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Heyho, Leute!
 

Eigentlich war Kuriose Merkwürdigkeiten Einer Liebe ja als Oneshot geplant, aber jetzt wird daraus eine ganze Reihe, muahaha.
 

Dies also ist der Prequel, also eine Geschichte vor KMeL. Außerdem ist dieser Oneshot für eine Challenge gedacht. Die letzten Sätze waren vorgegeben, ich hab sie allerdings ein wenig abgewandelt. Und ich hoffe, es gefällt euch^^
 

PS: In Arbeit ist außerdem ein Oneshot aus Andrews Sicht; in Planung einer aus Taylors und Griffins.
 

Liebe Grüße,

bells
 

°°°
 


 

ZURÜCKGEHEN
 

„Ich bin tot“, sage ich, wie um den Klang dieser Worte ganz aufzunehmen. Ich meine, ich hab schon öfter gesagt, dass ich tot bin, ein toter Mann, dass ich die längste Zeit meine Schwester mit dreckigen Socken beworfen habe, dass ich die Karotten bald schon von unten wachsen sehen kann. Wenn ich eine Arbeit vermasselt habe, zum Beispiel. Wenn meine Familie sich zusammengerottet hat, um mich entweder fertigzumachen oder mich an meinem achtzehnten Geburtstag zu Grandma Katie zu bringen.

„Ich bin tot.“ Es ist merkwürdig, tot zu sein. Weil, ich fühle mich immer noch genauso wie vorher, ich sehe, höre, rieche, denke. Fühle. Wie lange bin ich eigentlich schon tot? Habt ihr da ’ne genaue Uhrzeit? Oder gibt es überhaupt so etwas wie Zeit, wenn man schon längst körperlos sein sollte? Mein Vater redet gerne mit mir über solchen Stuss. Aber meistens zumindest lässt er das an Mom aus. Es gibt vermutlich nur einen Grund dafür, dass die Ehe zwischen den beiden noch läuft, und das ist ihr Drang, zu diskutieren. Aber hier habe ich niemanden zum Diskutieren. Ich bin tot.

Bin ich jetzt körperlos? Ich… atme.
 

„Hallo, du da!“ Ein schönes, rothaariges Mädchen kommt von… irgendwo her, und die Welt nach dem Tod verändert sich. Plötzlich. Und leise. Ganz leise.

„Ähm… hey“, mache ich und komme mir dabei unheimlich blöd vor. Ist es möglich, als zwanzigjähriger Toter immer noch bei tollen Frauen zu stottern und sich dabei vorzustellen, Sex mit ihnen zu haben? Willkommen bei den Toten.

Langsam ist die Veränderung sichtbar und jetzt kann ich den Ort beschreiben, an dem ich bin. Es ist eine Waldlichtung mit dem Geruch von Moos, der grünen Sonne und leisem Vogelgezwitscher, während das Gewitter ganz weit hinten grollt wie ein gemächlicher Bär.

„Du bist?“, fragt sie und ihr Lächeln ist bernsteinfarben und schmeckt wie süßer Ahornsirup. Es tropft von ihren Lippen auf den grünen Boden und sickert dort ein. Ich frage mich, ob der Waldboden süß schmeckt.

„Jeffrey“, sage ich. „Freut mich, dich kennenzulernen, …“

„Nenn mich Ari.“ Ihre Augen sind ganz hell, während sie einige Schritte auf mich zugeht und dann mit ihren Händen meine umfasst. „Ich weiß zwar noch nicht, wieso, aber ich denke, ich habe dich irgendwann mal gekannt.“

Ich bewege mich nicht. Aber ich frage mich, wieso ich mich so menschlich fühle, wenn ich tot und zufrieden auf die Himmelspforten zulaufen sollte.

„Mach dir keine Sorgen, Jeffs“, sagt sie und nimmt den Namen, den sonst nur meine Schwester benutzt. Ich weiß zwar nicht, wer sie ist, aber ich weiß ganz sicher, dass das Absicht ist.

„Warum bin ich nicht im Himmel? Oder in der Hölle? Oder im Körper eines Eichhörnchens, ist mir egal. Und warum fühle ich mich so lebendig, obwohl ich ziemlich sicher weiß, dass ich tot bin?“

Du bist tot. Sie glättet den Kragen meines Hemdes und lächelt leise. Du bist tot, Jeffrey.

