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Kants Kontamination von Prädikation und Synthesis Philosophie

Autor:  halfJack

Im "Spiegel der Natur" stellt sich Richard Rorty die Frage, wie es überhaupt zu einer derartigen philosophischen Richtung wie der Erkenntnistheorie kommen konnte, die nach Descartes‘ Meditationen das Mentale als inneren Raum erfunden hat. Es wurde die Meinung postuliert, allein der Mensch hätte primären Zugang zu seinen mentalen Zuständen und nur aus dem eigenen Geist heraus sei es möglich, Erkenntnis zu erlangen. Trotz dieser nicht empirisch nachweisbaren Theorie begann sich die Philosophie als Wissenschaft zu verstehen und wurde unter Immanuel Kant sogar zum Fundament und Tribunal der Wissenschaft.
Doch was Kant mit seinen Anschauungen zu erreichen versucht, geht in einer Vermengung unterschiedlicher Begrifflichkeiten und Neudefinitionen unter. Soll über ein Erkenntnisproblem tatsächlich eine Theorie möglich sein, können wir nach Rortys These bloß von einem solchen Problem sprechen, wenn wir das Erkennen als eine Ansammlung von Darstellungen betrachten. Nur das bleibt für die Philosophie übrig, nachdem sich die Einzelwissenschaften so weit ausdifferenziert haben, dass sie unlängst in der Lage sind, alle Themengebiete abzudecken.
Darum ist zu klären, wie jene Kontamination aussieht, die Kant in seiner eigenen Rechtfertigungstheorie von John Locke aufnahm und fortführte. Das beinhaltet die Auseinandersetzung mit den wichtigsten Gebieten der Epistemologie, nämlich der Erkenntnis und der Erfahrung. Wie geht die moderne Philosophie sprachanalytisch mit diesen Themen um und welche Rolle spielt das für die Gesamtkritik Rortys?

