich respektiere, wenn du nicht willst. Das ist deine-”

“Ich tue es”, unterbrach Mika mit trotziger Entschlossenheit, “Wenn ich irgendwie helfen kann, helfe ich. Wir sind doch Inspektorinnen, richtig?”

Akanes Züge erhellten sich in einem schon beinah glücklichen Lächeln.

“Richtig. Dann sehe ich Sie Montag zur Einsatzbesprechung, Inspektorin Shimotsuki.”

Akane schlug ihr anerkennend mit der Hand auf die Schulter und bald waren ihre Schritte verhallt.

Mika stand da und fühlte nach dem emotionalen Sturm eine innere Ruhe in sich, die sie lange nicht gefühlt hatte.

“Das Alte stürzt, es ändert sich die Zeit und neues Leben blüht aus den Ruinen - Friedrich Schiller”, rezitierte sie leise und konnte das Lächeln nicht verhindern, das auf ihre Lippen trat.

Ein für ihre Verhältnisse geradezu tollkühner Plan manifestierte sich und sie war in Bewegung, noch ehe sie ihn hinterfragen konnte.
 

Nobuchika Ginoza hätte am nicht Sonnabend mit vielen Dingen gerechnet. Am allerwenigsten stand dabei Besuch auf seiner Liste. Zwar war Akanes Verhalten nie so vorhersehbar gewesen, dass er hätte ausschließen können, sie auf seiner Türschwelle zu sehen.

Dass vor seiner Tür jedoch nicht Akane stand, sondern Mika Shimotsuki, war etwas vollkommen Neues.

Er konnte an ihren geröteten Augen sehen, dass sie geweint haben musste, entschied jedoch, dass es besser wäre, hier nicht nachzubohren.

“Entschuldigen Sie die Störung, Vollstrecker Ginoza”, begann sie.

Entschuldigen Sie… von Mika? Das ist tatsächlich neu.

“Kann ich helfen, Inspektorin?” Er blieb lieber bei der Förmlichkeit. Um diese Uhrzeit hatte er keine Lust mehr auf Konflikte.

“Ja. Bald beginnt unser Einsatz und ich wollte Sie fragen…”

Er stand da, wartete und konnte beinah sehen wie sie in ihrem Kopf Formulierungen durchging und wieder verwarf. Er wollte schon den Mund aufmachen und nachfragen.

“Können Sie mir beibringen, zu kämpfen?“

“Sie meinen… Nahkampf”, fragte er und bekam ein hektisches Nicken zur Antwort.

“Ich habe gesehen, dass Inspektorin Tsunemori Aikido praktiziert.“

Ginoza verschränkte die Arme. Was sollte die Bitte? Wollte Sie ihn testen? Es war nicht von Sibyl vorgesehen, dass Inspektoren und Inspektorinnen den Nahkampf praktizierten.

“Das halte ich für keine gute Idee”, antwortete er und ging mit seinen Instinkten, “Es ist nicht vorgesehen, dass-”

“Ich weiß, aber… ich möchte nicht wieder in eine Situation kommen wie in der Asagi Mall. Wenn es wieder dazu kommt und ich weiß, das wird es, dann will ich bereit sein.“

Zur Hölle mit seinen Instinkten. Die brennende Entschlossenheit in ihrem Blick, als sie das sagte, war fast gegen ein unsichtbares Feindbild gerichtet und ließ keinen Zweifel daran, dass sie es ernst meinte.

“Ziehen Sie sich um. In zehn Minuten im Trainingsraum.”

Als die automatische Tür sich geschlossen hatte, legte er den Weg in das spartanisch eingerichtete Bad zurück und blickte in den Spiegel.

“Dumme Idee”, sagte er zu dem Mann, der ihn aus dem Spiegel ansah.
 

Mika stand Ginoza gegenüber und zum ersten Mal seit Beginn ihrer Karriere fühlte sie sich von einem Vollstrecker eingeschüchtert.

Sie bemerkte hier erst wie viel größer er war als sie und dass der Anzug, den er im Dienst zu tragen pflegte, eine beachtliche Muskelmasse verbarg. Ein Detail, das hier in dem schwarzen Muskelshirt - neben der schwarzen Trainingshose die in den Spinden hinterlegte Standard-Bekleidung - umso deutlicher auffiel.

Die altmodischen Übungsmatten waren kalt an ihren nackten Füßen, als sie beide in Kampfstellung gingen.

“Wir gehen von dem wahrscheinlichen Fall aus, dass Ihre potentiellen Gegner größer, schwerer und stärker sein werden als Sie. Das muss aber kein Nachteil sein, weil nicht nur Aikido die Kraft und das Gewicht des Gegners gegen ihn nutzt. Ich greife Sie an und Sie versuchen, die Energie meiner Bewegung auszunutzen und mich zu Fall zu bringen.“

Sie hatte gerade genug Zeit, zu nicken, als er mit ausgestrecktem Arm nach vorn schnellte, um sie zu packen. Instinktiv riss sie ihren Arm hoch, um sich zu schützen, fühlte aber wie sich seine Hand um ihren Unterarm schloss.

So schnell wollte sie nicht aufgeben und verlagerte ihr Gewicht nach hinten. Sie hatte vorgehabt, einen Schritt zurück zu machen und nicht bemerkt, wie er in der Vorwärtsbewegung seinen Fuß hinter ihr Bein gestellt hatte und es ihr nun wegzog.

Sie verlor das Gleichgewicht und prallte mit dem Rücken auf die Matte. Er war über ihr und hielt noch immer ihren Unterarm umklammert.

“Jetzt wären Sie verletzt oder Schlimmeres”, schlussfolgerte er als er, einen Schlag simulierend, die Knöchel seiner prothetischen Hand gegen ihren Hals legte.

Mika war froh, dass er in diesen Fingern kein Gefühl hatte und wohl nicht wahrnehmen konnte wie ihr Puls hämmerte.

Er stand auf und zog sie an ihrem Unterarm wieder auf die Füße.

“Gleich nochmal.“

Sie brachten ganze zwei Stunden damit zu, die klassischen Griffe und Würfe verschiedener Kampfstile zu proben und schnell wurde klar, dass Judo ihr am ehesten lag. Obwohl sie keuchte und längst nicht mehr ihre ganze Energie abrufen konnte, weigerte sie sich mit einer Sturheit, die der von Akane nicht nachstand, zuzugeben, dass sie erschöpft war.

“Ich denke, das genügt für den Anfang.”

“Nur noch einen Angriff”, forderte sie und schlug sich selbst auf die Wangen.

Als er angriff, bemerkte er, dass sie schneller reagierte als zuvor. Flink wie sie dank ihrer Leichtigkeit war, wich sie seinem Angriff aus und nutzte das Bewegungsmoment, um ihn über ihren Rücken zu rollen. Mit einem schnellen Satz hockte sie auf seinem Oberkörper.

“Wie es scheint, gewinne ich die letzte Runde.”

“Nie zu früh freuen”, belehrte er, als er sich mit den Unterarmen vom Boden drückte und so ihr Körpergewicht stemmte.

Blitzschnell stellte sich Mikas Position auf den Kopf, als er wieder über ihr war.

Den Kampf über hatte sie nicht weiter auf seine Nähe geachtet, doch das Adrenalin hatte sie wohl sensibilisiert. Wie sonst war ihr plötzlich bewusst, dass er sich mit den Unterarmen auf den Boden stützte und sein Gesicht nur eine Hand breit von ihrem entfernt war, während sein rechtes Knie zwischen ihren Beinen lag?
 

Du bist zu nah, ermahnte er sich selbst.

Wie sonst konnte es sein, dass durch die geöffneten Lippen ihr hektischer Atem über sein Gesicht fächelte? Wie sonst konnte er sehen wie gerötet ihre Wangen von der Anstrengung waren (zumindest hoffte er, dass es die Anstrengung war)? Warum sonst hatten ihre Augen auf diese kurze Distanz die Farbe von flüssigem Karamell und wieso waren ihm die Sommersprossen auf ihrer Nase vorher nie aufgefallen. Unwillentlich verringerte er den Abstand weiter.

