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Das fehlende Teil

Deutschland ist seit so langer Zeit nicht ganz.
von

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Ein neuer Wind weht durch das Land

A/N Ludwigs PoV.
 

Ein neuer Wind weht durch mein Land.
 

Auf meine Geschichte zurückblickend muss ich sagen, dass ich mich ziemlich verändert habe.

Meine Geschichte ist geprägt von Stolz und Eigensinn - zwei Eigenschaften, die ich von ihm gelernt habe. Die ich an mir schätze, gerade weil ich sie von ihm gelernt habe. Obwohl sie schon so viel Schlechtes angerichtet haben.

Ein gewisses Gefühl von Überlegenheit gab mir vermeintlich das Recht, über andere Völker zu bestimmen.

Blut floss in Strömen. Frauen schrieen, Kinder weinten, Männer fielen.

All dies aus einem Bestreben heraus, das idealistischer und chauvinistischer und dümmer nicht hätte sein können.

Idealismus hat uns beide schon immer geprägt. Doch mit seinen Ideen kamen diese Ansprüche, die mich und unser Land in den Ruin trieben...

... und ihn in den Tod.

Eigentlich sind kleine Kinder doch immer so. Glauben an das unendlich Gute, meinen, ihre Meinung sei die einzig Richtige - und sind dabei wirklich dumm. Warum finden Menschen Kinder dann süß und hassen... uns?
 

Er war wie ein kleines Kind in einem Körper eines Erwachsenen. Und doch war er anmutig und voller Stolz, wenn er nicht daran dachte, Eindruck schinden zu müssen. Wenn er selbstvergessen auf unserem Schiff stand, das neueste der Flotte, mit der wir seiner Meinung nach die englische versenken könnten (welch ein Fehler). Das Haar wehte ihm ins Gesicht, doch das machte nichts. Normalerweise sieht man fern zum Horizont, wo nichts anderes zu sehen ist als das weite Meer.

Er war anders.

Voller Stolz blickte er zurück auf die Küste. Auf unser Land. Das Deutsche Reich.
 

Das war kurz vor der ersten Katastrophe.
 

Trotz Hunger und anderer Strapazen überlebten wir diese.

Doch er wollte wieder mehr, er brauchte wieder mehr - und weil er es wollte, wollte ich es auch.

Schließlich war es für unser Wohl. Denn was scherte es uns, wie es anderen ging, solange wir beide zusammen waren? Nur uns sollte es gut gehen, wir interessierten uns nicht für die anderen. Ich wollte nur ihn.

Und er wollte die Welt. Ich weiß bis heute nicht, wieso. Wenn wir gemeinsam unsere Pläne schmiedeten, glühten seine Augen vor Begeisterung.

Und wenn er dachte, dass ich wegsah, sah er mich mit diesem Blick an, der besagte, dass alles klappen würde. Dass alles gut gehen würde, dass wir zusammenbleiben würden, für immer, in einem wunderschönen Reich, das er speziell für uns... für mich... erschaffen würde.

Ich ließ mich mitreißen, nein, ich selbst war genauso eine treibende Kraft in unserem Amoklauf wie er, wünschte seine Wünsche freiwillig.

Ich wollte der perfekte kleine Bruder für den perfekten großen Bruder sein.
 

Seite an Seite mordeten, plünderten, verwüsteten wir, ohne Sinn und Verstand, nur uns selbst im Kopf, nur unsere schöne, gemeinsame Zukunft.

Sein Lachen klingt mir bis heute in meinen Ohren.

„Das größte, beste und tollste Land der Welt, kleiner Bruder, unter DEINEM Namen! Nur du verdienst das, und ich werde dafür kämpfen.“
 

Er war einfach alles für mich.

Als wir nebeneinander schwerverletzt auf dem Schlachtfeld lagen, hielt er meine Hand ganz fest. Seine Augen loderten noch immer, sagten mir, wir schaffen das trotzdem, obwohl England, Frankreich, Amerika und Russland um uns herum standen. Es war ihm egal. Es war ein intimer Moment zwischen ihm und mir, und er hielt meine Hand, in der ich kein Gefühl mehr hatte, so sehr fest. Ich sah es daran, wie seine Knöchel weiß wurden. Ich starrte nur seine Hand an, denn das Blut in seinem Gesicht konnte ich nicht verkraften.

Ich konnte es nicht verkraften, dass er sich keiner Schuld bewusst war, während mir schlagartig klar wurde, was wir angerichtet hatten.

Ich konnte es nicht verkraften, die Konsequenzen bereits zu kennen.
 

Zwei Jahre später verschwand er.

In diesen zwei Jahren schmiedete er natürlich wieder Pläne, fieberhaft, wie im Wahn.

Er wusste, was auf ihn zukam.
 

Jetzt ist er seit 63 Jahren weg.

Und ich bin allein.
 

Die anderen sind nett zu mir, und ich weiß, was er und ich getan haben, ich weiß, dass er niemals einsichtig war, ich weiß, dass er schlichtweg böse ist.
 

Sein ehrlicher Stolz und seine ehrliche Liebe zu unserem Land. Nie habe ich ein reineres Gefühl miterlebt.

Sein ehrlicher Stolz und seine ehrliche Liebe zu mir. Nie habe ich ein reineres Gefühl erfahren.
 

Ich bin nicht ganz.
 

Ein neuer Wind weht durch mein Land.
 

Wenn ich auf die Straßen sehe, sehe ich Leute aus aller Herren Länder. Es gibt viele Probleme, doch auch viele positive Erlebnisse. Hand in Hand leben sie hier in unse...- in meinem Land. Ganz anders als früher. Wahrscheinlich besser.

Ich wandere durch die Städte und beobachte das Geschehen. Vieles könnte besser laufen, vieles aber klappt ganz gut.
 

Doch manchmal frage ich mich: Warum habe ich mich so verändert?

Mir macht es nichts aus, wenn hier so viele Ausländer Fuß fassen, im Gegenteil, ich weiß, dass ich der Welt etwas schuldig bin, ich weiß, dass gerade ich dies zu akzeptieren habe.

Und ich würde es liebend gern akzeptieren.

Wenn es nicht eine Sache gäbe: Warum ist niemand mehr stolz darauf, ein Deutscher zu sein?

Nur alle vier Jahre weht meine Flagge, nur alle vier Jahre singt mein Volk lauthals von Einigkeit und Recht und Freiheit.

Wieso? Was ist so furchtbar schief gelaufen?

Wir sind ein großes Land, nicht mehr so chauvinistisch und dumm. Ich habe mich weiterentwickelt. Ich bin ein gutes Land.

Und doch fehlt mir etwas: Mir fehlt das Feuer, das in seinen Augen loderte.

Die Energie, die Vitalität, mein Idealismus. Unser Idealismus.

Wo ist meine Philosophie hin, mein Durchsetzungsvermögen, meine Lebenseinstellung?

