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Rezitatorenwettstreit 2005 Bericht, Rezitation

Autor:  halfJack

Frühling, Sommer, Herz und Kinder

Ihr sitzt auf einem der vielen Stühle im Saal der Aula. Aus den unteren Klassen haben die ersten Rezitatoren des Wettstreites an dieser Schule schon vorgetragen. Die Theatergruppe und der Chor sind ebenfalls mit ihren Auftritten fertig. Nun ist die Pause vorbei und Ruhe kehrt langsam in den Saal ein.
Auf der Erhebung vor den im Saal Sitzenden steht ein Stuhl. Auf ihm sitzt eine Schülerin, klein, kurzen Haars. Sie trägt einen bordeauxfarbenen Rock, ansonsten schwarz. Ihr Gesicht ist betreten gesenkt. Sie ist die Mutter.
Neben ihr liegt eine weitere Schülerin, groß, gekleidet in ein schwarzes Kleid, barfüßig. Ihre Augen sind verschlossen.
„Ich weiß nicht, was passiert ist“, sagt die Mutter und wendet sich damit ernst an die Zuschauer, an euch, „Was soll denn auch passiert sein?“ Ihre Stimme wird fast trotzig. Sie beschimpft euch.
„Sollten Sie mir das nicht sagen?“
Was meint ihr? Seid ihr dafür verantwortlich, der Mutter zu sagen, was passiert ist? Sollte sie das nicht selbst wissen?
„Ich weiß es nicht.“ Das ist ihre Antwort. Sie glaubt, sie weiß es nicht.
„Sie war doch meine Tochter“, ruft sie euch verzweifelt zu, „Wie konnte das geschehen?“ Die Frage verhallt leise im Saal. Verstört nimmt die Mutter die Hände vor das Gesicht. Sie sieht nicht, dass das Kind, welches neben ihr liegt, die Augen öffnet und sich langsam erhebt.
Sitzend schaut es zur Mutter und fragt leise, naiv:
„Mama?“
Die Mutter schreckt hoch, steht vom Stuhl auf. Der Schreck weicht jedoch schnell. Sie schaut ihr Kind überfreundlich an, geht ein paar Schritte auf es zu und spricht:
„Na, was ist mit dir?“
„Mama?“, lächelt das Kind eindringlich zurück.
„Ich weiß“, sagt die Mutter liebevoll und wendet sich halb von ihrem Kind ab, „dass dir nie…“
„Mama?“, fragt das Kind ungeduldig hinein.
„Dass dir nie etwas passiert ist, denn…“, fährt sie unbeirrt fort.
„Mama?“ Es hört der Mutter nicht zu, fällt ihr ins Wort.
„Denn ich bin…“
„Mama?“
„…ja immer bei dir.“
„Mama?“
„Sei still!“
Sie ist wütend, verständlicherweise, oder? Ihr Kind schweigt erschrocken.
Nun ist sie wieder freundlich.
„So ist es brav“ In ihrer Stimme schwingt ein herrischer Ton, der sich nun in lächerliche Hebammensprache wandelt:
„Mami will doch nicht, dass dir etwas zustößt.“ Ihr Blick wird glasig, sie schaut über das Publikum und redet plötzlich in Gedanken versunken:
„Nein… das will sie nicht.“
Das Kind, noch immer sitzend, beobachtet die Mutter, wie sie langsam zu dem Stuhl zurückweicht, sich darauf niedersinken lässt und den Blick euch zuwendet. Sie scheint die Fassung wiederzugewinnen.
„Sie hätten ihr helfen müssen!“ Das ist allerdings eine harte Beschuldigung. Lasst euch das durch den Kopf gehen. Es lag an euch. Warum habt ihr nicht geholfen?
„Ich will wissen, wer der Schuldige ist!“ Das will man immer wissen. Bei wem liegt die Schuld? Wer ist schuldig?
„Wer hat das meiner Tochter angetan?“ Sie spricht langsam, sehr ernst und schaut nun über die Menge. Ihre Augen bleiben an manchem Gesicht hängen, auch an eurem. Die Mutter blickt euch in die Augen. Sie hat euch erkannt. Ihre Miene spiegelt Verzweiflung wider, während sie euch anschaut. Das Kind erhebt sich aus seiner sitzenden Lage und betrachtet kniend seine Mutter.
„Ich habe sie doch geliebt“, sagt sie. Hört ihr das? Es sollte euch wehtun, daran zu denken. „Ich habe meine Tochter geliebt.“
Neugierig fragt ihr Kind erneut:
„Mama?“
„Halt den Mund!“ Mit wutverzerrtem Gesicht ist sie aufgesprungen.
„Mama?“, entgegnet das Kind ängstlich.
Seine Mutter dreht sich um, legt die Hände auf die Ohren und spricht apathisch flüsternd immer wieder die Worte:
„Halt den Mund. Halt den Mund…“
„Mama?“ Das Kind fragt verstörter, flehend, „Mama?“
„Halt den Mund“, redet sie beschwörend zu sich selbst.
„Mama!“, schreit das Kind nun endlich.
Sie hält inne, wendet den Blick verwirrt zum Kind, schweigt. Dieses schaut sie beschuldigend an und ruft dann fordernd:
“Lutscher!“
Erneut kehrt die Mutter zu ihrer Hebammensprache zurück und antwortet:
„Aber nein, mein Kleines. Das ist nicht gut für dich. Das ist schlecht. Ich will doch nicht, dass dir etwas zustößt“, ihre Stimme wird leiser, „Ich muss…“
Sie weicht wieder zurück.
„… doch schließlich auf dich aufpassen.“
Scheinbar erschöpft lässt sie sich auf den Stuhl fallen und wendet sich wieder dem Publikum zu. Das Kind kniet weiterhin, während es seine Mutter fragend betrachtet. Diese ruft nun aufgebracht in die Menge:
„Sie wollen mir die Schuld in die Schuhe schieben? Ich will wissen, wer meine Tochter umgebracht hat und sie beschuldigen mich!? Ich liebe meine Tochter...“
Von ihr unbemerkt erhebt sich das Kind langsam und steht bald darauf aufrecht. Seine Mutter fährt fort:
„Ich würde ihr das niemals antun. Halten sie den Mund!“ Den letzten Satz schreit sie fast.
„Mutter?“, fragt das Kind erwachsen und ernst.
Erschrocken dreht sie sich zu ihm um, bleibt jedoch sitzen und spricht verwirrt und ängstlich, als sei ihr Kind das Unheil selbst:
„Was willst du hier?“
Freundlich lächelt das Kind und geht auf seine Mutter zu. Noch immer bleibt sie sitzen, als ihre Tochter sie zu umkreisen beginnt und fröhlich singt:
„Sie geht um den Kreis, sodass niemand es weiß. Wer sich umdreht oder lacht…“
Das Kind bleibt stehen und lacht. Die Mutter wendet den Blick ab und schaut vor sich auf den Boden. Gedankenversunken redet sie vor sich hin, man kann nicht sagen, mit wem sie spricht:
„Ich wollte nicht, dass das geschieht. Ich habe doch immer auf sie Acht gegeben. Es war nicht meine Schuld. Ich würde so etwas niemals tun. Ich liebe meine Tochter.“
Für den Zuschauer avanciert das Gerede fast du einem Brabbeln. Das Kind steht neben dem Stuhl und betrachtet seine Mutter, bevor es sich dem Publikum zuwendet und in überzeugtem Ton sagt:
„Meine Mutter liebt mich.“
Apathisch beginnt diese den Satz:
„Ich liebe sie wirklich…“
„…Wirklich“, beginnt das Kind zur selben Zeit, „Sie liebt mich.“
„Ich wollte nicht, dass das geschieht“, sagt euch die auf dem Stuhl Sitzende verzweifelt.
„Sie wollte nie, dass das geschieht“, pflichtet ihr das Kind bei, doch unterdrückte Verachtung mischt sich in seine Stimme, „Sie hat immer auf mich Acht gegeben. Es war nicht ihre Schuld.“
„Es war nicht meine Schuld“, sagt die Mutter leise.
„Sie würde so etwas niemals tun“, erklärt euch ihre Tochter weiter, „Sie würde mich niemals schlagen, weder mit dem Kochlöffel noch mit dem Kleiderbügel.“
„Das würde ich niemals tun“, beschwört die Mutter lauter.
„Sie würde mich nicht auf dem Balkon schlafen lassen, damit ich sie nicht mehr störte.“
„Das würde ich niemals tun.“
„Sie würde nicht meine Hände auf die Herdplatte drücken, wenn sie wütend ist.“
„Das würde ich niemals tun.“
„Sie würde mir nicht die Hände um den Hals legen und zudrücken, damit sie endlich ihre Ruhe vor mir hätte.“
„Das würde ich niemals tun.“
„Sie…“, das Kind zögert und fährt nur sehr langsam fort, „…hätte mich niemals umgebracht.“
Die Mutter öffnet den Mund, als wolle sie etwas sagen, schaut über das Publikum und schweigt. Betreten schaut sie zu Boden und senkt immer weiter den Blick.
Das Kind läuft hinter dem Stuhl der Mutter entlang auf die andere Seite, scheinbar tief in Gedanken versunken. Schließlich bleibt es stehen, schenkt den Zuschauern ein Lächeln und sagt:
„Das hätte sie niemals getan.“



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