Er konnte sich erst von der Anziehung losreißen, als seine Nasenspitze beinah ihre berührte, dann stand er schnell wieder auf.

“Genug für heute. Sie sollten sich nun ausruhen, Inspektorin. Der Einsatz am Montag wird vermutlich anstrengend genug.
 

Mika fühlte sich seltsam unzufrieden, als sie aufstand. So als hätte sie etwas erwartet, was nicht eintrat. Wie wenn man im Begriff war, genüsslich zu gähnen und dann unterbrochen wurde.

“Sie haben Recht, Vollstrecker Ginoza. Wir sehen uns dann am Montag.”

Die Worte waren schroffer über ihre Lippen gekommen, als sie beabsichtigt hatte. Früher hätte sie es als selbstverständlich angesehen, dass ein Vollstrecker einer Inspektorin zu Diensten ist, aber früher hätte sie auch nie solch eine Bitte an einen Vollstrecker gerichtet.

Nun aber hatte er seine Zeit für sie geopfert und sie wollte keine Unzufriedenheit an ihm auslassen, die sie selbst nicht verstand.

Und Ginoza wiederum hatte den Trainingsraum fluchtartiger als geplant verlassen. Er würde nun eine Dusche brauchen - eine sehr kalte Dusche. Und dann musste er nachsehen, was die geheime Bar seines Vaters noch so hergab.
 

Mika stand allein in den Trainingsräumen. Sie wollte nicht unter die Dusche gehen, solange die Gefahr bestand, ihm noch einmal über den Weg zu laufen. Vor allem musste sie ihre Gedanken in weniger gefährliches Fahrwasser manövrieren.

Früher einmal, als sie noch die Oso-Akademie besucht hatte, da war sie verliebt gewesen. Insgeheim verliebt in ihre Freundin Kagami Kawarazaki. Seitdem sie dem Amt für öffentliche Sicherheit zugeteilt worden war, hatte sie geglaubt, in Vollstreckerin Kunizuka verliebt zu sein.

Dabei wusste sie, dass Yayoi ihrerseits ein Verhältnis mit Shion Karanomori hatte. Sie war zwar jung, aber nicht blind. War ihre Zuneigung für die Vollstreckerin vielleicht nur der Tatsache geschuldet, dass diese sie damals nach dem Tod ihrer Freundinnen getröstet hatte?

Die Dinge hatten sich heute Abend eindeutig geändert. Sie erinnerte sich an den von Wraith initiierten Nachruf auf Ginozas Vater. Er musste sich so dagegen gewehrt haben, Vollstrecker zu werden. Wie mochte sich das nun anfühlen?
 

Sie konnte ihren inneren Togane fühlen noch ehe sie ihn hörte.

“Er kann dich ebenso wenig vor deiner Finsternis retten wie du ihn vor seiner.“

Sie biss die Zähne zusammen und marschierte auf ihn zu.

“Halt deinen Mund! Ich bin endgültig fertig mit dir. Du bist kein Todesengel, nur ein sadistischer Freak mit Mutterkomplex. Geh zurück in die Dunkelheit, wohin du gehörst. Du konntest sie nicht schwarz färben. Du wirst auch mich nicht schwarz färben. Jeder Mensch trägt Finsternis in sich. Man muss nicht vor ihr gerettet werden. Man muss seinen Frieden mit ihr finden.”

Zu diesem Zeitpunkt wusste sie noch nicht, dass es das letzte Mal gewesen sein sollte, dass sie seine Stimme hörte.
 

Ginoza schwenkte den Inhalt seines Glases und beobachtete die goldenen glitzernden Reflexe, die das Licht in dem Glas hervorbrachte.

Er hatte mit dem Gedanken gespielt, Eiswürfel in das Glas zu geben, doch ein Blick auf das Etikett der Flasche auf dem Tisch - “Highland Park 18 years” - reichte und er wusste, dass sein Vater dann wahrscheinlich aus seinem Grab empor stiege und ihn eigenhändig umbringen würde.

Als ein akustisches Signal einen Besucher ankündigte, hoffte und fürchtete er zur gleichen Zeit. Was immer davon auch stärker war, es wurde erfüllt.

Mika stand ein weiteres Mal vor seiner Tür. Sie trug ihr Haar offen ohne das orangefarbene Scrunchie, mit dem sie es gewöhnlich bändigte und es war noch klamm vom Duschen. Sie hatte sich auch nicht die Mühe gemacht, sich wieder in ihre Dienstkleidung zu zwängen, sondern war bloß in ein frisches Set Trainingskleidung geschlüpft.

“Darf ich reinkommen?“

Da erst wurde ihm bewusst, dass er dagestanden und wie ein Idiot gestarrt haben musste.

“Sind Sie Inspektorin oder ich?“

“Das war nicht meine Frage.“

Er machte den Weg frei und sie trat ein. Was sollte er auch sonst tun? Er konnte sie schlecht hinauswerfen und wäre er ehrlich zu sich selbst gewesen, hätte er zugeben müssen, dass er ihre Begegnung nicht so enden lassen wollte wie in den Trainingsräumen.

“Darf ich”, fragte sie wieder, diesmal mit einer Kopfbewegung in Richtung der Flasche auf dem Tisch.

“Ich… ich bin nicht sicher, ob-”

“Was”, unterbrach sie ihn und stemmte die Fäuste in die Hüften, “Du fragst dich jetzt nicht, ob ich alt genug bin oder doch?“

Er wandte den Blick von ihr ab und bestätigte somit ihre Vermutung.

“Ich bin zweiundzwanzig, verdammt. Behandle mich nicht wie ein Kleinkind!”

Er machte auf dem Absatz kehrt und nahm ein zweites Glas aus dem Schrank, schenkte ein und schob es ihr hin.

Sie reagierte jedoch nicht wie das Kind, das er (zugegeben als eine Art Selbstschutz) zu sehen versucht hatte, indem sie das Glas trotzig hinunter stürzte, sondern zeigte sich ihm als die Frau, die sie war, als sie - wie er vorher - die Lichtreflexe des Whiskys im Glas betrachtete.

“George Bernard Shaw hat einmal gesagt, Whisky ist-”

“auf Flaschen gezogenes Sonnenlicht”, vollendete er ihren Satz mit einem Lächeln, “Ja. Das war es, was mein Vater gesagt hat… bei den seltenen Gelegenheiten, die wir miteinander gesprochen hatten und ich den Whisky als einen schlechten Freund bezeichnete.”

Er blickte in die Tiefe des Raums. Irgendwo dort - in dem abgedunkelten Schlafbereich des spartanisch eingerichteten Vollstreckerdomizils - stand ein Bild von seinem Vater, eines der wenigen, die er besaß.

“Heute wünschte ich mir, es hätte damals mehr Gelegenheiten gegeben, um mit ihm zu sprechen. Ich denke, das ist normal. Immer dann, wenn es bereits zu spät ist, fallen einem all die Dinge ein, die man gerne noch gesagt oder gerne noch getan hätte. Vielleicht hat er immer wieder den Kontakt zu mir gesucht, weil er das wusste.”
 

“Wie fühlt sich das an”, fragte sie, “Ein Vollstrecker zu werden, meine ich.”

“Der Vorwurf, dass ich versagt habe, kommt etwas spät”, antwortete er, jedoch ganz ohne Bitterkeit, “Das habe ich vor langer Zeit begriffen.”