Sie geht in Marketing-Produkten wie dem Oktoberfest unter.

Mir fehlt das alles. Ich will wieder sein, wie ich einmal war. Ohne die Kriege, ohne das Überlegenheitsgefühl, ohne all die Pläne.

Einfach nur deutsch.
 

Ich bin nicht ganz.
 

Ein neuer Wind weht durch mein Land.
 

Vermummte Gestalten mit schwarzen und weißen Spraydosen tauchen auf einmal überall auf.

Mein Volk merkt, dass etwas nicht mit mir stimmt.

Sie machen es an der Einwanderungsquote fest, an angeblicher Nicht-Integration, es kommt zu Übergriffen. Zu Demonstrationen.

Mit Sprüchen, die mich erinnern, so sehr erinnern, an die alte Tatkraft, die aber doch falsch sind, so verlockend sie auch klingen.
 

Die vermummten Gestalten fangen ihr Graffiti an.

Ich beginne, an mir selbst zu zweifeln. Wozu hat er mir ein Land gegeben, wenn ich nicht darauf stolz bin?

Mein Volk ist untereinander zerstritten, es gibt kein Zusammengehörigkeitsgefühl. Sie sind nicht mehr stolz darauf, deutsch zu sein. Sie würden sich schämen, wenn sie es wären, denn dann wären sie so wie er.

Ach, wenn die Leute nur sehen würden, dass er nicht nur diese Seite hatte!
 

Die vermummten Gestalten sprühen seine Flagge an die Wand.
 

Und auf einmal merke ich -
 

Ein neuer Wind weht durch mein Land.
 

Was mein Land braucht, ist -
 

Ein neuer Wind weht durch mein Land.
 

Die Inkarnation eines Landes ist nur die gebündelte Gedankenmasse seines Volkes -
 

Ein neuer Wind weht durch mein Land.
 

Und mein Volk denkt in seiner Verlorenheit an -
 

Ein neuer Wind, ein alter Wind weht durch mein Land.
 

Und er riecht nach Preußen.

Niemals alleine

„Soo, wir kommen zu den Tagespunkten! Erstens: Ein Hamburgerfrühstück, im Flugzeug hierher gab es nur so widerliches Grünzeug. Zweitens: ... aaah!“

Alfred fielen seine Notizen aus der Hand, als Arthur aufstand und den stehenden selbsternannten Helden an seinem Ohr wieder in eine sitzende Position zog.

„Du bist hier nicht der Boss, wie oft soll ich dir das noch sagen?!“

Alle waren es gewohnt, dass die beiden sich stritten, es war normal.

„Also, warum wir heute zusammengekommen, ist“, führte England in deutlich gemäßigterem Ton fort, während sich Amerika das rot angeschwollene Ohr hielt, „unser alljährliches Treffen hier in Deutschland. Also...“

Er sah in die Runde und anscheinend interessierte sich niemand für das, was er sagte. Alfred starrte ihn wütend mit Tränen in den Augen an, Feliciano aß Pasta, Ivan erzählte Francis etwas, woraufhin dieser mit einem ein wenig verängstigten Gesichtsausdruck seinen Stuhl etwas von dem Russen wegschob (während dieser vergnügt vor sich hin grinste) und Matthew sprach mit Kiku über den Winter in Kanada und den in Japan.

Ludwig hörte dem Treiben nur mit halbem Ohr zu; vielmehr hing er seinen Gedanken nach, die schon schon seit einiger Zeit heimsuchten.
 

Überall, wohin er ging, verfolgten ihn die Farben Schwarz und Weiß. Dieses Graffiti, was er vor einigen Wochen gesehen hatte, ging ihm nicht mehr aus dem Kopf.

Es kam wieder in Mode, sich seinen Wurzeln bewusst zu werden; etwas, was er sich schon länger erhofft hatte, denn schließlich wollte er, dass sein Volk stolz auf sein Land sei.

Doch damit kamen wieder alte Feiertage ins Gespräch; kleine Gruppen feierten auf einmal wieder den Sedantag oder Kaisers Geburtstag. Buttons mit den preußischen Nationalfarben wurden produziert, man besann sich auf die alte Geschichte.

Jedes Mal, wenn er davon etwas mitbekam, war es wie ein Stich in seinem Herzen.
 

„Bruder, deine Flagge ist langweilig.“

Der kleine Ludwig saß auf dem Schreibtisch seines großen Bruders und wickelte die Fahne, die neben ihm herunterhing, gedankenverloren um seinen Arm.

Gilbert drehte sich von seinem Kleiderschrank zu dem kleinen Blonden herum. „Wie bitte?!“

Ungerührt nestelte Ludwig weiter an der Fahne herum. „Der Adler ist hässlich und es gibt keine Farben. Einfach nur schwarz-weiß, wie traurig.“

Der Erwachsene zog sich seinen Mantel an und setzte sich seinen Hut auf. „Als ob ein solcher Dreikäsehoch wie du eine Ahnung davon hätte...“, sagte er nur angesäuert. Er holte sich sein Schwert und befestigte es an seinem Gürtel.

„Ziehst du wieder in den Krieg, Bruder?“ Erst jetzt fiel dem Kleinen auf, dass sein Bruder in seine Kampfuniform trug - anders als seine Flagge war diese auffällig, blau und rot.

Ludwig wurde traurig. Wieder würde er seinen Bruder ewig nicht sehen können - ohne ihn war es zu Hause so langweilig. Zwar war Gilbert sehr streng zu ihm und manchmal auch gemein, aber... er war sein Bruder.

„Ein Mann weint nicht“, sagte der Preuße nur trocken, als er merkte, dass sein kleiner Bruder Tränen in den Augen hatte. Doch dann ging er in die Hocke und murmelte etwas leiser: „Du weißt doch, dass ich dir jeden Tag schreiben werde.“

Sofort hellte sich Ludwigs Miene auf. „Versprochen?“

„Natürlich. Ich halte doch immer mein Wort.“

Plötzlich kam dem Kind ein Gedanke. Er musste schlucken. Schließlich durfte er nicht weinen. Aber fragen musste er trotzdem. „Und... und kommst du wieder gesund nach Hause? Du... Du darfst mich nämlich nicht alleine lassen!“

Beleidigt sah er mit an, wie sein Bruder einen Lachanfall bekam.

„Kesesese... Ach Ludwig“, keuchte er, ein wenig außer Atem vor Lachen, und auf einmal wurde sein Grinsen unerwartet und ungewohnt sanft, „du weißt doch, dass ich dich niemals alleine lassen werde.“

„Niemals?“ Große, feuchte, blaue Augen sahen nach oben, als Gilbert wieder aufrecht stand und seinen kleinen Bruder betrachtete, auf den er so stolz war.

