Zum Inhalt der Seite

Zwischen Molotowcocktails und Shakespeare

von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Kapitel 12.

Die Stille in der Kapelle wirkt beruhigend auf mein instabiles Nervengerüst und hilft mir, mich zu entspannen. Weshalb ich mit Absicht nicht mit den Anderen mitgegangen bin, als das Nachmittagsgebet vorbei war. Niemand ist mehr in der Kapelle, weshalb ich mich ganz auf die Bank lege und die unspektakuläre Decke anstarre, während ich meine Gedanken schweifen lasse. Ich fühle mich kraftlos. Am liebsten würde ich die ganze Farce aufgeben. Die Gedanken an meine Familie und Freunde, die ich gerade effektiv von mir stoße, und der Gedanke, was Paul mit ihnen anstellen könnte, lässt mir jedoch keine große Wahl. Wütend setze ich mich auf und starre auf das Kreuz. Wenn es Gott gibt, was bezweckt er dann mit solchen Wegen, wo man das Ende nicht erahnen kann? Durch meinen, mit Absicht verlängertem Aufenthalt in der Kapelle, habe ich das Vesper knapp verpasst und ärgere mich ein bisschen über mich selbst, als ich mich in mein Zimmer verdrücke. Eine Tasse Kaffee wäre hilfreich gewesen, bei der Aufgabe, die nun vor mir liegt. Hausaufgaben.
 

Nach einer Stunde, in der ich mich intensiv mit den Schulbüchern beschäftigt habe, um die Hausaufgaben zu lösen, pfeffere ich das Mathematikbuch von mir weg, an die Wand. Warum ist der Scheiß so kompliziert? Wer brauch so etwas überhaupt später noch? Der Reihe nach fliegen die Bücher an die Wand und ich frage mich, ob es wirklich Sinn macht, den Abschluss zu versuchen, wenn ich schon an so simplen Hausaufgaben scheitere. Irgendwann gebe ich auf, schnappe mir mein Smartphone mit meinen Kopfhörer, schlüpfe in meine Sportsachen und verlasse mein Zimmer. Uschi hat mir vorgeschlagen, meinen Frust abzubauen, indem ich Laufen gehe, als ich ihr erzählt habe, dass wir einen kleinen Sportplatz haben. Niemand begegnet mir auf meinem Weg, aus dem Gebäude. Vermutlich sind sie alle vorbildlich und lernen fleißig.
 

Auf dem Sportplatz mache ich Musik an, stöpsel mir meine Kopfhörer ins Ohr und beginne, mich zu dehnen, wie ich es im Sportunterricht gelernt habe und wärme mich langsam auf, bevor ich mit der ersten Runde starte. Schon nach der dritten Runde schnaufe ich wie ein Deckbulle bei seinem Geschäft, mache aber trotzdem weiter, bis ich jemanden rufen höre. Ich laufe meine Runde langsam zu Ende und sehe Martha in Sportsachen bei den Zuschauerbänken stehen. Sie legt gerade ein paar Sachen ab und sieht dann wieder zu mir.

»Hey Romy«, grinst Martha, als ich schwer atmend auf sie zugehe und mir den Schweiß von der Stirn wische. »Seit wann läufst du?«, fragt sie mich, als ich neben ihr anhalte.

»Seit ein paar Jahren, aber eher unregelmäßig«, erwidere ich und beginne noch schlimmer zu schwitzen, weil mein Körper sich langsam entspannt. »Ich bin weg, duschen. Bis Später.« Martha nickt mir zu und beginnt ihrerseits damit, sich zu dehnen. Ich atme die Luft bewusst ein und gehe langsam zurück, dabei lässt sich die Sonne kurzzeitig blicken und ich spüre, wie sich mein Gemüt verbessert. Wenn ich gleich noch warmes Wasser habe, beim Duschen, ist mein Akku wieder aufgeladen. Auf meinem Weg ins Zimmer und als ich mit Handtuch, Duschgel und frischen Klamotten bewaffnet, das Gemeinschaftsbadezimmer aufsuche, begegne ich wieder niemanden. Es ist totenstill und ich muss, warum auch immer, an Zombies denken, als ich mich ausziehe. Lernzombies. Schmunzelnd dusche ich, mit überraschend warmen Wasser, den getrockneten Schweiß von meinem Körper. Frisch geduscht, sitze ich nun deutlich entspannter an meinem Schreibtisch und versuche mich noch einmal an den Hausaufgaben. Tatsächlich scheinen sich die Knoten in meinem Kopf gelöst zu haben, denn ich schaffe es vor dem Abendessen, alles fertig zu bekommen. Ob die Antworten alle richtig sind, steht natürlich auf einem anderen Blatt Papier. Immerhin bin ich jetzt für die neuen Hausaufgaben gewappnet, die diese Woche sicherlich noch anfallen werden.
 

