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Die Tochter des Puppenmachers

von

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Puppenrätsel

Es ereignete sich an einem verschneiten Weihnachtsabend. Der Schnee fiel vom wolkenverhangenen Himmel und überall leuchteten die Lichterketten in den Bäumen und an den Laternen und in den Schaufenstern der Geschäfte. Der Boden war weiß bedeckt und schluckte jedes Geräusch, sodass nur das Singen der Weihnachtschöre im Hintergrund zu hören war, die Spenden für die Armen und Obdachlosen sammelten. In der Ferne erklangen die Glocken, die zur Messe läuteten und es herrschte Gedränge in den Straßen. Die Kinder aus Wammys House waren unterwegs zur Kirche, wie sie es jedes Jahr taten. Auch Near, der ungern bei solch einem Wetter das Haus verließ, musste mitgehen, fiel aber immer weiter zurück und hatte schließlich die anderen aus den Augen verloren. Diese Gelegenheit hatte er genutzt um wieder zurückzugehen und sich am warmen Kamin im Salon aufzuwärmen bei einer schönen Tasse Tee. Doch eben weil er das Haus so gut wie nie verließ, kam es dazu, dass er sich verlief und somit nicht in der Folsom Street landete, sondern auf dem Platz der Altstadt, die genau in der entgegengesetzten Richtung lag. Dort hatte man eine provisorische Eisfläche zum Schlittschuhlaufen aufgebaut. Allerdings war da keiner. Das hieß, eigentlich keiner außer ihr. Ein Mädchen lief auf der Eisfläche, kaum älter als 14 Jahre alt. Obwohl es maximal 0°C warm bzw. kalt war, trug sie lediglich ein kurzärmeliges fliederfarbenes Kleid mit silbernen Stickereien, dazu Nylonstrümpfe. Sie hatte eine makellose weiße Haut, als wäre ihre Haut aus Porzellan. Ihre Wimpern waren stark geschminkt, ihre Augen dunkel und ihr Mund klein und rot. Ihr Haar war weißblond, schon fast weiß hätte man meinen können und ihr Blick geheimnisvoll und unergründlich. Sie sah fast wie eine Puppe aus, fast genauso wie das berühmte Mädchen Venus Palermo, die dem Schönheitsideal solcher Puppen nacheiferte und genauso aussehen wollte.

Das Mädchen bewegte sich so grazil und elegant auf dem Eis, als sei sie ein Schmetterling und wirklich jede ihrer Bewegungen war perfekt. Und sie selbst war makellos schön. Noch nie hatte Near in seinem Leben so etwas gesehen und obwohl er sich im Leben nicht in dieses Mädchen verliebt hatte, er war fasziniert von ihr. Es war schon fast, als flöge sie über das Eis, so hatte sich noch nie zuvor ein Mensch bewegt. Und ihr Blick, der so tief und unergründlich und gleichzeitig doch so leer und nichtssagend war… einen ähnlichen hatte er noch nie gesehen. Das Mädchen blieb schließlich stehen und glitt die restliche Strecke bis sie direkt vor Near zum Stehen kam. Sie verbeugte sich leicht und lächelte. „Hallo, mein Name ist Alice, Alice Chevalier. Und wie heißt du?“ Sie redete wie ein Kind, sodass sie jetzt nicht mehr wie 14 Jahre aussah, sondern an ein 8-jähriges Kind erinnerte. Ihr gelocktes weißblondes Haar war mit kleinen Schleifchen versehen, was ihr noch mehr das Image einer lebenden Puppe einbrachte. „Ich… ich heiße Near“, antwortete er ein wenig unsicher, was ihm noch nie zuvor passiert ist. Er war ja schon froh, wenn er nicht zu stottern anfing und er verstand selbst nicht, was das zu bedeuten hatte.

„Hast du deine Eltern verloren?“

„Ich habe keine.“

„Oh, das tut mir leid. Meine Mama ist verstorben, dafür lebe ich jetzt bei meinem Papa. Wo wohnst du?“

„Im Waisenhaus, nicht weit von hier.“ Alice beugte sich ein wenig vor um ihn besser hören zu können und fuhr sich mit ihren zarten Fingern durch ihr Haar. „Von dem Waisenhaus hab ich gehört. Da sind viele hochbegabte Kinder. Dann musst du ja auch sehr intelligent sein.“ Near sagte nichts dazu. Er hasste es, anzugeben oder mit seinem Talent zu prahlen. Allein schon von Hochbegabung zu sprechen, missfiel ihm. In seinen Augen war er eben etwas anders als andere Kinder. Das war auch schon alles.

„Wenn du so schlau bist, dann bist du sicher an Rätseln interessiert, oder?“

„Nur wenn sie interessant genug sind.“

„Dann habe ich hier etwas für dich.“ Sie ging zu ihrer Tasche, die sie etwas weiter weg abgestellt hatte und holte etwas heraus. Als sie zurückkam, gab sie Near den Gegenstand, der sich als Porzellanpuppe entpuppte. „Diese Puppe hier birgt ein Rätsel in sich. Wenn du es löst, bist du wirklich clever genug. Du kannst sie behalten.“

„Und wenn ich das Rätsel gelöst habe?“

„Das wirst du schon noch sehen. So jetzt muss ich aber langsam los. Papa wartet schon auf mich.“

Als Alice sich ihre normalen Schuhe wieder angezogen hatte, verabschiedete sie sich und verschwand schließlich irgendwo zwischen den Häusern. Near, der mit der Puppe noch nichts anzufangen wusste, nahm sie mit und ging zurück ins Waisenhaus. Der leichte Schneefall, die vielen bunten Lichter und das Singen der Chöre ließ alles erscheinen wie ein märchenhafter Weihnachtstraum und wenn Near nicht am nächsten Tag aufgewacht wäre und die Puppe auf seiner Kommode gesehen hätte, dann hätte er das für einen Traum gehalten.
 

Zwei Wochen waren jetzt her und Near hatte das Rätsel der Puppe immer noch nicht gelöst. In ihrem weißen Kleidchen mit Rosenmuster und einem Spitzenhäubchen auf dem Kopf saß sie auf der Kommode und er zermarterte sich regelrecht das Hirn, was für ein Rätsel in dieser Puppe steckte. Dabei hatte er dieses Ding genau unter die Lupe genommen. Er hatte versucht herauszufinden, wer diese Puppe verkauft hatte, allerdings gab es keinen Großhandel oder sonst irgendwelche namenhaften Puppenverkäufer, die dieses Modell kannten. Offenbar ein Einzelstück und damit umso schwieriger, den Hersteller ausfindig zu machen. Near war kein Experte, aber ihm war bei der Untersuchung der Puppe aufgefallen, dass sie wirklich fein ausgearbeitet war. Und das Haar war sogar echtes blondes Menschenhaar. Mello hatte schon dumme Sprüche deswegen losgelassen. „Och wie süß, Baby Near spielt jetzt auch noch mit Puppen!“ und noch viele andere. Near hörte schon gar nicht mehr hin, er wusste dass Mello ihn ziemlich auf dem Kieker hatte, weil er der Beste war. Er schrieb immer die besten Noten und das tat Mellos Minderwertigkeitskomplex ganz und gar nicht gut.

Auch jetzt war er wieder in seinem Zimmer und errichtete aus Plastikbausteinen eine Nachbildung des Eiffelturms direkt neben einer Art Spielsteinburg. Hier herrschte immer ein Heidenchaos und immer lag bei ihm Spielzeug rum. Immer wieder sah er zu der Puppe, die ihn anzustarren schien und er fragte sich, ob diese Puppe überhaupt ein Rätsel in sich trug, oder es nicht vielleicht ein Scherz gewesen war. Aber andererseits glaubte er nicht wirklich, dass Alice ihm die Puppe nur gegeben hatte, um sich einen Scherz mit ihm zu erlauben. Es musste ein Rätsel dahinterstecken.

Eine Glocke ertönte und kündigte das Mittagessen an. Damit erhob sich Near und ging in Richtung Speisesaal. Es herrschte Lärm überall und Kinder drängten sich aneinander vorbei, dabei war die Sitzordnung doch streng nach bestimmten Kriterien festgelegt. Je nach Tisch saßen dort die unterschiedlichen Altersgruppen zusammen und die Sitznachbarn waren meistens Projektpartner, gute Freunde oder hatten sonst eine Verbindung zueinander. Es gab auch einen Tisch für die Neuen und jene, die kein Englisch sprachen. Near saß jetzt bei den Frischlingen, die mindestens ein Jahr hier waren und die Sitten und Regeln bereits im Schlaf kannten. Mello saß am Tisch der Älteren, die allerdings noch nicht 15 Jahre alt waren und damit bald das Waisenhaus verließen. Matt, der ein Jahr jünger war als Mello, hätte eigentlich woanders sitzen müssen, allerdings wurde eine Ausnahme gemacht, weil die beiden partout nicht getrennt werden wollten. Near war es vollkommen egal wo er saß. Solange es etwas zu essen gab, war es okay. Heute gab es nach dem Festschmaus von Weihnachten etwas Leichtes zu essen. Es gab Salat, Fisch mit viel Gemüse und dazu Nudeln. Zum Nachtisch gab es Pudding mit Früchten dazu. Near setzte sich neben Fear, den sie hier den einäugigen Aristokraten nannten. Er war in jeder Hinsicht ein Außenseiter und ziemlich merkwürdig. Sein rechtes Auge war bandagiert, sein Haar silbergrau und er trug gerne vornehme Kleidung. Als er hier ankam, vermutete man bei ihm eine Form von Autismus, da er nicht fähig war, sich selbst zu integrieren und Erlebnisse und Reize richtig zu verarbeiten. Meist kauerte er in einer Ecke und brabbelte völlig zusammenhangloses Zeug, so als sei er völlig überfordert und stünde kurz vorm Durchdrehen. Wie die Festplatte eines Computers, die heißgelaufen war. In Menschenmengen war es noch viel schlimmer aber inzwischen war er ruhiger geworden. Soweit Near richtig informiert war, war Fear Russe und wurde irgendwo an der Grenze aufgegabelt.