“Ich werfe dir gar nichts vor”, widersprach sie und ließ erneut jede Höflichkeitsformel weg, “Ich möchte es nur verstehen. Es könnte sein, dass ich bald in einer ähnlichen Lage sein werde. Mein Farbton trübt sich. Ich habe versucht, es aufzuhalten, aber es will mir nicht gelingen. Deshalb…”

“Es war gar nicht so sehr das Gefühl, in allem, was ich bisher getan hatte, versagt zu haben. Ich bin - wenn auch nur für eine Zeit - Inspektor gewesen. Ich habe den Menschen geholfen, also habe ich zumindest eines richtig gemacht. Eher habe ich mich wie ein Heuchler gefühlt, nach allem, was ich Kogami vorgeworfen hatte. Und nun steckte ich in seinen Schuhen.”

Heuchlerisch - so fühlte sich Mika nun auch ob ihres ganzen langen Hasses gegen latente Verbrecher.
 

Ginoza blickte in sein Glas, bevor er es leerte.

“Hör mal. Ich kann verstehen, wenn du uns verabscheust. Mir ging es damals nicht anders. Lass dich nicht davon beherrschen. Als sich mein Farbton trübte, habe ich verzweifelt und wie ein Besessener nach Ursachen gesucht, um sie ausschalten zu können. Aber diese verbissene Jagd nach dem ‘Warum’ zehrt dich auf und beschleunigt den Anstieg deines Kriminalkoeffizienten.”

“Es war kein latenter Verbrecher, der meine Freundinnen umgebracht hat”, sagte sie geradezu abwesend, als rede sie mit sich selbst, “Rikako Oryo war eine Mörderin, eine reine Mörderin. Dein Vater und du waren das aber nicht. Kann es wohl sein, dass das Sibyl System diejenigen zu latenten Verbrechern macht, die ihm gefährlich werden könnten?” Die Frage klang erneut abwesend, zum Nachdenken brachte sie Ginoza dennoch.

Menschen, die Sibyl gefährlich werden könnten? So wie Kogami? Menschen, die Fragen stellen, andere inspirieren und zur Revolte anstacheln können?

“Wie kommst du auf die Idee, dass das für mich auch gelten könnte”, fragte er frei heraus, während er sich noch ein Glas einschenkte.

“Du warst doch auch einmal Inspektor. Wie du sagtest, hast du also eines richtig gemacht. Wie kann man denn Inspektor sein ohne die Fähigkeit, andere anzuführen?”

Er zog die Augenbrauen zusammen und stellte sein Glas auf den Tisch. Hier gab es etwas, das der Klärung bedurfte.

“Eines verstehe ich nicht.” Er ließ ihr einen Moment, um ihn zu unterbrechen, das Thema zu wechseln, zu fliehen, was auch immer. Nichts geschah, also fuhr er fort.

“Was ist mit der Mika passiert, die uns allen - allen latenten Verbrechern - Tod und Teufel, Gift und Galle an den Hals gewünscht hätte? Was ist mit dem zornigen Mädchen passiert, das damals Inspektorin geworden war?“

“Ich weiß nicht”, mutmaßte sie unschuldig, nahm noch einen Zug von ihrem Drink und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen, “Vielleicht ist sie erwachsen geworden. Auch Inspektorin Tsunemori hat sich in den Jahren in der Kriminalabteilung verändert oder nicht?“

Danach gefragt hätte er im Nachhinein sicher nicht sagen können, weshalb er sich plötzlich auf sie zubewegte, bis er kurz vor ihr stand.

“Ich erkenne dich kaum wieder”, gab er offen zu.

“Gut”, stimmte sie schließlich zu, “Ich mich auch nicht.”

Ohne dass er auch nur einen Moment gehabt hätte, zu zögern, packte sie seine Krawatte mit ihrer Faust und zog ihn zu sich herunter, um das zu beenden, was er in den Trainingsräumen angefangen hatte.

Ihre Lippen waren nicht weich oder zärtlich wie die eines Mädchens. Sie küsste ihn mit der Entschlossenheit einer Frau, die keinen Zweifel daran ließ, was sie wollte.

Er vergrub seine echte Hand in Ihrem Haar und schlang den anderen Arm um ihren Rücken.

Es war unsinnig, sich selbst vormachen zu wollen, er würde das nicht wollen oder gar brauchen. Zur Hölle, er wusste nicht einmal, wann er seit der Oberschule ein Mädchen so gehalten hätte - geschweige denn so geküsst.
 

~
 

13. November, 2118 - 1:35

Domizil von Mika Shimotsuki, Bezirk Shibuya, Tokyo
 

Mika konnte sich nicht zurück erinnern, wann sie das letzte Mal so ungerührt daran gedacht hatte, zu Bett zu gehen. Gerade gespenstisch war die Ruhe, die sich in Bezug auf ihre Ängste in ihr eingenistet hatte. Wie das Auge im Sturm der Konflikte, die sie nun austragen musste.

Im Augenblick war sie allerdings zu erschöpft von den Ereignissen, um über Konsequenzen oder die Frage nachzudenken, ob sie nun glücklich oder unglücklich sein sollte.

Sie warf ihre Kleider daher bloß achtlos in den Raum und ließ sich in Unterwäsche in ihr Bett fallen, um gleich darauf in einen seit langer Zeit mal wieder traumlosen Schlaf zu fallen.
 

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14. November, 2118 - 23:00

MWPSB - Kriminalabteilung Einheit 1
 

“Willkommen.”

Akane ließ den Blick durch die Runde schweifen. Vor ihr versammelt waren die Mitglieder von Einheit 1 und Einheit 3 zur finalen Einsatzbesprechung. Während der neue Inspektor von Einheit 3, Mitsuba, wie ein übereifriger Schuljunge wirkte, schien es Inspektor Domoto von Einheit 3 als persönliche Niederlage anzusehen, von jemand anders befehligt zu werden.

“Um Mitternacht, also in etwas weniger als einer Stunde, beginnt der Zeitraum für Wraith neueste Operation. Wir sind sicher, dass ihr Ziel das Verteilerwerk im Bezirk Setagaya sein wird. Allerdings sind wir auch recht sicher, dass sie erneut versuchen werden, unsere Aufmerksamkeit durch ein inszeniertes Area-Stress-Level auf sich zu ziehen. Dafür brauchen wir Ihre Hilfe, Inspektoren und Vollstrecker von Einheit 3. Ich möchte, dass Sie in Stellung bleiben und auf solch eine Meldung reagieren. Nehmen sie so viele beteiligte Personen fest wie Sie können. Sie können uns Hinweise zu den Hintermännern von Wraith liefern.”

“Ja genau”, meldete sich Inspektor Domoto sarkastisch, der die Arme ungeduldig verschränkt und die ganze Zeit mit den Fingern auf seinen Arm getrommelt hatte, “Und wenn Sie falsch liegen und die Aktion scheitert, stehen wir alle vor der Direktorin dafür gerade.”

“Nein”, widersprach Akane, “Da ich die Einsatzleitung habe, übernehme ich die volle Verantwortung für Gelingen oder Scheitern der Operation. Sehen Sie es positiv, Inspektor Domoto. Sollte die Aktion scheitern, können Sie sagen, Sie hätten es kommen sehen und ich stehe dann vor der Direktorin gerade. So oder so, Sie gewinnen.”

Domoto quittierte diese Antwort mit nicht mehr als einem Schnauben.

“Denkt bitte daran, dass wir bei den meisten Mitgliedern von Wraith keine Dominator einsetzen können. Also sind auch bei diesem Einsatz Elektroschocker Pflicht.“

Akane ging dazu über, Fragen der Vollstrecker über den Einsatz zu beantworten.

Derweil standen Mika und Ginoza nebeneinander und sahen zu wie Akane Aufgaben delegierte und Positionen zuwies - er voller Stolz, sie noch unschlüssig, was davon zu halten war.

“Hör mal. Es ändert sich hoffentlich erst einmal nichts”, hörte er Mika sagen.

“Was?”

“Du weißt, was ich meine”, zischte sie durch zusammengebissene Zähne.

“Ich weiß nicht, was sich ändern sollte, Inspektorin Shimotsuki”, antwortete er pflichtgemäß und Mika wusste nicht recht, ob sie darüber nun erfreut oder gekränkt sein sollte.
 

