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Zwischen Molotowcocktails und Shakespeare

von

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Kapitel 5.

Irgendwann muss mich Julis Atemgeräusch so eingelullt haben, dass mich Morpheus doch noch mit beiden Armen in seinem Reich willkommen hieß. Denn als ich das nächste Mal am Bewusstsein kratze, höre ich leises Flüstern und Kichern, in meinem Zimmer und brauche einen Moment, um zu verstehen, mit wem sich meine Schwester unterhält. Würfel rollen über ein Spielbrett und ich sehe, als ich mit den Augen blinzelnd nachsehe, Juli neben Lari auf dem Boden sitzen. Typisch Lari, Juli direkt zu einem Gesellschaftsspiel einzuladen. Ein Klopfen an der Tür lässt mich meine Augen wieder schließen. Sekundenspäter erklingt die Stimme von Mama. »Schläft sie immer noch?«
 

»Ich dachte, wir wecken sie, sobald Juliet und ich mit dem Spiel fertig sind«, höre ich Lari sagen und ich kann Mamas Augenrollen bildlich vor mir sehen.
 

»Soll ich dir vielleicht ein paar Sachen aus Romys Kleiderschrank raus suchen, du musst doch frieren, Liebes?«
 

»Lass deine Griffel von meinem Kleiderschrank, Mama«, klinke ich mich ein, als ich höre, wie Mama die Tür meines Schranks aufzieht und muss grinsen, als sie, Lari und Juli bei meinen Worten erschrocken zusammenzucken.
 

»Dann kümmer dich besser um deinen Gast, als bis kurz nach Neun zu schlafen, Romy. In zehn Minuten gibt es Frühstück, unten in der Küche!« Mit diesen Worten rauscht Mama aus meinem Zimmer und lässt die Tür ins Schloss fallen. Seufzend setze ich mich auf und fahre mir gähnend durch die kurzen Haare. Mit einem gemurmelten »Guten Morgen«, schäle ich mich aus der Bettdecke und stolpere, die beiden Frühaufsteher ignorieren, ins Badezimmer, wo ich die Tür vernehmlich hinter mir ins Schloss werfe, meine Kleidung ablege und mich unter die Dusche stelle. Ein genießerisches Seufzen entweicht mir, als angenehmes, warmes Wasser auf meine nackte Haut trifft. Gott, wie habe ich meine eigene Dusche vermisst, auch wenn es technisch gesehen eine Badewanne ist. Selbst wenn es nur ein schlichter Bottich wäre, würde ich das im Moment nicht so eng sehen. So froh bin ich um die Privatsphäre, die man im Internat nur ganz früh und spät am Abend hat, wo das Wasser nicht mehr richtig warm wird. Ich reize die Zeit aus und seife mich gründlich ein. Soll Mama doch meckern, weil wir zu spät am Frühstückstisch erscheinen. Sie kommt selbst manchmal, mit Papa, zu spät und meine Schwester und ich beschweren uns darüber nie. Als ich mir das Shampoo aus den Haaren gespült habe, trockne ich mich ab und wickle mich in ein großes, flauschiges Badehandtuch ein, bevor ich mir die Haare mit einem kleineren Handtuch trocken reibe und meine benutzte Kleidung in den Wäschepuff werfe.
 

»Du kannst auch Duschen gehen, wenn du möchtest. Ich sollte irgendwo noch ein paar Klamotten haben, die ich nicht mehr anziehe«, beginne ich meiner Zimmerwand zu erzählen, als ich, nachdem Zähneputzen, aus dem Badezimmer trete und auf meinen Kleiderschrank zugehe. Ich lege mir Unterwäsche, mein liebstes Gammelshirt, dass ich immer an Wochenenden trage, heraus und suche dabei nach meinen alten Klamotten, die ich mir in einer anderen Phase meines Lebens einmal gekauft hatte. Ich ziehe ein ärmelloses, weißes Top hervor und eine schwarze, schlichte, dünne Strickjacke. Aus den Tiefen meines Schrankes noch eine Jeans für sie und für mich eine Jogginghose, von denen ich denke, dass sie passen müssten. Zwischen all den Klamotten finde ich ein paar Unterhosen, die Paul wohl einmal bei mir vergessen und Mama für ihn gewaschen hat. Ich packe Juli eine davon auf den Kleiderstapel, weil ihr meine Unterwäsche nicht passen wird und die Unterhose wenigstens einen Gummizug hat.
 