„Weißt du, wann die Vorbereitungen für die Silvesterfeier sind?“

„Fünfzehn… Fünfzehn dreißig runter, rechts, rechts, links.“ Es war oft sehr schwierig zu verstehen, was er eigentlich sagen wollte. Aber Near verstand schon, was er meinte: Fünfzehn dreißig war die Uhrzeit und die Richtungen, die er nannte, waren der Weg vom Speisesaal aus zum Salon.

Fear war der Einzige, der offenbar eine Art geistige Behinderung hatte. Nun ja, zumindest der Einzige, der noch da war. Vor einiger Zeit hatte sich ein Waisenkind angeblich umgebracht, weil es den Leistungsdruck nicht mehr ausgehalten hat und das andere litt unter Wahnvorstellungen. Behauptete steif und fest sehen zu können, wann Menschen sterben. Nach dem Selbstmord von A war B spurlos verschwunden und selbst L konnte ihn nicht mehr wieder finden. Aus seiner Hosentasche holte Fear schließlich ein Tablettendöschen, holte eine heraus und schluckte sie mit Wasser runter. Ein Medikament, welches so ähnlich wirkte wie bei Hyperaktiven, damit er sich besser konzentrieren konnte. Als er sie eingenommen hatte, schien er ein klein wenig zu entspannen. „Ich soll dir von Roger sagen, dass du bald wieder zur Untersuchung musst.“

„Nicht schon wieder“, murmelte Near und seine Laune war nun endgültig auf dem Tiefpunkt. Nichts hasste er mehr als Ärzte, denn die sahen Menschen lediglich als eine Ware an und fummelten an ihren Körpern rum. Zumindest sagte Near das, wenn man ihn fragte aber eigentlich hatte er ein anderes Problem. Ein ganz massives Problem, welches er ganz gut geheim gehalten hatte und das es ihn als Herzkranken alles andere als einfach machte: Er litt von klein auf an Belonophobie und konnte sie nur mit allergrößter Mühe unter Kontrolle halten. Belonophobie war nichts Weiteres als eine krankhafte Angst vor Nadeln. Nun gut, vor Nähnadeln oder Zahnstochern hatte er jetzt keine sonderliche Angst aber sobald er auch nur eine Spritzennadel erahnte, bekam er Schweißausbrüche und Schwindelanfälle und sein Herz begann zu rasen. Allein das war für jemanden mit schwachem Herzen schon ungesund genug. Genau deshalb tat Near alles daran, um einen Arztbesuch wenn möglichst zu vermeiden und um Arztpraxen und Krankenhäuser einen großen Bogen zu machen. „Und wann genau?“

„Übermorgen, dann kommt Hester vorbei.“ Hester Holloway war die zuständige Ärztin für Near und war ausgebildete Chirurgin und Allgemeinmedizinerin. Außerdem hatte sie einen Doktortitel in der Psychologie. Sie war nicht nur für die medizinische Betreuung der kranken Kinder im Waisenhaus zuständig sondern war auch L’s persönliche Ärztin. Sie war eine der wenigen, die ihn jemals persönlich getroffen hatten und sie genoss sein bedingungsloses Vertrauen. Sie war eine schöne junge Frau, intelligent und sie betrieb sogar Kampfsport. Da Near schon herzkrank ins Waisenhaus gekommen war, musste er regelmäßig zu Untersuchungen und das gefiel ihm überhaupt nicht. Aber gegen Hester selbst hatte er eigentlich nichts. Sie kannte seine Angst und sie konnte die Nadeln setzen, ohne dass man es spürte. Sie behandelte ihn nicht wie ein totales Kleinkind, aber auch nicht wie irgendeinen x-beliebigen Patienten. Trotzdem konnte sie auch nichts dagegen machen, dass er Ärzte nicht leiden konnte.

Nach dem Essen ging Near in den Informatikraum um weiter nach Adressen zu suchen, wo Porzellanpuppen hergestellt wurden. Anschließend telefonierte er diese Adressen ab, stand aber am Ende ohne Ergebnisse da. An eine Alice Chevalier konnte sich niemand erinnern. Selbst als er sich mit der Hilfe von Oliver die Kundenlisten gehackt hatte, war nirgendwo der Name Chevalier verzeichnet. Aber woher kam diese Puppe dann?

Die Tür ging auf und Mello kam herein. Mit wie immer genervtem Blick setzte er sich an einen Computer und begann etwas zu recherchieren. „So ein Scheiß“, murmelte er und begann Schokolade zu essen um seine Nerven zu beruhigen. „Irgendwie hab ich diesen Fall immer noch nicht durchschaut. Mir fehlt ein Bindeglied.“

„Bist du noch an der Entführungsserie im Norington-Kinderheim dran?“

„Es ist zum verrückt werden. In einer einzigen Nacht verschwinden fünfzehn Kinder. Fünfzehn Kinder! Wie zum Teufel hat der Kerl das angestellt? Und nicht nur im Norington-Waisenhaus sind Kinder verschwunden. In ganz England ist es zu Entführungen gekommen und bis heute ist keiner der Verschwundenen aufgetaucht. Es ist zum Verrücktwerden. Warum zum Teufel werden in einer Woche über 50 Kinder entführt?“

„Menschenhandel?“

„Nein, ich hab das bereits abgecheckt. Und es ist bis jetzt nicht mal ein Erpresserbrief aufgetaucht. Und ein Pädophiler würde nicht dermaßen viele Kinder entführen. Da ist was faul. Aber… warum erzähl ich dir das überhaupt? Was geht dich das denn eigentlich an? Wolltest du nicht mit deiner dämlichen Puppe spielen?“

„In ihr steckt ein Rätsel, ein äußerst kniffliges… und je schwieriger es wird, desto interessanter ist diese Herausforderung.“

„Viel Spaß noch damit.“

Damit machte sich Mello wieder an die Arbeit und schrieb. Hin und wieder fluchte er, dann glaubte er doch noch etwas gefunden zu haben und das Ganze endete dann in einem Tobsuchtsanfall, weil er mal wieder auf dem Schlauch stand. Dann begann er auf die Tastatur zu schlagen, warf einen Stuhl um und verließ den Informatikraum, wobei er Flüche aussprach, die nicht wirklich jugendfrei waren. Und manche hörte Near zum ersten Mal und hätte sie am liebsten gar nicht erst gelernt. Eigentlich hätte er sich gerne dem Entführungsfall gewidmet, aber er hielt es für besser, Mello nicht in die Parade zu fahren. Das letzte Mal stand dieser kurz davor, ihn windelweich zu prügeln und bei der ganzen Aufregung hatte Near Herzrasen bekommen und lag danach drei Tage im Krankenhaus. Nee, diesen Ärger sparte er sich lieber. Inzwischen hatte er kapiert, dass Mello ihn hasste und sich ziemlich schnell provozieren ließ, auch wenn Near ihn niemals absichtlich provoziert hatte. Deswegen machte er lieber einen Bogen um Mello.

Nachdem er seine eigenen Nachforschungen abgebrochen hatte, ging er in die Bibliothek, jedoch nicht um zu lesen, sondern um zu sehen, wie der Schnee fiel und die Welt vollständig in ein weißes Kleid hüllte. Ein makelloses strahlendes Weiß, das als einzelne Flocke so vergänglich und klein war, jedoch in Form von Schneemassen in der Lage war, den Verkehr lahmzulegen. Als er diesen rein weißen Schnee sah, musste er an das Mädchen denken, das er beim Schlittschuhlaufen gesehen hatte. Ihre Haut hatte dasselbe weiß und ihre Augen bargen ein Geheimnis, das wohl niemals zu ergründen sein würde. Wer war sie bloß? Als er sie das erste Mal gesehen hatte, glaubte er zuerst, dass sie ein Engel wäre. Er hatte schon viele Engelbildnisse gesehen und dieses Mädchen war noch viel schöner gewesen. Das letzte Mal, als er so etwas Schönes gesehen hatte, war… nein… daran wollte er nicht denken. Jedes Mal überkam ihn eine tiefe Angst, wenn er an die Zeit dachte, bevor er nach Wammys House kam. An das meiste erinnerte er sich nicht mehr. Nur noch an schreiende Menschen, sterbende blutüberströmte Kinder und brennende Häuser. Und an Menschen mit Gewehren, die Frauen niederschossen.

Dann musste er an seine Schwester denken. Daran, wie sie gefangen genommen und… danach verschwand alles hinter einem blutroten Schleier.

Allein schon von der Erinnerung wurde ihm speiübel und so öffnete er das Fenster, um frische Luft zu schnappen. Der eiskalte Wind brachte ihn wieder zurück in die Wirklichkeit und kühlte seinen Kopf. Schneeflocken wehten herein und von draußen hörte er das Lachen von Kindern, die sich gegenseitig mit Schneebällen bewarfen oder Schneemänner bauten. Er blieb lieber drin, hier war es sicher….