„Ich weiß“, antworte ich auf ihre Gedanken. Ich bin tot. Ich kann ihre Gedanken sehen. Und ich bin mir sicher, dass sie meine sehen kann. Sehen, hören, riechen, fühlen, schmecken kann.

„Das Dasein eines Menschen nach dem Sterben seines Körpers ist merkwürdig. Und es kennt keine Regeln. Stell dir alle Religionen der Welt vor, Jeffs, alle, die du kennst und alle, die du dir nicht einmal im Traum vorstellen könntest, vermische sie und potenziere diesen Wahnsinn mit deinem Geburtsjahr – und du hast die ungefähre Vorstellung, wie der Tod ist. Das Weitergehen. Das Danach.“ Sie zuckt nonchalant mit den Schultern. Als wäre es nichts. Als wäre ich nicht verdammt noch mal tot. „Jedenfalls… ich weiß natürlich auch nicht alles. Ich bin nur hier und manchmal bin ich auch bei meinen toten Eltern oder bei meinem toten Verlobten, der mich umbringen wollte, und so weiter. Es gibt hier keine Regeln.“ Sie stoppt kurz. Die Irritation rasselt in ihrer Stimme: „Ich soll dir nur erklären, wie du zurückgehen kannst.“

Ich sehe sie ratlos an.

„Normalerweise bleibt man oder man geht weiter. Ich musste bisher noch niemanden zurückschicken.“

„Heißt das“, ich habe Kopfschmerzen von diesem ganzen verrückten kranken Scheiß, „dass ich… ähm… mich entsterbe?“

Ari spielt mit ihren Händen. „Ich weiß es nicht, Jeffs. Ich habe keine Ahnung.“

Und mit diesen Worten und einem leichten Schwenken ihres Kopfes fühle ich ein Ziehen wie ein starkes Gewicht an mir. In meinem Bauch. Überall. Es tut weh.
 

Mehr weh als der Tod.
 

--
 

Was kommt jetzt? Könnt ihr mir da vielleicht helfen? Ich mein, das ist krank. Ich bin tot und jetzt bin ich… halbtot oder ganztot und wandle trotzdem wieder auf Erden und – Gott des Wahnsinns – das ist mir echt zu viel. So viel kann ein einziger Kerl echt nicht aushalten. Nicht an einem Tag. Oder wie viel auch immer.
 

Die Sonne geht gerade unter, während ich durch unbekannte Straßen wandere. Soweit ich weiß, bin ich noch in meiner Heimatstadt, allerdings in einem der äußeren Bezirke, die man zwar mit der Bahn in einer halben Stunde erreicht, vor denen alle in der Schule einen aber gewarnt haben. Selbst die oberkrassesten Ghetto-Kiddies haben sich selten hierhin getraut. Ich weiß echt nicht, was ich hier soll.
 

Ich mein, was bedeutet dieser ganze gequirlte Mist überhaupt? Ich bin tot, verdammt noch mal, also will ich auch mit dem gebührenden Respekt, den ein Toter verdient hat, behandelt werden, aber die Leute, die mir entgegenkommen, kennen mich natürlich nicht, und vielleicht bin ich auch ganz froh darüber. Nicht, dass ich ’ne Lusche wäre, aber-…

Gut, okay. Ich geb’s zu. Ich war in meinem Leben erst einmal mutig und danach hab ich es bereut bis in den… nein. Bis in den Tod zu bereuen, ist die schlechtes Formulierung, um dieses Desaster zu schreiben. Aber ihr wisst schließlich, was ich meine.

Als ich weiter den fremden Straßenschildern folge, komme ich irgendwann an eine Bushaltestelle. Mit einer Buslinie, die ich kenne. Sie fährt direkt zwei Straßen vor unsere Haustür und Mom benutzt die Linie jeden Donnerstagabend, um zu ihrem Kochkurs zu fahren und dort ordentlich kochen zu lernen. Im Bushäuschen sitzt jemand, mit Kapuzenjacke und der Wenn-du-mich-auch-nur-anschaust-wirst-du-Berührung-mit-dem-Messer-machen-das-ich-einem-Ex-Guantanamo-Häftling-abgekauft-habe-Haltung, bei der ich normalerweise, mir halb in die Hose pissend, das Weite suche, bevor ich gekillt werde. Aber hey – ich bin tot, ich sollte aufhören, mir weitere Gedanken zu machen. Ich schaue auf den Busplan. Der Bus kommt alle zwanzig Minuten und natürlich weiß ich nicht, wie viel Uhr es ist. Ich drehe mich gedanklich zu dem Typen um und will ihn nach der Uhrzeit fragen, bis mir einfällt, dass ich ja auch noch Geld brauche, um nach Hause zu gelangen.