Erkenntnisgewinn
Richard Rorty meint, die Wahrheit eines Satzes bestünde bei der Kantischen Philosophie darin, die beiden voneinander verschiedenen Vorstellungen von Anschauungen und Begriffen aufeinander zu beziehen.  In der "Kritik der reinen Vernunft" führt Kant diesen Gedanken so aus, dass unser Denken einen unmittelbaren Zugriff auf Anschauungen hat, um Erkenntnis zu erlangen. Durch die Sinnlichkeit, also die Fähigkeit zur Aufnahme äußerer Eindrücke durch die Sinne, erhalten wir Vorstellungen von diesen Anschauungen. Nach der Verarbeitung der Eindrücke entspringen unserem Verstand Begriffe. Alles Denken muss sich also auf Sinnlichkeit und Anschauungen beziehen, weil uns anders kein Gegenstand gegeben sein kann. Die Wirkung eines Gegenstandes auf die Vorstellungsfähigkeit ist die Empfindung. Anschauungen, die sich auf den Gegenstand durch Empfindungen beziehen, sind empirisch und der unbestimmte Gegenstand einer empirischen Anschauung heißt Erscheinung.
Die vorkantische Philosophie stellte sich als Kampf zwischen Rationalisten und Empiristen dar. Erstere wollten jegliche Empfindungen auf bloße Begriffe reduzieren, während die Empiristen meinten, die Erkenntnis sei aus unserer Erfahrung gegeben und deshalb völlig begriffsfrei. Nach Rortys Meinung hätte man die Problematik anders beschreiben müssen, indem deutlich gemacht worden wäre, dass die Rationalisten nur Propositionen über sekundäre Qualitäten durch anders geartete Propositionen zu ersetzen suchten, die eine gleiche Funktion inne haben und dennoch mit Gewissheit zutreffen sollten.  Als Rückgriff auf Locke werden primäre Qualitäten dadurch charakterisiert, dass sie außerhalb des Geistes in undenkbaren Substanzen bestehen. Dagegen sind die sekundären Qualitäten sinnlich und existieren im Geist unabhängig vom Subjekt, somit jedoch abhängig von den primären Qualitäten, durch die sie veranlasst werden. Der Mensch kann nur durch seine Wahrnehmung auf die sekundären Qualitäten zugreifen, während ihm der direkte Zugang zu den primären Qualitäten verwehrt ist.  Diese Idee vergleicht Rorty mit dem Bild eines Spiegels, auf dem die äußere Natur in unserem Inneren aufgenommen und reflektiert wird. Nur so meint der Mensch über die Außenwelt Kenntnisse erlangen zu können und ist gleichzeitig davon überzeugt, aus erster Hand Zugang auf den inneren Spiegel zu haben, quasi als Schiedsrichter im Heimspiel über die eigene Erkenntnis.
Locke stellte bereits die Weichen für jenen Fehlschluss, der es scheinbar ermöglichen sollte, Fragen der Geltung mit der Genese zu beantworten. Dabei handelt es sich logisch um zwei voneinander völlig verschiedene Probleme, wenn ich mich auf der einen Seite frage, wie ich zu meiner Auffassung gekommen bin, und auf der anderen Seite wissen will, ob diese Auffassung wahr ist.
Nach der Kopernikanischen Wende Kants leiten sich Gegenstände von unserer Erkenntnis ab. Wir geben den Gegenständen unsere Begriffe, nicht andersherum. Denn sollten sich die Anschauungen nach der Beschaffenheit der Gegenstände richten, dann könnte man Kant zufolge a priori nichts von ihnen wissen. Wenn sich aber das Objekt, das wir mit unseren Sinnen wahrnehmen, nach der Beschaffenheit unseres Anschauungsvermögens richtet, ist diese Möglichkeit durchaus denkbar.
In diesem Zusammenhang schuf Kant in seiner Erkenntnistheorie einen umfassenden Begriffsrahmen, der die moderne Philosophie prägte. Es ging fortan um die Beziehung zwischen Universalien und dem Einzelnen, also dem Schluss vom Äußeren auf das Innere. Daraus ergibt sich ein weiterer Kritikpunkt Rortys. Es geschieht nämlich eine Vermengung von Prinzipien und Urteilen. Kant selbst spricht zwar von Begriffen, bezieht sich jedoch nicht auf Sätze oder Propositionen, sondern auf innere Vorstellungen.

Erfahrung
Ein zentraler Begriff der Erkenntnistheorie ist die Erfahrung, die in der Philosophie eine Bedeutung unabhängig von ihrer alltäglichen Verwendung erhalten hat. Um die Epistemologie zu verstehen muss man mittlerweile einen ganzen Katalog an Philosophen gelesen haben. Zwar bleiben die verwendeten Begrifflichkeiten gleich, sie werden jedoch von jedem Erkenntnistheoretiker mit unterschiedlichen Bedeutungen versehen. Somit besteht die Erfahrung nur noch als „philosophischer Kunstausdruck“.
Descartes definierte als erster in einer dualistischen Vorstellung die Res cogitans als das denkende Ding, das der Mensch darstellt.  Das Mentale wurde somit zur eigenen abgetrennten Dimension. Im Zuge dessen erschuf John Locke eine Theorie der Erkenntnis, die auf der Analyse der mentalen Prozesse beruhte. Er griff den cartesianischen Dualismus auf, indem er das Erfahren in ideas of reflexion (das Denken) und ideas of sensation (die Wahrnehmung) unterteilte. Für Kant hingegen dient die Erfahrung als „Gegenstand und Methode der Erkenntnis“. In diesem Sinne stellt sie den „denkgesetzlichen Zusammenhang aller Funktionen der Erkenntnis“ dar.  Kant greift jedoch die epistemologischen Punkte Lockes auf, die Rorty im Kapitel über die Kontamination von Erklärung und Rechtfertigung kritisierte. Wenn man auf diese Weise denken und erkenntnistheoretische Schlüsse ziehen will, muss man sich auf die komplexen Annahmen und Begrifflichkeiten einlassen.
Unser Denken ist nur insofern „philosophisch, wenn es, wie das Kantische, nach Ursachen von, also gerade nicht nur nach Gründen für empirische Wissensansprüche sucht“.  Da Kant demnach nicht bloß Rechtfertigungen herausstellt, die uns zum Handeln bringen, betrachtet Rorty die Theorie Kants ungewöhnlicherweise als eine kausale Theorie. Im Rationalismus wird die Ursache notwendig mit der Wirkung verknüpft, doch für Kant stellt Kausalität (ähnlich wie bei David Hume) kein logisches Prinzip dar. Kant würde seine eigene Philosophie also nicht wie bei naturwissenschaftlichen Lehren als kausale Theorie auffassen. Diese Annahme Rortys führt zu einem Widerspruch. Nähme man in der Kantischen Philosophie Kausalität an, wäre die Notwendigkeit der Vernunft und des vernünftigen Handelns nicht mehr gegeben. Es geht schließlich nicht um die Rechtfertigung der Urteile, sondern um die Bildung und die Möglichkeiten unserer Vernunft.