Warum wollte es ihm nicht gelingen, dieses Rätsel zu entschlüsseln? Vielleicht, weil er keinen Anfang fand? Er wusste ja noch nicht einmal, wonach er überhaupt suchen musste. Bei einem Kriminalfall war es ja anders. Man hatte Opfer, man hatte einen unbekannten Täter und meistens eine Tatwaffe. Man musste nur die restlichen Bindeglieder finden, die einzelnen Puzzleteile zu einem Gesamtbild zusammenfügen und das war es auch schon. Hier hatte er nur eine Puppe und keinerlei Anhaltspunkte. Wo sollte er überhaupt anfangen? Das war das Problem und genau darin lag die Herausforderung. Vielleicht fand er den Hinweis ja in den Materialien der Puppe, aus der sie hergestellt worden war. Dazu musste er einen Spezialisten fragen, der sich mit Porzellan auskannte. Mal überlegen, wen gab es denn da? Da war der Antiquitätenhändler Jefferson, der auch edles viktorianisches Porzellanservice verkaufte und die Porzellansammlerin Growe. Vielleicht hatte er ja Glück und Miss Growe war zuhause. Er schloss das Fenster wieder und ging in das kleine Zimmer im Eingangsbereich, wo es ein Telefon gab. Er suchte aus dem Telefonbuch Miss Growes Nummer heraus und rief sie an. Eigentlich hatte er ja keine Lust, bei diesem Wetter rauszugehen (und dabei war es trotz Winter schön und sonnig) rauszugehen, aber da sich die alte Dame bei einem Treppensturz das Bein gebrochen hatte, konnte sie kaum laufen und übers Telefon ließ sich schlecht feststellen, aus welchem Material die Puppe gefertigt worden war. Also vereinbarte er mit ihr, in knapp einer Stunde bei ihr zu sein.

Knochenporzellan

Muriel Growe war eine untersetzte 78-jährige Dame, unverheiratet und kinderlos. Ihr einziger Mitbewohner war ihr Siamkater Sokrates, der Near mit deutlichem Misstrauen begegnete und immer wieder laut miaute, wenn er das Gefühl hatte, nicht mehr im Mittelpunkt zu stehen. Ein kleiner Prinz eben. Das Apartment der alten Dame war vollgestopft mit Porzellanfiguren, Tassen, Teller, kleineren Büsten und sogar bemalte Dachziegel. Viele Sammlungsstücke waren wertvolle Antiquitäten und da schon ihre Großeltern mit der Porzellanherstellung vertraut waren, galt sie als wahre Expertin. Sie empfing Near herzlich, als sie von ihrem Neffen Colin im Rollstuhl zum Eingang geschoben wurde. „Du bist also der junge Mann, der etwas über Porzellanpuppen wissen will? Komm erst mal herein, wir trinken erst mal einen Tee.“ Near setzte sich ins Wohnzimmer aufs Sofa, welches einen uralten muffigen Bezug mit abscheulichen Mustern hatte, das wirklich nur alten Leuten gefallen konnte. Die ganze Einrichtung war vollkommen altmodisch und typisch für Senioren. Naja, zum Glück musste er hier nicht wohnen. Freiwillig würde er nicht hierbleiben. Miss Growe servierte einen asiatischen Grüntee und dazu Gebäck. Nur den Tee rührte Near an und zeigte die Puppe. „Ich habe sie von einer Bekannten bekommen, die diese Puppe gerne verkaufen will. Allerdings will der Interessent wissen, um was für ein Porzellan es sich handelt. Ich hatte gehofft, Sie könnten weiterhelfen.“ Vorsichtig nahm die alte Frau die Puppe entgegen und setzte eine Spezialbrille auf, wie sie auch von Uhrenmachern verwendet wurde auf, um selbst die feinsten Details sehen zu können. Sie wog das Püppchen vorsichtig ab, betastete die Oberfläche und klopfte diese ab. Dabei stieß sie immer wieder ein „hm“ aus und hielt sie hin und wieder näher ins Licht. Schließlich nahm sie ein paar Vergrößerungsgläser hinzu und sah sich den Kopf, die Gliedmaßen und den Torso der Puppe an. Schließlich setzte sie die Brille ab und gab Near die Puppe zurück. „Wirklich eine außerordentlich feine Ausarbeitung. Wer immer sie gebaut hat, er versteht sein Handwerk und besitzt äußerst geschickte Hände. Der Körperbau ist dem eines Menschen nachempfunden worden und damit sie besser bewegt werden kann, wurden Kugeln an den Gelenken eingebaut. Die Augen sind hochwertig und das Haar ist echtes Menschenhaar.. Also was das Material angeht, so handelt es sich eindeutig um Fine Bone China, ein Weichporzellan. Es wird bei einer für Porzellan niedrige Temperatur gebrannt und ist wärme- und stoßempfindlicher als Hartporzellan. Fine Bone China ist ein so genanntes Knochenporzellan.“

„Knochenporzellan?“

„Ja, ein sehr hochwertiges Porzellan, das besonders wegen seines festen, strahlend weißen brillanten Glanz geschätzt wird. Es wird aus Kaolin, bildsamen Ton, Quarz, Pegmatit und Spodium hergestellt. Kaolin wird auch als weiße Tonerde bezeichnet und wird oft in der Papier- und Porzellanherstellung verwendet. Pegmatit ist eine grobkörnige Varietät eines magmatischen Gesteins und Spodium ist phosphorsaurer Kalk, der aus Tierknochen oder Elfenbein gewonnen wird. Spodium ist also nichts weiter als Knochenkohle bzw. Knochenasche.“

„Welche Verwendungen hat man für Knochenporzellan?“

„Für alles mögliche. Geschirr, Vasen…. Es gilt als das beste und edelste Porzellan überhaupt. Was die Verarbeitung der Puppe angeht, so ist es auf jeden Fall Handarbeit und die Puppe ist ein kleines Vermögen wert, mein Junge.“ Edles Knochenporzellan. Hergestellt aus Tierknochen…. Eine seltsame Vorstellung. Lag hier drin etwa das große Rätsel? Selbst wenn dem so wäre, hätte Near immer noch keinen eindeutigen Anhaltspunkt. „Ist sonst etwas an der Puppe ungewöhnlich?“

„Außer, dass sie echtes Menschenhaar hat, eigentlich gar nichts.“

„Könnten Sie anhand der Puppe sagen, wer sie gemacht hat?“

„Tja, da müsste ich mal überlegen.“ Nachdenklich rührte Miss Growe ihren Tee um, gab zwei Stück Würfelzucker hinein und rieb sich mit der anderen ihre alten Augen. „Es gab da doch mal diesen einen Mann“, murmelte sie und gab immer wieder „hm“ von sich und nickte zwischendurch. „Soweit ich weiß, ist er kein beruflicher Puppenmacher. Die Puppen verkauft er auch nur an Privatkunden und sonst an niemanden.“

„Können Sie sich an seinen Namen erinnern?“

„Das versuch ich gerade. Ich weiß, dass er ein berühmter Arzt war, bis er nach einem schweren Verkehrsunfall seinen Beruf an den Nagel gehängt hatte. Seitdem bastelte er nur noch Porzellanpuppen.“ Doch so sehr die alte Dame auch überlegte, sie konnte sich partout nicht mehr an den Namen erinnern. „Wissen Sie wenigstens ob er hier in England lebt?“

„Davon gehe ich aus. Allerdings ist er in Bukarest aufgewachsen. Der Mann war doch erst letztens im Fernsehen. Wo habe ich ihn noch mal gesehen? In einer Reportage? Oder war es in den Nachrichten? Ach Gott, ich habe es völlig vergessen.“ Nun gut, wäre auch zu schön gewesen um wahr zu sein. Jedenfalls waren diese Informationen schon mal ein bedeutender Anfang. Near wusste jetzt, dass die Puppe aus Knochenporzellan bestand und ihr Schöpfer ein ehemaliger Arzt war, der mal in den Nachrichten war. Vielleicht wusste Hester ja, wer dieser Mann war und konnte sich an seinen Namen erinnern. Entweder lag das Rätsel im Knochenporzellan oder beim Puppenmacher. Near bedankte sich bei Miss Growe und kehrte zurück nach Wammys House. Es machte keinen Sinn, Hesters Praxis aufzusuchen, sie kam sowieso demnächst vorbei um ihn zu untersuchen. Einen Versuch war es ja wert.

Als er die Wohnung von Miss Growe verließ, wehte ihm ein eiskalter Wind entgegen, der in seinem Gesicht schmerzte. Near zog seine Winterjacke fester zu und richtete seinen Schal. Zum Glück hatte Oliver ihm die Stiefel ausgeliehen, denn es herrschte zum Teil Glatteis und da Near so gut wie nie rausging, hatte er auch keine ordentlichen Winterschuhe. Er kam völlig durchgefroren zurück und wärmte sich erst mal bei einer Tasse heißer Schokolade. So ein verdammtes Wetter. Obwohl er schon seit einigen Monaten hier in England lebte, hatte er sich noch nicht an das kühle Klima gewöhnt. Vorher hatte er bei seiner Schwester gelebt, die in Birma als Sanitäterin einer Hilfsorganisation gearbeitet hatte. Birma… nie wieder wollte er dorthin zurück.

