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Elle me ne regarde pas Literatur, Philosophie, Zitatsammlung

Autor:  halfJack

Die Geschichte ist wahr. Sie stammt aus der Zeit meiner, ich würde sagen, meiner Zwanzigerjahre - ich hatte damals, als junger Intellektueller, natürlich nichts Besseres zu tun als rauszugehen und mich irgendeiner Tätigkeit hinzugeben, die nur direkt und ländlich sein sollte, also zum Beispiel Jagd oder Fischen. Eines Tages nun war ich auf einem kleinen Boot zusammen mit einigen Leuten aus einer Fischersfamilie, die an dem kleinen Hafen zu Hause war. Damals war unsere Bretagne noch unberührt von der Großindustrie, und Fischerei im großen Stil gab es noch nicht. Die Fischer fischten in ihrer Nussschale auf eigenes Risiko und eigene Gefahr. Und eben dieses: Gefahr und Risiko wollte ich mit ihnen teilen. Nur gab es Gefahr nicht immer, es gab auch Tage schönsten Wetters. Eines Tags nun, wir warteten auf den Augenblick, wo die Netze eingeholt werden sollten, zeigt mir ein gewisser Petit-Jean, wir nennen ihn so - er ist mit seiner ganzen Familie dann plötzlich von der Tuberkulose dahingerafft worden, die damals tatsächlich so etwas wie die Krankheit einer ganzen Sozialschicht war - eines Tags also zeigt mir Petit-Jean ein Etwas, das auf den Wellen dahinschaukelte. Es war eine kleine Büchse, genauer gesagt: eine Sardinenbüchse, ausgerechnet. Da schwamm sie also in der Sonne, als Zeuge der Konservenindustrie, die wir ja beliefern sollten. Spiegelte in der Sonne. Und Petit-Jean meinte:
Siehst du die Büchse? Siehst du sie? Sie, sie sieht dich nicht!
Er fand sie sehr lustig, die kleine Geschichte, ich weniger. Ich habe mich gefragt, warum ich sie weniger komisch fand. Das ist sehr aufschlussreich.
Zunächst, wenn es einen Sinn haben soll, dass Petit-Jean mir sagt, dass die Büchse mich nicht sehe, so deshalb, weil sie in einem bestimmten Sinn mich tatsächlich anblickt, angeht.* Sie blickt mich an auf der Ebene des Lichtpunktes, wo alles ist, was mich angeht, und das ist hier durchaus nicht als Metapher gemeint.
Was erklärt die Bedeutung dieser kleinen Geschichte, die ich dem Einfall des Gefährten verdanke, und was erklärt, dass er sie so komisch fand und ich weniger? Die Geschichte ist mir erzählt worden, weil ich in dem Moment damals - so wie ich mich geschildert habe zusammen mit diesen Leuten, die so schwer für ihre Existenz zu schuften hatten in fortgesetztem Kampf gegen etwas, was für sie rohe Natur hieß - weil ich damals also ein unsäglich komisches Bild gemacht haben muss. Oder vielmehr: Ich fiel aus dem Bild heraus, ich machte mehr oder weniger einen Fleck im Bild.** Und weil mir das bewusst ist, kann nichts mich bei dieser komischen, ironischen Geschichte, die ich mich jetzt hervorbringen höre, davon abbringen, sie wenig komisch zu finden.
 

* Elle me regarde: Der Doppelsinn des Französischen "sie blickt mich an" und "sie geht mich an"
** Je faisais tant soit peu tache

Jacques Lacan



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