„Nicht in einer Million Jahren!“

Seitdem war die preußische Flagge schön in Ludwigs Augen. Die schönste Flagge der Welt. Denn wenn er sie im Wind wehen sah, hieß es, dass sein geliebter Bruder mit einem Siegergrinsen wieder nach Hause kam.
 

„Und doch hast du mich allein gelassen...“

„Hmmm? Hast du gesagt, du willst auch was?“ Mit strahlenden Augen hielt Feliciano Ludwig seinen Teller hin. „Hier, du kannst ein paar Gabeln davon essen, wenn du magst!“

Der Deutsche beachtete das Angebot nicht. Er stand auf und nahm sich seine Jacke.

„Mir geht es heute nicht gut, besprecht eure Sachen ohne mich weiter, ich gehe nach Hause“, sagte er im Vorbeigehen zu den anderen, niemanden ansehend.

Verdutzt blickten ihm sechs Augenpaare hinterher. Bloß Ivan grinste wie immer vor sich hin.
 

Er konnte sich nicht mehr auf die Arbeit konzentrieren, in seiner Freizeit konnte er sich nicht mehr amüsieren.

Immer brachte irgendetwas in diesem Land seine Gedanken zurück zu seinen Erinnerungen. Zu seinen Erinnerungen von ihm.

War es denn möglich, dass ein verschwundenes Land wieder auftaucht? Hervorgerufen durch den bloßen Willen des Volkes?

Hervorgerufen durch den bloßen Wunsch seines kleinen Bruders?
 

Der Wind, der frische Wind, der schon seit Wochen durch sein Land zog, alles mit sich riss, eine neue Ära einleitete und Ludwig so sehr verwirrte, ihm so viele Hoffnungen machte, Hoffnungen, die eigentlich vollkommen irrational waren, führte ihn nach Hause.

Zuhause...
 

„Du bist wieder da!“

Freudig begrüßte der blonde Teenager seinen großen Bruder, der blutverschmiert, aber mit der üblichen Siegermiene ihr Zuhause betrat.

Plötzlich verbeugten sich alle Diener Gilberts vor Ludwig - das hatten sie bisher noch nie getan.

Verdutzt blieb Ludwig vor der ganzen Delegation stehen. „Was ist hier los?“

Das Feuer in den Augen des Preußen brannte heller denn je. Freudestrahlend verkündete er: „Ich habe Francis besiegt! Das heißt, es steht der Gründung des Deutschen Reiches nichts mehr im Weg! Du wirst endlich dein Land haben!“

Der junge Deutsche war sprachlos. Nach einigen Sekunden erst fing er sich wieder.

„Das heißt... Ich muss... Jetzt allein ein Land führen? Aber wie? Und...?“

Preußen klopfte dem neuernannten Deutschen Reich so stark auf die Schulter, dass dieser fast umfiel. „Ach Quatsch, natürlich helfe ich dir dabei! Ich habe dir doch gesagt, ich werde dich nicht alleine lassen! Kesesese, du bist manchmal so dumm, Kleiner.“

„Danke, Bruder.“ Schüchtern umarmte Ludwig Gilbert.

Der Ältere drückte ihn kurz an sich und flüsterte: „Ich tue alles für dich“, doch einen Bruchteil einer Sekunde später hielt er ihn vor sich weg und rief: „Wie peinlich! Hör doch auf, du kleiner Idiot, und sei nicht so erbärmlich rührselig!“

Doch Ludwig wusste mittlerweile, dass so viel von seinem Bruder Fassade war. Gerade eben war sie wieder ein wenig gebröckelt. Für jeden Moment mit Gilbert war Ludwig so dankbar.
 

Der Wind, der so sehr nach Königsberger Klopse roch, nach Vogelfedern, nach Blut und Schwarzpulver, nach dem Geruch der Geborgenheit seiner Kindheit, nach Liebe und Strenge und Erziehung, nach Strammstehen und Lachen, nach Weinen und nach Trost, schickte ihn herauf, in seine Wohnung.

Ludwigs Hände zitterten in seiner Vorahnung, es konnte nicht sein, nein, nein, aber warum war er denn so besessen von dem Gedanken, so unglaublich überzeugt davon, dass...
 

„Dieses Fernsehen find ich verdammt cool! Schau mal, Bruder, da laufen kleine Leute in dem Kasten herum!! Unglaublich. Das muss ein Deutscher erfunden habe, stimmt‘s? Wie ein kleines Kino, weißt du noch, wie wir früher ins Kino gegangen sind? Das war der totale Hammer. Übrigens war ich so cool, und bin hier einfach reingekommen. Hab ich halt drauf. Ach, übrigens, hallo, kleiner Bruder!“

Das Grinsen, dass er so vermisst hatte, strahlte Ludwig mit voller Intensität an.
 

„Gilbert?!“

Ich bin ein Preuße, will ein Preuße sein!

Endlich drehte er sich zu ihm um und sah ihn an.

Gilbert Beilschmidt sah merkwürdig hager aus, aber ansonsten wie das blühende Leben. Nicht nur sein typisches boshaftes Grinsen, das Ludwig so vertraut und plötzlich so fremd war, zierte sein Gesicht; als er seinen kleinen Bruder ansah, wurden seine roten Augen

(die so voller Feuer sind, die so glühen)

eine Spur sanfter. „Hallo“, wiederholte er noch einmal, allerdings nun in einem völlig anderen Tonfall.

Er saß auf Ludwigs Couch, sein Arm hing lässig über der Lehne, während er sich über seine Schulter hin zu Ludwig umgewandt hatte.

So einladend.
 

Es kam ihm so irreal vor. Der Deutsche rührte sich nicht weg vom Fleck.

„Bruder... Bist du‘s... Bist du‘s wirklich?“

Da war es.

Das Lachen.

Eindeutig.

„Kesesese, bist du in Zwischenzeit blind geworden? Wen kennst du denn noch, der so großartig aussieht wie ich?“ Gilbert versuchte sich wieder an seinem Grinsen, doch... es klappte nicht.

Es klappte nicht mehr, seinen Arm locker über der Lehne hängen zu lassen.

Genauso klappte es bei Ludwig nicht mehr, einfach still zu stehen.

Als er plötzlich anfing, auf den Älteren zuzulaufen, sprang dieser gleichzeitig mit einem solchen Elan von der kleinen Couch auf, so dass sie umkippte. Genau als der Preuße die Arme nach seinem Bruder ausstreckte, fiel Ludwig die Couch entgegen - er stolperte, bekam aber doch Gilbert zu fassen und beide fielen hin.
 

Noch während sie lachend dalagen,

(so herzhaft und ausgelassen wie seit Jahren nicht mehr)

umarmten sie einander als ob es kein Morgen gäbe.

„Da bist du ja endlich...“, sagte Ludwig sanft, als die beiden sich endlich wieder eingekriegt hatten.