Dann drehe ich mich wirklich um und räuspere mich: „Ähm-… hey.“

Mein zivilisiertes Gegenüber grunzt zur Begrüßung. Aber gut, bisher hab ich zumindest keine Messer blitzen sehen. Ist doch supi, was?

„Ähm-… also… hast du, äh, hast du Geld?“ Der Typ hebt seinen Kopf, aber ich kann sein Gesicht immer noch nicht sehen, weil mich die blutrote Sonne blendet. Hoffentlich bleibt die Sonne das einzig rote hier. „Also, ich meine, ich bin kein Schnorrer und du musst natürlich nicht, ich zahl’s dir auch zurück, ganz sicher, meine Mutter ist reich, na ja, mein Vater nicht, aber dafür ist er ganz intelligent eigentlich, und meine Schwester ist hübsch, ja, ich könnte ein Date mit ihr besorgen, nicht, dass du’s nötig hast, aber…“, blubbere ich.

„Halt’s Maul“, murrt der Typ nur. „Ist ja echt zum Kotzen.“

„Ich weiß.“ Nur noch diese beiden Wörter fallen aus meinem Mund, klingen leise auf dem Boden nach und rollen dann auf die Straße, bis ein Laster sie überfährt. „Aber jetzt ehrlich mal: Ich muss den Bus bekommen. Es-… ist wirklich wichtig.“

Er zuckt mit den Schultern und irgendwie sieht er in einem kurzen Moment fast so aus wie Ari, als sie mir gesagt hat, sie wisse nicht, was mich hier unten wieder erwartet. Hier oben. Keine Ahnung, wo ihre Waldlichtung gelegen ist. „Kann ja sein, Kumpel, aber falls du es noch nicht bemerkt haben solltest: Diese Bushaltestelle wird nicht mehr befahren.“

„Und was machst du dann hier?“

„Sitzen.“

Aha. Mann, der Junge ist vielleicht spritzig.

„Wohnst du hier?“

„An der Bushaltestelle? Nein.“ Gelangweilt.

Wenn ich nicht immer noch Angst vor ihm hätte, würde ich die Augen verdrehen. „Wo wohnst du dann?“

„Hier.“

„Hier?“, echoe ich dumpf.

„In diesem gottverdammten Scheißviertel, genau. Hier.“

„Na ja – weil, ich müsste auch mal auf Klo.“ Ich räuspere mich.

Er steht auf und schiebt die Kapuze runter, damit ich seinen genervten Gesichtsausdruck sehen kann. „Du bist ’n Loser, was?“

Ich zucke mit den Schultern: „Jepp.“

Für einen Augenblick verändert sich die Härte in seinen Augen. Es ist. Mitleid.

Ich hasse Mitleid.
 

Ich wünschte, ich wäre wieder tot.
 

--
 

Als er die Tür aufschließt, wabert zuerst der aufgestaute Alkoholgeruch eines Abhängigen um meine Beine, in mein Gesicht. Ich verziehe nicht den Mund, aber es ist schwierig, alte Gewohnheiten abzulegen. Ich bin ein Snob-Loser. Das ist hart. Der Typ, dessen Namen ich immer noch nicht kenne, weist nachlässig mit seiner Hand nach rechts und sagt: „Da, wo’s am meisten stinkt, ist’s Klo.“

Ich antworte lieber nicht. Und ich frage mich, wer schlimmer dran ist. Ich oder er.
 

Fünf Minuten später sind wir beide, so unterschiedlich wie wir sind, in seiner Küche, er an die Küchentheke gelehnt, ich am kleinen Tisch sitzend. Vor mir steht eine Dose Noname-Cola.