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14. November, 2118 - 23:45

Energiewerk 8 - Bezirk Setagaya, Tokyo
 

Als die massive Präsenz des Amtes für öffentliche Sicherheit auf dem zu dieser Zeit sterbensleeren Platz des Energiewerkes vorfuhr, wirkte alles gespenstisch verlassen. Maskierte Geister waren dennoch nirgends zu sehen. Nur die blauen Umgebungsleuchten des Hauptgebäudes zeigten, dass es seine Arbeit machte.
 

“Ich habe da eine Geschichte im CommuField gehört”, wandte sich Mika in der Wartezeit an Ginoza, “Damals versuchte der Vollstrecker Shinya Kogami, aus dem Nona Tower zu fliehen, Als du deinen Dominator auf ihn gerichtet hast, soll er sich ohne Veränderung des Koeffizienten vom Non-lethal Paralyzer in den Lethal Eliminator verwandelt haben.”

“Das ist wahr. Glücklicherweise hat Inspektorin Tsunemori ihn vollstreckt. Hör am besten nicht auf das, was diese Verschwörungsphilosophen dir erzählen wollen. Der Dominator wird eine Fehlfunktion gehabt haben.”

Mika konnte ihm ansehen, dass er das selbst nicht so ganz glaubte.

Sibyl… wohl eher selbstgerechte Ratten als gerechte Götter, dachte Mika.

Ihr Communicator gab ein Signal von sich. Es war Mitternacht. Ohne es zu wollen, rückte sie ein Stück näher an Ginoza und starrte hinaus in die Dunkelheit der Nacht.
 

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MWPSB - Kriminalabteilung Einheit 3
 

“Area Stress Level im Stadtteil Minato”, rief Vollstrecker Hatano in die Runde, “Laut Kameras sind es Maskierte, die Graffitis an Häuserwände sprühen.”

Inspektor Domoto blickte auf seine Uhr: 00:00 Uhr und 14 Sekunden.

“Die Bastarde sind pünktlich. Also gut, wir rücken aus. Holen wir sie uns!”
 

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Energiewerk 8 - Bezirk Setagaya, Tokyo
 

Alle Mitglieder von Einheit 1 schraken zusammen, denn die erste Aktivität ereignete sich hinter ihnen.

“Was ist da los, wieso gehen die Lichter aus”, fragte Akane und versuchte durch die dominante Finsternis zu sehen, nun da die blauen Leuchten des Gebäudes erloschen waren.

“Das ist unmöglich, sie können nicht schon im Gebäude sein.”

“Wie können dann die Lichter… es sei denn-”

Ginoza hielt inne, als ihm eine üble Vorahnung über den Rücken lief.

“Es sei denn, das ist das falsche Energiewerk”, vervollständigte Mika.

“Wir waren uns doch einig, dass das hier-” Teppei wurde von Ginoza unterbrochen.

“Erinnert ihr euch an den Stromausfall im letzten Monat. Er dauerte nur einige Minuten an und war gleich wieder vorbei. Als Erklärung ließ man verlauten, es habe sich um einen Fehler in der Energieauslagerung gehandelt. Das könnte heißen, dass damals das vorherige Energiewerk den Fehler ausgelöst hatte und daher in der Reihenfolge übersprungen wurde. Dieses Energiewerk wäre demnach im letzten Monat an der Reihe gewesen.”

“Was bedeutet, dass diesen Monat das nächste Energiewerk an der Reihe ist, verdammt”, fluchte Akane.

“Es wäre das Werk 9 im Stadtteil Ota. Das können wir schaffen”, ermutigte Kunizuka.

“Es ist doch schon nach Mitternacht.”

Kunizuka verschränkte enttäuscht die Arme.

“Für eine Partnerin von Vollstrecker Kogami geben Sie ziemlich schnell auf, Inspektorin Tsunemori.“

Bei diesen Worten fuhr Akanes Kopf zu Yayoi und gleich darauf trat grimmige Entschlossenheit in ihr Gesicht. Sie klemmte sich eine Spinel-Zigarette zwischen die Lippen und gab den Befehl zum Ausrücken.
 

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15. November, 2118 - 00:20

Energiewerk 9 - Bezirk Ota, Tokyo
 

Erinnerungen an die Asagi Mall tauchten in Akanes Gedanken auf, als die Sicherheitsschleuse des Energiewerkes in Sicht kam. Äußerlich wirkte alles trügerisch unverändert. Die Drohnen am Eingang waren unbeschädigt, aber bei den von Sibyl als unbedenklich eingestuften Koeffizienten der Wraith-Mitglieder auch nicht wirksamer als Schaufensterpuppen.
 

“Shimotsuki-san, ich möchte Sie bitten, hier draußen Stellung zu beziehen und die Umgebung zu sichern. Teppei-san und Hinakawa-kun werden Sie unterstützen. Lassen Sie niemanden herein oder heraus. Ginoza-san und Kunizuka-san kommen mit mir.”

Sie rückten vor und ein gutes Dutzend Entschärfungsdrohnen surrte hinter ihnen her.

“Die blauen Außenlichter der Anlage funktionieren noch, also haben Sie die EMP-Granaten noch nicht gezündet”, folgerte Ginoza und setzte sich über seinen Communicator mit Shion in Verbindung, “Wenn Sie die Granaten positionieren wollen, wo wird das sein?”

“Der beste Ort wäre in direkter Nähe zu den Generatoren im ersten Untergeschoss. Die oberen Stockwerke sind für Wartung und Steuerung konstruiert.”

“Können Sie auf die Kameras im Gebäude zugreifen?“

“Tut mir leid, Akane-chan. Aber wie es scheint, haben sie die Kameras abgeschaltet. Ich muss mich ins System einschleusen und Sie wieder aktivieren, aber das dauert seine Zeit.”

“Versuchen Sie es, Karanomiri-san”, bat Akane. Im nächsten Augenblick packte Ginoza sie bei der Schulter und zog sie hinter eine Mauer.

“Tsunemori, da ist jemand im Eingangsbereich.”

Akane neigte sich vor und lugte um die Ecke der Mauer.

Hinter den gläsernen Eingangstüren waren eindeutig Personen zu erkennen, die…

“Inspektorin, sehen Sie, was ich sehe”, wollte sich Yayoi vergewissern.

Einige Personen mit Geistermasken, der Größe nach Jugendliche, missbrauchten die Eingangshalle des Energiewerkes als Hindernisparcours und brausten auf Hoverboards über Treppenstufen, die Köpfe der Sicherheitsdrohnen hinweg und an Pylonen vorbei.

“Das wird eine Ablenkung sein. Machen Sie sich auf alles gefasst. Wir gehen rein.”

Gemeinsam gaben sie ihre Deckung auf und marschierten durch die Eingangstüren.

“Sofort stehenbleiben!” Akanes Stimme hallte von den Wänden des Gebäudes wider und ihre Augen huschten von einem Halbwüchsigen zum Nächsten. Der Geist mit der grinsenden Maske, den sie damals im Einkaufszentrum gesehen hatte, war zu ihrer Enttäuschung nicht dabei. Die sechs Jugendlichen waren starr vor Schreck und rissen die Arme in die Höhe.

Akane zielte mit dem Dominator auf einen von ihnen.
 

Tetsuga Wataru

Kriminalkoeffizient 56. Kein Objekt zur Vollstreckung.

Auslöser bleibt gesperrt.
 

“Hey, wir… wir haben nichts kaputt gemacht, ehrlich. W-w-wir wollten nur Spaß haben.“

“Wer hat euch gesagt, dass ihr hierher kommen solltet?” Aus Yayois Mund klang dies mehr nach einem Befehl als nach einer Frage.

Die Jugendlichen nahmen ihre Masken ab.