Gilbert wischte sich eine Lachträne aus seinem linken Auge. Dann lächelte er. „Natürlich. Hast du schon mein Versprechen vergessen, Kleiner?“

„Ich habe jeden Tag daran gedacht. Und jeden Tag konnte ich es nicht glauben, dass du es nicht einhältst.“

„Hab‘ ich aber.“ Kurz schlang der Ältere die Arme um den Nacken seines jüngeren Bruders, dessen Gesicht war nun gegen seine Brust gedrückt. „Wie könnte ich nicht?“

Eine Flut von Erinnerungen überströmte den Deutschen. Seine Kindheit, seine ersten Kämpfe, seine Erziehung und sein Erzieher, sein großer Bruder, sein Ein und Alles, alles war wieder bei ihm und durchflutete ihn.
 

Er war endlich vollkommen glücklich und stolz darauf, Deutschland zu sein.

Ohne Preußen schaffte er dies nicht.
 

„Wo warst du so lange?“, fragte Ludwig, während er die Kartoffeln schälte.

Gilbert zappte immer noch begeistert durch alle Fernsehkanäle, ließ, während er seinem Bruder antwortete, eine Dokumentation laufen, in der deutsche Panzer polnische Dörfer platt walzten. Nachdenklich runzelte er die Stirn.

„Ich weiß es nicht“, gab er zu. „Als mein Land und schließlich der Gedanke an mich aus dem Volk entfernt wurde, war ich einfach... weg. Doch irgendetwas hat sich hier verändert, in den Köpfen der Leute, und anscheinend gibt es - zumindest dort - Preußen. Tja, ohne mich kommt hier nun mal keiner aus.“

„Ich weiß nicht so recht, kaum bist du hier, schon ist meine Lampe kaputt“, antwortete der jüngere der beiden Brüder und sah skeptisch zu den Überresten seiner Tischlampe, die beim Sturz der Couch ihr Leben hatte lassen müssen.

Der Preuße stand auf, ließ den Fernseher laufen

(Frauen und Kinder, die vor Männern in schwarzer Uniform stehen, alle mit dem endgültigen Ausdruck im Gesicht)

und klopfte seinem Bruder auf die Schulter. „Kesese, alles, was du brauchst, ist nun mal ein wenig mehr Action hier, und dafür habe ich schon mal gesorgt!“

Ludwig lächelte. „Vielleicht.“

Gilbert schlang seine Arme um die Taille seines Bruders.

„Ohne den anderen gibt‘s den einen von uns beiden nun mal nicht.“

(im Fernseher Schreie, Schüsse)
 

„Die Nacht ist so laut hier“, quengelte der Hellhaarige.

„Das kommt von den Autos.“

Der Himmel draußen war wolkenlos, die Sterne glitzerten, bloß der Mond war nicht zu sehen.

„Ja, ich weiß, ich bin ja nicht blöd.“ Gilbert zog sich die Decke über den Kopf. „Trotzdem ist das seltsam. Ich werde nicht einschlafen können.“

Ludwig seufzte.

Allerdings war dies hier nicht halb so nervig, als wenn Feliciano bei ihm im Bett lag.

Eigentlich war das schön. Sehr schön.

Sein Atem auf der Haut.

Seine Stimme in den Ohren.

Sein Geruch in der Nase.

Seine Finger auf dem Bauch.

Sein Lachen in der Luft.

Der Preuße war auf einmal überall.

„Gilbert...“

Das schwarz-weiße Graffiti verbreitete sich überall in Deutschland.

„Gilbert... Bruder...“

Die Übergriffe nahmen zu.

„Oh Gott, Gilbert...“ - ein Grinsen - „Du musst mich nicht Gott nennen“ - ein Kuss.

Der Wind, der nach Preußen roch, wurde zum Orkan.

Und er riss alles mit sich, alles, was deutsch war.

„Gilbert!“
 

„Du darfst mich nie wieder verlassen.“

„Das werde ich nicht.“

Beide schliefen friedlich ein.

Wolken zogen auf, die Nacht wurde pechschwarz.
 

Das Laub raschelte unter ihren Füßen. Der Himmel war blau, ein starker Wind wehte dem Preußen die Haare ins Gesicht, die Haare seines Bruders, wie immer streng nach hinten frisiert, hielten dem Wind gerade so stand.

Ein paar Strähnen lösten sich jedoch schon.

Gilbert lief voraus und freute sich wie ein Kind. Er streckte die Arme in die Luft.

„Ein wunderschönes Land!“, rief er zufrieden.

Nachsichtig lächelte sein Bruder. „Das ist es.“

Plötzlich stand Preußen genau neben Deutschland, seine listigen roten

(gierig glühenden)

Augen weit aufgerissen.

„Und wann wird es endlich größer?“

„Hm?“ Hellblaue Augen trafen auf rote.

„Du weißt genau, wovon ich rede. 65 lange Jahre spielst du schon mit. Wann gibst du die Farce endlich auf und beginnst wieder einen Krieg? Unser Traum, unser Reich, das liegt doch noch vor uns, oder warum, meinst du, bin ich wieder hier?“ Gilbert grinste.

Ludwig strich sich die Haare wieder zurück, obwohl dies nichts nutzte, der Wind war zu stark.

„Wovon sprichst du? Das habe ich schon längst aufgegeben. Das bringt nur Leid und Verwüstung.“ Der Deutsche konnte jedoch nicht vorgeben, dass er überrascht war.

Der Preuße dagegen war es. „Wie bitte?“ Doch dann lachte er. „Okay, kesesese, lass es nun gut sein, ich wäre fast darauf reingefallen. Also, sag schon, was haben wir vor? Ich bin natürlich mit von der Partie!“ Spielerisch wanderten lange blasse Finger an Ludwigs Schal hin und her. „Und diesmal würde es sicher klappen...“, flüsterte er ihm ins Ohr.

(verführerisch)

„Nein!“ Plötzlich machte Ludwig einen schnellen Schritt rückwärts. „Das kannst du vergessen, das werde ich meinem Volk nicht noch einmal antun!“

Nun wurde sein Bruder wütend, seine Augen loderten. „Aber das ist es doch, was das Volk will! Hast du denn gar nichts von mir gelernt?“, fragte er mit lauter Stimme.

„Nein, das will es nicht!“ Plötzlich brüllte der Deutsche. „Nur du willst es, nur du alleine, schon immer wolltest nur du das!“

„Nein, du wolltest es genauso!“, polterte der Ältere zurück. „Sonst hättest du nicht mitgemacht!“

„Ich habe mitgemacht, weil DU es wolltest!“

„Und ich habe es nur für DICH getan!“ Während Gilbert diese Worte Ludwig in einem zischenden Ton entgegenwarf, stellte er sich wieder direkt vor ihn, sein Gesicht, eine wütende Fratze, nur Zentimeter von dem des anderen entfernt.

Ludwig, der wieder einen Schritt zurückwollte, blieb wie angewurzelt stehen.
 

