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André Gide: Der Immoralist Buchvorstellung

Autor:  halfJack

"Der Immoralist", André Gides erstes größeres Werk, 1902 in Frankreich erschienen, löste bei seinen Zeitgenossen eine Welle der Empörung aus. Den jungen Autor traf diese vehemente Ablehnung nicht unerwartet, hatte er doch mit jener Erzählung in herausfordernder Weise die Grundfesten bürgerlicher Existenz in Frage gestellt.
Michel, aus begütertem Hause, weltfremd und in puritanisch-strengem Geist erzogen, hat mit fünfundzwanzig Jahren "fast nichts gesehen außer Ruinen und wusste nichts vom Leben". Eine gefährliche Krankheit, die ihn während der Hochzeitsreise in Nordafrika befällt, bewirkt indessen einen tiefgreifenden Wandel in ihm: In dem Maße, wie er sich erholt, spürt er, zunächst unbewusst, dann immer heftiger, das Erwachen seiner unterdrückten Sinne, ein unbändiges Verlangen, die religiösen, geistigen und moralischen Fesseln der Vergangenheit abzustreifen und sich dem Dasein ganz hinzugeben. Er wirft alles ab, was dieser Befreiung im Wege steht: Erziehung, Bildung, Streben nach gesellschaftlicher Anerkennung, menschliche Bindungen. Erst der Tod seiner Frau gebietet dem hemmungslosen Drang nach Selbstverwirklichung Einhalt. "Sich befreien ist nichts, frei sein können ist das Schwierige", ist das Fazit, das Michel am Ende zieht.

André Gide
Der Immoralist

Michel ist Gelehrter, von Kindesbeinen an beschäftigte er sich mit Büchern, Sprachen, theoretischen Fragen. Die Natur und ihre Laster sind ihm fremd. Seine Frau Marceline heiratet er nur aus Pflichtgefühl gegenüber seinem sterbendem Vater. Die Ehe wird geschlossen, bevor Michel und Marceline einander kennen. Sie begeben sich auf eine Reise in den Süden, nach Italien und Afrika, zu den historischen Stätten, die Michel aufgrund seiner Studien interessieren. Doch die Schonung, die er bislang erfuhr, stattete ihn mit schwacher Gesundheit aus, die sich nicht gegen die Lungenschwindsucht erwehren kann. Tuberkulose war zu jener Zeit des Fin de Siècle keine Seltenheit. Man versuchte sie meist durch milderes Klima zu lindern. Doch der Arzt macht ihnen keine großen Hoffnungen. Michel hustet Blut und kann nicht mehr weiter, muss lange Zeit das Bett hüten, nichts scheint ihn zu kurieren. Marceline kümmert sich aufopferungsvoll um ihn, ohne dass sich sein Zustand bessert.
Eines Tages bringt sie einen kleinen Jungen mit in ihre zeitweilige Unterkunft in Biskra, Algerien. Unbedarft und rücksichtslos fordert der Junge Michel zum Spielen auf. Animiert von der Jugend und Gesundheit rafft er sich auf und tut fortan aktiv alles dafür, um zu gesunden. Er glaubt nicht mehr an die fürsorgliche Behandlung und Schonung durch seine Frau, auch nicht an ihre Gebete; nur er selbst kann sich retten. Darum ordnet er reichliche Mahlzeiten an; er steht auf und bemüht sich um Bewegung; er tritt hinaus ins Sonnenlicht. Tag für Tag gewinnt er an Kraft. Seine Studien und Bücher werden ihm uninteressant, stattdessen möchte er die Kinder und das gemeine Volk beobachten. Er lädt sie zu sich ein, beschenkt sie reichlich. Und dann geschieht jener Moment, in dem Michel im Spiegel mitbekommt, wie eines der Kinder eine Schere einsteckt. Er sagt nichts, er klagt das Kind nicht an. Ganz im Gegenteil spürt er in sich eine Faszination und Aufregung keimen. Der Knabe, Moktir, ist ihm seither am liebsten, und er ist dankbar für die Vollkommenheit seiner glücklichen Tage.

"Nichts behindert das Glück so sehr wie die Erinnerung an das Glück."

"Die schönsten Werke der Menschheit sind unausweichlich voll des Leids. Wie ließe sich das Glück erzählen? Nur was es vorbereitet und was es zerstört, lässt sich berichten."