»Bitte schön«, murmel ich, als ich Juli den Wäschestapel hinhalte, ohne sie direkt anzusehen. »Handtücher findest du im großen Schrank, im Badezimmer. Gästezahnbürsten sind im Spiegelschrank.« Juli nimmt mir die Sachen ab und verschwindet ins Badezimmer. Erleichtert atme ich aus und lasse mein Handtuch fallen und beginne damit, mich anzuziehen.
 

»Wer gewinnt?«, frage ich Lari, als ich mir mein Gammelshirt über den Kopf ziehe und mich neben ihr auf den Boden fallen lasse.
 

»Juliet, so wie es jetzt aussieht«, erwidert Lari leise, nachdem sie das Brett gründlich studiert hat.
 

»Wie kommt es eigentlich, dass du in meinem Zimmer bist?«, frage ich und stoße Lari mit meiner Schulter grinsend an. Lari schubst mich sanft mit ihrer Hand weg und grinst zurück.
 

»Ich konnte nicht mehr schlafen, weshalb ich vorsichtig in dein Zimmer geschaut habe. Da sah ich Juliet am Fenster stehen und habe sie gefragt, ob wir etwas spielen wollen.«
 

»Und?«, frage ich gedehnt und sehe Lari ernst an. »Habt ihr über mich geredet?«
 

»Mhm, ein bisschen«, zwinkert Lari und wirft mir den Würfel zu. »Ich habe ihr erzählt, wie gemein du immer zu mir bist.«
 

Das Wasserrauschen aus dem Badezimmer stoppt für einen kurzen Moment und als ich mir vorstellen will, wie sie sich am ganzen Körper einseift, versteife ich mich und werfe Lari den Würfel zurück. »Du bist es doch, die immer frech zu mir ist«, lache ich leise, gekünstelt und hoffe, dass Lari es nicht bemerkt.
 

»Ich habe dich wirklich vermisst, Romy«, flüstert Lari nach einem Moment und legt ihren Kopf auf meine Schulter. »Musst du am Sonntag wirklich wieder weg?«
 

»Ach Süße«, seufze ich, lege einen Arm um Lari und drücke sie fest an mich, ohne ihre Frage zu beantworten und starre die Badezimmertür an, als ich meinen Kopf an den von Lari lehne.
 

»Ich habe Mama und Papa gefragt, angefleht, dass ich auch auf das Internat darf, aber sie sagen Nein, egal was ich zu sagen habe«, wimmert Lari leise und ich spüre die Tränen, die durch mein T-Shirt, auf die Haut meiner Schulter sickern. Ich streiche ihr beruhigend immer wieder über den Rücken, bis ihre Tränen versiegt sind und Lari an meiner Schulter eingeschlafen ist. Ich kann ihre Erschöpfung sehr gut nachvollziehen, weil ich weiß, wie es ist, wenn man weint und weniger Schlaf bekommt. Denn ich bin mir sicher, dass Lari sich extra einen Wecker gestellt hat, um meiner Bitte, Juli anzumelden, nachzukommen. Juli kommt bekleidet aus dem Bad, als ich Lari auf mein Bett hebe. Ich bedeute ihr, in dem ich einen Finger auf meine Lippen lege, leise zu sein und bin überrascht, wie gut ihr die Klamotten stehen.
 

