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Zufall und Schicksal Philosophie

Autor:  halfJack
Zufall und Schicksal sind die zwei Seiten einer Medaille, gegensätzlich unterstützt von Realisten und Träumern. Manche sprechen davon, den Teufel an die Wand zu malen, und klopfen auf Holz, weil sie sein Erscheinen fürchten. Etwas Unheilvolles ausgesprochen zu haben soll die Ursache für das spätere Unglück sein. Gestern war Freitag, der 13te. Ein idealer Tag, um übergeordneten Mächten die Schuld an den zufällig passierenden Unfällen zu geben. Ich höre sehr oft, es könne gar kein Zufall sein, dass zwei scheinbar unzusammenhängende Ereignisse plötzlich aufeinandertreffen. Jeder kennt vermutlich diese Momente, in denen man zum Beispiel etwas sagt und das Gesagte zeitnah eintritt. Sobald jemand felsenfest behauptet, die Wahrscheinlichkeit sei zu gering, dass es sich hierbei um Zufall handelt, frage ich stets: Was soll es sonst gewesen sein? Schicksal?
Vielleicht wäre es interessant, jemanden mit Block und Papier loszuschicken, der eine Strichliste darüber führt, wann auf eine Aussage kein besonderes Ereignis folgt. Die sogenannten schicksalshaften Begebenheiten kämen dann vermutlich nicht einmal mehr auf ein Prozent. Da fragt man sich, ob es nicht schon ein unwahrscheinlicher Zufall ist, dass es von diesen Schicksalsereignissen nicht noch viel mehr gibt. In therapeutischen Fragebögen nennt man das „magisches Denken“. (Ich persönlich würde darunter auch jede religiöse Idee verbuchen.) Wie mir aufgefallen ist, suchen Menschen oft bei Zufällen eine Erklärung, die nicht kausal belegt werden kann. Man redet von Karma oder davon, dass jeder irgendwann bekommt, was er verdient.
In meinem folgenden Beitrag beschäftige ich mich allerdings nicht oberflächlich, sondern historisch philosophisch mit diesem Thema, das bereits im Naturalismus und Materialismus der Antike eine Rolle spielte, wenn auch keine, der damals sonderlich viel Beachtung geschenkt wurde. Alexander von Aphrodisias ist selbst schon kein Philosoph, der sich seiner Bekanntheit rühmen kann. Und Aristoteles hat darüber nur geschrieben, weil er über so gut wie jedes Thema irgendwann mal etwas geschrieben hat. Es wird ab hier also sehr theoretisch.
Alexander von Aphrodisias stellt in seiner Abhandlung "Über das Schicksal" zwei Positionen gegenüber, die das Wesen der Welt zu beschreiben versuchen, auf der einen Seite die stoische Schule und auf der anderen die Lehre von Aristoteles, welche Alexander selbst vertritt und verteidigt. Der Mensch ist diesen naturalistischen Theorien zufolge kein autonom agierendes Wesen. Im Zuge dessen liefern beide philosophischen Anschauungen verschiedene Definitionen für solcherlei Zuschreibungen wie das Schicksal, den Zufall oder die daraus erwachsende Frage der Verfügungsgewalt von Lebewesen. Letzteres wird dem Menschen sowohl von den Stoikern als auch von den Peripatetikern zugestanden. Auf den ersten Blick erscheint es wie ein Widerspruch, dass die Gemeinsamkeit dieser Philosophien in den Annahmen besteht, alle Ursachen seien kausal miteinander verbunden, aber es würden trotzdem Willensfreiheit und Selbstbestimmung existieren. Diese Antinomie wird meines Erachtens von den Positionen durch das Moment der Verfügungsgewalt gelöst, wobei die jeweiligen Begründungen differieren.
Ich greife deshalb nebenbei Aristoteles auf, weil Alexander von Aphrodisias in seiner Einteilung der werdenden Dinge die aristotelische Vorlage nachvollzieht, vielleicht sogar präzisiert. Besonderes Augenmerk legt er hierbei auf die Einordnung des Zufalls. Demnach wird dem Zufall das Schicksal entgegengestellt, obwohl beide auf ähnliche Weise über das Leben zu bestimmen scheinen. Die Eigenverantwortlichkeit des Individuums kommt natürlich auch wieder zum Zug. (Das ist ohnehin etwas, worüber ich stundenlang schwafeln könnte.)
Alexander von Aphrodisias legt fest, alles Werdende entstünde entweder mit einem Zweck respektive Ziel oder ohne ein solches. Unter den werdenden Dingen lässt sich sicherlich einiges aufzeigen, das ohne Ziel entsteht, wenigstens ohne erkennbares. Es wird allerdings die Frage aufgeworfen, ob eine derartige Entsprechung auch auf den Zweck angewandt werden kann. Schließlich kann das ziellos Werdende oder Gewordene trotzdem einen Zweck erfüllen, sobald ein Lebewesen, das sich damit konfrontiert sieht, ihm einen solchen zuschreibt. Alexander von Aphrodisias gibt keine genauere Definition dessen, was man sich unter einem Ziel oder einem Zweck vorzustellen hat und worin die Unterschiede zwischen beiden zu suchen sind. Die Bedeutung der zwei Begriffe soll an dieser Stelle eingeschränkt werden auf die Festlegung eines Endpunktes, des Weiteren auf ein aus Ursachen vollzogenes Ergebnis sowie auf das vom handelnden Lebewesen Angestrebte. Mehr Beachtung erhalten dagegen die um einer Sache willen werdenden Dinge. Diese wiederum unterteilen sich in naturgemäß Geschehendes, das den Grund seines Werdens in sich selbst hat, und vernunftgemäß Geschehendes, das seine bewirkende Ursache gerade nicht in sich selbst trägt und erst durch das Nachdenken darüber zustande kommt.
Abgesehen von den Aspekten aus Mathematik und Informatik, auf die ich hier nicht eingehen will, sind wir damit beim Random. Ist der Zufall als eine dritte Kategorie unter den Dingen einzufügen, die wegen etwas entstanden sind, oder gehört er den Bereichen der naturgemäß bzw. vernunftgemäß werdenden Dinge an? Folgendermaßen erklärt Alexander von Aphrodisias den Zufall als das, was anders geschieht, als es aus dem Grund, aus dem es geschieht, hätte geschehen müssen. Das Ergebnis des Zufallsereignisses unterscheidet sich demnach von dem zu Beginn angestrebten Ziel oder impliziert zumindest manches, das über das erste Ziel hinausgeht. Dieser Erklärung zufolge ist es besonders bei den vernunftgemäß werdenden Dingen anzunehmen, dass sie aus Zufall entstehen können, da Vernunft nur von Individuen getragen werden kann, die sich ihres Handelns und somit des zuvor geplanten Zieles bewusst sind, sodass diese Individuen darüber entscheiden und erkennen können, ob etwas aus Zufall mehr oder anders geworden ist, als es dem ursprünglichen Ziel entspricht. Hingegen ist eine Reflektion über das naturgemäß Passierende und dessen vorangegangene Zielsetzung sowie die vollständige Erkenntnis über die natürliche Ursachenverkettung nicht so einfach anzustellen. Dafür nämlich müsste vorausgesetzt werden, dass der Betrachter, der in dem naturgemäß eintretenden Geschehen einen Zufall zu erkennen vermeint, sich darüber im Klaren ist, welches Ziel die Natur in erster Linie verfolgte. Die Entschlüsselung der teleologischen Natur wiederum würde offenbaren, was aus Zufall verfehlt worden wäre. Es heißt, die Natur mache keine Fehler und würde alles treffend einrichten. Schon allein aus diesem Grund scheint eine zufällige Verfehlung nicht den naturgemäß werdenden Dingen eigen zu sein.
Das bedeutet, dass der Zufall den vernunftgemäß um einer Sache willen werdenden Dingen zugeordnet werden kann, auch wenn Alexander von Aphrodisias eine solche Zuteilung nicht eindeutig vornimmt. Die These soll anhand des Vergleiches mit den aristotelischen Ausführungen bestätigt werden. Zu der genannten Thematik äußert sich Aristoteles nämlich wie folgt:

„Das eine (das Zufallsereignis) hat seine Ursache außerhalb seiner, das andere (das Naturereignis) in sich selbst.“¹

Wenn das Zufallsereignis seine Ursache nach Aristoteles außerhalb seiner selbst hat, es demnach kein Naturereignis sein kann, dann kommt der Zufall den vernunftgemäß werdenden Dingen zu, deren Anfang und bewirkende Ursache für ihr Dasein außerhalb ihrer selbst zu finden sein muss. Denn Zufall kann es nur für vernünftige Lebewesen geben, die in der Lage sind, ihn in den Geschehnissen zu erkennen. Trotz dieser Zuordnung stellt sich die Frage, inwiefern sich der Zufall dieser Bestimmung folgend überhaupt von jenen werdenden Dingen unterscheiden lässt, die nicht um einer Sache willen, also ohne Ziel geschehen, da der Zufall eben kein Ziel zu erfüllen vermag, wodurch er letztlich auch erst als Zufall bezeichnet werden kann.
Im Gegensatz zu den Stoikern sieht Alexander von Aphrodisias nicht alles als starr festgelegt. Das Schicksal tritt seiner Meinung nach als wirkende Ursache auf, vergleichbar mit einem Künstler, der ein Kunstwerk erschafft. Diese Erklärung ist zurückzuführen auf die vier Ursachenarten bei Aristoteles, die alles Sein auf Stoff, Form, Zweck und Wirkursache zurückführen. Demzufolge entspräche das Schicksal dem Letztgenannten. Die scheinbar determinierende Gewalt des Schicksals wird allein deshalb, weil es lediglich eine Ursache unter anderen ist, bereits so weit eingeschränkt, dass sich das Individuum nicht mit dem Verweis auf die eigene Machtlosigkeit von jeder Verantwortlichkeit freisprechen kann.
Nichtsdestotrotz entzieht sich das Schicksal dem vernunftgemäßen Nachdenken des Menschen. Es ist nicht möglich, eine außerhalb liegende Ursache des Schicksals anzugeben. Aus diesem Grund muss es den naturgemäß werdenden Dingen angehören. Alexander von Aphrodisias geht sogar noch einen Schritt weiter, indem er ausführt, Schicksal und Natur seien Dasselbe:

„Denn das Schicksalsverhängte ist der Natur gemäß, und das Naturgemäße ist vom Schicksal verhängt.“²

Erstaunlicherweise wird mit dieser Erklärung dem Begriff des Schicksals jeglicher mystisch übertriebene Beiklang genommen und ihm stattdessen ein rationales Fundament bereitet.
Würde jede Handlung des Menschen beispielsweise aufgrund des Schicksals aus Notwendigkeit geschehen, dann wären Überlegungen irrelevant und ohne Sinn. Die Natur würde mit der Vergabe der Vernunft sich selbst ad absurdum führen, was der Voraussetzung, nichts sei ohne Grund, zuwiderliefe. Den Menschen unterscheidet jedoch naturgemäß von anderen Lebewesen, dass er seine Wahrnehmung überprüfen und vermittels des Verstandes entscheiden kann, ob die Erscheinung auch wahr sei. Einer Katze erscheint es nicht fragwürdig, einem Lichtstrahl hinterher zu jagen, weil sie ihn für etwas Greifbares hält. Der Mensch aber ist in der Lage, zu deduzieren, dass es sich nur um die Reflektion der Sonne auf einem Stück Glas handelt. Ein weiteres Beispiel findet sich in optischen Täuschungen. Im Wasser erscheint ein Stab gebrochen, und obwohl der Mensch seine Wahrnehmung nicht derart korrigieren kann, um die Erscheinung an die Wirklichkeit anzugleichen, besitzt er doch die Entscheidungsgewalt darüber, das Wahrgenommene als falsch zu erkennen.
Die Stoiker begrenzen die Verfügung des Menschen darauf, dass er nach der Prüfung der Erscheinung aus innerem Antrieb seine Zustimmung geben könne. Alexander von Aphrodisias widerspricht dieser Argumentation, da hierin nur eine Freiwilligkeit zur Handlung gefunden werden kann, die genauso gut allen anderen Lebewesen zukommt, nicht aber eine Eigenverantwortlichkeit, die gerade der Natur des Menschen entspricht. Erst aus der Vernunft entsteht Verfügungsgewalt, weil der Mensch die Möglichkeit besitzt, auch das Gegenteil einer Handlung zu wählen.
Zusammenfassend lässt sich sagen: Ein Lebewesen, das nicht des Vernunftschlusses befähigt ist, kann das Vorliegen des Zufalls nicht ausmachen. Dazu gehört die Erkenntnis darüber, was das eigentliche Ziel des Geschehens hätte sein sollen, sowie das Wissen um jenes andere Ziel, das zwar nicht im gleichen Zusammenhang angestrebt, aber dennoch gewollt wurde. Anhand ihrer Eigenschaften determinieren Zufall und Schicksal das Werdende auf sehr ähnliche Weise. Der Unterschied zwischen ihnen besteht darin, dass der Zufall den vernunftgemäß werdenden Dingen zukommt und dementsprechend aufgefasst werden kann, wohingegen das Schicksal seine Ursache naturgemäß in sich selbst trägt. Zufall und Schicksal sind somit voneinander verschieden. Ihr Einfluss auf die menschlichen Handlungen wird insofern gehemmt, wie der Mensch sich entschließt, die Dinge als wahr oder falsch aufzufassen. Seine von der Natur gegebene Verfügungsgewalt gibt ihm mit der Vernunft das Mittel an die Hand, um die eine oder andere Handlung zu wählen.
Man könnte es auch anders formulieren: als ein Naturgesetz. Löst sich ein Blatt vom Ast, dann ist es gleichsam Zufall wie Schicksal, dass es zur Erde segelt. Schicksal einerseits wegen der Vorhersagbarkeit des Falls, andererseits wegen der Gravitation, gegen die sich das Blatt nicht wehren kann. Zufall wäre es laut David Hume, der meinte, dass wir kausale Gesetze nur aufstellen können, weil sie nach unseren Beobachtungen zufällig stets aufeinander folgen. Das eigentlich Spannende ist, dass nur der Mensch in der Lage ist, über diese Festlegung zu urteilen. Erst recht dann, wenn er eine Sekunde vorm Laubflug sagte: "Blatt, löse dich vom Ast!"

¹ Aristoteles: Physikvorlesung, Berlin 1967 [Werke in deutscher Übersetzung, Band 11], S. 83.
² Alexander von Aphrodisias: Über das Schicksal, Berlin 1995, S. 37.


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