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Buchvorstellung: Atmen Buchvorstellung, Zitatsammlung

Autor:  halfJack

Stefan Kalbers

Atmen
Jemand muss atmen

"Und ich weiß nicht, wie viel Zeit mir noch bleibt. Jeden Tag mache ich weiter und beginne wieder von vorn. Aller Hoffnungslosigkeit zum Trotz.
Ich weiß nicht, wovon andere Menschen träumen. Doch in meinen Träumen bewege ich mich stets durch ein dunkles, kaltes All. Geräuschlos, unfähig, auch nur einen Laut von mir zu geben, gleiche ich einem leeren Gefäß, ohne Emotion, ohne einen klaren Gedanken in mir zu tragen.
Es gibt nur das Bewusstsein dafür, anwesend zu sein, und meine Augen, an denen alles, was geblieben ist, vorüberzieht. Namenlose Planeten verglühen, schicken ihr Licht wie eine Botschaft durch den Raum. Empfänger unbekannt. Diesen Träumen liegt eine tiefe Sehnsucht nach Frieden und Ruhe zugrunde. Schicht um Schicht gilt es, meine Einsamkeit aufzugraben, bis die Schaufel am Grund der Wahrheit zerbricht."

Stefan Kalbers schickt seinen Protagonisten scheinbar ziellos durch die kalte, herzlose Welt, die um ihn herum in sich zusammenfällt. Er rutscht ab, gerät auf die schiefe Bahn und scheint unrettbar verloren, ist immer im falschen Moment am falschen Ort, an sich ein netter Kerl, aber ein Verlierer - und am Ende steht lediglich die Erkenntnis: Jemand muss atmen.

"Der wahre Horrortrip war immer der Alltag. Diese unabwendbare Abfolge nicht enden wollender Banalitäten. Horror war, sich in einen festen Tagesablauf pressen lassen zu müssen. Horror, das war der Druck, sich durch irgendeine aufgezwängte Tätigkeit den Lebensunterhalt verdienen zu müssen, niemals genügend Schlaf zu bekommen und sich jeden Tag, immer aufs Neue, gehetzt und getrieben zu fühlen. Horror, das waren die Nachbarn, die einen grüßten, der Geruch von Putzmittel im Treppenhaus und ein Blick in das Gesicht des Vermieters, der drängende Fragen stellte. Horror, das war das Vergehen der Zeit, die Wiederkehr eines Geburtstages, ein weiteres Weihnachten, Silvester, Ostern. Horror, das war der Lärm der Straße, die Masse an glücklosen, dumpfen Menschen um mich herum. Menschen - sie waren überall.
Man konnte ihnen nicht entkommen. In der Wohnung über mir, neben mir, unter mir. Ihre Stimmen waren da, ihre Sprache, das Dröhnen des Fernsehers, das Klingeln des Telefons, die Türen, die ständig auf- und zugingen. Horror, das war die Erkenntnis, dass selbst enge Freunde die eigenen Gedankengänge nicht mehr nachvollziehen konnten. Mein ganzes Leben lang hatte ich mir gewünscht, unsichtbar zu sein und möglichst früh zu sterben.
Ich war noch immer hier.
Horror, das war ein nüchterner Kopf ohne die Möglichkeit, sich zu berauschen. Ich wollte aufhören zu denken, aufhören zu fühlen. Ich wollte aufhören."



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