Der Tag neigte sich langsam dem Abend zu und Near verbrachte die restliche Zeit damit, seinen Bausteinturm noch weiter zu vergrößern, mit seinen Transformerspielzeugen zu spielen und anschließend noch ein Schiffsmodell zusammenzubasteln. Dann ging er in den Speisesaal zum Abendessen und besprach sich ein wenig mit Fear, der an einem wichtigen Projekt zur menschlichen Tiefenpsychologie und Philosophie arbeitete. Im Fach Sozialwissenschaft und Psychologie waren sie beide Partner und bearbeiteten zurzeit verschiedene Unterthemen und Schwerpunkte. Allein wäre diese Arbeit kaum zu bewältigen und die Note der Arbeit machte die Hälfte der sonstigen Mitarbeit aus. Und deswegen war es wichtig, gute Arbeit zu leisten, selbst wenn Near der Intelligenteste war. „Hast du schon Nietzsche und Freud ausgearbeitet?“

„Freud ist fertig, Nietzsche nicht“, antwortete Fear und biss ein Stück von seinem Butterbrot ab. „Ich hab Schwierigkeiten mit den Kernaussagen des Zarathustra-Textes, aber bis Freitag bin ich auf jeden Fall fertig. Und bei dir?“

„Die Texte von Schopenhauer und Descartes habe ich schon längst fertig. Falls du mit Nietzsche nicht weiterkommst, gib mir den Text. Dafür kannst du schon mal damit anfangen, die Texte zusammenzufassen.“ Zugegeben, der Nietzsche-Text war ziemlich schwierig zu verstehen, weil er sehr umständlich und kompliziert geschrieben war. Viele der Kinder verstanden ihn nicht und so war es auch nicht sonderlich verwunderlich für Near, dass sein Projektpartner ebenfalls aufgeben musste. Normalerweise hätte er alles alleine bearbeitet, aber es mussten ja Arbeitsgruppen gebildet werden…. Und alleine würde er noch länger für die ganzen Materialien brauchen.

Nach dem Abendessen folgte Near seinem Projektpartner zu dessen Zimmer, nahm den Nietzsche-Text „Also sprach Zarathustra“ und die dazugehörigen Notizen entgegen. Dafür brachte er ihm seine fertigen Texte zum Bearbeiten. Heute würde nichts Interessantes mehr passieren. Zumindest glaubte er das. Tatsächlich aber kam es am Abend noch zu einigen Turbulenzen, als nämlich Mello zusammen mit ein paar Älteren so etwas Ähnliches wie Paintball spielten und laut schreiend durch das ganze Haus rannten. In Wahrheit waren das so etwas wie Mehlbomben, die ein ziemlich großes Chaos anrichteten. Auch Near wurde Opfer dieses brutalen und heimtückischen Attentats als Oliver versuchte, Matt zu treffen, der aber hinter einer Säule in Deckung ging und stattdessen Near in einer Mehlwolke verschwand. Da er aber sowieso schon so weiß wie ein Schneeglöckchen war, machte es keinen großen Unterschied zu vorher. Trotzdem hatte er jetzt im Gesicht und im Haar sowie auf der Kleidung überall Mehl und da half ihm eine Entschuldigung seines Angreifers auch nicht groß weiter. Fast das ganze Waisenhaus wurde Opfer der verheerenden Mehlbombenschlacht und es sah drinnen jetzt genauso aus wie draußen im verschneiten Garten. Als Roger das sah, hagelte es nur so an Strafen und jene Beteiligte, die erwischt wurden, mussten das ganze Chaos beseitigen. Insgesamt wurden 6 weitere Zivilisten neben Near Opfer der terroristischen Mehlbombenattentate und wurden unter die Dusche geschickt. Die Gruppe „Ebony“, die von Rebellenführer Mello geführt wurde, hatte schwere Verluste zu melden. Fast alle wurden getroffen, sechs mussten das Schlachtfeld von Gefahrengut säubern und zwei gelang die Flucht. Die gegnerische Truppe „Ivory“ hatte es weniger schwer getroffen. Im Kampf für Recht und Freiheit haben sie zwei Leute verloren, einer wurde schwer verwundet und drei mussten die Strafarbeiter der Gegengruppe unterstützen. Der Rest kam triumphierend von einer ruhmreichen Schlacht zurück. Die Rebellengruppe „Ivory“ hatte das Waisenhaus von den schrecklichen Terroristen befreit!

Near brauchte fast eine halbe Stunde, bis er die letzten Mehlreste rausgewaschen hatte. Nicht nur Mehl hatte er abbekommen, sondern auch noch Sprühsahne, die einer der „Ivorys“ aus dem Waffenlager namens „Küche“ entwendet hatte. Die ganze Aufräumaktion wurde in den späten Morgenstunden des darauf folgenden Tages fortgesetzt und die Essensrationen beider verfeindeten Truppen wurden gekürzt. Eine Woche lang wurde der Nachtisch gestrichen und ein Arrest verhängt. Schwerer hätte diese Kriegsstrafe nicht sein können.

Trotz der großen Reinigungsaktion nach der verheerenden Schlacht fanden sich immer noch Mehl- und Sahnerückstände, die die Kriegsgefangenen beseitigen mussten. Near jedenfalls war froh, dass dieser Unsinn endlich vorbei war und fragte sich manchmal, ob das hier ein Irrenhaus war. Andererseits waren sie alle Kinder und vielleicht gehörte es ja dazu, so eine Verwüstung anzurichten. Nach dem Frühstück ging er in die Bibliothek um ein Buch über Knochenporzellan oder allgemeine Keramik zu finden. Dabei rempelte er aus Versehen Chris an, der gerade einen riesigen Stapel Bücher schleppte. Chris gehörte zu den Ältesten im Waisenhaus und war von Geburt an taub. Seine Markenzeichen waren die Kopfhörer die er nie abnahm und die für einen Menschen ohrenbetäubende Bässe von sich gaben und sein Shirt mit der Aufschrift „Deaf but not dumb!“ Ein kleines Wortspiel, dass entweder in „Taub aber nicht stumm“ oder „taub aber nicht blöd“ übersetzt werden konnte. Chris besaß eine unglaubliche Gabe neben seiner Fähigkeit, Lippenlesen zu können. Anhand von Mikroexpressionen konnte er tatsächlich erkennen, was sein Gegenüber dachte oder fühlte und so konnte er sofort erkennen, ob jemand log oder nicht. „Entschuldige, ich hab dich nicht gesehen.“ Near half ihm, die Bücher aufzuheben und wieder zu stapeln. Chris machte ein Zeichen, dass er ihn auch nicht gesehen hatte und entschuldigte sich ebenfalls. Schließlich fragte er, was Near eigentlich suchte.

Chris, der mit anderen Kindern nicht zusammenarbeiten konnte, da die wenigsten die Gebärdensprache beherrschten und somit nicht mit ihm reden konnten, galt als Einzelgänger wider Willen und hatte nicht viele zum Reden. Auch einige Lehrer hatten dieses Problem, woraufhin Chris Privatunterricht bekam und durch speziellen Unterricht trotz seiner Taubheit sein Wissen leicht ausbauen konnte. Die meiste Zeit half er in der Bibliothek aus und zeichnete sich dadurch aus, dass er genau wusste, wo es welches Buch zu finden gab und welches man zu Rate ziehen sollte. Deswegen durfte er hier bleiben, obwohl er bereits 16 Jahre alt war und jedes Kind das Waisenhaus im Alter von 15 Jahren verlassen musste. Bald würde er die komplette Bibliotheksleitung übernehmen, wenn er bis dahin nichts anderes fand.

„Ich suche ein Buch über Keramik, besonders über Fine Bone China.“

„Suche am besten im Regal, wo die Historikbücher stehen. In der dritten Reihe findest du das Buch „Kunst und Handwerk in Asien“. Da findest du alles über die chinesische Keramik.“ Near bedankte sich für den Tipp und suchte die Abteilung für Weltgeschichte. Diese befand sich etwas weiter hinten und aus der dritten Reihe holte er schließlich das Buch „Kunst und Handwerk in Asien“. Er suchte im Inhaltsverzeichnis die richtige Seite raus und als er diese aufgeschlagen hatte, fiel ein Briefumschlag heraus. Er war nicht versiegelt und so öffnete Near ihn und holte den Brief heraus. Dieser duftete dezent nach Rosen und die Schrift war elegant und ein wenig altertümlich. Ein Zeichen dafür, dass der Schreiber geschickt in Kalligraphie war.
 

„Meinen herzlichen Glückwunsch Near,

du bist auf der richtigen Spur. Aber noch hast du nicht das ganze Rätsel gelöst. Ich werde dir einen kleinen Hinweis geben, um dir ein wenig zu helfen: Suche nach einem Zeitungsartikel vom 15. Mai vor fünf Jahren. Vielleicht findest du ja etwas Interessantes, das dir weiterhelfen könnte.
 

Viel Glück noch bei deinem Rätsel
 

Alice Chevalier
 

Soso, dann hatte sie also gewusst, dass er nach diesem Buch suchen würde? Aber wann hatte sie diesen Briefumschlag in dieses Buch geschmuggelt und wie war sie unbemerkt hier reingekommen? Near ging zurück zu Chris um ihn zu fragen, wer sich dieses Buch schon mal ausgeliehen habe, oder ob ein Mädchen mit Puppenaussehen in die Bibliothek gekommen sei. Der taube 16-jährige schüttelte den Kopf und erklärte, er habe kein solches Mädchen gesehen und das Buch hatte sich bis jetzt niemand ausgeliehen. Folglich also musste sich Alice heimlich Zutritt ins Waisenhaus verschafft haben. Aber warum diese Heimlichtuerei? Warum tat sie so geheimnisvoll? Hatte sie etwa einen Grund dazu?