»Ist alles Okay?«, formt Juli die Frage, stumm, nur mit ihren Lippen und deutet auf den feuchten Fleck an meiner Schulter. Aus meinem Kleiderschrank hole ich ein frisches T-Shirt, weil ich nicht möchte, dass Mama und Papa beim Frühstück sehen, dass einer von uns geweint hat und schüttel an Juli gerichtet, meinen Kopf. Als ich das T-Shirt wechsle, fühle ich ihren Blick auf meiner Haut deutlich und beschert mir eine Gänsehaut.
 

»Gehen wir Frühstücken, bevor Mama noch einmal hochkommt und mich einen Kopf kürzer macht«, seufze ich und blicke ein letztes Mal zu Lari, bevor ich meine Zimmertür öffne und Juli am Arm aus meinem Zimmer ziehe. »Wir bringen Lari etwas mit, wenn wir zu Mamas Zufriedenheit gemästet sind.« Ich lasse ihren Arm los, als ich die Zimmertür hinter uns schließe und gemeinsam gehen wir langsam die Stufen hinab. Vor der Küchentür sehe ich, wie Juli neben mir tief einatmet. Bevor sie jedoch etwas sagen kann, öffne ich die Tür und trete in die Höhle des Löwen. »Guten Morgen.«
 

Papa schaut von seiner Zeitung auf und blickt mir mit einem neutralen Gesichtsausdruck entgegen. Ich setze mich auf meinen Stammplatz und lächle Papa an, bevor ich zurück zur Tür schaue, wo Juli unschlüssig zwischen Tür und Angel steht und zu mir schaut. »Komm rein und setz dich, meine Eltern beißen nicht«, sage ich und winke sie herein.
 

»Wo ist deine Schwester?«, fragt Papa mich, als er meine Begrüßung mit einem Nicken zur Kenntnis genommen hat. »Und wer besucht dich hier spontan?«
 

»Lari ist in meinem Bett noch einmal eingeschlafen. Bestimmt hat sie in der Nacht zu wenig geschlafen«, erkläre ich und klopfe auf dem Stuhl zu meiner Linken und sehe Juli dabei an, als sie zögernd auf uns zu kommt, nachdem sie die Tür hinter sich geschlossen hat.
 

»Papa, darf ich dir Juliet vorstellen? Wir kennen uns aus dem Internat. Sie hat Stress zu Hause und brauchte einen Platz zum Schlafen.« Bevor Papa oder ich noch etwas sagen können, stellt Mama frische Brötchen auf den Küchentisch, legt Juli eine Hand auf die Schulter und sieht sie mit einem warmen Lächeln an. »Was magst du trinken, Liebes? Kakao, Kaffee, Orangensaft, Wasser?«
 

»Kakao wäre toll«, lächelt Juli meine Mama zaghaft an, bevor sie zu Papa schaut. »Es tut mir leid, dass ich heute Nacht so unangekündigt hier aufgetaucht bin. Ich wusste nicht wohin mit mir. Ich kenne hier in der Stadt niemanden sonst und meine Eltern«, Juli unterbricht sich und sieht beschämt auf die Tischplatte. Ich widerstehe den Drang, unter dem Tisch nach ihrer Hand zu greifen und fokussiere die Brötchen.
 

»Hey keine Panik«, lächelt Papa Juli an, legt seine Zeitung zur Seite und sieht dann zu mir. »Es ist einfach ungewohnt, dass Romy andere Mädchen zu Besuch hat.«
 

»Uschi und Arianne waren doch auch schon hier, Papa«, werfe ich ein, weil ich nicht will, dass Juli sonst was von mir denkt.
 