„Ich tue alles für dich.“
 

„Was meinst du, warum das Deutsche Reich Deutsches Reich hieß, und nicht Großpreußisches Reich oder irgendwie anders! ICH hatte die Vormachtstellung, und doch habe ich dir das Reich genauso überlassen wie mir selbst? Was meinst du, warum?!“

Stumm, immer noch nur Zentimeter von seinem nur ein wenig größeren Bruder entfernt, wartete er auf eine Antwort darauf.
 

Und diese kam.

„Kein Krieg.“
 

„Du bist nicht mehr der, der du warst.“

Preußen drehte sich auf dem Absatz um und ging schnellen Schrittes durch das raschelnde Laub.

Das aufhörte zu rascheln.

Plötzlich stand Deutschland alleine da.

Mit perfekt sitzendem Haar, denn nicht einmal die leichteste Brise wehte durch das Land.
 

Ich bin ein Preuße, kennt ihr meine Farben?


Die Fahne schwebt mir weiß und schwarz voran;


daß für die Freiheit meine Väter starben,


das deuten, merkt es, meine Farben an.


Nie werd ich bang verzagen,


wie jene will ich's wagen


Sei's trüber Tag, sei's heitrer Sonnenschein,


 Ich bin ein Preuße, will ein Preuße sein. 


 

Mit Lieb' und Treue nah' ich mich dem Throne,


Von welchem mild zu mir ein Vater spricht;


Und wie der Vater treu mit seinem Sohne,


So steh' ich treu mit ihm und wanke nicht.


Fest sind der Liebe Bande;


Heil meinem Vaterlande!


Des Königs Ruf dring in das Herz mir ein:


 Ich bin ein Preuße, will ein Preuße sein!
 

A/N: Die ersten zwei Strophen des Preußenliedes.

Verdorben

[A/N] Gilberts PoV. Alles Englische in kursiven Buchstaben sind die Lyrics von “The Kill“ von Dresden Dolls. Wäre schön, wenn ihr es beim Lesen hören würdet. Es passt so gut zu awesome Gilbo.
 

I am anarchist


An antichrist


An asterisk


I am atheist


An acolyte


An alcoholic


I am eleven feet


Okay, eight


Six foot three


i am an amazon


an ampersand


an accident


I fought the British and I won


I am a rocket ship


A jet fighter


A paper airplane
 

Als ich 1871 den Vertrag zur Gründung der Deutschen Reiches unterschrieb, wusste ich, was ich tat.

Ich wusste es ganz genau.

Der preußische König wurde zum deutschen Kaiser. Natürlich bestand das Preußische Königreich weiterhin - doch es war Teil des Deutschen Reiches. Alles, was ich nun tat, war unter seinem Namen, und ich schwor bei Gott und dem Alten Fritz dort oben, der über mich wachte, dass der Name des Deutschen Reiches weit über seine Grenzen hinaus die ganze Welt erreichen würde. Ich wollte es groß machen, reich und mächtig, es sollte in aller Munde sein und die restliche Welt in Angst und Schrecken versetzen.

Zu Anfang gelang mir dies auch ganz gut, finde ich. Ich meine, mir gelingt eigentlich alles ganz gut. Sollte man zumindest glauben, wenn man mich sieht.

Es gelang mir natürlich im Endeffekt nicht, und niemand weiß das so gut wie ich. Mein kleiner Bruder meint, dass ich es nicht wüsste, dass ich größenwahnsinnig bin oder so.

Vielleicht bin ich das... Okay, ich bin es ganz sicher. Aber ich bin ja schließlich seinetwegen größenwahnsinnig.

Seine großen blauen Augen verfolgen mich mein Leben lang, als ob sie noch dem kleinen Dreikäsehoch von früher gehören würden. Nie hatte ich mehr Bewunderung und Stolz erhalten als aus diesen Augen. Diese kalten, blauen Augen, die nur mich voller Wärme ansehen dürfen, die nur mir gehören sollen. Nur ich durfte Feuer in ihnen entflammen, und so erzog ich ihn.

Es war gemein, es war falsch, und doch war es richtig. Nie durfte er ohne mich auskommen - denn schließlich konnte ich ja auch ohne ihn nicht auskommen, und so wäre es unfair gewesen, nicht wahr? Wo ich doch so stark war und so mächtig, konnte mir mein Herz doch nicht von so einem kleinen, ernsten und hübschen Gesicht gestohlen werden, ohne dass ich auch seines stehle. Und ich stahl es ihm besser, als jemand anders es hätte bewerkstelligen könnte.

Durch ihn mache ich mich nämlich unsterblich. Er würde mich immer brauchen.

Das hatte ich gedacht. Denn schließlich brauche ich ihn. Immer. Immer. Immer.

Meinen kleinen, süßen, ernsthaften, ehrlich lächelnden Bruder. Für den ich alles tun würde.

Wie ich es dann auch tat.

Ich gab mich für ihn selbst auf.
 

I have a tendency


To exaggerate


Just a little bit


I am a plagiarist


A terrorist


Attention getter


I am optimist


A closeted


Misogynist


I fought the British and I won
 

Mein Bruder versteht mich nicht. Wie sollte er auch? Er ist zwar groß geworden und nun wirklich stark, und, ich muss es zugeben, gegen meinen Willen kam er auch ohne mich aus.

Ich hatte schon befürchtet, er würde mich doch nicht mehr brauchen und ich würde ewig im Dunkel bleiben, zwischen Himmel und Hölle, ihn ewig ansehend, nie berührend, immer vermissend.

Doch er belebte mich wieder. Er braucht meine Hilfe, denn ohne mich brennt kein Feuer in seinen Augen, ohne mich weht kein Wind durch sein Land. Niemand weiß das besser als ich, denn niemand hat besser dafür gesorgt als ich.
 

„Bruder, was... was tust du da?“

Seine weichen, bartlosen Wangen, die Wangen eines Körpers, der erst nach 16 jungen Jahren aussieht, glühen, als ich sie sanft berühre. Meine kalkweißen, langen Finger streichen über rosig-volle Lippen, die leicht zittern. Ich spüre, wie meine eigenen dünnen anfangen zu grinsen, mein Markenzeichen, und ich hasse mich gerade selbst.

Doch ich muss den Jungen an mich binden, egal mit welchen Mitteln. Ich brauche ihn an meiner Seite, nie wieder will ich alleine sein.

„Sag, Ludwig...“, sinniere ich und strich weiter mit meinen Fingen, die aussahen wie die Beine bleicher Spinnen, über sein ach so junges, zartes Gesicht, die durch blondes, dichtes, noch unfrisiertes Haar fahren.

„Sag Ludwig, liebst du mich?“

Dieses Paar großer, unschuldiger Augen, das von einem so klaren Blau ist, wie man es nur in den kristallklaren Seen in den Tälern der Alpen findet, blickte zu mir hinauf. Noch ist mein Bruder ein wenig kleiner als ich... noch. So lange er es noch ist, muss es getan werden. Ich muss ihn auf ewig mein machen.