Sprachspiel der modernen Philosophie
Die Kantische Philosophie besteht aus einer Vielzahl von Begriffen, die man verstehen muss. Aber gerade die Unterscheidungen und Gleichsetzungen jener Begriffe können zu der genannten Kontamination führen, sodass die Philosophie, um es mit Wittgensteins Worten zu beschreiben, ihr eigenes Sprachspiel besitzt, welches Außenstehenden unzugänglich bleibt. All jene Definitionen dienen bei Kant nur zur Begründung seiner Theorie und besitzen davon losgelöst keinen sinnvollen Inhalt. Grundsätzlich funktioniert jede erkenntnistheoretische Unterscheidung nur im Sprachspiel der Philosophie.
Philosophisches Denken setzt deshalb eine Unterscheidung von Anschauungen und Begriffen, Sinnlichkeit und Verstand bereits voraus und lässt sich auf Lockes Kontamination von Kausalität und Rechtfertigung ein.  Wenn Locke meint, dass nichts in unserem Intellekt sein kann, wenn wir es nicht vorher mit den Sinnen wahrgenommen haben, schließt sich Kant dieser Metaphorik an.
Um auf die von Rorty genannte Kontamination einzugehen, werden im Folgenden zuerst die Bezeichnungen geklärt. Die Prädikation, die ganz allgemein auch als Teil des Sprechaktes bezeichnet werden kann, stellt eine Handlung oder auch eine Aussage dar, bei der einem Gegenstand eine Eigenschaft oder Relation zugesprochen wird. Sie hat die Funktion, sprachliche Unterscheidungen einzuführen. In der Synthesis wird eine Vielzahl von Sinneseindrücken zu einer Vorstellungs- oder Begriffseinheit zusammengeschlossen. Explizit auf Kant bezogen bezeichnet das eine Verbindung der in der Anschauung gegebenen Mannigfaltigkeit zu einer Einheit des Gegenstandes. In ihrer allgemeinsten Bedeutung definiert Kant Synthesis als „die Handlung, verschiedene Vorstellungen zu einander hinzuzutun, und ihre Mannigfaltigkeit in einer Erkenntnis zu begreifen“.  Synthetische Urteile erweitern im Gegensatz zu den analytischen Urteilen die Erkenntnis, da das Prädikat nicht im Subjekt enthalten ist. Diese Synthesis unterscheidet sich von Humes Auffassung der Ideen. Hume trennt zwischen Empfindung und Erinnern. Aller Stoff des Geistes ist aus dem inneren und äußeren Gefühl abgeleitet und die Gedanken lösen sich bei der Zergliederung in Vorstellungen auf, die den Empfindungen nachgebildet sind. Dagegen ist die Synthesis bei Kant eine Relation, die nur zwischen allgemeinen und einfachen Ideen bestehen kann. Rorty sieht diese Theorie durch die beiden Voraussetzungen gestützt, dass erstens Mannigfaltigkeit notwendig gegeben ist und dass zweitens eine Einheit daraus hergestellt wird.  Nach Kant könnten Humes Anschauungen nicht zu Bewusstsein gebracht werden, wenn sie nicht durch Begriffe synthetisiert werden würden. Wir können Bewusstsein nur von Dingen haben, die durch unser eigenes verbindendes Denken konstituiert wurden.
Rorty ist der Meinung, Kant hätte anstatt seiner irreführenden Gleichsetzung des einzelnen Urteils mit der sinnlichen Gegebenheit „Erkenntnis als eine Relation zwischen Personen und Propositionen“  beschreiben sollen. Es liegt also eine Verwechslung von Propositionen und Begriffen vor. Dahingehend folgt Rorty der Ansicht des späten Wittgensteins, dass Begriffe eben nicht alle gemeinten Inhalte ausdrücken können.
Wenn man sich keine Grundlage durch die Lektüre der wichtigsten erkenntnistheoretischen Philosophen geschaffen hat, stellen sich berechtigte Fragen ein. Woher nehmen wir dieses Mannigfaltige, das uns Kant als Voraussetzung vorstellt? Woher wissen wir, dass es mehr als eine solche Anschauung gibt? Gäbe es nur eine einzige, wäre so etwas wie Synthesis gar nicht nötig. Anschauungen und Begriffe sind in diesem Zusammenhang nur der „Kontextdefinition fähig“,  um die Theorie Kants zu stützen. Die beiden genannten Voraussetzungen sind nur dann als Rechtfertigung zulässig, wenn wir tatsächlich auf diese Weise Erkenntnis durch synthetische Urteile a priori erlangen können. Legt man die Bedingungen, die Kant postuliert, im Sinne Rortys aus, verliert unser Zugriff auf den Spiegel der Natur schlagartig an Relevanz. Das Bewusstsein als Forschungsgebiet im inneren Raum wird abgeschafft.