»Also Uschi ist ja wohl kein Mädchen mehr, Pfläumchen«, grinst er mich an und ich weiß, dass er den Kosenamen jetzt absichtlich benutzt hat, denn eigentlich tut er das nicht in Gesellschaft. Juli neben mir lacht leise und als ich kurz zu ihr blicke, sehe ich sie lautlos das Wort ›Pfläumchen‹ mit ihren Lippen formen. Danke Papa, jetzt hat sie etwas, womit sie mich aufziehen kann. Ich werfe Papa einen vernichtenden Blick zu und greife mir ein Brötchen, als er leise auflacht. »Und Arianne war noch im Kindergarten, Romy. Sie zählt also auch nicht. Wie geht es Uschi eigentlich? Ich habe sie länger nicht mehr gesehen.«
 

»Ich«, setze ich an, lasse das Brötchen auf meinen Teller fallen und kralle meine Fingernägel, fest in meine Oberschenkel, als ich meine Hände wieder auf dem Schoß abgelegt habe. Es tut weh, an Uschi zu denken. An ihren und Ralfs Verrat. »Sie kam mich vor ein paar Tagen mit Ralf im Internat besuchen. Sie ist mit ihm nach Bayern angehauen. Wegen ihnen musste ich Strafarbeit leisten.«
 

»Schade«, merkt Mama an, als sie Papa und mir Kaffee hinstellt und Juli eine Tasse Kakao. Mit einem Glas Orangensaft setzt Mama sich an die Stirnseite des Tisches, Papa gegenüber und schaut nachdenklich zu mir. »Ich mag Uschi, auch wenn ich ihre rassistische Art nicht gut finde. Wobei dein Paul in der Hinsicht schlimmer ist. Weißt du überhaupt schon, dass er im Gefängnis sitzt?« Mama hat schon immer ein Gespür für unpassende Tischgespräche.
 

»Er ist nicht mein Paul, Mama. Nicht mehr«, knurre ich und versuche nicht an den Schmerz zu denken, den ich mir gerade zufüge, der mit jeder Sekunde stärker wird.
 

»Ich habe dir immer gesagt, er ist nicht der Richtige für dich und schau, ich hatte recht. Ich hoffe für dich, dass du nie bei diesen ausländerfeindlichen Aktionen mitgemacht hast. Würde mich nicht einmal wundern wenn er für mehr, als die toten Türken, verantwortlich ist. Nie hätte ich gedacht, dass so ein fürchterlicher Anschlag in unserer Stadt passieren könnte.«
 

Das Brötchen liegt unangetastet vor mir. Mir ist das Essen gründlich vergangen. Um nicht noch einen Streit vom Zaun zu brechen, warum ich nicht esse, lasse ich meine schmerzenden Oberschenkel in Frieden und schneide das Brötchen auf. Das fluffige Innenleben pulle ich ab und stopfe es mir in den Mund. Mit einem Schluck Kaffee spüle ich nach und habe mir erfolgreich die Zunge verbrannt. Wie konnte ich vergessen, wie heiß der Kaffee von Mama immer ist?
 

»Mhm, der Kakao ist echt lecker«, wirft Juli ein, bevor Mama weiter gegen Paul wettern kann und ich spüre eine Welle der Dankbarkeit über mich rollen. Mama sieht mich mit einem Blick an, der mir sehr deutlich zu verstehen gibt, dass das letzte Wort noch nicht gesprochen ist und wendet sich Juli zu.
 

»Das freut mich, Liebes. Kommt, greift zu. Ich war extra beim Bäcker um die Ecke dafür.« Mit viel Kaffee schaffe ich es, eine Hälfte des Brötchens, mit etwas Butter, runterzuwürgen. Danach befülle ich meinen Teller mit Brötchen, Wurst, Käse und Butter, für Lari und stehe auf, um ihr eine Tasse Kakao zu machen.
 