Ich muss die Worte hören.

Verschämt schaut er wieder weg.

„Ja, großer Bruder... Ich liebe dich.“

Meine Lippen krachen auf seine, nehmen sie gefangen, bedecken sein Gesicht über und über mit Küssen. Meine Hände sind nun überall auf den Jungen, etwas, das ich will und das ihn für immer verderben wird, wie ich noch bitter denken muss, bevor mein rationales Denken abschaltet, als sich das Kind, das bald keines mehr ist, aus seiner Schockstarre befreit und seine Finger ebenfalls in mein platinblondes Haar krallt.

„Großer Bruder... Ich werde immer tun, was du sagst, ich will immer bei dir sein, ich liebe dich, ich liebe dich so sehr...“

Oh, diese Worte, Balsam für meine geschundene, kleine, schwarze Seele, die in mir kichert und ihn gefangen nimmt und auf ewig ruiniert, einen kleinen, ehrlichen Jungen mit aufrichtigen Augen für immer an meine Verderbtheit bindet, so dass wir auf ewig vereint sind wie in diesem Augenblick, in dem ich mich mit ihm vereine.

Ich liebkose müde seinen verschwitzten Körper, küsse jede Stelle seiner zauberhaft glatten Haut, während er mit leeren Blick auf die Decke starrt und zu Atem kommt.

„Wie schön du bist...“, kann ich nur flüstern, hingerissen von dem eben Geschehenen. Meine Fingerspitzen versuchen, jeden Winkel von ihm zu ertasten und als Informationen an mein Gehirn zu schicken, wo diese für immer gespeichert bleiben sollen. „Mein Ludwig, mein süßer, kleiner Bruder.“

„Ich liebe dich, Gilbert“, sagte er, wie mechanisch, ohne Lächeln, als ob er wüsste, was gerade passiert ist... als ob er aufgeben würde. „Ich kann ohne dich nicht leben.“ Kein Kompliment - eher eine Feststellung.

Und endlich kann ich es mir erlauben, zu sagen, nachdem mein teuflisches Werk vollendet ist und ich das kleine, reine Herz für immer und ewig geschwärzt habe: „Ich dich auch. Du bleibst für immer bei mir, mein Deutschland, mein kleiner Bruder, mein Goldschatz. Nie wird einer von uns beiden mehr alleine sein können, ohne den anderen werden wir nichts schaffen. Ich liebe dich, Ludwig, so sehr.“
 

Say what you will


I am the kill


The only thing that makes you real


Say what you will


I am the kill


The only thing that makes you real truly safe from me
 

Natürlich weht der Wind weiter, schließlich bin ich immer bei dir, Deutschland. Du kannst Preußen nicht einfach mit einem „Kein Krieg“ abspeisen, das weißt du genauso gut wie ich. Du wirst immer zurückkommen. Denn du bist wie ich, verdorben bis ins Mark, du bist das, zu was ich dich geformt habe, ich habe dich erschaffen. Du versuchst, es zu verdrängen, brav zu sein und nicht nationalistisch und egoistisch und übermütig.

So lange, bis es wieder in dir ausbricht, die Krankheit, die ich in mir trage, die du in dir trägst, die uns zu dem macht, was wir sind.

Du glaubst, du brauchst Stolz? Oh ja, das brauchst du, kleiner Bruder, das brauchst du am meisten, so wie du mir gerade hinterherrennst und bittest, ich solle auf dich warten. Hier sieht man doch wieder, wie wenig du ohne mich bist. Durch mich.

Die Blätter rascheln unter meinen gemäßigten Schritten, unter deinen gerannten, bis du mich einholst und mich von hinten umarmst und mich anflehst, dich nicht schon wieder zu verlassen.

Ich bin widerwärtig.

Als ob ich dich verlassen könnte, kleiner Bruder. Oh, wenn ich das könnte, du weißt gar nicht, wie viel Leid dir erspart geblieben wäre, wie viel Leid dir erspart bleiben würde. Doch indem ich dich nahm, pflanzte ich dir meine Saat ein, den Kriegs- und Zerstörungswillen.

Ich habe dir versprochen, ich würde dich groß machen.

Das tat ich. Bloß nicht im guten Sinne. Du bist groß und du wirst groß sein, mein über alles geliebter, kleiner, süßer Bruder, aber du wirst auch wieder hart und tief fallen, und du wirst dich mit meiner Hilfe wieder aufrappeln, um von neuem das Spiel von Macht und Gewalt und Leidenschaft und so süßer, süßer Lust zu spielen, das ich dir beigebracht habe.

Ich hasse mich dafür. Denn du darfst kein freies, anständiges Leben führen.
 

Und doch liebe ich mich dafür... Denn du bist auf ewig mein.

Ich liebe dich, Deutschland. Hier hast du deinen Stolz wieder. Der Wind, der durch dein Haar weht, lässt unsere beiden Flaggen wehen, unsere Bürger voller Inbrunst singen und vernichtet deine so sorgsam gepflegte Frisur wieder...

...bis du voller Blut bist und wieder aussiehst wie ich, nachdem ich dir bei unserem Spiel auf ein weiteres deinen Hals mit meinen Zähnen aufgerissen habe und meinen noch dazu.

Die Geschichte

GILBERT: „Die einzige Pflicht, die wir der Geschichte gegenüber haben, ist, sie umzuschreiben.“

(Oscar Wilde, Der Kritiker als Künstler)
 

Nun gehörte die Welt ihnen, ihre kleine, eigene Welt, in denen es nur die beiden gab, Gilbert und Ludwig.

Und Gilbert nahm Ludwig

(endlich)

wieder an die Hand, und das Feuer leuchtete in roten und blauen Augen wieder hell auf.
 

„Mmmh... Erzählst du mir wieder die Geschichte?“

Gilbert hob eine Augenbraue. „Welche Geschichte?“

Der blonde Mann, der seine Arme um ihn umschlungen hielt und sein Gesicht noch fester in das Kissen drückte, lächelte. „Die Gute-Nacht-Geschichte.“

„Kesese... Ah ja, die.“ Der Ältere räusperte sich. „Bist du nicht schon ein wenig zu alt dafür?“

„Die Geschichte wird nie langweilig, großer Bruder.“
 

Es waren einmal zwei Nationen, die waren super (Anm. d. A.: anders kann man ,awesome‘ einfach nicht übersetzen). Viel toller als andere Nationen.

Deswegen wollten sie die ganze Welt haben.

Hand in Hand, denn sie waren Brüder, die sich liebten, gingen sie hinaus in die weite Welt, um sie die ihrige werden zu lassen.
 

„Wie bitte?!“ Alfreds Brille fiel ihm fast vom Gesicht.