Ich ströme mit allen Anderen aus der kleinen Kapelle, als das Abendgebet beendet ist und pünktlich auf die Sekunde, vibriert mein Smartphone und kündigt mir an, dass mich Nina wieder anruft.

»Romy«, erklingt Laris Stimme, als ich den Anruf entgegennehme und ich kann mir ein Lächeln nicht verkneifen, weil ich mir vorstelle, wie sie aufgeregt hin und her läuft, in ihrem Zimmer und Nina danebensteht und nicht weiß, was sie machen soll. Meine Füße tragen mich beinahe automatisch zu dem Brunnen, wo ich mich wieder am Rand niederlasse. Lari und ich reden eine Weile über dies und das und das, bis sie mir Nina gibt, die sich nach der aktuellen Lage erkundigt. Ich erzähle Nina von meinen Problemen, die ich hatte, nachdem ich mit einem Blick über die Schulter sicher gestellt habe, dass niemand sich versteckt und lauscht.

»Oh, Romeo und Juliet?«, fragt Nina und ich höre wie sie und Lari lachen.

»Das ist nicht witzig«, kommentiere ich und drehe mich etwas, damit mir der Wind nicht direkt ins Gesicht weht.

»Oh doch«, erwidert Nina, als sie eine Atempause vom Lachen brauch. »Hätte ich gewusst, wie inspirierend du bist, Romy. Ich schreibe einen Song für dich, über deine Situation. Der wird so super!«

»Welch Ehre«, murmle ich und stehe auf, weil mich der Wind nervt. »Lass mich wissen, wenn er fertig ist und du ihn mir vortragen willst, dann setze ich mich ganz spektakulär zum Nordpol ab.«

»Hey«, beschwert Nina sich, als ich mich auf den Rückweg ins Internat machen. »Du kannst dir keine Meinung bilden, wenn du mich noch nie singen gehört hast.«

»Dann sing etwas für mich«, fordere ich sie auf, als ich durch einen Hintereingang das Internat betrete und förmlich die Treppen nach oben schleiche, weil die Holzbohlen unangenehm knarzen, wenn man schnell geht. Man merkt ihnen an, dass sie seltener benutzt werden und deshalb weniger regelmäßig überprüft werden. Die Treppen beim Haupteingang knarzen kaum.

»Was soll ich singen?«, überrascht Nina mich. Ich hätte mit ablehnenden Worten gerechnet. »Punkrock denke ich eher nicht, yo?«

Ich steige die letzte Stufe hoch und gehe den Gang hinab zu meiner Zimmertür. Von dieser Seite aus ist sie weiter entfernt, als wenn ich den Gang durch die Haupttreppe betreten hätte. Im Gang stehen Martha und zu meinem Leidwesen, Juli, die sich an der Wand gelehnt, unterhalten.

»Überrasche mich«, sage ich halb erstickt, sodass Nina sofort erkennt, dass etwas nicht stimmt.

»Alles okay? Ist jemand bei dir?«

Ich mache ein zustimmendes Geräusch, als ich nur noch einige Meter von Martha und Juli entfernt bin, die nun in meine Richtung blicken.

»Wer ist es?«, fragt Nina mich und ich frage mich, ob ihr klar ist, wie dämlich diese Frage ist.

»Singst du nun oder eher nicht?«, frage ich knurrend und Nina beginnt zu singen, als ich an Martha und Juli vorbei gehe. Ich spüre Julis Blick die ganze Zeit auf mir und ich weiß, als ich meine Tür aufschließe, dass sie und Martha nicht hören können, was Nina singt, aber die Tatsache, dass Nina von Liebeskummer singt, reicht für mich aus, um mich schnell in mein Zimmer zu flüchten.