Auf der Treppe hält mich Juli am Arm zurück und ich hätte beinahe das Tablett fallen gelassen, fluchend drehe ich mich zu ihr um. »Spinnst du?«
 

»Deine Eltern haben keine Ahnung davon?« Ich weiß sofort, worauf sie anspielt und schüttel meinen Kopf. »Nein, niemand weiß davon«, zische ich und gehe weiter die Treppen nach oben. Vor meiner Zimmertür drehe ich mich noch einmal zu Juli um. »Ich würde es gern weiter so halten. Es reicht mir, wenn ich in der Schule deswegen geschnitten werde. Danke übrigens dafür.«
 

Juli mustert mich überrascht. »Wir schneiden dich nicht. Du bist es, die sofort auf Abstand gegangen ist.«
 

»Glaubst du, was du da sagst?«, frage ich und sehe sie ironisch an. »Ich habe die Blicke sehr wohl gesehen und gespürt. Ich weiß, wie es aussieht, wenn eine etwas größere Gruppe über einen tuschelt.« Juli errötet unter meinem Blick und ich wende mich ab, balanciere das Tablett mit einer Hand und lege die andere auf die Türklinke.
 

»Punkt für dich, aber wir haben nicht nur über dich, wegen der Sache geredet«, flüstert sie und hält mich am Arm zurück, als ich die Türklinke hinab drücken will. Beinahe wäre mir das Tablett auf den Boden gefallen.

»Scheiße, pass doch auf«, zische ich und sehe ihr direkt in die Augen. Jeglicher Zorn in mir verpufft sofort, als ich mich in ihren Augen zu verlieren beginne. Ihre Stimme holt mich aus dem Abgrund und lässt mich hastig auf das Tablett schauen. »Du musst auf sie zugehen, Romy. Dann werden sie erkennen, dass du nicht so bist, wie es deine Tat, die sie von mir wissen, scheinen lässt.«
 

»Wer sagt, dass ich das überhaupt will, hm?«, frage ich leise und ignoriere das leichte Zittern in meinen Händen. Um es zu kaschieren, umfasse ich das Tablett fester.
 

»Jeder Mensch brauch Freunde.«
 

»Ich habe«, beginne ich, aber die Worte bleiben mir im Hals stecken, als ich daran denke, wie ich Uschi und Ralf abgewiesen habe. »Okay, vielleicht auch nicht«, seufze ich.
 

»Doch, hast du. Wenn du es nicht in den Sand setzt«, lächelt Juli leicht und bevor ich reagieren kann, geht sie an mir vorbei und drückt meine Zimmertür auf.
 

»Wen?«, frage ich überrascht.
 

Es ist nicht mehr als ein Flüstern, doch als das Wort ›Mich‹, meine Ohren erreicht, glaube ich, keine weiteren Freunde zu brauchen, wenn ich nur sie, als Freundin haben kann. Den Kopf über diesen Gedanken schüttelnd und mich fragend, wie tief ich wohl noch sinken kann, dränge ich mich an ihr vorbei und stelle das Tablett auf meinen Schreibtisch ab. Ich ignoriere Juli, als ich zu meinem Bett gehe und meine Schwester sanft wecke. »Hey Süße, du hast das Frühstück verpasst«, flüster ich, als Lari mich mit müden Augen, anblinzelt. »Ich habe dir aber etwas mit hochgebracht. Steht auf dem Schreibtisch. Bekomme ich dafür jetzt meinen Kuss auf die Nase?«

Lari lacht, weil es unsere Art ist, Dankbarkeit auszudrücken und stemmt sich zu mir hoch. Sie küsst mich sanft an der Nasenspitze und ich simuliere ein Niesen, was sie noch mehr zum Lachen bringt. »Habe ich etwas verpasst?«, fragt sie, als sie aufsteht und sich auf den Stuhl vor dem Schreibtisch setzt.
 

»Nichts spektakuläres«, lächle ich und beobachte, wie sie an ihrem Kakao nippt. »Nach dem Frühstück gehst du Duschen, okay? Du weißt doch, dass wir nachher noch ein Date mit Mama und Papa haben?«
 

»Können wir Juliet mitnehmen?«, fragt Lari, schneidet sich ein Brötchen auf und blickt zu Juli, die an meinem Zimmerfenster steht und hinab in den Garten starrt. Überrascht sehe ich von Lari zu Juli und setze mich auf mein Bett.
 