Er fragt nicht ‚Wie heißt du?’, weil es ihn nicht interessiert. Er kann mich schon jetzt nicht leiden, weil ich ihn gezwungen habe, wieder hierherzukommen, obwohl er zu Hause offensichtlich hasst, er kann mich nicht ausstehen, weil er weiß, wir sind beide Versager, weil ich ihn an ihn selbst erinnere. Wir sind uns absolut unähnlich, aber irgendwie konnte er mich nicht da stehen lassen und ich kann ihn auch nicht in Ruhe lassen, obwohl ich das tun sollte. Es tut nicht gut, seine eigenen Fehler vor Augen zu sehen, und es ist furchtbar anstrengend, wenn man weiß, dass man nichts mehr ändern kann. Ari hat zwar nichts gesagt, aber ich weiß relativ sicher, dass ich immer noch tot bin. Nicht im Zombie-Sinn, aber trotzdem. Ich bleibe nicht für immer hier. Und ich werde nicht meine Familie suchen. Es würde ihnen nur wehtun, wenn ich auftauchen und dann wieder verschwinden würde. Ihm nicht.

Weil wir uns hassen.

Weil wir uns ähneln.

Zu sehr.
 

„Jeffrey“, sage ich. In die stickige Sommerluft.

„Interessiert mich ’n Dreck.“ Das weiß ich doch. Dann: „Was machst du hier, Jeffrey? Warum streunerst du in dieser gottverdammten Gegend rum und hast nicht mal Geld dabei? Scheiße, mit deinen Klamotten könnte ich die Miete für diesen Monat bezahlen.“

Ohne Grund. „Ich denke, ich musste dich finden.“ Ganz ohne Grund. „Damit du nicht stirbst, ohne gelebt zu haben.“ Von irgendwoher kommt dieser Gedanke, von ganz nah und weit fern. Das ist es. Es wäre übertrieben, würde ich behaupten, meine Leben wäre beschissen gelaufen – mein Leben war in Ordnung. Vollkommen. Ich hatte – habe – eine superkranke, supermerkwürdige, lustige Familie, ich hatte eine Freundin, die mit mir Schluss gemacht hat, um sich an meinen besten Kumpel ranzumachen, und ich hatte – habe – einen besten Kumpel, der sich ’n Dreck um besagte Ex-Freundin gekümmert hat und sich stattdessen mit mir zweitklassige Horrorstreifen reingezogen hat. Aber ich war trotzdem ein Loser. Und ich denke, wenn ich ihm helfe, herauszufinden, warum er einer ist, wird es mir helfen, in den Tod zu gehen, und sagen zu können: Ich bin tot. Ich bin okay. Ich bin ein Loser. Der anderen Losern hilft. Ich bin zufrieden.

Sein Gesicht fällt in sich zusammen. Und gerade, als er sich fast soweit gesammelt hat, dass ich meinen Blick von der Getränkedose lösen kann, kreischt eine hohe Stimme: „G’finn! Finn! Komm ma’ häää’!“ Eine Frau Anfang vierzig torkelt in die Küche, wirbelt eine unkoordinierte Pirouette und landet dann in Finns Armen. Sie beginnt hysterisch zu lachen und sabbert sein Shirt voll. „Mom…“, sagt er leise, „Mom, geh wieder ins Bett.“ Sie nickt wie wild und lächelt ihn schmerzhaft zufrieden an. Dann nuschelt sie irgendetwas Unverständliches und Finn seufzt tief und bringt sie zurück in ihr Zimmer.

Als er zurückkehrt, ist die grimmige Drohung, die immer in der Luft um ihn herum ist, verschwunden. Das ist grausam.

„Sie versucht es. Jedes verdammt Jahr an Weihnachten verschwindet sie in ’ne Entzugsklinik und kommt dann trocken wieder und nachdem Dad wieder mal angerufen hat, fängt sie an, sich zu besaufen.“ Er versucht, seine Mutter zu entschuldigen.

„Wie alt bist du, Finn?“

Zuerst sieht er mich erstaunt an, aber dann glättet sich seine Stirn: „Sechzehn.“

Er sieht älter aus. Er ist es vermutlich auch. Vermutlich. Ich kann so was nicht einschätzen.

Ich zucke mit den Schultern: „Hast du schon mal überlegt, auszuziehen?“

Sein Blick verhärtet sich. „Niemals.“

„Vielleicht schafft sie’s mal richtig, wenn nicht immer wieder jemand da ist, der ihr hilft, wenn sie besoffen ist.“ Ich spucke die Worte abfällig aus, so abfällig, wie sie sein sollen. Es ist ein Teil meiner eigenen Meinung und ein Teil dessen, was ich tun muss, um ihm Leben einzuhauchen.

„Nein“, sagt er. Nein. Es klingt wie eine Steinmauer. Sie ist unüberwindbar. Aber ich war im Klettern schon immer gut.