»Okay, hör auf«, seufze ich, als die Tür hinter mir ins Schloss fällt. »Wehe das Lied, das du schreiben willst, wird ein Liebeslied.«

»Und wenn doch?«, fragt Nina und lacht leise.

»Dann sieh zu, dass ich nie davon erfahre«, erwidere ich ebenso leise.

»Lass uns morgen wieder telefonieren, Nina«, bitte ich müde und lehne mich an das kühle Holz meins Kleiderschranks. Nina stimmt mir zu und gemeinsam verabschieden wir uns. Nina ist es, die als Erste auflegt. Es überrascht mich selbst immer wieder, wie schnell gute Laune umschwenken kann. Dieses Mal versuche ich gar nicht, meine Tränen zurückzuhalten, als das Smartphone von meinem Ohr rutscht, aus meiner Hand gleitet und mit einem dumpfen Geräusch auf dem Boden aufkommt. Das alte Liebeslied, hat Nina gut gewählt. Es passt wie die Faust aufs Auge, zu meiner derzeitigen Lage.

»Romy?«, erklingt Marthas Stimme nach einem Moment fragend durch die Tür.

»Was willst du?«, frage ich zurück, ziehe schniefend meine Nase nach oben und wische mir die Tränen aus dem Gesicht.

»Kann ich kurz hereinkommen?«

Ich weiß nicht warum ich mich umdrehe und die Zimmertür für Martha öffne oder zur Seite trete, damit sie hereinkommen kann. Ich bereue es jedoch sofort, als Martha sich auf das freie Bett setzt und mein Chaos, auf dem Schreibtisch, bemerkt.

»Stressige Hausaufgaben?«

»Ach hör auf«, seufze ich, werfe die Tür ins Schloss und setze mich Martha gegenüber, auf mein eigenes Bett. »Ich raffe absolut nichts, von dem, was wir im Unterricht aktuell machen.«

»Warum lehnst du dann die Nachhilfe ab?«

»Weil ich keine Lust habe, mit irgendwem, nur wegen meinen Noten, Zeit zu verbringen. Notfalls wiederhole ich eben das Schuljahr. Ist auch kein Beinbruch«, antworte ich und bin nicht im mindesten überrascht, dass Martha mir die Frage überhaupt gestellt hat. Sicherlich hat Juli alles an Martha weiter getratscht.

»Und wenn du dann auch durchfällst? Ach bevor ich es vergesse, Frau Schwarz meinte, du überlegst ebenfalls, in der Bibliothek mitzuhelfen?«

»Ja«, nicke ich und ignoriere die vorherige Frage einfach. »Ich bin mir aber noch nicht sicher, ob ich das wirklich machen will.«

Martha nickt verstehend und wir schweigen uns eine Weile an, bis Martha sich räuspert.

»Ich gehe jeden Morgen, wenn ich es nicht verschlafe, gegen halb Sechs, also eine halbe Stunde, bevor wir regulär aufstehen, Laufen. Bock, mitzukommen?«

»Klar«, nicke ich, nachdem ich einen Moment darüber nachgedacht habe. Das Laufen heute, hat mir gutgetan, auch wenn ich davon morgen Muskelkater haben werde.

»Klasse«, freut sich Martha ernsthaft. »Ich klopfe dann morgen früh bei dir, wenn ich losgehe.«
 

Diese Nacht ist furchtbar. Ich kann nicht genau festmachen, wieso ich schlecht schlafe, gebe das im Bett herum wälzen kurz vor Fünf jedoch auf und bin ziemlich mies gestimmt. Als ich mir meine Laufsachen anziehe, bin ich mir nicht mehr sicher, ob es klug war, Marthas Angebot anzunehmen. Bevor ich mich umentscheide, verlasse ich mein Zimmer fünf vor halb Sechs. Martha sieht mich überrascht an, weil ich schon wach und startklar bin.