»Worum geht es?«, fragt Juli und dreht sich zu uns, bevor ich Laris Frage verneinen kann.
 

»Kino. Wir haben Karten für den neuen Fast and Furious Film. Ich glaube nicht, dass das geht, Süße.« Lari hält mit dem Essen inne und sieht von mir zu Juli und zurück. »Warum nicht?«, fragt sie kindlich und ich frage mich, ob ich vor drei Jahren auch noch solche Momente hatte, in denen ich völlig wertfrei, ja kindlich gehandelt habe.
 

»Weil Papa nur für uns Karten hat, Süße.«
 

Bevor Lari etwas erwidern kann, klopft es an meiner Zimmertür und Papa steht im Türrahmen. »Hey Pfläumchen. Mama und ich haben zufällig mitbekommen, was ihr eben gesprochen habt. Mama hat einen Anruf erhalten und muss gleich auf Arbeit fahren«, erklärt uns Papa und kratzt sich grinsend am Hinterkopf. Augenrollend schüttel ich meinen Kopf, ich glaube nicht an solche Zufälle und das Grinsen verrät ihn.
 

»Und der Weihnachtsmann kommt nachher auch noch?«, kommentiere ich und schaffe es, ernst zu bleiben. Lari kichert, als Papa mich gespielt irritiert ansieht.
 

»Nein, wie kommst du denn darauf, Pfläumchen. Wie dem auch sei, wir haben also eine Karte übrig. Vielleicht lädst du Juliet ein?« Mit einem Zwinkern verzieht sich Papa aus meinem Zimmer, ohne auf eine Antwort zu warten. Ich seufze schicksalsergeben und sehe Juli an. »Also, kommst du mit?«
 

»Vielleicht solltest du nicht so grimmig gucken, wenn du Freunde im Internat finden willst«, grinst Juli und tauscht einen Blick mit Lari, den ich nicht verstehe. »Wenn ihr unbedingt wollt, dann komme ich gerne mit.«
 

»Grimmig«, sage ich unbeeindruckt und sehe von Juli zu meiner Schwester, die es aufgegeben hat zu essen und darum kämpft nicht lauthals loszulachen.
 

»Genau. Da hat man das Gefühl, du würdest einen gleich fressen, wenn man dich nicht in Ruhe lässt.« Nach diesen Worten ist es um meine Schwester geschehen und Lari kugelt sich vor Lachen auf dem Boden des Zimmers.
 

»Schön, dass ich zu deiner Ermunterung beitragen konnte«, ätze ich mit verschränkten Armen und starre auf meine Füße. »Fürs Protokoll«, zische ich und sehe Juli an, die ans Fensterbrett gelehnt zu mir schaut, »Ist mir gerade erst wieder eingefallen, zählen Rati und Uma auch zu meinen Freunden.« Beinahe trotzig wirkt meine Antwort und Juli schaut mich seltsam nachdenklich an.
 

Lari isst zu Ende und währendessen reden wir über belanglose, alltägliche Dinge. Wie das Wetter und die Musik. Ich versuche, jeglichen Blick in Julis Richtung zu vermeiden. Weil ich nicht verstehe, warum ich sie ständig ansehen will, warum ich immer wieder gegen mich selbst verliere und sie eben doch ansehe. Juli scheint sich meiner Blicke bewusst zu sein, denn immer wenn sie meinem Blick begegnet, funkeln ihre Augen verschmitzt und lassen mich eilig wegsehen und mein Herz schneller schlagen. Gesättigt reibt Lari sich den Bauch und steht auf. »Bin mal das Geschirr nach unten bringen.«
 

Als meine Zimmertür hinter meiner Schwester ins Schloss fällt, stehe auch ich auf und greife in Ermangelung einer besseren Idee nach meinem Smartphone und schreibe Uschi über Facebook und frage, ob sie mit Ralf gut in Bayern angekommen ist, weil sie mir plötzlich fehlt, ich unsere Gespräche vermisse und mich das schlechte Gewissen plagt. Schließlich war Uschi immer für mich da gewesen, wenn es mir nicht gut ging.
 