„Gilbert ist wieder da. Deswegen.“ Nicht die Spur von Ironie klang in der sonst so sarkastischen Stimme Arthurs mit. „Sie machen es wieder.“

Selbst Francis sah besorgt aus. „Aber... warum?“

Ivan, der bis gerade nur gelächelt hatte - und auch weiterhin lächelte - meldete sich zu Wort. „Man kann seine wahre Persönlichkeit nicht unterdrücken.“ Und, natürlich, er lächelte weiter.
 

Sie waren sehr stark und sehr stolz darauf, was sie zusammen geleistet hatten. Und immer passte der große Bruder auf seinen kleinen Bruder auf, der sein größter Schatz war. Und weil er sein größter Schatz war, wollte er ihm die Welt schenken - deswegen wollten die beiden sie erobern.

Mutig und tapfer kämpften sie ihre Kämpfe und nach und nach gewannen sie immer mehr an Land und an Volk.
 

„Kesesesese, wie sie wieder nur feige dasitzen und nichts tun! Wie immer!“

Der Preuße stürzte sein Bier herunter.

Sein kleiner Bruder saß ihm gegenüber, sein Gesichtsausdruck noch ernsthafter als sonst. „Das haben sie beim letzten Mal auch erst mal gemacht.“

„Aaah!“ Gilbert wischte sich den Schaum vom Mund und stellte seinen Bierkrug mit einem lauten Knall zurück auf den Tisch. „Na und? Diesmal läuft alles anders, Bruder, diesmal gewinnen wir. Du wirst schon sehen. Sei doch nicht so pessimistisch.“

„Ich habe...“, Ludwig schluckte, „ich habe einfach nur Angst, dich wieder verlieren zu müssen.“ Er sah weg, als er bemerkte, wie Gilberts Grinsen verschwand.

Plötzlich war die laute Stimme des Preußen leise und eindringlich. „Du weißt, dass sie uns nicht zusammen leben lassen werden, wenn wir sie nicht besiegen. Sie sagen, wenn wir zusammen sind, gibt es nur Unheil. Wir müssen kämpfen. Wir haben schon immer für uns gekämpft, Ludwig. Willst du wieder alleine sein und dies alles“, er zeigte nach draußen, aus dem Fenster hinaus, „wieder verlieren?“

Ludwig blickte auf die schneebedeckten Dächer der sie umgebenden Häuser. Sah die Flaggen, die im stürmischen Nordwind wehten, schwarz-rot-gold, schwarz-weiß-rot, schwarz-weiß mit schwarzem Adler, all die Farben, die schon immer preußisch-deutsch gewesen waren.

Ihr Volk war glücklich, weil er glücklich war, weil Gilbert bei ihm war, sein großer Bruder.

Die Nation kannte wieder ihren Stolz.
 

Das Volk war begeistert, dass seine Nationen kämpften und siegten.

Es war eine tolle, aufregende Zeit für die super Nationen.
 

Der Winter war wunderschön.

Es war wie früher: Der Duft von Plätzchen und Lebkuchen erfüllte das Haus, langsam stiegen die beiden von Bier auf Glühwein um, sie stellten ihren Christbaum auf.

Feliciano und Romano kamen, und natürlich auch Roderich und Elizabeta. Mit ein bisschen Verspätung kam sogar Kiku, und sie feierten ein wunderbares Weihnachtsfest. Es wurde gelacht und gesungen, Gilbert bekam noch öfter als früher Elizabetas Bratpfanne zu spüren und Feliciano hing so oft es ging an Ludwig.

Und die Nächte, sie würden unvergesslich werden.

Liebesschwüre wurden ausgetauscht, Liebkosungen, Versprechen und Lust.

Niemals durfte der Preuße den Deutschen verlassen, niemals wieder.

Hände umklammerten Körper, hielten sich fest. Manchmal kamen sie in diesem Winter kaum weiter als von ihrem Schlafzimmer ins Badezimmer, weil es viel zu warm und wohlig und kuschelig war.

Und zu Hause wehte schließlich dieser schreckliche Wind nicht, der neue Wind, der durch das ganze Land zog.

Der nach Tod und Verwesung stank.
 

Doch dann mussten die beiden Nationen sehr viel Leid durchstehen. Einige wollten nicht, dass die beiden die Welt bekamen. Es kam zu bösen Kämpfen, manchmal mussten die beiden Brüder auch Niederlagen einstecken, manchmal sah es so aus, als hätten die beiden verloren.
 

„Bitte... halt mich fest.“ Gilberts Stimme war schwach und er hustete ein wenig Blut. Sein Kopf lag gebettet auf Ludwigs Beinen, von denen mindestens eines gebrochen war, und des Deutschen starke Arme hielten ihn, so wie von ihm verlangt.

„Bleib bei mir“, hauchte der Jüngere nur. Das ansonsten so makellos frisierte, saubere, blonde Haar war schmutz- und blutverkrustet, und der Wind wehte so stark und heftig.

Mit großer Anstrengung hob der Hellhaarige seinen Arm und berührte das Gesicht des Jüngeren.

„Geliebter, süßer, kleiner Bruder.“ Sanft wie nie lächelte Gilbert. „Schon wieder eine Schmach, schon wieder Tod und Leid. Verzeih mir.“

„Aber... das ist nicht deine Schud!“ Ludwigs Stimme war tränenerstickt. „Ich bin genauso daran Schuld!“

Leise schnaubte der tödlich Verwundete, dessen Kopf seinem verletzten Bein wehtat. „Ich habe dich zu dem gemacht, was du heute bist. Ich trage die Verantwortung.“

„DU IDIOT!“, schrie der Blonde und wischte damit das Lächeln vom Gesicht seines Bruders. „Ich WILL der sein, zu dem du mich gemacht hast, weil das heißt, dass ich ein Teil von dir bin! Genauso, wie du ein Teil von mir bist! Es war so dumm, mich zu verstellen... Es ist meine Schuld, dass es wieder so ausgebrochen ist; wenn ich nicht immer versuchen würde, so zu tun, als wäre ich nicht dein Bruder und hätte das kriegerische, zerstörerische Blut nicht in mir, wenn ich mich die ganze Zeit einfach nur entschuldige für das, was ich bin, dann ist es klar, dass, wenn du kommst, alles auf einmal hochkommt. Ich... Ich... Ich bin Deutschland. Ich muss das akzeptieren. Du hast mich zu dem gemacht, was ich bin, und so soll ich auch sein. Es ist meine Geschichte und ich sollte stolz darauf sein. Ich bin deiner unwürdig, Bruder...“ Sein schmutzverschmiertes Gesicht hatte plötzlich zwei saubere Streifen.

Gilbert hob nun auch seinen zweiten Arm und hielt das Gesicht des anderen fest in seinen Händen. Seine Stimme wurde immer dünner, wie bei einem alten Mann.