Naja, im Moment blieb ihm wohl nichts anderes übrig, als Alices Hinweis zu folgen und den Zeitungsartikel von damals zu finden, was immer da auch drin stand.

Zum Glück hatte die Bibliothek in Wammys House ein eigenes Archiv und mit Chris’ Schlüssel kam Near rein. Er half ihm, die Zeitungen des entsprechenden Jahres zu finden und legte sie für Near auf den Tisch. „Das sind alle, die ich für den 15. Mai finden konnte. Was genau suchst du denn?“

„Weiß ich selbst noch nicht.“

„Wenn du was brauchst, du findest mich vorne. Ich muss die Register überarbeiten.“ Als Chris gegangen war, begann Near die Zeitungen näher unter die Lupe. Er hatte nicht die geringste Ahnung, nach was genau er suchen sollte, aber ganz sicher würde er es wissen, wenn er den Artikel fand. Insgesamt hatte er fast sieben verschiedene Zeitungen vor sich und er entschied sich, alphabetisch vorzugehen. Er durchblätterte den Wirtschaftsteil, die Lokalnachrichten und alles, was sich im Ausland zugetragen hatte. Selbst die Stellenanzeigen nahm er unter die Lupe sowie den Prominententeil, fand jedoch nichts was mit Alice oder der Puppe zu tun hatte. Nach und nach hatte er jede Zeitung untersucht und doch nichts gefunden. Schließlich stand er kurz davor, die Zeitungen wegzulegen, da sah er für einen kurzen Augenblick den Namen Alice Chevalier irgendwo, als er alles zusammenlegen wollte. Schnell schlug er die Stelle wieder auf und spürte, wie ihn ein leichter Schrecken durchfuhr. Tatsächlich stand da der Name Alice Chevalier, da bestand kein Zweifel. Der Name war groß geschrieben und unübersehbar. Es handelte sich allerdings nicht um einen Artikel über sie, sondern um nichts anderes als eine Todesanzeige. In dieser stand, dass sie am 14. Mai im Alter von gerade mal 13 Jahren verstorben war. Normalerweise brachte Near nie etwas aus der Fassung, aber diese Todesanzeige jagte ihm einen eiskalten Schauer über den Rücken. Was hatte das zu bedeuten? Warum stand da, dass Alice vor fünf Jahren verstorben war? Konnte es sich um einen Irrtum handeln und es war eine andere Alice Chevalier? Aber wie viele Chevaliers wohnten denn schon in London? Sicher nicht viele und außerdem würde Alice ihn wohl schlecht auf eine Todesanzeige aufmerksam machen, wenn es sowieso eine falsche Spur war. Aber was genau wollte sie ihm mitteilen? Gab es irgendein dunkles Geheimnis, das niemand außer ihr wusste?

Was Near dann noch auffiel, war eine zweite Todesanzeige für Alice, allerdings nicht von ihrer Familie, sondern vom Chef der Universitätsklinik in London. Seltsam, warum hat die Klinik eine Anzeige aufgegeben? Alice war doch erst 13 Jahre alt und selbst wenn sie dort behandelt worden wäre, so etwas geschah nicht ohne Grund. Aber bevor er sich weiter mit den Todesanzeigen beschäftigte, suchte er nach einem Zeitungsartikel des vorigen Tages, wo der Unfall stattgefunden hatte. Dieses Mal wurde er etwas schneller fündig und tatsächlich stand da ein Kurzbericht, in dem es hieß, dass Alice Chevalier auf dem Weg nach Hause von einem Kleintransporter erfasst und gegen einen Baum gequetscht wurde. Der Fahrer selbst starb bereits am Unfallort und war stark alkoholisiert. Alice kam mit schweren Verletzungen ins Krankenhaus, überlebte die Notoperation nicht und starb knapp zwei Stunden später. Mehr stand da nicht.

Aber dank der Todesanzeigen wusste er jetzt, dass ihr Vater Chirurg an der Universitätsklinik gewesen war und William Chevalier hieß. Im Laufe des Tages würde er sich ein wenig mehr über diesen Chirurg erkundigen, allerdings stand da noch ein Termin aus, den er lieber umgehen würde: Die Untersuchung bei Dr. Hester Holloway. Nicht gerade das, worauf er sich wirklich freuen würde, aber wenn er sich davor drückte, konnte das noch unangenehm für ihn werden.

Er nahm die Zeitungen mit den wichtigen Informationen mit und legte die anderen wieder weg. Dann verließ er die Bibliothek und machte sich auf den Weg zum Behandlungszimmer im Ostflügel.

Fragiles Herz

Hester Holloway war eine hübsche Frau mit einem Hauch von Exotik und langem schwarzen Haar. Unter ihrem Ärztekittel trug sie eine bordeauxfarbene Bluse und dazu einen kurzen Rock und Schuhe mit hohen Absätzen. Sie begrüßte Near gut gelaunt und sah sich seine Krankenakte an. „Wie geht es dir denn so?“

„Wie immer“, antwortete dieser knapp und vermied es, die Behandlungsutensilien auf dem Tisch anzusehen denn allein die reichten schon aus, um ihn nervös zu machen. Der Geruch von Desinfektionsmitteln schlug ihm in die Nase und steigerte dieses unwohle Gefühl nur noch. Hester drehte ein wenig auf ihrem Drehstuhl herum und hob die Augenbrauen. „Da verschweigst du mir doch etwas. Du hattest vor vier Tagen einen leichten Herzanfall.“

„Tobis Taranteln sind ausgebrochen und eine hatte sich in meinem Bett versteckt. Viele hätten da einen Schreck gekriegt, wenn sie ein achtbeiniges haariges Monster unter der Decke finden.“

„Nimmst du deine Tabletten regelmäßig?“

„Ja.“

„Wie viele hast du noch?“ Near reichte ihr die Verpackung und Hester sah sich das an. Es waren nicht mehr viele da. Bis zur nächsten Untersuchung würde sie ihm neue geben müssen, sonst könnte er noch bei größerer Aufregung einen weiteren Herzanfall oder sogar einen Infarkt bekommen. Das konnte für ihn sehr gefährlich werden. Nach der Besprechung begann die übliche Prozedur. Augen, Ohren und Rachen wurden untersucht, dann die Lungen und schließlich das Herz und der Puls. Letzterer war etwas erhöht, rührte aber hauptsächlich von der Aufregung her. Schließlich kam das, wovor sich Near am meisten fürchtete: Die Blutabnahme. Da er neben seinem Herzfehler hin und wieder mit einer Anämie zu kämpfen hatte, musste er zusätzlich Tabletten schlucken, um seinen Eisenwert zu stabilisieren. Und um diesen zu kontrollieren, musste ihm Blut abgenommen werden. Ein wahrer Fluch war das. Bis jetzt hatte Near niemanden von seiner Phobie erzählt. Es war durch einen unglücklichen Zufall ans Tageslicht gekommen als man ihn in der Uniklinik in London kurz nach seiner Ankunft untersucht hatte und es zu Schwierigkeiten kam, weil sich in seiner Angst einige Venen verengt hatten und somit kein Blut floss. Man hatte es an mehreren Stellen versucht und irgendwann hatte Near die Nerven verloren und sich lauthals zur Wehr gesetzt. Hester wusste seitdem um seine Angst Bescheid und versuchte, ihm dieses Prozedere so angenehm und schnell wie möglich zu machen. „So, jetzt leg dich da hinten auf die Liege, schließ die Augen und versuch dich zu entspannen.“ Sie sagte ihm wissentlich nicht, dass sie ihm jetzt Blut abnehmen würde. Das würde es doch nur schlimmer machen. Und wenn Near die Augen geschlossen hatte, dann fiel es ihm auch einfacher, mit seiner Angst umzugehen und ruhig zu bleiben. An seinem Arm wurde nun der Gurt zugeschnürt und er musste die Hand leicht zur Faust ballen. Soweit so gut, er blieb ganz ruhig. Doch als Hester schließlich die Stelle mit einem mit Desinfektionsmittel benetztem Tuch die Stelle an seinem Arm rieb, an dem sie die Nadel ansetzen würde, kam ihm doch die Angst.

Er versuchte ruhig zu atmen und an etwas anderes zu denken als an die Spritze, aber es fiel ihm wirklich schwer. Ihm wurde schlecht und kalter Schweiß brach aus.

Dann spürte er ein unangenehmes Pieksen und während das Blut abgenommen wurde, versuchte er sich immer wieder einzureden, dass es gleich vorbei sei. Aber anscheinend gab es Schwierigkeiten, denn Hester bewegte nun die Nadel in seinem Arm und drückte ein wenig. „Gibt es Probleme?“ fragte Near, der immer noch die Augen geschlossen hatte.

„Da kommt nur sehr wenig. Anscheinend haben sich die Venen wieder verengt. Aber keine Sorge, wir kriegen das schon hin.“

Es dauerte knapp fünf Minuten, bis Hester schließlich die Nadel herauszog und ein Papiertüchlein auf seinen Arm drückte. „Ist dir schwindelig?“

„Ja, ein wenig.“

„Dann bleib besser noch ein wenig liegen. Sonst kippst du noch um.“ Sie reichte ihm einen Pappbecher mit Wasser, den er dankend annahm. Gott, wie er diese Prozedur hasste….