»Wenn es nicht okay ist, kann ich jetzt auch nach Hause gehen, meine Sachen sind trocken«, erklingt Julis Stimme zaghaft hinter mir und ich finde aus meinen Gedanken, mit denen ich bei Uschi und Ralf verweilte, zurück ins Hier und Jetzt, wo ich vor meinem Schreibtisch stehe und auf mein Smartphone starre. »Danke jedenfalls für deine Hilfe.«
 

Ich drehe mich zu ihr um und stolpere rückwärts gegen meinen Schreibtisch, weil ich nicht damit gerechnet habe, dass sie so nah hinter mir steht. Sie lächelt mich traurig an und will sich abwenden, weshalb ich sie am Handgelenk packe und festhalte. »Was«, setze ich an und will fragen, was sie mit mir macht, dass ich mich in ihrer Gegenwart so seltsam fühle und nicht sein kann, wie ich sein sollte. Doch ich unterbreche mich selbst, weil ich sicher bin, dass sich diese Worte laut noch dämlicher, seltsamer anhören, als sie in meinen Gedanken klingen. »Mama hat die Karte freigegeben. Das heißt, du musst mitkommen«, sage ich und lasse Julis Handgelenk los, als Mamas Stimme erklingt und meine Zimmertür nach innen aufschwingt. Wir blicken Beide zu meiner Zimmertür und ich sehe Mama im Türrahmen stehen.
 

»Romy hat recht. Papa will nach dem Mittagessen mit euch losfahren. Juliet, gibt es irgendetwas, dass du nicht isst?«

Ich verpasse Juliets Antwort, weil mein Smartphone vibriert und einen Anruf von Uschi ankündigt. Vermutlich isst sie kein Schweinefleisch, denke ich, als ich Mama aus dem Zimmer winke und Juli bedeute, dass sie sich mit was auch immer in meinem Zimmer beschäftigen kann. Unsicher, ob ich den Anruf wirklich entgegennehmen soll, starre ich auf mein Smartphone, atme tief ein und ziehe das grüne Hörersymbol nach links. »Uschi«, atme ich ihren Namen aus, nachdem ich die Luft angehalten und mir mein Smartphone ans Ohr gedrückt habe.
 

»Romy«, erklingt Uschis Stimme verhalten.
 

Juli hat es sich auf meinem Bett bequem gemacht und zappt mit der Fernbedienung durch Netflix, während ich darauf warte, dass Uschi etwas sagt. »Ist alles okay?«, frage ich leise, weil von ihrer Seite nichts zu hören ist. Ich höre Uschi ausatmen und jemanden im Hintergrund flüstern.
 

»Ich bin nur überrascht, dass du den Anruf angenommen hast. Ralf und ich haben nicht so schnell mit einer Nachricht von dir gerechnet. Was hat deine Meinung geändert?«
 

Ich sehe flüchtig zu Juli, die ganz gebannt auf meinen Fernseher starrt. »Eigentlich ist es keine Meinungsänderung, aber wir haben beim Frühstück über dich gesprochen und da habe ich mich gefragt, ob ihr gut angekommen seid.«
 

»Das sind wir. Ralfs Eltern und Geschwister sind sehr nett. Aber ich vermisse es, mit dir zu schreiben und zu telefonieren, Romy.« Etwas in meiner Brust zieht sich bei diesen Worten zusammen und nimmt mir die Luft zum Atmen. Angestrengt starre ich mit meinen Augen an die Decke. Ich habe einmal irgendwo gehört, dass man schnell nach oben schauen soll, wenn man spürt, dass die Tränen kommen wollen.
 

