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Der Name der Rose Buchvorstellung, Zitatsammlung

Autor:  halfJack

Meine Erinnerungen sind stellenweise 451 °F heiß. Wenn ich ein Buch zur Hand nehme, weiß ich nicht, wie viel mir davon am Ende bleibt. Manchmal ist es nicht mehr als das Gefühl, es sei gut oder schlecht gewesen. Bücher geraten in Vergessenheit. Sie gehen oft verloren wie in einer brennenden Bibliothek. Nicht selten erinnere ich mich Jahre oder Monate oder gar Wochen später überhaupt nicht mehr daran. Ich bezeichne das als mein "Fremder-Syndrom", weil mir das bei "Der Fremde" von Albert Camus besonders extrem passierte; nach dem ersten Lesen blieb mir nur ein positiver Eindruck, doch bald vergaß ich nicht nur den Inhalt, sondern überhaupt die Tatsache, dass ich es schon gelesen hatte; darum las ich es ein zweites Mal während einer Fahrt auf dem Nil, bevor ich daheim anhand meiner Notizen feststellte, dass ich es bereits hätte kennen müssen. Doch das zweite Mal hat nichts gebracht, "Der Fremde" ist mir heute genauso fremd, als hätte ich das Buch nie zur Hand genommen.

Um das zu verhindern, möchte ich in Zukunft häufiger die rußigen, halb verbrannten Seiten aufsammeln, die ich in der Asche finden kann. Das Ganze läuft weiterhin unter der Bezeichnung "Buchvorstellung", da ich dafür kein geordnetes Vorgehen habe, sondern Gedanken, Inhalte und Assoziationen spontan festhalte, mal mehr Review, mal eher Zitatsammlung oder bloß Klappentext. Damit mir die Bücher nach der Begegnung nicht mehr fremd sind.

Mit dieser Idee, und meines Erachtens recht passend, da es im folgenden Werk unter anderem um Bücher geht, blicke ich zurück auf:

Umberto Eco
Der Name der Rose

Es brauchte nur eine erste Deduktion und das erste Gespräch zwischen zwei Gelehrten und sofort war mir William sympathisch. William, ein Franziskaner und die eigentliche Hauptfigur, die aus der Ich-Erzählerperspektive seines unscheinbaren Begleiters Adson beschrieben wird. Nicht die einzige Ähnlichkeit zu Sherlock Holmes. In der Tat kamen mir die beiden Hauptfiguren vor wie Sherlock und Watson. In seinem Denken, Vorgehen und Charakter ist William dem großen Detektiv nicht unähnlich. Oftmals sagt er vergleichbare Dinge, als würde Eco absichtlich auf ein paar Zitate anspielen, allerdings mit mehr unterschwelliger Kritik und irgendwie weniger zynisch, weniger herablassend. Williams Kritik ist stets fundiert erklärt und er macht sich nicht wie Sherlock einen Spaß daraus, all seine Erkenntnisse für sich zu behalten, um sie am Ende großspurig in Szene zu setzen. Ecos Figur scheint reflektierter, selbstkritischer. Außerdem ist William ganz offensichtlich philosophisch gebildet. Dagegen interessierte sich Sherlock nie für Philosophie oder irgendwelche transzendenten Themen; ihm wäre es sogar egal gewesen, wenn die Erde um den Mond kreiste.

Faszinierend waren für mich solch ellenlange Beschreibung wie etwa jene des Portals zu Beginn, mit Sätzen, die fast über eine Seite gingen; sehr biblisch, an religiösen Text und Stil angelehnt. Es passte zum Inhalt und der gesamten Szenerie. Manche Leser könnte das langweilen. Bei einer Reader's-Digest-Ausgabe wären solche Szenen wahrscheinlich die ersten, die einer Kürzung zum Opfer fielen.
Ausschweifend ist Eco auch in seinen Dialogen. Schön zu sehen, wenn Autoren in ihren Werken, in denen es eigentlich um etwas ganz anderes geht, plötzlich ellenlange Diskussionen einfügen, zum Beispiel über Glasbläserei. Gewisse Themen beschäftigten ihn offenbar in seinen Werken immer wieder. Nicht unbedingt die Glasbläserei. Stattdessen Gerüchte, Erzählungen, Zuschreibungen, die unter den Leuten kursieren, mal bezogen auf den Antichrist, mal auf die Juden usw. Damit einher geht auch das Kopieren von Texten. Die Arbeit eines Mönchs bestand im Mittelalter ohnehin zum großen Teil aus dem Kopieren von Werken, was zur Umgebung des Klosters und seinen Protagonisten passt. Doch nicht nur hier, in neutraler Auslegung quasi, sondern in jedem literarischen Bereich, sei es Wissenschaft oder Belletristik, haben Autoren oft voneinander abgeschrieben. Eco tut es meines Erachtens selbst, aber er macht es offensichtlich, zum Beispiel mit seinem Rückgriff auf Sherlock Holmes. Er verteilt damit subtil und amüsant Seitenhiebe. Bei Der Friedhof in Prag ist das sogar sein Hauptthema: Verschwörungstheorien, gepaart mit der Entstehung der Protokolle der Weisen von Zion, eine Schrift, die eine angebliche jüdische Weltverschwörung belegen soll, tatsächlich jedoch nur die lange Wandlung eines immer wieder abgeschriebenen fingierten Textes dokumentiert. Im positiven Sinne beinhaltet jenes Thema des Kopierens auch die Theorie der Intertextualität, wonach jedes Werk Intertext sei, entstanden aus den konsumierten und transformierten Werken der Vorgänger. An einer Stelle werden sogar die Merseburger Zaubersprüche zitiert. Es wirkt erst mal wie wirre, inhaltlose Laute, aber da ich aus Merseburg komme und mir die Formulierungen seit Kindesbeinen an vertraut sind, habe ich es sofort erkannt.
Mir gefiel zudem das viele Latein, obwohl ich feststellen musste, dass meines ziemlich eingerostet ist. An manchen Stellen diffundiert es regelrecht in die normalen Beschreibungen und Aussagen, das hat einen interessanten Effekt.
Ebenfalls auffällig sind die vielen Bibelformulierungen, die ganz normal in Adsons Denken und Beschreiben einfließen.
Genauso musste ich bei einigen Debatten und historischen Begebenheiten schmunzeln oder innerlich beipflichten. Eco sagt oft mehr, als es den Anschein hat, und greift dabei auf das Wissen des Lesers zurück. So etwas gefällt mir einerseits sehr gut, weil man ständig Verbindungen ziehen kann, andererseits frage ich mich, ob für Leser, die sich damit nie beschäftigt haben, nicht viel verloren gehen müsste, sodass manche Ironie gar nicht zu Bewusstsein kommt, einiges langweilt oder man an manchen Stellen sogar nicht unterscheiden kann, ob die Information jetzt stimmt oder ob es sich nur um einen Scherz handelt. Auch für mich selbst hege ich diese Zweifel trotz Vorkenntnisse.