»Hey Morgenmuffel, was ist los, solltest du dich nicht noch einmal umdrehen?«

»Ach sei still«, murre ich. »Hab schlecht geschlafen. Gehen wir los?«

Martha erwidert nichts darauf, grinst mich lediglich kurz an, bevor wir gemeinsam die Haupttreppe hinabgehen und das Gebäude verlassen. Auf dem Parkplatz des Internats wärmen wir uns auf, bevor wir langsam die Auffahrt hinablaufen. Schnell merke ich, dass Martha sich zurückhält und viel besser in Schuss ist, als ich. Wir laufen ein Stück ins Dorf, biegen dann ab und kommen durch einen Waldweg auf dem Sportplatz, wo ich am Tag zuvor gelaufen bin. Dort laufen wir noch einige Runden, bevor ein schriller Ton, von Marthas Fitnessarmband, erklingt und sie mir stumm bedeutet, dass wir zurücklaufen sollten. Wir reden nicht, bis wir vor meiner Zimmertür stehen. Martha lächelt mich an.

»Fürs erste Mal war das gar nicht so schlecht.« Bevor ich etwas sagen kann, winkt mir Martha und verschwindet in ihr Zimmer. Ich tue es ihr gleich, schließe meine Zimmertür auf, trete in mein Zimmer und suche mein Duschzeug zusammen.
 

Das gemeinsame, morgendliche Laufen, wird schnell zu einer Regelmäßigkeit, wie das allabendliche Telefonat mit Nina, die beinahe jeden Abend bei meiner Schwester ist und bevor ich mich versehe, sind schon wieder fast drei Wochen vergangen. Bei den allabendlichen Telefonaten habe ich Nina einmal gefragt, wieso sie immer bei meiner Schwester rumhängt. Eine vernünftige Antwort habe ich bis heute nicht, wobei ich mir meinen Teil denken kann. Blöd nur für Nina, dass Lari nicht in diese Richtung schwingt. Am ersten Wochenende war eine Heimfahrt, weil Uschi und Ralf aber keine Zeit hatten und ich nicht unbedingt Bock hatte, nach Hause zu fahren, bin ich im Internat geblieben. So habe ich mich schon nach der ersten Woche wieder an den alltäglichen Internatstrott gewöhnt und freue mich nun umso mehr auf das kommende Wochenende, wo mich Uschi und Ralf abholen wollen. Bevor das jedoch der Fall ist, muss ich noch eine volle Schulwoche überleben. Am liebsten wäre mir, wenn jetzt schon Wochenende ist, denn der Tag heute könnte ruhig schon vorbei sein. Denn heute wird sich entscheiden, welches Stück wir spielen werden. Martha ist der felsenfesten Überzeugung, dass sich die Klasse für Romeo und Juliet entscheiden wird. Ich habe Martha nach ihren Gedanken gefragt, als wir uns gerade zum Laufen aufwärmen.

»Dann hoffe ich«, murmle ich und sehe auf meine Füße. »Die Bär findet einen guten Romeo.« Martha lacht leise, stößt mich an und läuft los.

»Du glaubst doch nicht, dass du dich da noch herausreden kannst? Wir haben alle gehört, dass die Bär dich als Spitzenbesetzung für den Romeo sieht, du doch auch«, ruft Martha grinsend über ihre Schulter. Genervt streife ich die Kapuze meiner Sportjacke vom Kopf und fahre mit meinen Händen über meinen Kopf, wo mittlerweile wieder Haare sind. Zwar extrem kurz, aber Haare. Kopfschüttelnd folge ich Martha und bete und bitte, als wir zum Morgengebet gehen, Gott darum, dass sie sich nicht für dieses Stück entscheiden werden. Denn wie soll ich auch das noch überstehen, wo Juli schon Tag für Tag vor mir sitzt? Wie soll ich so meine Maske festhalten? Diese Gedanken und ähnliche, tragen mich durch den Tag, bis ich schließlich in der gefürchteten Deutschstunde sitze. Die Aufregung in der Klasse ist beinahe greifbar, als Frau Bär uns bittet, abzustimmen, indem wir auf einen kleinen Zettel anonym notieren sollen, für welches Stück wir stimmen. Ich stimme für das Ideendrama Nathan der Weise von Lessing, auch wenn ich tief in mir drin weiß, dass es nichts bringen wird. Die Klassensprecherin, ich vergesse ihren Namen ständig, sammelt die Zettel ein und liest jeden Einzelnen, vorne am Lehrerpult vor. Frau Bär führt an der Tafel eine Strichliste und aktuell sieht es nicht gut aus, für Romeo und Juliet. Ich darf mich nicht zu früh freuen. Mit geballten Fäusten, die ich fest auf meinen Schoß drücke, starre ich nach vorne, wo Frau Bär Strich für Strich mein Todesurteil an die Tafel malt. Vielleicht, hoffe ich, doch der letzte zusammengefaltete Zettel bringt mir die Ernüchterung. Romeo und Juliet gewinnt mit zwei Punkten mehr, gegen Eine Weihnachtsgeschichte von Dickens. Die Klassensprecherin setzt sich und Frau Bär sieht fröhlich in die Klasse.