„Aber“, ich setze an und hör sofort auf. Es gibt viele Einwände. Ich habe sie alle. Aber es bringt nichts, wenn er sie sich anhört und denkt, was für ein Wichser ich bin. Vielleicht bringt’s was, dass ich sage, er kann etwas verändern. Vielleicht nicht. Und dann ist es auch egal.
 

Ich weiß nicht, wie viel Zeit vergeht. Es ist viel. Wenig. Und immer mehr. Aber der Himmel dunkelt sich und über uns legt sich die dreckige Sternendecke mit ihrem nachtschwarzen Schweigen.
 

Dann. Das Telefon klingelt im Wohnzimmer. Als er ansetzt. Er lässt es klingeln. „Ich würde gerne-…“ Es klingelt weiter. Penetrant. Marias Gesicht erscheint vor meinem inneren Auge. „Ich würde gerne in ein anderes Viertel ziehen. Neu anfangen. In meiner Schule sind sie alle so normal und spießig und normal und einfach und normal. Es geht mir-… gar nicht darum… Mom im Stich zu lassen. Ich will bei ihr bleiben und auf sie aufpassen. Aber ich möchte auch hier weg. Das ist alles so scheiße.“

Das ist gut. Ein Weg. Ein Anfang.

Als das Telefon nicht aufhört zu nerven, stöhnt Finn und geht ans Telefon. „Wer?“, blafft er genervt.

Eine weibliche Stimme schwirrt über den Hörer in das Zimmer und setzt sich sanft ab. Es klingt vertraut und weich. Durch die Telefonleitung.

„Ja. Ich-… tut mir leid.“ Finns ganzer Körper entspannt sich, während die andere Stimme mit ihm redet. Ich setze mich auf die Couch im Wohnzimmer und beobachte ihn. Ich bin ein Losertyp, der sich so oft verknallt, wie Ebbe und Flut kommen. Finn scheint einer der Leute zu sein, die lieber niemanden an sich ranlassen, obwohl sich tief in ihnen ganz schön viel sexueller Frust aufbaut. Hey – nicht, dass Mädchen nur dafür gut sind. Aber eben auch. Sex ist Sex und Jungs sind Jungs. Loser mit eingeschlossen.

„Ria, ich…“, setzt Finn an und ich erstarre. „Ria??“, rufe ich aufgebracht und springe auf. Finn sieht mich irritiert an. Rias Stimme – ich erkenne sie. Die Stimme meiner Schwester. Ich vermisse sie.

Finn weiß nicht, was hier gerade passiert, aber automatisch stellt er das Telefon auf Lautsprecher und Rias Stimme erfüllt den ganzen Raum. Das polternde Echo sickert in mein totes Herz. „Jeffs? Jeffs? Bist du das?“ Sie schluchzt, ganz leise. Ich weiß, sie hält sich die Hand vor den Mund, um nicht die Fassung zu verlieren. Sie weint. Meinetwegen.

„Ich…“ Ein Flüstern. Sie hört es nicht. Hoffentlich.

„Griffin?“ Ihre Stimme. Und darin ist ein merkwürdiges Gefühl, keine Liebe, noch nicht. Abscheu, schon. Zuneigung.

„Was ist, Ria?“

„I-ist Jeffrey bei dir?“

Ich forme ein Nein und nicke mit dem Kopf, ich weiß alles und nichts und zu viel und mein Kopf pocht.

„Ria, beruhige dich und-“

„Halt den Mund!“, fährt sie Finn an. Sie verstummt, als wäre sie sich der Schärfe in ihrem Ton bewusst geworden. „Entschuldige. Ich… komm vorbei. In einer halben Stunde bin ich da.“

„Nein!“, sage ich, aber da füllt schon das Freizeichen die schreckliche Stille zwischen Finn und mir. Jeffrey. Der Tote.
 