“K-keine Ahnung wer. Jemand hat uns eine Nachricht im CommuField geschickt und gesagt, hier würde eine Party steigen. Wir sollten herkommen und zeigen, was wir mit unseren Boards so drauf haben. Deshalb sind wir hergekommen. Er meinte, das sei in Ordnung und dass das Gebäude heute nicht genutzt würde.”

“Wer ist er“, fragte Akane.

“Der Mann mit dem Biker-Helm. Er hatte hier gewartet, als wir ankamen und uns herein gelassen.”

Da war sie wieder, die gespannte Aufregung, die durch Akane fuhr wie elektrischer Strom.

“Wo ist er?“

“Er war ins Untergeschoss gegangen, aber danach ging er nach oben. Er sagte, wenn ihn jemand sprechen wolle, er sei auf dem Dach des Gebäudes.”

Als Ginoza sprach, zuckten die Jungen zusammen.

“Wer ist außer dem Mann mit dem Helm noch hier?“

“K-keiner. Wenn niemand vor uns hier drin war, sind sonst nur wir hier.“

“Ihr macht jetzt, dass ihr hier raus kommt. Draußen warten drei Beamte, bei denen meldet ihr euch. Wir schicken euch nach Hause.”

“Das ergibt doch keinen Sinn”, meldete sich Yayoi als die Kinder fluchtartig das Gebäude verließen, “War er so überzeugt davon, dass wir nicht herausfinden, wo er zuschlagen würde, dass er diesen Ort völlig ungesichert lässt. Und wieso begibt er sich nach oben, wenn er doch unten bleiben und die Granaten bewachen sollte?”

“Er könnte einen Fernzünder haben. Ginoza-san, begeben Sie sich bitte mit den Entschärfungsdrohnen ins Untergeschoss. Finden und deaktivieren Sie die EMP-Granaten, aber passen Sie auf Kameras auf. Er könnte eigene installiert haben, um bei Gefahr den Fernzünder zu betätigen. Kunizuka-san, Sie kommen mit mir. Wir finden ihn. “

Akane aktivierte ihren Communicator.

“Inspektor Domoto, sind Sie bereits vor Ort? “

Die Frage war eher rhetorisch, da aus den Hintergrundgeräuschen zu schließen war, dass Einheit 3 die Randalierer bereits gestellt hatte. Befehle wurden gebrüllt und hier und da zischte der Schuss eines Non-lethal Paralyzers durch die Luft.

“Haben sich ja ein wunderbares Timing ausgesucht, Inspektorin. Wir sind leider gerade etwas beschäftigt.”

“Sie haben unsere Daten über die Hauptmänner von Wraith bekommen. Konnten Sie unter den Geistern dort einen von ihnen sehen?“

“Tja, schwer zu sagen. Bei den verfluchten Rauchbomben können wir froh sein, nicht noch unsere eigenen Leute zu treffen.”

Domoto beendete die Verbindung.
 

“Der Mann hat einfach keinen Respekt gegenüber Kollegen mit gleichem Rang.”, spottete Ginoza.

“Nein”, widersprach Akane, “er hat kein Selbstbewusstsein. Deswegen seine Furcht, durch jede Handlung eines Kollegen oder einer Kollegin beruflich abgehängt zu werden. Aber fürs Erste tut er, was er soll. Er bekämpft die freien Radikalen, die Wraith mobilisiert haben.”

Sie wünschten einander noch einmal Erfolg, appellierten aneinander, sie mögen vorsichtig sein, dann trennte sich Akanes Weg von Ginozas.
 

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Bei Einheit 3 - Bezirk Minato, Tokyo
 

Der dominierende Qualm der Rauchbomben war so erdrückend wie damals bei den Feuerwerken der chinesischen Feste, an die sich Domoto aus seiner eigenen Kindheit erinnerte. Er hatte seinen Dominator erst gar nicht aus dem Holster gezogen, sondern wühlte sich, mit dem Elektroschocker um sich schlagend, einen Weg durch die Menge an potentiellen Gegnern.

Die von Wraith wie in einem Flashmob aufgetriebenen Strohmänner hatten zumindest so viel Sorge um ihren eigenen Farbton, dass sie nicht direkt gewalttätig wurden und eher das Heil in der Flucht suchten als ihre Stellung gegen die Mitglieder von Einheit 3 zu halten. Ein halbes Dutzend von ihnen hatte man schon erfolgreich zurückdrängen können.

“Bildet einen Kreis um sie”, brüllte Domoto seinen Vollstreckern über den Lärm hinweg zu, “Lasst nicht zu, dass sie uns entwischen!”

Was Akane Tsunemori anging, war er - auch wenn er das niemals zugäbe - gespalten. So sehr er wünschen würde, sie scheitern und vor der Direktorin in Ungnade fallen zu sehen, so sehr hatten die bisherigen Aktivitäten von Wraith an seiner Substanz und der seines Teams gezehrt. Wenn er es recht bedachte, wollte er Tsunemori sogar den Triumph des Erfolges lassen.

Hauptsache, es endet heute Nacht, sagte er sich.
 

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15. November, 2118 - 00:45 Uhr

Energiewerk 9 - Bezirk Ota, Tokyo
 

Durch die Dunkelheit der oberen Stockwerke pirschten sich Akane und Yayoi näher und näher an den Ausstieg zum Dach. Die Kinder hatten Recht behalten. Es schien niemand außer ihnen dort zu sein.

Je näher sie aber dem Dach kamen desto mehr bemerkte Akane den untrüglichen Instinkt eines Bullen. Die Härchen in ihrem Nacken stellten sich auf und jeder Muskel spannte sich in Erwartung eines Kampfes. Das letzte Mal hatte sie sich so gefühlt, als sie auf Shambala in Feindesgebiet eingedrungen war und sie die Nähe einer anderen Person gespürt hatte, die sich als Shinya Kogami erwiesen hatte.

Sie war froh, auch ihre Kleidung der damaligen Mission auf Shambala angepasst zu haben. Rock und Blazer hätten in dieser Situation zu viel Bewegungsfreiheit geraubt. So waren Cargohose, feste Stiefel, fingerlose Handschuhe und Jacke die bessere Wahl.
 

Das letzte Tor zum Dach öffnete sich durch eine alte hydraulische Tür. Akane und Yayoi waren überrascht wie hoch oben sie sich befanden. Von unten betrachtet hatte das Gebäude nicht so groß ausgesehen.

Akane gebot Yayoi mit einer Handbewegung, anzuhalten. Den sitzenden Mann am anderen Ende des Daches hatte sie in der Dunkelheit der Nacht kaum bemerkt.

“Guten Abend, Inspektorin”, grüßte er durch den Stimmverzerrer und erhob sich.

Nun waren im Gegenlicht die Flammenzeichnungen auf seinem Anzug erkennbar. Die Lichter der Stadt spiegelten sich in der Schwärze seines Visiers.
 

Wohl nur, um sich selbst zu versichern, zielte sie mit ihrem Dominator auf den Anführer von Wraith.
 

Fehler! Ungültiges Objekt. Auslöser bleibt gesperrt.
 

“Dass du derart fahrlässig von deinem Sieg ausgingest, habe ich nicht von dir gedacht. Wir haben herausgefunden, welches dein wirkliches Ziel sein wird.“

Der Maskierte zeigte sich unbeeindruckt von Akanes Versuchen, ihn aus der Reserve zu locken.

“Ich hatte nichts Geringeres von Ihnen erwartet, Inspektorin.“

“Wenn das wahr ist”, fragte Akane, “warum lässt du diesen Ort dann unbewacht zurück?”

Der Mann zuckte mit den Schultern.

“Darf ich denn keine Geheimnisse haben?”

“Wieso hast du die Kinder hierher gebracht”, fragte Akane, während sie von der einen Seite um den Mann herum schlich und Yayoi von der anderen Seite.