»Rollenverteilung, haben wir Freiwillige?«

Irgendjemand, ich kann die Stimme nicht zuordnen, ruft, dass wir die Besetzung nehmen sollen, die wir beim Lesen hatten und mir rutscht mein Herz in die Hose.

»Einwände?«, fragt Frau Bär, als sich niemand sonst meldet.

»Ja«, knurre ich und bin kurz davor, aufzustehen. »Sucht euch einen anderen Romeo. Ich habe keine Zeit für den Mist.«

»Gerade für dich ist es wichtig, mitzumachen, Romy. Ihr werdet dafür benotet, deshalb akzeptiere ich von dir kein Nein. Wenn sonst niemand einen Einwand erhebt, lasst uns eine Zeit für die Proben finden. Der Rest von euch, die, die keine Rolle haben, kümmern sich gemeinsam mit der Kunstlehrerin um das Bühnenbild und die Requisiten. Kostüme werden wir uns leihen, da weiß ich schon die perfekte Adresse für. Also ihr Lieben, wann habt ihr Zeit?« Man entscheidet sich einstimmig, minus meine Stimme, für Montag- und Donnerstagnachmittag, nachdem Nachmittagsgebet. Was bedeutet, dass ich keine Galgenfrist bekomme, sondern meine erste Probe schon sehr bald stattfindet. Meine Oberschenkel schmerzen, so fest presse ich meine Fäuste dagegen. Als es zum Stundenende läutet, stürze ich aus dem Klassenraum, bevor mich jemand aufhalten kann. Ich muss ganz dringend mit jemanden sprechen. Egal wer. Ich stürme aus dem Schulhaus und wähle Uschis Nummer. Da geht genauso wie bei Ralf jedoch nur die Mailbox ran, weshalb ich es bei Nina versuche.

»Romy, ist alles okay?«, höre ich Nina atemlos fragen. Im Hintergrund scheppert etwas.

»Was mache ich jetzt, Nina?«, frage ich und höre, wie Nina eilig den Raum verlässt, in dem sie sich befindet und wie die Tür hinter hier zuknallt.

»Wegen was?«, fragt mich Nina und ich kann Stimmengewirr hören.

»Wo bist du?«

»Noch in der Schule, gerade auf dem Flur, ich habe gleich Bandprobe. Also?«

»Wegen dem Schauspiel«, antworte ich und ich kann mir Ninas Grinsen sehr gut vorstellen.

»Du schauspielerst doch bis jetzt gut?«, fragt Nina mich und ihre Stimme klingt amüsiert. »Romy, wenn du es bis jetzt geschafft hast, schaffst du auch diese Hürde noch. Es ist ja nicht mehr für lange. Sobald sie Paul gefasst haben, kannst du mit dieser Farce aufhören.« Stimmt, Paul befindet sich seit zwei Tagen auf der Flucht, weil Schubi seine Aussage revidiert hat. Hinzu kommt, dass man ihn wegen meiner Anzeige befragen will, aber davon weiß Paul natürlich noch nichts, hoffe ich.

»Aber was, wenn ich bis dahin alles kaputtgemacht habe?«, frage ich Nina und schrecke herum, als ich höre, wie die große Schultür abermals ins Schloss fällt und Schritte hinter mir erklingen. Scheiße. Wie viel hat sie gehört?

»Dann ist sie den Ärger nicht wert«, erklärt mir Nina, während ich mir mit Juli ein Blickduell liefere.

»Nina?«, frage ich leise und will wegsehen, kann es aber nicht. »Ich habe hier ein kleines Problem.«

»Wie viel haben sie gehört?«

»Vermutlich genug«, murmle ich und gehe langsam rückwärts, als sich Juli auf mich zubewegt.

»Wir haben nichts besprochen, das deiner Tarnung schadet. Erzähl ihnen von einer Demo, die dieses Wochenende ist und du sollst- Mist Romy, mein Akku ist gleich leer. Du schaffst«, mehr höre ich nicht mehr von Nina und ich nehme das Smartphone von meinem Ohr. Resigniert stecke ich es in meine Hosentasche.