„Die letzten Werte bereiten mir ein wenig Sorgen, Near. Du hast eine erhebliche Herzrhythmusstörung. Ich muss deine Schilddrüsenwerte erst mal auf eine Überfunktion untersuchen und ich muss dir Nahrungsergänzungsmittel verschreiben. Wir versuchen erst einmal mit Medikamenten gegenzuwirken. Wenn das allerdings auf Dauer nichts hilft, müssen wir im Ernstfall über eine Herztransplantation nachdenken. Solange versuchen wir das Problem mit Medikamenten in den Griff zu bekommen.“

„Warum hat sich das verschlechtert?“

Hester zuckte mit den Achseln und sah ihn besorgt an. „Das kann alle möglichen Ursachen haben. Das Problem ist, dass dein Herz viel älter ist als der Rest deines Körpers- Du hast den Körper eines 12-jährigen, aber dein Herz ist fast 80 Jahre alt. Und ich fürchte, dass du mit diesem Herzen nicht älter als 15 Jahre alt wirst.“ Diese Nachricht erschreckte Near, äußerlich wie auch innerlich. Bis jetzt hatte er immer geglaubt, mit seinen Herztabletten könnte er noch lange mit diesem Herzen leben, auch wenn es nicht das kräftigste war. Aber dass er nur noch drei Jahre zu leben hatte, wenn er sich nicht operieren ließ, das erschreckte ihn doch sehr. „Kann man nicht irgendetwas tun, um diese verbleibende Zeit zu strecken?“

„Große Anstrengung und Aufregung vermeiden, Medikamente nehmen und gesund ernähren. Vom Sportunterricht bist du ja bereits befreit. Ich werde mit Roger und Watari darüber sprechen. Auch du solltest dir ernsthafte Gedanken machen. Je schneller du eine Entscheidung triffst, desto eher können wir alles in die Wege leiten. Aber selbst wenn du gesund lebst, wirst du im allergünstigsten Fall vier bis fünf Jahre leben. Einen Herzinfarkt hattest du bereits, ein zweiter ist umso gefährlicher und einen dritten überlebt man nicht. Ich sage dir das jetzt, damit du dir im Klaren bist, wie ernsthaft dein Zustand ist. Und ich mache mir wirklich große Sorgen um dich. Du hast dein ganzes Leben doch noch vor dir. Und das darfst du dir nicht durch ein schwaches Herz kaputtmachen lassen. Lass dir noch mal alles durch den Kopf gehen.“ Damit ging Hester zum Medizinschrank und kramte ein wenig drin herum. Schließlich holte sie drei kleine Medikamentenpäckchen heraus und schrieb etwas mit dem Kugelschreiber drauf. Die erste war sein üblicher Vorrat an Herztabletten. „Die nimmst du wie immer. Die zweite sind spezielle Präparate, die Kalium und Magnesium enthalten. Das hilft gegen deine Herzrhythmusstörung und die dritte sind spezielle Beta-Blocker. Sie verhindern größere Impulsreizungen auf das Herz. Die nimmst du nur, wenn du Atemnot und Stechen in der Brust hast. Die Beta-Blocker nimmst du dann zwei Mal am Tag und solltest dann jeglichen Stress vermeiden. Gibt es noch etwas, das dich beschäftigt?“

Near dachte an Alice Chevalier und ihre Puppe. Und an die Todesanzeige. Obwohl ihn die erschreckende Wahrheit über seinen gesundheitlichen Zustand erschreckte, so durfte er sein eigentliches Ziel nicht aus den Augen verlieren. „Kennst du vielleicht einen Dr. William Chevalier?“

„Natürlich. Wir waren Kollegen an der Londoner Universitätsklinik. Er war ein absolutes Genie in der Chirurgie. Charmant, gut aussehend und ein wahrer Meister mit dem Skalpell. Er war mein zweites großes Vorbild.“

„Hatte er Kinder?“

„Ja, eine Tochter. Er hat sie nach dem Tod seiner Frau alleine großgezogen und er hat sie wirklich vergöttert. Sie kam jeden Tag nach der Schule zur Klinik, um ihn zu besuchen und hat sich mit seinen Kollegen wunderbar verstanden. Sie war der kleine Engel in der Klinik. Bis zu dem Tag, an dem sie bei einem Unfall verstorben ist. Gerade war sie auf dem Rückweg von der Klinik und wollte nach Hause gehen, als sie von einem Kleintransporter angefahren und gegen einen Baum gequetscht wurde. Trotz unserer Versuche, sie zu retten, hat sie es nicht überlebt. Für William war es das Ende seines Lebens.“

„Was ist mit ihm geschehen?“

„Er hat seinen Beruf von einen Tag auf den anderen an den Nagel gehängt und hat zu jedem den Kontakt abgebrochen. Niemand hat mehr etwas von ihm gehört. Als ich ihn besuchen wollte, fand ich ein leeres Haus vor. Offenbar ist er weggezogen. Der Verlust seiner einzigen Tochter war einfach zu viel für ihn gewesen. Warum fragst du?“ Sollte er Hester von Alice erzählen? Davon, dass er sie getroffen hatte, obwohl sie eigentlich tot war? Und von ihrer Puppe, die sie ihm hinterlassen hatte? Einerseits war es ihm ganz und gar nicht recht, Außenstehende in sein Rätsel einzuweihen aber andererseits besaß Hester wichtige Informationen, die ihm noch nützlich sein konnten. Er entschied sich dafür, sie einzuweihen und erzählte ihr, was passiert war. Und er reichte ihr auch den Brief, den sie sich ansah. Nach und nach wich ihr jegliche Farbe aus dem Gesicht. „Tatsächlich ist das ihre Handschrift. Und diese duftende Tinte ist auch typisch für sie. Und die Beschreibung trifft auch auf sie zu. Aber wie kann Alice, die vor fünf Jahren gestorben ist, noch als 13-jähriges Mädchen Schlittschuh laufen? Es muss sich um eine Verwechslung handeln.“

„Glaube ich eher nicht. Sie wollte, dass ich von dem Unfall erfahre und auch ihre Todesanzeige lese. Sie will mir irgendetwas damit sagen und das sind folgende Möglichkeiten: Alice lebt doch noch und es gibt Ungereimtheiten bezüglich des Unfalls, oder es handelt sich um eine Betrügerin.“

„Aber ich war doch dabei, als sie operiert wurde und wir haben ihren Tod diagnostiziert.“

„Dann ist sie wohl eine Betrügerin. Oder hatte William Chevalier eine zweite Tochter?“

„Nein, völlig unmöglich. Seine Frau ist direkt nach der Geburt von Alice verstorben.“

„Was ist sonst noch nach dem Tod von Alice passiert?“

Da musste Hester überlegen und lief langsam auf und ab. Der Fall lag immerhin 5 Jahre zurück, da war es schwierig, sich noch an alle Details zu erinnern. „Ich weiß nur noch, dass kurz vor Williams heimlichen Umzug um die 5 Kinder verschwunden und nie wieder aufgetaucht sind.“

Ein Mädchen, das fünf Jahre nach ihrem Tod plötzlich wieder auftauchte… ein Chirurg, der als Meister des Skalpells gefeiert wurde und fünf Kinder, die verschwunden sind. Wie passte das zusammen? „Stimmt es, dass William als Hobby Porzellanpuppen gebaut hat?“

„Oh ja, er liebte Puppen über alles. Er sagte, sie seien die Verkörperung von Perfektion, weil sie ohne Fehler sind und nie ihre jugendliche Schönheit verlieren. Er war schon immer handwerklich geschickt gewesen, da sein Vater und sein Großvater Prothesenmacher waren. Auch er hat eine solche Ausbildung gemacht und sein Studium dadurch auch mitfinanziert.“ Ein gelernter Prothesenmacher und ehemaliger Chirurg verliert seine Tochter und taucht unter. Und kurz darauf verschwinden fünf Kinder? Wie passt das zusammen? Hatte William Chevalier vielleicht etwas mit dem Verschwinden der Kinder zu tun? Aber was für einen Grund sollte er haben? Und was für eine Rolle spielte die Puppe, die Alice ihm gegeben hatte? Near musste an Hesters Worte denken, dass Puppen für William das Sinnbild der Perfektion seien. Und Alice sah selbst wie eine lebende Puppe aus. Steckte vielleicht William dahinter, der sie zu einer lebenden Puppe gemacht hat? Aber das würde immer noch nicht erklären, warum sie wieder aufgetaucht war. Dass Hester sich irrte, war völlig ausgeschlossen. Wenn sie dabei war, als man ihren Tod diagnostizierte, dann wäre es ihr sofort aufgefallen, wenn William Chevalier getrickst hätte. Und man konnte Tote doch nicht einfach ins Leben zurückholen. Das war völlig unsinnig und bescheuert.

„Und was wirst du jetzt tun?“ fragte Hester schließlich. Near stand nun auf und ging in Richtung Tür. „Ich werde William Chevalier finden und ihn zum Tod seiner Tochter fragen.“ Damit verließ er das Behandlungszimmer. Nachdem er die Medikamente in der Schublade des Schreibtisches in seinem Zimmer verstaut und seine alten wie immer einnahm, ging er nach draußen, wo es genauso wie die letzten Tage schneite. Obwohl es furchtbar kalt war und er außer seinem viel zu großen Hemd und der Hose nichts trug, fror er nicht. Ihn beschäftigten nach wie vor Hesters Worte. Nämlich, dass er nicht mehr lange leben würde.