“Wir geben Ihnen das zurück, was Sibyl ihnen gestohlen hat.“

“Was hat Sibyl ihnen gestohlen?“

“Inspektorin, die vorgetäuschte Naivität steht Ihnen nicht. Sie wissen ziemlich genau, was ich meine.”

“Die Fähigkeit, selbst zu entscheiden.“

Ihr Gegner deutete die Bewegung eines Nickens an.

“Ja. Sibyl kontrolliert jeden Menschen in diesem Land. Das System lässt sich aber von niemandem kontrollieren. Ist das gerecht?“

“Willst du uns nun etwa das Märchen von Gerechtigkeit auftischen”, spottete Yayoi, “Was ist gerecht daran, wenn ein Freund stirbt, der uns wichtig ist? Nicht einmal die Geburt eines Menschen ist gerecht, weil er in diese Welt geboren wird, ohne gefragt zu werden, ob er das will. Erzähle du mir also nichts von Gerechtigkeit.”
 

Das war ihre Chance! Akane hatte den Moment genutzt, in dem ihr Gegner durch den Wortwechsel mit Yayoi abgelenkt schien und sprang nach vorn. Wenn sie es schaffte, ihm den Arm zu verdrehen wie damals Sakuya Togane, hatte sie ihn.

Ihr Angriff war fingiert. Sie wusste, dass ihr Gegner stärker war, daher nahm sie die Bewegungsenergie aus ihrem Angriff, als ihr Gegner auswich, um die Kraft seines Konters gegen ihn zu nutzen.

Er fiel auf die Falle herein und schnellte nach vorn, um ihren Arm zu greifen. Sie ließ zu, dass er ihn erwischt und ließ sich von ihrem Körpergewicht nach hinten ziehen.

Doch sie konnte ihn nicht mit sich ziehen, nein, er bewegte sich gar nicht.

Als ihre Augen sich in seinem Visier selbst begegneten, erkannte sie: Er hatte ihre Falle durchschaut und seinerseits alle Bewegungsenergie aus seinem vermeintlichen Angriff genommen.

Nun genügte ein Ruck und Akane wurde in seine Richtung gezerrt. Ein Stolpern über seinen Fuß und ein Klaps seiner Hand auf ihren Hinterkopf und sie musste ihren Sturz mit den Händen abfangen.

Sie sah nur aus dem Augenwinkel Yayois Angriff ebenso scheitern, als der Mann ihrem Elektroschocker auswich und sie - ihr Bewegungsmoment ausnutzend - am Arm nach vorn riss, nur um einen Fuß gegen ihren Bauch zu stemmen, sich fallen zu lassen und sie über sich zu werfen.
 

“Dann sagt mir, ihr beide” Er erhob sich wieder. “Seid ihr heute Nacht hier, weil ihr das wollt oder weil Sibyl das will?“

Akanes Communicator aktivierte sich und Ginozas Stimme erklang, leise genug, dass nur sie ihn hörte.

“Tsunemori, ich habe die EMP-Granaten gefunden. Keine Kameras hier unten. Ich werde sie nun entschärfen. Lenk ihn noch etwas länger ab.”

Ablenken… Sie musste ihn heute Nacht gar nicht zu fassen bekommen, Hauptsache, sein Plan konnte vereitelt werden.

Sie würde Ginoza all die Ablenkung verschaffen, die er brauchte.

“Welche Rolle spielt es, ob wir aus eigenem oder aus Sibyls Willen hier sind?”

“Es spielt die entscheidende Rolle. Die über alles Entscheidende.“

“Dann kannst du beruhigt sein”, presste Yayoi entschlossen hervor, “Ich bin nicht um Sibyls Willen hier. Aber ich vertraue meiner Inspektorin.“

“Und wenn ich dir sage, Vollstreckerin Kunizuka, dass deine Inspektorin etwas über Sibyl weiß, das sie dir und allen anderen Mitgliedern ihrer Einheit bewusst vorenthält?”

“Nein, nicht!” Akanes Aufschrei schnitt ihm das Wort ab. “Kunizuka-san, glauben Sie ihm kein Wort. Was er sagt, ist nicht wahr!”

Sie konnte Yayois Seitenblick auf sich fühlen und kämpfte gegen die Panik an.

Nicht jetzt. Sie dürfen das nicht wissen, noch nicht. Bitte.

Ihr insgeheimes Flehen wurde erhört.

“Die Entscheidung für das Richtige ist allein deshalb wertvoll”, fuhr er fort, “weil auch das Falsche zur Wahl stand.”

Akane begann, sich machtlos zu fühlen. Unfähig, ihn zu überzeugen oder zum Umkehren zu bewegen - wie damals, als Kogami davon besessen war, Makishima auszuschalten.

“In Sibyls Welt gibt es keinen falschen Weg mehr. Kein sich Verirren mehr und keine Chance, auf den rechten Weg zurück zu finden. Sibyl definiert, welcher der richtige Weg ist und sorgt dafür, dass nichts und niemand mehr davon abweicht. Heute Nacht erwecken wir das Finstere im Menschen zu neuem Leben und geben seinem ungezähmten Wesen die Chance, dieses Land zu verändern.”

“Aber zu welchem Preis?“ Ihre Stimme klang nun flehentlich und sie hasste sich dafür.

“Es wird Verkehrsunfälle geben. Die medizinische Versorgung wird zusammenbrechen. Menschen werden sterben, wenn ihr das tut. Viele Menschen. Das kann nicht euer Weg sein.”

“Vielleicht hast du dich in uns getäuscht, Inspektorin.”

Der Mann wandte sich ab.

“Tja und vielleicht auch nicht.”
 

Akane hatte keine Zeit zu reagieren, als ihr Gegner einen Sprint auf das Ende des Daches startete.

“Scheiße!”

Akane rannte ihm nach. Sie hörte Yayois schockierten Ausruf kaum und war froh über ihr intensives Lauftraining der letzten Zeit. Sie hatte ihn gerade eingeholt, als sie beide das Ende des Daches erreichten, dann sprang sie ihm hinterher.

Auch wenn wir beide in den Tod stürzen, habe ich zumindest das Schlimmste verhindert. Kogami-san, verzeihen Sie mir…
 

Die Zeit verlangsamte sich in ihrer subjektiven Wahrnehmung und sie sah den Mann den Kopf zu ihr umwenden. Er musste erkannt haben, dass auch sie gesprungen war.

“Verfluchter Sturkopf”, hörte sie ihn fluchen, dann drehte er sich im Sprung und packte sie, ehe sie in die Tiefe stürzten.

Was dann geschah, konnte Akane nur vermuten, denn seine Hand drückte ihren Kopf unerbittlich fest gegen seine Schulter, so dass sie nichts sah, sondern nur das Gefühl und den Geruch von hartem, kühlem Leder wahrnahm.

Der Mann musste eine weitere Drehung geschafft haben, denn auf einmal schien es so, als glitten sie durch die Luft.
 

Stimmt, sie hatte auf seinem Rücken so etwas wie einen Rucksack gesehen, als er sich zum Sprint abwandte.

Ein Fallschirm oder ein Gleiter, dachte sie.

Dann spürte sie eine Landung und im nächsten Moment erblickte sie den Gleiter an seinem Rücken wie die Flügel einer feuerroten Fledermaus. Er war auf dem tiefer gelegenen Dach eines Nebengebäudes gelandet.

“Willst du mich so sehr fangen, dass du dafür zu sterben bereit bist“, zischte er sie durch den Stimmverzerrer an.

Er hielt sie noch immer, einen Arm an ihrem Rücken, während sie die Arme reflexartig um seinen Hals geschlungen hatte.

“Wenn ich dadurch die Menschen dieser Stadt schützen kann, dann auch das“, gab sie trotzig zurück.

“Jetzt siehst du ihn wieder, den Abgrund, nicht wahr? Selbst deine eigene Vernichtung anzunehmen, um mich zu schlagen. Das ist der freie Wille, von dem ich sprach. Und du kannst mir nicht erzählen, dass du dieses Kribbeln auf dem Rücken nicht gefühlt hast, dass nur dein von Sibyl befreiter Wille bieten kann.“

Er fuhr verdeutlichend mit dem Daumen über Akanes Wirbelsäule und sie fühlte den Schauer bis in die Haarspitzen.