»Was?«, frage ich Juli barsch, als ich es nicht mehr ertrage, wie sie mich ansieht.

»Was machst du kaputt?«

»Nichts, was dich etwas angeht«, erwidere ich und schaffe es, mich von Juli abzuwenden. Mit schnellen Schritten marschiere ich Richtung Internat. Juli hält mit mir Schritt.

»Doch, wenn es mich betrifft, geht es mich etwas an«, höre ich sie nach einem Moment abgehetzt sagen.

»Scheiße«, stöhne ich gespielt genervt, bleibe stehen und drehe mich zu ihr um. »Die Welt dreht sich nicht nur um dich, Püppchen. Das scheint eine Macke von Leuten wie dir zu sein. Seht euch alle als etwas Besseres. Am Wochenende ist eine große Demo geplant und ich soll ein paar Sachen dafür bauen. Bin in so etwas aber ziemlich ungeschickt«, sauge ich mir eine Erklärung aus den Fingern und werde wütend. Wütend auf die ganze Sache, wütend auf Juli, dass sie so hartnäckig sein muss. Wütend auf mich, dass ich so reden muss. Ich drehe mich von ihr weg und will weitergehen, als sie mich fest an meinem Handgelenk packt und zu sich herumzieht. Ich pralle gegen sie, weil mich ihre Stärke überrascht hat und atme ungewollt ihren Geruch ein. Sie hält mich fest und stellt sich ganz dicht vor mich.

»Wenn es dir den Kick gibt, denn du brauchst, sei ruhig weiter so blöd zu mir, aber verleugne nicht, was zwischen uns ist.« Ich kann ihren warmen Atem auf meiner Haut spüren, so dicht steht sie bei mir. Es fehlen nur wenige Zentimeter zwischen unseren Lippen, doch ich reiße mich los, bevor sie auch nur die Chance hatte, die fehlenden Zentimeter zu überbrücken.

»Ich schwöre dir«, zische ich und sehe sie wütend an. »Wenn du mich noch einmal anpackst, außerhalb von diesem Scheiß Schauspiel, dann werde ich deinem Gesicht ein Upgrade verpassen, sodass dich deine Kanakeneltern nicht wiedererkennen werden.« Meine gewählten Worte ekeln mich an, als ich mich umdrehe und ins Internat zum Nachmittagsgebet eile.
 

Nach einer Tasse Kaffee trete ich, obwohl ich nicht will und sich mein ganzer Körper mit aller Macht dagegen sträubt, den Weg zur Schule an und bin heilfroh, dass Juli nicht mit uns läuft. Mit Martha und mir. Mit Martha, die an meiner Seite geht und die Rolle von Tybalt, Romeos Rivalen erwischt hat. Martha hat mich nicht auf meine Laune angesprochen, sondern spricht mit mir über den Sportunterricht. Geprobt wird da, wo das Stück später auch aufgeführt wird. In der schuleigenen Aula. Martha und ich sind die Letzten und beinahe tut es mir Leid, dass ich meine Tasse Kaffee ganz genüsslich getrunken habe.

»Sehr schön«, kommentiert sie unsere Anwesenheit. »Nun sind wir vollständig. Ich freue mich, dass ihr alle da seit«, lächelt Frau Bär warm in die Runde. Ich setze mich an den Rand der Bühne und ignoriere die Blicke der Anderen, besonders die von Juli.

»Ich dachte mir, wir fangen ganz langsam an. Vermutlich schaffen wir es so nicht bis zum Ball, wo sich Romy und Juliet kennenlernen, aber die, die noch keinen Auftritt haben, können ja schon einmal ihre Texte lernen.«

Frau Bär verteilt wieder die Reclamhefte und lächelt.

»Die Schule schenkt euch das Heft, damit ihr gut üben könnt und wir nicht so viele Kopien anfertigen müssen. Das heißt, auch dass ihr euch eure Sätze mit einem Marker anstreichen könnt.« Ich rutsche lustlos von der Bühne und setze mich abseits der Gruppe, krame meine Federmappe aus meiner Tasche und nehme mir einen pinken Marker. Sobald ich alle Sätze angestrichen habe, die Romeo zu sagen hat, schließe ich das Heft und meine Augen und hoffe, heute nicht mehr nach vorne zu müssen. Weil es noch viel zu klären gab und meine Klassenkameradinnen zu viel herumgealbert haben, endet der erste Tag mit der Gräfin Montague, die sich bei Benvolio nach ihrem Sohn Romeo erkundigt und ich atme erleichtert auf.