Schweigend legte er sich in den Schnee, so als würde er sich in ein weiches Bett legen und er starrte in den grauverhangenen Himmel. Was wäre, wenn er sich hier und jetzt hinlegte und einfach dieser Welt entschliefe? Was wäre, wenn er morgen plötzlich nicht mehr da war? Würde es jemanden kümmern? Würde überhaupt irgendjemand bemerken, dass er nicht mehr da war? Würde jemand um ihn weinen?

Eigentlich hatte er schon innerlich gewusst gehabt, dass es um ihn nicht gut stand. Immer wenn er ein Stechen in der Brust spürte und nicht atmen konnte, bereitete er sich darauf vor, dass er es nicht überleben würde. Jeden Tag hielt er sich vor Augen, dass jeder Tag sein letzter sein könnte, wenn er nicht aufpasste. Aus diesem Grund isolierte er sich von der Außenwelt und verschloss seine eigenen Gefühle. Die anderen Kinder sagten immer, er wäre gefühllos und kaltblütig. Er würde die Menschen immer nur als irgendwelche Schachfiguren ansehen und selbst nichts Menschliches besitzen. Doch dabei wusste niemand, wie es wirklich in ihm drin aussah. Auch er würde so gerne lachen wie die anderen, herumrennen und sorglos spielen. Wie gerne würde er am nächsten Mehlkrieg teilnehmen, oder bei einer Schneeballschlacht mitmischen. Aber er konnte nicht. Diese grausamen Szenen, die er da im Dschungel gesehen hatte… das viele Leid und diese Schreie. Wie konnte er noch ein Kind sein, wenn er den wahren Alptraum in der Welt gesehen hatte? Und wie konnte er mit den anderen spielen, wenn sein Herz dann stillzustehen drohte? Er hatte den Tod gesehen und lebte jeden Tag mit der Angst, dass er bald selbst einfach sterben würde. Und wer würde dann um ihn trauern? Wer würde für ihn da sein, wenn es passierte? Er hatte keine Eltern mehr, keine Verwandten, keine Freunde….

Als Near darüber nachdachte, spürte er einen Schmerz in seiner Brust und versuchte, seine Gefühle zu unterdrücken. Doch er konnte es dieses Mal nicht. Er versteckte sein Gesicht hinter seinem Arm und spürte, wie heiße Tränen sein schneeweißes Gesicht hinunterliefen. Wie konnte man dieses Leben überhaupt ein Leben nennen? „Ich will nicht sterben… Ich habe Angst…“

Schritte kamen näher und als Near sich schnell die Tränen wegwischte, sah er Mello, der dick angezogen war und offensichtlich mit ein paar anderen Kindern eine Schneeballschlacht veranstaltete. „Was machst du denn da, Near?“

„Nichts“, murmelte er und setzte sich auf. „Ich musste nur ein wenig nachdenken.“

„Du musst dir doch den Arsch abfrieren. Du kommst ja immer auf Scheißideen.“ Obwohl Mello Near zu seinem regelrechten Todfeind erklärt hatte, half er ihm hoch und ihm entgingen nicht die geröteten Augen des 12-jährigen. Er sagte aber nichts dazu. Mello hatte seine eigenen Prinzipien, was das Piesacken von Near anging. Und das beschränkte sich lediglich auf den Unterricht und auf seine Hobbys. Wenn es aber um Sachen ging wie zum Beispiel mit persönlichen Problemen umzugehen, da hielt Mello lieber die Klappe. Er selbst hatte auch genug durchgemacht um zu wissen wie hart es war, schlimme Erlebnisse zu verarbeiten. Er selbst hatte ein gewaltiges Erdbeben überlebt und war mit Matt durch Chaos und Zerstörung gegangen. Als blinde Passagiere auf einem Frachtschiff kamen sie halbtot nach Schottland und hatten es mit allerletzter Kraft nach England geschafft. Auch Mello hatte Leid und Tod gesehen und das war etwas, was ihn mit Near verband, auch wenn er es nicht gerne zugab. Und deshalb sah er es selbst als absolut asozial an, sich über andere lustig zu machen, die durch die Hölle gegangen waren. Wenn das passierte, dann zögerte er auch nicht, handgreiflich zu werden. Alles hatte seine Grenzen.

Trotzdem konnte er sich nicht dazu überwinden, einen Schritt auf Near zuzugehen und mit ihm über seine Sorgen zu reden. Auch er hatte seinen Stolz und dieser war manchmal größer als sein Mitgefühl für andere. Jeder hatte eben seine eigene Art, mit seinen Problemen umzugehen.

Beim Aufstehen wurde Near schwindelig und kurzzeitig wurde ihm schwarz vor Augen und er kippte nach hinten. Mello hielt ihn jedoch fest, damit er nicht hinfiel. „Wenn du krank bist, dann geh gefälligst ins Bett.“

„Ich bin nicht krank… mir ist nur schwindelig.“

„Nichts als Ärger hat man mit dir, echt jetzt….“ Da Near völlig unsicher auf den Beinen war, nahm Mello ihn auf den Rücken und brachte ihn zu seinem Zimmer. Auf dem Weg stieß er auf ein paar Kinder, die das sahen und anfangen sich darüber lustig zu machen. Doch das ließ sich Mello nicht gefallen und drohte damit, sie allesamt windelweich zu prügeln wenn sie nicht die Schnauze hielten. Als sie schließlich vor Nears Zimmer standen, setzte Mello den Geschwächten ab und sagte nur noch mit missmutiger Stimme „Dein Dankeschön kannste dir sparen.“

Schweigend sah Near ihm nach, dann ging er in sein Zimmer und setzte sich auf sein Bett und nahm den kleinen Spielzeugroboter, der ziemlich mitgenommen war und dem sogar schon ein Arm fehlte. Sein erstes Spielzeug, als er nach Birma kam. Er hatte ihn zu seinem 10. Geburtstag geschenkt bekommen, als er zu seiner Schwester kam, die er bis dato noch nie gesehen hatte. Und doch hatte er innerlich gespürt, dass sie seine Schwester war. Manchmal gab es ja solche Bindungen, dass man sofort wusste, dass man ein Familienmitglied vor sich hatte. Vorher hatte er eine Zeit lang in einem Heim gelebt, nachdem seine Eltern bei einem Flugzeugabsturz verunglückten. Erst zweieinhalb Jahre später hatte man Kontakt zu seiner Schwester aufnehmen können und diese hatte sofort die Adoptionsunterlagen unterzeichnet, als sie von ihrem verwaisten Bruder erfuhr. Streng genommen war sie eigentlich nicht seine richtige Schwester, sondern lediglich seine Halbschwester. Sie stammte aus einer früheren Beziehung ihres Vaters, der damals noch 16 Jahre alt war und sich nicht um sie kümmern wollte. Und trotzdem hatte sie Near aufgenommen, obwohl dieser bei seinem Vater aufgewachsen war und von diesem geliebt wurde. Und doch hatte es nichts daran geändert, dass er am Ende hier landete und niemanden mehr hatte.

Puppenmacher

Silvester und Neujahr waren gekommen und vergangen, doch Near hatte nicht viel davon mitbekommen. Er lag den Rest der Woche mit einer leichten Lungenentzündung im Bett und hatte sich auch danach noch nicht richtig erholt. Zu Neujahr kam es schließlich zu einer furchtbaren Katastrophe, die die Leiter des Waisenhauses in helle Aufruhr versetzten: Sechs Kinder waren über Nacht spurlos verschwunden. Und es waren nicht nur Kinder aus dem Waisenhaus, es wurden insgesamt vier weitere Kinder aus Winchester entführt und man ging davon aus, dass es sich um denselben Entführer handelte, der an Weihnachten fünfzehn Kinder aus dem Norington-Waisenhaus entführt hatte. Near wurde das Gefühl einfach nicht los, dass Alice etwas mit den Entführungen zu tun hatte. Wo sie auch auftauchte, verschwanden kurze Zeit später Kinder. Entweder steckte sie selbst dahinter, oder aber William Chevalier. Aber es fehlte das Motiv. Grundlos würde er jedenfalls nicht so viele Kinder entführen.

Naja, Mello würde schlecht Auskunft geben, wenn er ihn fragen würde. Der würde nur wieder den nächsten Ausraster bekommen. Und noch stand die Wahrscheinlichkeit, dass einer von beiden bzw. beide zusammen dahinter steckten, bei maximal 15,67%. Ohne Motiv war also nichts zu machen.

Nach dem Frühstück suchte er Oliver auf, den begabtesten Hacker in Wammys House, der im Moment dabei war, ein spezielles Programm zu entwickeln, dass sich ohne Probleme in jedes System hacken konnte, egal wie gut geschützt es war. Es sollte so funktionieren, dass es die Firewall einfach umprogrammierte, anstatt sie einfach zu deaktivieren oder zu umgehen. Der so genannte „Hackschlüssel“. Der Prototyp war fast fertig. Oliver versprach, Near bei seiner Suche zu helfen und würde sich melden, sobald er irgendwelche Ergebnisse hatte. Solange es aber nichts Neues gab, kümmerte Near sich um die noch ausstehenden Schulaufgaben, die sie über die Ferien zu bearbeiten hatten. Der Nietzsche-Text mussten noch zu Ende bearbeitet werden und außerdem waren da noch die Matrizenaufgaben, die noch nicht fertig waren.