Fazit
In der dualistischen Vorstellung der Erkenntnistheorie stehen sich zumeist zwei nach Rorty unvereinbare Positionen gegenüber. Auf der einen Seite befindet sich die Genese als Ursprung und Ausgangspunkt, auf der anderen Seite die Geltung als Wahrheit unabhängig von der Wirklichkeit, mit Kants Worten also eine Relation zwischen Sinnlichkeit und Verstand. Der Kantische Transzendentalismus kann im Sinne einer Geltungstheorie interpretiert werden, da es ihm um die Rechtfertigung und Begründung der menschlichen Erkenntnis geht. Damit Geltungsansprüche legitimiert werden können, müssen vorher fundamentale Bedingungen erfüllt sein. Das will Kant durch seine transzendentale Deduktion erreichen, indem Begriffe a priori festgelegt werden, die somit objektive Gültigkeit besitzen und allgemeine und notwendige Erkenntnis möglich machen. Im Neukantianismus wird der Geltung dementsprechend das Sein gegenübergestellt. Doch ist es ein Fehlschluss, von der Entdeckung automatisch auf die Begründung zu schließen. Die Erklärung auf der einen Seite stellt einen Schluss vom Gegenstand auf die Person dar, wohingegen die Rechtfertigung den Schluss auf eine Person nur durch die Proposition zulässt, also jenen gedanklichen Inhalt, der durch einen Satz ausgedrückt wird. Wenn wir nach synthetischen Urteilen a priori suchen, dann besitzen wir am Ende keinen privilegierten Zugang mehr zur Erkenntnis.
Nach Rortys Hauptthese liegt der Fehler der Erkenntnistheorie in der Verknüpfung des Mentalen mit dem Fundamentalen. Im Gegensatz zu der Idee des Bewusstseins, die Descartes, Locke und Kant gemeinsam war, vertritt Rorty in vielen Belangen einen holistischen Materialismus. Dabei orientiert er sich größtenteils an Heidegger, Wittgenstein und Dewey. Die vorherigen Annahmen der Philosophie werden demnach nicht widerlegt, sondern verabschiedet.



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