Völlig unvermittelt, ließ er sie los und entfernte sich von ihr.
 

“Es wird Zeit für die Show. Genießen Sie sie, Inspektorin.”

Er zog etwas in der Form eines Stiftes mit einem Knopf an der Oberseite.

“Nein!”

Sie griff hinter ihren Rücken und erwischte ihren Dominator, den sie aus dem Holster riss und auf ihn richtete.

“Tun Sie das nicht! Wenn Sie die EMP-Granaten zünden, wird der elektromagnetische Puls den Chip in ihrem Helm ausschalten und glauben Sie mir, ich werde schießen, welchen Koeffizienten Sie auch immer haben sollten. Sind Sie bereit, für das, was Sie vorhaben, zu sterben?”

Mit nacktem Entsetzen sah sie ihn den Knopf drücken.

Doch, was sie gefürchtet hatte, passierte nicht. Es gab keine Explosion, keine Verdumpfung, kein Erlöschen der Lichter. Stattdessen hob Wraith den Stift an seinen Helm und sprach etwas hinein, was Akane nicht hörte.

Plötzlich warf er ihr mit einer schnellen Handbewegung den Stift zu. Erst als sie ihn gefangen hatte, begriff Akane, dass es kein Fernzünder war. Es war eine Art archaischer Communicator.
 

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Bei Einheit 3 - Bezirk Minato, Tokyo
 

“Auf die Knie und denk besser gar nicht daran, auch nur zu zucken.“

Domoto kostete den Triumph aus.

Gut zwei Dutzend Delinquenten in einer Nacht und alle saßen sie nun hier in der Falle und warteten auf ihren Abtransport.

Hinter den Mitgliedern von Einheit 3 blockierte eine Sperre aus einem Dutzend Komissa-Drohnen die Straße.

“Vielleicht ist es ganz lehrreich für euch, mal eine Internierungseinrichtung von innen zu sehen”, mutmaßte Domoto.

“Was soll das”, hörte er einen der Gefangenen flüstern, “Ich dachte, er wollte heute Nacht kommen. ”

“Hey, was tuschelt ihr da”, mischte er sich ein, “Wer kommt?“

Der Gefangene Geist konnte kaum das Beben seiner Stimme unterdrückten.

“Spectre”, antwortete er, “Spectre wird kommen.“

“Mach dich lieber darauf gefasst- Verdammt, was gibt es da zu lachen?!”

Domoto fuhr wütend herum, nur um festzustellen, dass da keiner seiner Vollstrecker stand und lachte.

Stattdessen benahm sich eine der Komissa-Drohnen merkwürdig. Sie hielt sich den Bauch und schien bemüht, lautes Lachen zu unterdrücken. Dann brach das Lachen aus ihr heraus und ebenso zerbrachen alle Komissa-Drohnen in holografische Polygone, nur um maskierte Anhänger von Wraith unter sich zu offenbaren, allen voran der Junge mit der grinsenden Maske. Auf seinem Hoverboard schnellte er an den Vollstreckern vorbei und warf den eben noch gefangenen Geistern eine Tasche zu.

“Tut aus das Licht”, rief er und die Hölle brach um sie los.
 

~
 

Akane war angewurzelt und hörte bloß das Schreigewirr auf der anderen Seite des Communicators, als die Geister wieder zum Angriff übergingen.

Dann hörte sie Domoto.

“Hilfe! Wir brauchen Verstärkung! Die Komissa-Drohnen wurden gehackt! Es waren Geister!”

“Inspektor, runter”, schrie einer der Vollstrecker.

“Verdammt, die werfen mit… das, das sind EMP-”

Dann war die Verbindung tot.
 

Akane riss die Augen auf und starrte auf den maskierten Mann vor ihr. Der hob Zeige- und Mittelfinger an seinen Helm und salutierte, ehe er sich abwandte und ungehindert auch von diesem Dach sprang, um mit seinem Gleiter zwischen den Häuserschluchten zu verschwinden.

Es dauerte lang, ehe sie aus Ihrer Starre erwachte.

Und so sehr sie sich auch zu zwingen versuchte, sie konnte keine Wut in sich wachrufen. Stattdessen ertappte sie ihre Lippen dabei wie sie sich zu einem unmerklichen Lächeln verzogen hatten.

Ich hatte mich nicht in Ihnen getäuscht.
 

15. November, 2118 - 1:30 Uhr

Energiewerk 9 - Bezirk Ota, Tokyo
 

Es überraschte Akane, dass niemand ihr Vorwürfe machte, sie sei von Anfang an zu halsstarrig an das alles heran gegangen. Nicht Mika, nicht einmal Ginoza. Jedenfalls war er bemüht, ihr keine zu machen.

Sie saß zusammengekauert auf einem Mauervorsprung am Eingangsbereich der Anlage, die Knie an die Brust gezogen und sah wie eine Anfängerin den Vollstreckern zu wie sie zu retten versuchten, was noch zu retten war.

Ginozas Mantel, den dieser ihr über die Schultern gelegt hatte, spendete etwas Wärme. Was hätte sie nun dafür gegeben, dass Kogami dort gewesen wäre, um ihr zu sagen, dass alles in Ordnung war. Dass sie sich nichts vorzuwerfen hatte. Aber das stimmte nicht, oder?
 

“Hier. ” Ihr Kopf hob sich zu Ginoza und dem dampfenden Becher, den er ihr entgegen hielt.

“Wenigstens bekommt man an diesem trostlosen Fleck Kaffee. Es ist zwar nur Hyper-Oats-Kaffee, aber immerhin.”

Sie nahm den Becher dankend an und wärmte sich die Hände, ehe sie vorsichtig nippte.

“Wollen Sie mir diesmal nicht vorwerfen, ich wäre wieder auf eine ihrer Fallen hereingefallen, Ginoza-san?“

Er seufzte und stemmte die Fäuste in die Hüften.

“Ich werfe dir gar nichts vor, Akane. Ich mache mir nur immer größere Sorgen.” War ihm bewusst, dass er sie das erste Mal mit ihrem Vornamen angesprochen hatte. Akane jedenfalls war es aufgefallen.

“Ich sehe dich diesem Gespenst nachjagen und du wirst dabei zunehmend rücksichtsloser. Rücksichtsloser gegen dich selbst. Erst dieser Alleingang zu Tomoakas Wohnung, der dich hätte umbringen können und nun springst du diesem Mann hinterher. Wenn du abgeglitten wärst oder er dich abgeschüttelt hätte, wärst du jetzt tot und hättest doch nichts damit erreicht.

Nun muss ich diesem Mann sogar noch dankbar sein. Und du solltest das auch. Er hat dir immerhin das Leben gerettet.”

“Wissen wir schon wie es den Mitgliedern von Einheit 3 geht”, fragte Akane, vor allem um die Schuldgefühle auszublenden.

“Ich habe vor wenigen Minuten eine Nachricht von Inspektor Mitsuba bekommen, dass er sie alle herausholen konnte. Zum Glück keine Verluste, nicht einmal Verletzte.“

Akane seufzte nun auch, jedoch vor Erleichterung.

“Ich muss wohl kaum erwähnen”, relativierte Ginoza, “dass Inspektor Domoto Gift und Galle spuckt und dich am liebsten eigenhändig zu einem Disziplinarverfahren schleifen würde.”

“Wissen wir denn schon wie groß die von Wraith verursachten Schäden sind”, wollte sie wissen, um sich auch von Domotos Zorn abzulenken.