Seine Genesung gelingt. Da er sich die Reise zutrauen kann und Marceline des Lebens in der Ferne müde ist, machen sie sich auf den Heimweg. Die Krankheit jedoch veränderte Michel. Dass er dem Tod nur knapp entging, flößt ihm einen neuen Blick auf das Leben ein. Der Diebstahl der Schere, die kleinen Lügen der Kinder, das müßige Verstreichen der Tage: etwas unausprechlich Anziehendes liegt für ihn darin.
Noch widmet er sich seinen Verpflichtungen. Er kümmert sich um die Güter, die ihm seine Mutter in der Normandie hinterließ. Dort lernt er Charles, den Sohn eines seiner Pächter, kennen. Wieder ein junger Mann, der ihn in seinen Bann schlägt. Als Marceline schwanger wird, ist Michel zwar voller Zuneigung und Hochgefühl, doch trifft er sich lieber mit Charles.
Im Kolleg wartet eine Arbeit auf ihn, er soll Vorlesungen halten und seine Studien in einem Buch festhalten, daher wohnen sie zwischenzeitlich in Paris. Hatten ihn sonst die Treffen und Gespräche mit seinen Bekannten angestrengt und gelangweilt, werden sie ihm nun zunehmend lästig. Diese Zusammenkünfte schienen ihm früher erschöpfend und sinnlos, sodass er das Gefühl hatte, am Tag nichts geschafft zu haben; nun jedoch erschaffen sie ihm zu viel, widmen sich der Bereicherung des eigenen Selbst und allen sonstigen sinnstiftenden Tätigkeiten. Das alles hat für Michel keinen Wert mehr. Wenn er seine Gedanken zu formulieren versucht, möchte ihm kaum jemand zustimmen, und diejenigen, die ihm zustimmen, haben ihn am wenigsten verstanden. Nur einer unter diesen Intellektuellen, Ménalque, der von den anderen ob seiner Arroganz und Amoral argwöhnisch betrachtet und gemieden wird, scheint ihn zu erkennen und mittlerweile interessanter zu finden als vorher. Ähnlich wie bei der Begegnung mit den Kindern schwingt ein Hauch von Anrüchigkeit in Michels Annäherung mit. Als Ménalque ihn darauf anspricht, dass sich Michel für die jungen Knaben in Algerien mehr begeisterte als für seine Frau, errötet dieser sogar. Womit Michel noch weniger gerechnet hat, ist die Rückkehr der gestohlenen Schere. Ménalque führte in Algerien ein Gespräch mit dem Jungen, der die Schere damals entwendet hat. Tatsächlich hatte dieser Junge gleichfalls gesehen, dass man ihn bei der Tat beobachtete. Diese Tatsache weckte Ménalques Interesse. Er gibt Michel einen Rat: Der Mensch täte gut daran, mit jeglichem Besitz genauso zu verfahren. Je weniger man sich an solche Dinge bindet, desto freier ist man, desto weniger muss man fürchten. Ebenso soll man der Vergangenheit entsagen, denn sie stünde der Zukunft im Weg.
Die letzte Nacht vor seiner Abreise möchte Ménalque gemeinsam mit Michel verbringen. Obwohl es dessen Frau zu dieser Zeit sehr schlecht geht, willigt Michel voller Spannung ein. Kurz darauf hat seine Frau eine Fehlgeburt.

Entsagung und Laster, Überdruss an sinnvollen Beschäftigungen, das Glück in den amoralischen Zügen des Lebens; nach und nach lebt Michel dieses Prinzip. Er legt sich ein paar brachliegende Felder zu, die wenig Ertrag versprechen, und beginnt darauf persönlich zu wildern, zu seinem eigenen Schaden. Er schließt sich lasterhaften jungen Männern an, knüpft neue Bekanntschaften, lässt seine kranke Frau daheim und beachtet sie nur, wenn ihn zeitweilig eine stürmische Zuneigung überkommt. Er lebt verschwenderisch, stattet seine Unterkünfte mit dem teuersten Inventar aus, selbst wenn er schnell weiterzieht. Er gibt Leuten Geld, die gerade nichts tun, denn sie kosten in seinen Augen das Leben aus. Der Gedanke ist ihm unerträglich, dass Menschen zum Leben einer Arbeit nachgehen müssen, die ihnen kein Vergnügen bereitet. Das sei für ihn nichts anderes als Sklaverei. Solche Arbeit könne nur langweilen und ohne Muße entstünden weder Laster noch große Kunst. In jeder Person sieht Michel einen unterdrückten immoralischen Geist.
Marceline nimmt alles duldsam hin und weist ihn nur zurecht: "Verstehst du nicht, dass wir den Menschen zu dem machen, was er nach unserer Meinung ist."

Michel ist nicht zu besänftigen. Seine Güter verkommen, Freunde wenden sich von ihm ab, der Gesundheitszustand seiner Frau wird immer schlimmer, da sie nun ebenso an Schwindsucht erkrankt ist. Für Michel besteht die Lösung darin, seinen Weg in die Vergangenheit zurückzufinden, zum Anfang ihres Glückes, auf den Spuren ihrer ersten Reise. Damit sich Marceline erholen kann, fahren sie zuerst in die Berge, was ihr tatsächlich hilft. Doch kaum ist sie ein wenig kräftiger, treibt Michel die Unternehmung weiter. Im unwirtlichen Winter reisen sie durch Italien. Die Orte ihrer damaligen Erlebnisse sind ein Schatten seiner Erinnerungen. Was er als bezaubernd schön empfand, wirkt auf ihn nun grau und plump. Doch er hört nicht auf, die schönsten Apartments und Häuser zu suchen, sie reichlich auszustaffieren, Geld in Unmengen zum Fenster herauszuwerfen und nach kurzer Zeit doch weiterzureisen. Marceline macht es mit, obwohl sie immer schwächer wird. In den Nächten lässt Michel sie allein, treibt sich stundenlang herum.
Endlich erreichen sie Biskra, wo die größte Niederlage seines einstigen Glückes auf ihn wartet: Die Kinder sind erwachsen geworden. Sie gefallen sich nicht mehr im vergnüglichen Nichtstun. Der eine ist Spüljunge geworden, der andere klopft mühsam Steine, der nächste hat ein Auge verloren, ein anderer säuft, wieder ein anderer ist jetzt Metzger und wird fett, hässlich und reich. Nur Moktir, der Scherendieb, ist sich treu geblieben. Er war im Gefängnis; davor beschäftigte er sich mit dem Nichtstun. Michel findet ihn am schönsten von allen.

An diesem Punkt ist es ihm nicht genug, Michel möchte weiter, angeblich zum Wohle seiner Frau. Es ist, als wollte er Marceline in den Tod treiben. Und dieser Tod ereilt sie schließlich in einer fürchterlichen Unterkunft mitten in der Wüste.
Damit hat Michels Reise ein Ende und er kehrt zurück, in die Arme der nächsten Prostituierten, des nächsten jungen Mannes, der nächsten Suche nach dem Glück.



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