»Okay. Das war super für den ersten Tag. Lernt die Sätze fleißig und übt eure Rolle am Besten vor einem Spiegel. Wir sehen uns an dieser Stelle am Donnerstag wieder. Romy, Juliet, bitte bleibt doch noch einen Moment, ja?«

Ich lausche dem Tumult und bleibe mit geschlossenen Augen sitzen und öffne sie erst, als Frau Bär sich neben mir auf einen Stuhl fallen lässt.

»Klug von dir, so zu tun, als wärst du eingeschlafen«, lächelt Frau Bär und sieht dann zu Juli, die sich langsam in unsere Richtung bewegt. »Aber glaube nicht, dass das immer zieht, dass ich zu dir komme.« Als Juli sich neben mich setzt, nickt Frau Bär.

»Ich habe euch hierbehalten, weil ich euch anbieten will, mit euch zu üben, ohne die restliche Gruppe. Zum Einen, weil mir die Anspannung zwischen euch nicht erst heute aufgefallen ist und zum anderen, weil Kussszenen vorkommen. Wir sind eine katholisch geprägte Schule und euch muss deshalb bewusst sein, dass besonders gleichgeschlechtliche Dinge delikat sind. Da wir und auch das Internat uns Toleranz auf das Banner geschrieben haben, können wir so etwas offen zeigen, wenn es für euch okay ist, müssen aber dennoch vorsichtig damit umgehen. Euer Disput, wird er sich auf eure schauspielerische Leistung auswirken?« Ich stöhne genervt und Frau Bär spricht mich direkt an. »Romy, ich frage das, weil du wie bei meinem Vorschlag mit der Nachhilfe, sofort ablehnen wolltest.«

Schulterzuckend sehe ich Frau Bär an und setze mich aufrecht hin.

»Ich habe immer noch keinen Bock auf diesen Scheiß. Aber ich mache es und was ich mache, mache ich richtig. Ich bin kein Fan von halben Sachen.« Juli sieht mich bei diesen Worten an und ich weiß, dass sie weiß, dass ich Frau Bär gerade etwas vorlüge. »Bezüglich der Einzelübungen, Frau Bär. Wenn Sie denken, dass es uns hilft, ein gutes Schauspiel abzuliefern, dann bin ich dabei.« Juli nickt lediglich, als Frau Bär sie fragend ansieht. Mit einem lauten Seufzer entlässt Frau Bär auch uns. Draußen gehen wir einen Moment schweigend nebeneinander her. Als wir ein kleines Stück Wald durchqueren, ergreift Juli meine Hand. Ich zucke zurück und bin zu müde, um mich abermals verbal zur Wehr zu setzen, weshalb ich sie grob ins Dickicht des Waldrandes schubse. Sie stolpert über eine Wurzel und ich stoße sie ganz um, sodass sie auf dem Waldboden liegt. Ich drücke ihr meinen Fuß ins Kreuz, damit sie nicht aufstehen kann.

»Erinnerst du dich an meine Worte vor dem Nachmittagsgebet?«, frage ich sie und hoffe, meiner Stimme genügend Kälte verliehen zu haben. Juli verrenkt sich halb, um mich anzusehen. In ihren Augen sehe ich für einen kurzen Moment Angst aufflackern. Ich knie mich mit meinem ganzen Gewicht auf ihren Oberkörper, packe Juli am Haarschopf und presse ihr Gesicht hart in den Waldboden. Würde ich sie so eine Weile halten, würde sie wohl an der Erde ersticken, denke ich und lasse sie abrupt los und stehe auf. Juli fährt hustend und keuchend nach oben und bevor ich mich aufhalten kann, packe ich sie am Kragen ihrer Jacke, drehe sie zu mir um und ramme ihr meine Faust frontal ins Gesicht. Juli fällt vor mir auf die Knie, hält sich ihre blutende Nase und ich weiche erschrocken von ihr zurück.



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (0)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.

Noch keine Kommentare



Zurück