“Nicht genau. Shion kümmert sich um die Analyse. Sie sagte, sie werde die Auswertung beendet haben, wenn wir wieder im Nona Tower sind. Wraith hat acht EMP-Granaten im Zentrum von Minato gezündet. Vorsichtig ausgedrückt also: ein ziemlicher Alptraum. Aber gib dir nicht allein die Schuld dafür. Sie haben uns alle ein zweites Mal an der Nase herumgeführt, indem sie genau das Gegenteil getan haben wie bei ihrer ersten Aktion. Damals war der Area-Stress-Level die Ablenkung und Überfall auf den Material-Konvoi das wahre Ziel. Diesmal war das, was wir für das wahre Ziel hielten, die Ablenkung und der Area-Stress-Level die Tarnung für die wahre Aktion. Wer hätte das ahnen sollen?“
 

Erneut fühlte Akane sich hilflos. So gern hätte sie nun Kogami gefragt, ob er es hätte kommen sehen. Ob er diesen Plan wohl durchschaut hätte.
 

“Ich verstehe das einfach nicht. Sie haben im Untergeschoss doch EMP-Granaten gefunden, Ginoza-san. Wie konnten sie dann-”

Die Worte blieben ihr im Hals stecken, als er ihr einen grünen, länglichen Zylinder hinhielt.

Eindeutig zu erkennen war die weiße Seriennummer.

“Das sind echte EMP-Granaten”, erklärte er, “Jedenfalls waren sie das. Der Zünder wurde entfernt, das heißt sie waren vor langer Zeit bereits gezündet worden. Das ist Militärschrott. Vermutlich sollte er über die Yamanote-Linie zu einem Endlager außerhalb der Stadt transportiert werden und Wraith hat auch diese unbrauchbaren EMP-Granaten entwendet.”

Akane nahm den leeren Zylinder von Ginoza an. Nur fühlte er sich nicht leer an. Als sie ihn schwenkte, klang es, als sei er mit Kieselsteinen gefüllt.

Sie brach das obere Ende ab und etwas fiel heraus, das sie erst am Boden deutlich erkennen konnte: bunte bohnenförmige Objekte.

Akane hob eine kleine weiße Bohne auf und steckte sie sich in den Mund, ehe Ginoza protestieren konnte.

Vanille.

“Das sind doch…”


Nachwort zu diesem Kapitel:
Dies war der Auftakt. Für alle, denen es gefallen hat, bitte weiterlesen.
Für alle, die es nicht wissen und wissen wollen: Akane spielte auf die Plastik der Denker ("Le Penseur") von Auguste Rodin an. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Trivia

Das Ass der Schwerter steht im Tarot für einen klaren Verstand und Entschlossenheit, die Bereitschaft Risiken einzugehen und Veränderungen zu bewirken.

Sowohl das Resorts World Sentosa als auch den erwähnten Whisky gibt es wirklich. Die Flasche beläuft sich aktuell auf etwa 450 Euro. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Der griechische Satz Σίβυλλα τί θέλεις liest sich in der lateinischen Transkription, wenn ich es korrekt recherchiert habe, etwa: "Sibylla ti theleis", also "Sibylle, was willst du?"

Zitat aus Kapitel 3: Ghosts of the Past
"Wir wind Wraith, der Geist im System. Ihr könnt uns jagen, doch ihr könnt uns nicht sehen." Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Tut mir leid für das Cliffhanger-ähnliche Ende. Ich versuche, das nächste Kapitel so schnell wie möglich nachzulegen.
Für jene, die es wissen wollen: Die deutsche Transkription von 'άπο ϴανεΐν ϴέλω' (Der Antwort auf die Frage "Was willst du, Sibyl?") sollte nach meinen Recherchen 'apothanein thelo' lauten ("Sterben will ich."). Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Was ist mit Akanes Eltern?
Wird Einheit 1 das Rätsel von Wraith lösen?
Wird Wraith Plan aufgehen?
Und wird ein Sieg über Wraith nun ein Sieg für die Gerechtigkeit sein oder doch nur ein Sieg für Sibyl.
Erfahrt dies und mehr in Kapitel 6: Prometheus.

Trivia:
Die Beleidigung, die Hue gegen Akane gemurmelt hatte, nahm er von den gleichnamigen Drogenpilzen (shrooms). Und Pilze als Anspielung auf Akanes Frisur. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Noch immer bleibt verborgen, welchen finalen Plan Wraith verfolgt - wenn es denn überhaupt einen gibt. Längst klar ist aber, dass Akane und ihren Getreuen von mehr als dieser Seite Gefahr droht.
Welches Spiel spielt der neue Inspektor Mitsuba? Welche Tricks hat der geisterhafte Subadachan noch im Ärmel und was wird das Sibyl System tun, wenn es Verrat aus den eigenen Reihen fürchten muss?
Noch mehr Enthüllungen und Untiefen werden sich auftun. In Kapitel 7: "Jelly Beans". Komplett anzeigen

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Kommentare zu dieser Fanfic (9)

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Von:  Cosmoschoco1209
2019-04-05T06:44:51+00:00 05.04.2019 08:44
Es ist zwar schon eine gefühlte Ewigkeit her, am sich die erste und zweite Staffel von Psycho-Pass gesehen habe, aber ich denke ich fuchse mich da schnell wieder rein. Da ich selbst noch keine Fanfic von diesem Fandom gelesen habe, bin ich froh, dass mich dieses Kapitel schon überzeugt hat und ich nun bin gespannt weiterlesen kann. Ebenso bin ich gespannt, wie sich das alles weiterentwickelt. Ich bleibe also dran. :)
Von:  Assassinsgirly
2018-08-01T12:47:40+00:00 01.08.2018 14:47
mir kommt langsam der verdacht das da noch mehr ist als nur macht Spielchen aber wie schon gesagt es ist nur ein verdacht aber sicher bin ich mir nicht ich hoffe es wird noch Spanender als jetzt
Von:  Kurayko
2018-06-28T05:10:20+00:00 28.06.2018 07:10
Fantastisches Kapi *alles vorm 3ten Auge und Stimmen im Ohr*
Nobu wird Kou sicher damit aufziehen bis zum letzen Tag aber so ist dan nun mal unter Freunden.
Shusei...

Bis zum nächsten Mal
Von:  Assassinsgirly
2018-04-24T17:29:57+00:00 24.04.2018 19:29
und das wäre eine gute Idee Rigel

Antwort von:  Rigel
06.05.2018 00:11
Huh? Was'n? 0_0
Von:  Assassinsgirly
2018-04-13T17:13:38+00:00 13.04.2018 19:13
wow ist das Krass

Von:  Assassinsgirly
2018-02-26T15:26:17+00:00 26.02.2018 16:26
der Mit dem V Helm kam mir verdächtig bekant vor (erste Staffel bei Makischma ) ist kann das sein das sich darunter Shinya Kogami verbiergt?
Von:  Kurayko
2017-11-02T06:30:36+00:00 02.11.2017 07:30
Gab es im alten Griechenland nicht eine die Sibyl hieß und besondere Merkmale hatte, was darauf schließen läst weswegen das System ihren Namen trägt?!
Klasse Kapi, ich mag Ginoza einfach :3
Antwort von:  Rigel
02.11.2017 08:08
Sie sind auf der richtigen Spur, Mr Holmes.
Von:  Kurayko
2017-10-19T04:26:04+00:00 19.10.2017 06:26
wie in einem guten alten Krimi *freu* dieser gewiefte Hund ist halt mit allen Wassern gewaschen...das mit dem Duft der Haare war die Seife ;)
Bis zum nächsten Kapi.
Von:  Kurayko
2017-10-17T11:30:56+00:00 17.10.2017 13:30
Also ich würde gerne mehr lesen, denn sie gefällt mir.
Ich gebe dir Recht leider gibt es nicht viel von Psycho Pass zu lesen, darum freut es mich vllt. wieder was zum schmökern gefunden zu haben ^,^ auch auf welche Pairings du anspielst, sowie was nun folgt macht einen neugierig.
Nun denn bis aufs nächste Kapitel.


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