»Ich vermisse dich auch«, flüster ich zittrig und gehe die wenigen Schritte durch mein Zimmer und stelle mich ans geschlossene Fenster. Erst als ich mir meiner Stimme wieder sicher bin, spreche ich weiter. »Warum mussten die Beiden so eine Scheiße bauen?«
 

»Dafür habe ich keine Antwort Romy, aber Ralf hat mir einmal erzählt, dass Paul und Schubi dieses Gedankengut quasi schon mit der Muttermilch aufgesogen haben und deshalb sehr tief in diesem braunen Sumpf drin stecken. Es ist sehr schwer bis unmöglich, solche Leute zum Umdenken zu bewegen. Für uns und auch dich ist es einfacher. Steig aus, bevor es zu spät ist, Romy.«
 

»Was, wenn es das schon lange, der Fall ist?«, hauche ich und balle meine Hand zu einer Faust um sie vom Zittern abzuhalten. »Ich habe schon so viele schlimme Dinge getan, Uschi. Die Sache damals, wo nur Ralf dabei war, wieso seid ihr da nicht schon ausgestiegen?«
 

Ich kann Julis Schritte hinter mir hören und atme scharf ein, als sie meine Hand ergreift. Für einen Augenblick überlege ich, mich loszureißen, doch da zieht sie mich auch schon zur Couch, wo sie sich hinsetzt und mich neben sich auf das Polster zieht. Mit einem ächzenden Geräusch nimmt die Couch meinen Aufprall auf ihr zur Kenntnis, während ich Uschis Worten lausche. Uschi erzählt mir davon, dass für sie alles, was die Jungs gemacht haben, weit weg war, weil sie die großen Aktionen nie miterlebt hat. Lediglich die kleineren Aktionen, in denen wir den Türken das Leben schwer machten, hat sie selbst erlebt. Sie erzählt mir, dass Ralf schon viel früher aussteigen wollte, es aber allein nicht geschafft hat, aus Angst vor den Anderen. Ich erinnere mich, dass Ralf damals bei der Asylantenheimaktion ebenfalls keine Molotowcocktails geworfen hat. »Die Sache fand ich im Nachhinein auch nicht mehr so toll, besonders als ich am Morgen von den Toten erfahren habe, die es gegeben hatte. Das Ausschlaggebende war allerdings, dass Paul mir meine Haare abrasiert hat, nur weil mich jemand in der Zeitung gut beschreiben konnte.« Das war eine, der vielen, schlechten Erinnerungen an Paul. Als ich mir fahrig über die Haare streichen will, bemerke ich erst, dass Juli meine Hand noch immer fest in ihrer hält. Aus dem Augenwinkel sehe ich, dass sie noch immer zum Fernseher sieht und irgendeinen komischen Film, auf Netflix schaut. Keine Sekunde lang, kommt mir der Gedanke, ihr meine Hand zu entwenden.
 

»Was hält dich dann davon ab, auszusteigen?«, fragt Uschi mich leise und ich spüre Julis Blick auf mir, obwohl im Film gerade eine heftige Actionszene läuft und ein Kerl einem anderen Kerl, einen Headshot verpasst.
 

»Nur weil ich nicht mit einigen Aktionen konform gehe? Ich weiß nicht, Uschi. Aktuell gibt es hier ja nicht einmal etwas, wo ich aussteigen kann. Die meisten unserer Leute haben sich abgesetzt«, sage ich, obwohl ich das nicht sicher weiß.
 

»Beste Voraussetzungen also«, murmelt Juli neben mir, ohne mich anzusehen.
 

»Wer war das?«, fragt Uschi.
 

»Niemand«, wiegel ich ab und seufze erleichtert, als Uschi nicht nachhakt. »Sei mir nicht böse, aber ich muss erst einmal nachdenken. Viel Nachdenken. Ich will allerdings nicht, dass wir wieder so viele Tage keinen Kontakt haben. Das kannst du auch Ralf sagen, dafür mag ich euch Beide viel zu gerne.«



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