--
 

„Du heißt also Griffin?“

„Ja.“ Er sieht mich prüfend an. „Das Mädchen am Telefon. Ihr Bruder ist vor zwei Monat gestorben. Unfall. Ein betrunkener Wichser hat ihn von ’ner Brücke gestoßen.“ Er verzieht das Gesicht zu einem bitteren Grinsen. „Er ist geflogen, bevor er gestorben ist.“ Dann: „Er hieß Jeffrey.“

„Was für ein merkwürdiger Zufall“, sage ich, ohne die Miene zu verziehen. Und kurz darauf: „Ich muss gehen, Finn. Ich-… du schaffst das alles. Und diese Ria scheint nett zu sein. Ist sie hübsch?“

Finns Blick ist spöttisch. Als wisse er mehr als ich. „Sie hat die gleichen Augen wie du, Jeffrey. Die gleichen grünen Augen wie ihr Bruder.“

Ich mache den Mund auf, um zu protestieren, aber er fährt fort: „Ich hab keine Ahnung, was das alles bedeuten soll, aber ich möchte nicht, dass du Ria traurig machst. Sie war das unglücklichste Mädchen, das ich kannte, als ich sie kennengelernt habe.“

„Und du machst sie wieder glücklich, was?“

Finn grinst. „’Türlich, Alter.“

Ich stehe auf, werfe ihm einen letzten Blick zu und sage: „Pass auf dich auf, Finn.“

„Volltrottel“, gibt er zurück und er hält mich nicht auf, als ich diese merkwürdige, stickige Wohnung verlasse, um vor meiner Schwester wegzurennen.
 

--
 

Die Nacht ist klar, stadtklar, ohne Sterne. Man fühlt sich unsichtbar, in dieser Nacht. Das ist das beste, was mir heute passieren kann.

Ich weiß nicht, was ich hier machen soll. Vielleicht muss ich ja mit Ria reden, um wieder zu den Toten zu kommen, oder vielleicht bin ich hier in einem Paralleluniversum und ich denke nur, dass ich nicht tot bin, aber ich bin schon tot und bin nur ein bisschen psychisch labil und komm nicht klar. Vielleicht.

Aber in diesem Vielleicht habe ich zumindest Finn ein wenig geholfen. Ich bin mir fast sicher, dass Ria auch mit ihm irgendwann darüber geredet hätte – aber je früher, desto besser. Außerdem ist Ria ein hübsches, warum-auch-immer-beliebtes Mädchen – und ich bin ein Loser, genauso wie Finn. Finn ist zwar ein beängstigender Loser, aber dennoch. Ich grinse in mich hinein.
 

„Jeffrey!“ Ria weint, während sie mich ruft. Ich war zu langsam. Sie rennt auf mich zu und ich will sie umarmen und sie festhalten und ihren Geruch einatmen und mit ihr reden. Wie sehr sie mich immer genervt hat und wie dumm sie ist und wie hirnrissig, sich mit so einem wie Finn einlassen zu wollen. Ich möchte ihr sagen, wie sehr ich sie lieb habe.
 

Und dann. Ich fühle mich leicht. Ganz einfach. Als ich zurückgekehrt bin, war es gewaltsam, um Finn zu helfen, vielleicht, um ihr zu helfen, meiner süßen kleinen Schwester. Aber jetzt. Ich muss gehen. Und es tut mir so weh. Ich hätte mehr aufpassen sollen.
 

„Jeffrey! Bitte! Ich – ich vermisse dich. Mom und Dad vermissen dich! Ich liebe dich, Jeffs, bitte, komm zurück!“ Sie schluchzt unkontrolliert und ihre Stimme klammert sich an mich. Verzweifelt.
 

Irgendwo hinten sehe ich Finns Schritte, schnell und hastig. Er will bei Ria sein. Er will ihr helfen. Er wird ihr helfen.
 

Ich wende mich um und kehre dorthin zurück, wo Ari mich schon erwartet. Vielleicht. Wartet. Ich weiß es nicht.

Ich kann nicht ändern, was geschehen ist.

Sie wird sich damit abfinden. Sie alle werden.
 

Leben.

Ich bin tot.
 

Ari wartet.



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  PenAmour
2010-03-28T17:42:23+00:00 28.03.2010 19:42
So bin ich nun zum nächsten Kapitel geschritten und erneut sprachlos begeistert. Ja so kann man es vielleicht nennen. Erst mal finde ich Jeffrey sehr sympathisch, leider ist er tot ;), zweitens hast du ja einen feien Twist eingebaut - wie sollte man da aufhören wollen zu lesen.
Drittens gefällt mir der Stil, die Form und die Geschichte immer noch.
Apropros drittens, das Kapitel wartet jetzt auf mich..
Bis dahin
PenAmour
Von:  Number42
2009-07-02T19:56:19+00:00 02.07.2009 21:56
wow, echt hammer, ich bin total sprachlos, das war einfach total hammer
dein schreibstil beeindruckt mich auch immer wieder, einfach hammer


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