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Selbstmörder Literatur, Zitatsammlung

Autor:  halfJack

Es ist falsch, wenn man nur jene Menschen Selbstmörder nennt, welche sich wirklich umbringen. Unter diesen sind sogar viele, die nur gewissermaßen aus Zufall zum Selbstmörder werden, zu deren Wesen das Selbstmördertum nicht notwendig gehört. Unter den Menschen ohne Persönlichkeit, ohne starke Prägung, ohne starkes Schicksal, unter den Dutzend- und Herdenmenschen sind manche, die durch Selbstmord umkommen, ohne darum in ihrer ganzen Signatur und Prägung dem Typus der Selbstmörder anzugehören, während wiederum von jenen, welche dem Wesen nach zu den Selbstmördern zählen, sehr viele, vielleicht die meisten, niemals tatsächlich Hand an sich legen. Der "Selbstmörder" braucht nicht notwendig in einem besonders starken Verhältnis zum Tode zu leben - dies kann man tun, auch ohne Selbstmörder zu sein. Aber dem Selbstmörder ist es eigentümlich, dass er sein Ich, einerlei, ob mit Recht oder Unrecht, als einen besonders gefährlichen, zweifelhaften und gefährdeten Keim der Natur empfindet, dass er sich stets außerordentlich exponiert und gefährdet vorkommt, so, als stünde er auf allerschmalster Felsenspitze, wo ein kleiner Stoß von außen oder eine winzige Schwäche von innen genügt, um ihn ins Leere fallen zu lassen. Diese Art von Menschen ist in ihrer Schicksalslinie dadurch gekennzeichnet, dass der Selbstmord für sie die wahrscheinlichste Todesart ist, wenigstens in ihrer eigenen Vorstellung. Voraussetzung dieser Stimmung, welche fast immer schon in früher Jugend sichtbar wird und diese Menschen ihr Leben lang begleitet, ist nicht etwa eine besonders schwache Lebenskraft, man findet im Gegenteil unter den "Selbstmördern" außerordentlich zähe, begehrliche und auch kühne Naturen. Aber so wie es Naturen gibt, die bei der kleinsten Erkrankung zu Fieber neigen, so neigen diese Naturen, die wir "Selbstmörder" heißen und die stets sehr empfindlich und sensibel sind, bei der kleinsten Erschütterung dazu, sich intensiv der Vorstellung des Selbstmordes hinzugeben.
Wie jede Kraft auch zu einer Schwäche werden kann (ja unter Umständen werden muss), so kann umgekehrt der typische Selbstmörder aus seiner anscheinenden Schwäche oft eine Kraft und eine Stütze machen, ja er tut dies außerordentlich häufig. Er macht aus der Vorstellung, dass ihm zu jeder Stunde der Weg in den Tod offenstehe, nicht bloß ein jugendlich-melancholisches Phantasiespiel, sondern baut sich aus ebendiesem Gedanken einen Trost und eine Stütze. Zwar ruft in ihm jede Erschütterung, jeder Schmerz, jede üble Lebenslage sofort den Wunsch wach, sich durch den Tod zu entziehen, allmählich aber schuf er sich aus dieser Neigung gerade eine dem Leben dienliche Philosophie. Die Vertrautheit mit dem Gedanken, dass jener Notausgang beständig offenstehe, gibt ihm Kraft, macht ihn neugierig auf das Auskosten dieser Schmerzen und üblen Zuständen, und wenn es ihm recht elend geht, kann er zuweilen mit grimmiger Freude, einer Art Schadenfreude, empfinden:
"Ich bin doch neugierig zu sehen, wie viel eigentlich ein Mensch auszuhalten vermag. Ist die Grenze des noch Erträglichen erreicht, dann brauche ich ja bloß die Tür zu öffnen und bin entronnen."
Es gibt sehr viele Selbstmörder, denen aus diesem Gedanken ungewöhnliche Kräfte kommen.

"Der Steppenwolf" von Hermann Hesse



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