„Bist du nicht“, flüsterte er. „Du bist der beste Bruder, den man haben kann. Du musst dich bloß selbst finden.“

„Wie soll ich das machen, ohne dich? Du verlässt mich doch gerade wieder!“

Mit letzter Kraft zog Gilbert Ludwigs Gesicht zu seinem hinunter, leckte ihm das Salz von den Lippen und küsste ihn.

„Du weißt, dass ich immer bei dir bin. Bin ich bis jetzt nicht immer zurückgekommen?“

Seine Augen fielen zu.

Preußen starb schon wieder.

„Gilbert... bleib bei mir...“

Ludwig konnte sich nicht bewegen, als Alfred, Ivan, Arthur und Francis kamen. Er hielt sich nur an der Leiche fest, küsste sie, wünschte sich ihren Bewohner wieder zurück.

Wieder hatte er seinen großen Bruder umgebracht, wieder würde er ihn wieder erwecken und alles, alles würde wieder von vorn losgehen.

Geschichte wiederholt sich.

Nein.

Die Geschichte wiederholt sich.
 

„Bruder, großer Bruder, wie ging es zu Ende?“

Der kleine Junge machte es sich noch bequemer in den Armen des Preußen.

„Nun ja“, sagte dieser. „Sie hatten natürlich einiges zu überstehen.“ Er setzte seinem Schützling einen sanften Kuss auf die Stirn.

„Doch am Ende...“

„Doch am Ende wird wieder alles gut, stimmt‘s? Habe ich Recht?“ Blaue Augen leuchteten in dem Feuer, das die roten ihnen gaben.

Gilbert grinste. „Natürlich. Sie waren schließlich super. Also, kleiner Mann, Schlafenszeit!“

Ludwig, brav wie immer, gehorchte. „Gute Nacht, Bruder! Ich liebe dich!“ Er küsste ihn auf die Wange.

Gilbert blieb das Herz kurz stehen, wie immer, wenn sein Bruder seine Liebe zu ihm so offen zeigte. „Ich... ich dich auch.“

Er deckte ihn zu, blies die Kerzen aus und ging aus dem Zimmer heraus.

Vorsichtig schloss er die Tür.

„...über alles auf der Welt, mein süßer, kleiner Bruder.“
 

Die Fahnen im Wind würden nie aufhören zu wehen.



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Kommentare zu dieser Fanfic (8)

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Von:  angel_of_sand
2010-10-29T16:26:04+00:00 29.10.2010 18:26
du hast Gilbert doch nicht wirklich sterben lassen,oder...?
Bitte,tu mir und Ludwig (*hüstel*) das nicht an!>______<

wäre ich jetzt alleine an dem Pc,würd ich wie sonst was heulen (aber meine Mum soll mich nicht so sehen xD)

ich freue mich schon,wenns weitergeht ~
Von:  angel_of_sand
2010-10-16T07:45:18+00:00 16.10.2010 09:45
auch wenn es (von der FF her) stimmt,dass Gilbert den Ludwig verdorben hat,so kann ich ihn einfach nicht dafür hassen >.<
dafür habe ich beide zu gern

jetzt erwarte ich sehnsüchtig aufs neue Kapitel xD

Von:  Elestial
2010-10-15T23:52:22+00:00 16.10.2010 01:52
Wenn ich das jetzt noch mal lese, brauch ich wieder Ewigkeiten, bis ich mich wieder sortiert hab^^'
Ich schreib mal aus dem Gedächtnis, wo ich das ganze jetzt verarbeitet habe <3

Gilbo ist soo böse, an kennt ihn so fast gar nicht, aber ich mag diesen Gilbo auch irgendwie, du tiefst ihn echt gut^^
Ich freu mich wie ein kleines Kind, wenns weiter geht <3

In dem Kapitel wird auch endlich deutlich in welche Richtung es geht *freu*
xD
Ich hätts aber auch so gelesen^^
Aber so, machts natürlich noch viel mehr Spaß |D
Freu mich schon, wenn ich wieder vorab lesen darf xDD
Bitte Q.Q
Ich hätte sonst nen halben Tag warten müssten, bis ich das hier lesen darf!
Aber gut, ich warte auch Stunden und Tage auf das neue Kapitel xDD
Von:  angel_of_sand
2010-10-14T09:34:25+00:00 14.10.2010 11:34
„Oh Gott, Gilbert...“ - ein Grinsen - „Du musst mich nicht Gott nennen“
deswegen musste ich total lachen xD

aber das Ende macht mich so traurig...
*drop*
hoffentlich gibt es (mehr oder weniger) ein Happy End...

ich freue mich schon,wenn es weitergeht =D

lg
Von:  angel_of_sand
2010-10-14T09:27:01+00:00 14.10.2010 11:27
ich liebe die "Germans" >//<
und klein Ludwig war ja so kawaii ~
(so habe ich ihn mir übrigens auch vorgestellt *hüstel*)
aufjedenfall werd ich weiterlesen ~ x3
Von:  Elestial
2010-10-12T16:23:40+00:00 12.10.2010 18:23
Ich hätte drauf kommen können x'D
Oh Gott, das Kapitel ist mal wieder genial!
Preußen ist so gemein. Man kennt ihn so fast gar nicht. Es ist echt selten, ihn so zu sehen.
Aber das ist echt ein herber Schlag für Doitsu. Erst endlich wieder glücklich vereint und dann das... Da kann man nur gespannt sein, wie du das ganze wieder ins Lot bringen willst^^
Von:  Elestial
2010-10-09T17:42:01+00:00 09.10.2010 19:42
Awww *.*
Tolles Kapitel oAo
Ich find, du hast die einzenen Charaktere gut getroffen, so wie sie drauf sind^^
(Japan heißt übrigens Kiku und nicht Kaku mit menschlichem Vornamen^^)
Ita-chan ist ja süß: "magst du was abhaben?" xD
Aber Ludwig tut einem so leid T T
Armes Doitsu ><
Irgendwie kann ich dir aber nicht abkaufen,das Gilbert wirklich wieder da ist^^'
Dafür hast du dich zu kritisch gegenüber jeglichen Theorien geäußert xD
Aber reiche Phantasie Doitsus... da würde er mir nur noch undedlich mehr leid tun TT TT
Bin gespannt, wie es sein wird^^

Von:  Elestial
2010-10-07T18:57:05+00:00 07.10.2010 20:57
*fail*
Ich sitz hier vor meinem PC und heulen wie ein Schlosshund Q.Q
Oh, ich liebe Drama T T
Mir lief es eiskalt den Rücken runter, während ich gelesen habe.
Aber so genial.
"Nur alle 4 Jahre weht meine Flagge"
Wie Wahr das doch ist.
Ich liebe diese Sätze die dem folgen =w=
Aww, dein FF Kapitel ist echt toll. Ich hoffe due hast trotz allem Zeit weiter zu schreiben. Ich bin grade echt überwältigt pAq


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