"Nie merkte ich bei meinem Meister, wann er scherzte. Wenn man in meiner Heimat einen Scherz machen will, dann sagt man etwas und bricht in geräuschvolles Lachen aus, damit alle Anwesenden auch richtig mitlachen können. William dagegen lachte nur, wenn er ernste Dinge sagte, und blieb vollkommen ernst, wenn er vermutlich scherzte."

Eines meiner liebsten Zitate des Buches zur Beschreibung von William und gleichzeitig ein Hinweis auf das interessante Mordmotiv des Täters. Ich mochte diese Eigenschaft an William, weil ich ein solches Verhalten erstens gut nachvollziehen kann und zweitens auch am passendsten finde. Es ist manchmal wie die Prise Zucker, die man in ein herzhaftes Gericht streut, oder wie das Salz in einer Süßspeise; die Diskrepanz verstärkt den eigentlich tragenden Geschmack bzw. Gedanken.
Eine zweite Charakterisierung Williams gefiel mir, als er von seinen Schlussfolgerungen erzählte. Sherlock Holmes meint immer, er würde deduzieren. Aber tatsächlich überlegt er sich nur Hypothesen, von denen eine zufällig stimmt. William gibt zu, dass er im Grunde nur Theorien aufstellt und einzugrenzen versucht. Für Holmes sind seine Wahrheiten unumgänglich, obwohl es andere Lösungen und Möglichkeiten gäbe; so zumindest nahm ich seine Aussagen meist wahr. William meint hingegen, er wisse bis zum Punkt der völligen Offenlegung nicht, ob seine Hypothesen zutreffen.
Das hat mich an eine Episode von Detektiv Conan erinnert. Es gibt da einen Fall, den Ran löst, aber sie ist unsicher und telefoniert vorher mit Shinichi, dem sie ihre Theorie unterbreitet. Danach fragt sie ihn, ob es denn stimmt, was sie sich überlegt hat. Shinichi meint, es sei ihr Fall und sie müsste einen Weg finden, um die Theorie auf ihre Richtigkeit zu prüfen. Ob es stimmt, könne er selbst nicht sagen, als Detektiv sei man schließlich auch nur ein Mensch und nicht allwissend. Er wäre daher bei jeder Fallösung innerlich unsicher und aufgeregt. Das allerdings sei der Grund, warum man als Detektiv ziemlich stolz wäre, wenn man mit seiner Theorie richtig lag. Ich fand das sehr sympathisch, sowohl bei Conan als auch bei der Formulierung von William.

Zum Schluss ein fulminantes Finale; Adsons Vision, die Auflösung, der erwartete Brand, das Inferno. Mir blutete das Herz beim Gedanken an die verlorenen Schätze in diesem Labyrinth.
Aus der Asche ziehe ich die letzten Zitate:

"Träume sind Schriften, und viele Schriften sind nichts als Träume."

"Ein leichtes Schaudern erfasste mich, mir wurde auf einmal klar, dass diese beiden zu einem tödlichen Zweikampf angetretenen Männer einander gerade wechselseitig bewunderten, als hätte jeder die ganze Zeit nur gehandelt, um sich den Beifall des anderen zu sichern. Wahrlich, schoss es mir durch den Kopf, die Verführungskünste, die Berengar aufgeboten hatte, um den begehrten Adelmus zu umgarnen, und die schlichten, natürlichen Gesten, mit denen das Mädchen meine Leidenschaft und mein Verlangen geweckt, waren nichts, was Schläue und fintenreichen Eroberungswillen betraf, im Vergleich zu dieser wechselweisen Verführung, die sich da vor meinen Augen abspielte und die sich erstreckt hatte über die letzten sechs Tage, in denen jeder der beiden Gegner dem anderen gleichsam heimliche Fingerzeige gegeben hatte, jeder insgeheim buhlend um die Anerkennung des anderen, den er hasste und fürchtete."

"Scheusale existieren, weil sie Teil des göttlichen Plans sind, und selbst in den schrecklichsten Fratzen offenbart sich die Größe des Schöpfers."



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