Near setzte sich an den Schreibtisch und begann mit der Arbeit. Mit seinem Spielzeug konnte er ja später noch weiterspielen. Zum Glück waren die Aufgaben nicht sonderlich schwer und so hatte er sie in einer Viertelstunde fertig. Anschließend heftete er alles ordentlich ab und verstaute alles wieder an seinem Platz. Dann ging er zum Fenster um es zu öffnen, da sah er Alice auf der Baumschaukel sitzen. Sie trug ein hellblaues Kleid mit rosa Schleifen und auch einen rosa Haarreif. Ihr blondes Haar war deutlich kürzer als vorher und sie wirkte irgendwie völlig apathisch. Dann aber lehnte sie sich ein wenig zurück und begann zu singen.
 

„Hey Lucy, I remember your name

I left a dozen roses on your grave today

I'm in the grass on my knees, wipe the leaves away

I just came to talk for a while

I got some things I need to say

Now that it's over

I just wanna hold her

I'd give up all the world to see that little piece of heaven looking back at me

Now that it's over

I just wanna hold her

I've gotta live with the choices I made

And I can't live with myself today

Hey Lucy, I remembered your birthday

They said it'd bring some closure to say your name

I know I'd do it all different if I had the chance

But all I got are these roses to give

And they cant help me make amends“
 

Near schnappte sich seine Jacke und eilte, so schnell es seine Kondition zuließ, zum Schaukelbaum doch als er dort ankam, war Alice bereits wieder weg. Dafür lag ein kleines Büchlein auf der Schaukel, das sie wohl absichtlich zurückgelassen hatte. Es war ein Bilderbuch und dazu noch ein ziemlich ungewöhnliches. Die Zeichnungen waren sehr schön und detailliert, allerdings waren Schrift und Bilder nicht gedruckt. Es sah so aus, als hätte jemand selbst Geschichten geschrieben und diese hinterher einbinden lassen. An dem Buch klebte ein kleiner Zettel auf dem geschrieben stand „Ab hier musst du ohne meine Hilfe weitermachen. Ich wünsche dir viel Glück.“

Near sah sich noch einmal um, nur um sicherzugehen, ob Alice auch wirklich weg war. Dann nahm er das Buch an sich und ging wieder zurück ins Haus. Anstatt jedoch ins Zimmer zu gehen, suchte er lieber den Salon auf und setzte sich in die Nähe des Kamins. Ihm war kalt und außerdem ließ sich ein Buch doch viel besser bei flackerndem Kaminfeuer lesen.

Während er das Buch oberflächlich durchblätterte, fiel ihm auf, dass dieses Buch offensichtlich aus der Feder eines hochbegabten Kindes stammte. Die Zeichnungen waren wirklich gut, aber an der Art wie der Text geschrieben war, ließ sich doch eindeutig erkennen, dass der Autor noch nicht das Teenager-Alter erreicht hatte. Das Buch fasste mehrere Kurzgeschichten, die ähnlich wie Märchen geschrieben waren. Und jede dieser Geschichten handelte entweder von Puppen, oder vom Streben nach Schönheit und Perfektion. Eine Geschichte erhielt besonders viel Aufmerksamkeit von Near. Die Geschichte von einem Mädchen, das zur Puppe wurde. Sie handelte von einem wunderschönen Mädchen, das in einem Turm lebte. Sie war sehr einsam, wurde aber wegen ihrer Schönheit von allen bewundert. Doch dann bekam sie aber eines Tages große Angst, dass sie ihre jugendliche Schönheit verlieren könnte und so kam eine gute Fee, die ihr einen Wunsch erfüllen wollte. Das Mädchen wünschte sich unvergängliche Jugend und ihr Wunsch wurde gewährt. Als sie sich dann aber beim Rosenpflücken an der Hand verletzte, bekam sie Angst davor, dass sie durch Verletzungen entstellt werden könnte und rief noch einmal die Fee herbei und wünschte sich von ihr einen Körper, der unverwundbar war. Sie wollte einen Körper haben, der für immer schön bleibt und so schenkte ihr die Fee einen Körper aus makellos weißen und harten Porzellan.

Nun war das Mädchen glücklich, doch da sie nun für immer lebte, musste sie ansehen wie all ihre Freunde starben und wie Kriege ihr Land verwüsteten. Erneut wurde sie furchtbar unglücklich und rief ein weiteres Mal die Fee herbei. Sie sagte „Was nützt mir ein Körper, der für immer jung und schön bleibt, der unverwundbar ist, wenn ich doch am Ende so einsam und traurig bin? Bitte nimm mein Herz, ich will keinen Kummer mehr spüren, der es brechen könnte. Solange ich Kummer spüre, kann ich nicht glücklich sein.“ Doch die Fee warnte sie, dass sie, wenn sie erst mal kein Herz mehr hatte, dann auch keine Freude mehr spüren könnte. Doch das Mädchen ließ sich nicht beirren und flehte voller Schmerz die Fee an, ihr Herz aus der Brust zu nehmen. Die Fee folgte ihrem Wunsch und nahm dem Mädchen ihr Herz. Und so verlor das Mädchen alles, was sie bis dahin hatte. Freude, Trauer, Wut und alle anderen Empfindungen. Sie wurde innerlich ganz leer und verspürte auch jetzt kein Glück mehr.

Jahr um Jahr zog ins Land und das Mädchen weinte nicht über die Kriege, freute sich aber auch nicht für neue Freunde. Sie war am Ende noch einsamer, als sie es vorher schon war. Auch wenn sie keinen Schmerz mehr spüren konnte, war sie diesen Zustand leid. Sie wollte wieder ein Mensch sein. Doch als die Fee ein weiteres Mal erschien, sagte sie „Ich kann deine Wünsche nicht rückgängig machen. Du hast meine Warnungen ignoriert und jetzt musst du damit leben.“ Damit verschwand die Fee wieder und kehrte nicht mehr zurück. Das Mädchen erkannte, dass sie für immer eine lebende Puppe sein würde und sah nur noch einen Ausweg um diesen Alptraum zu beenden, den sie sich selbst geschaffen hatte: Sie öffnete das Fenster des Turmes und sprang in die Tiefe. Auf dem Boden zerbrach ihr Körper in tausend Stücke und die Leute, die das mit angesehen hatten, eilten herbei. Doch was sie vorfanden, waren nur Bruchteile einer völlig leeren Hülle.
 

Was war in diesem Kind bloß vorgegangen, als es diese Geschichte geschrieben hatte? Ohne Zweifel besaß es eine unglaubliche Kreativität und Tiefsinnigkeit, aber so etwas schrieb man doch nicht ohne Grund. Irgendetwas musste diesem Kind doch durch den Kopf gefahren sein. Irgendetwas Belastendes…. Warte, hatte Hester nicht gesagt, dass William Chevalier Puppen als ein Sinnbild der Perfektion und Schönheit betrachtete? Konnte es sein, dass es bloß nicht nur ein Hobby oder eine Leidenschaft, sondern auch eine Obsession gewesen sein könnte? Nachdem Near sich das Buch angesehen hatte, rief er Hester an, um sich noch mal zu William Chevalier zu erkundigen. Als er auf seine Leidenschaft zu sprechen kam, reagierte sie ein wenig skeptisch. „Also ich weiß zwar, dass William Ästhetik sehr wichtig war und er fasziniert von der Schönheit der Puppen war, aber dass er davon wirklich besessen war…. Das ist mir noch nie aufgefallen. Warum fragst du?“

„Ich habe hier das Geschichtenbuch von seiner Tochter. Und hauptsächlich handelt es von Personen, die nach Perfektion streben und daran später zugrunde gehen. Ich vermute, dass sie diese Geschichten geschrieben hat, um das krankhafte Verhalten ihres Vaters zu verarbeiten. Wahrscheinlich ist es ihm gut gelungen, vor der Außenwelt seine Besessenheit zu verbergen, aber sein Privatleben sah da sicherlich anders aus. Hat Alice vor fünf Jahren auch wie eine Puppe ausgesehen?“

„Nun, sie sah sehr hübsch aus und hatte große Augen. Manche haben zwar gesagt, sie sieht einer Puppe sehr ähnlich, aber ich habe selbst nie darüber nachgedacht. Du glaubst doch nicht etwa…“

„Noch will ich mich nicht festlegen, aber ich vermute, dass William Chevalier seine Tochter zu einer lebenden Puppe machen wollte. Er war besessen von allem, was schön ist und er wollte, dass Alice perfekt ist. Sie war sein ganzer Stolz und ihr Tod war deswegen ein katastrophaler Verlust für ihn.“

Hester war ein klein wenig skeptisch, aber sie wollte Near auch nicht seine Theorie widerlegen. Sie schien es ihrem ehemaligen Kollegen wohl doch zuzutrauen, dass er zu so etwas imstande war. Doch bevor Near das Gespräch beendete, wollte er noch eine Sache dringend loswerden, die ihn beschäftigte. „Wie riskant ist eine Herztransplantation?“

„Nun, es gibt die üblichen Risiken einer Infektion nach der Operation, die größtenteils mit Medikamenten zu bewältigen ist. Was die OP selbst angeht, so verlaufen meist 98 von 100 Operationen gut und der Patient kann noch fünf bis zehn Jahre problemlos weiterleben. Es kommt aber auch auf den entsprechenden Arzt an, der die Operation durchführt. Hundertprozentig kann man gewisse Risiken nicht ausschließen.“

„Gut“, murmelte Near und atmete tief durch. „Ich hab nachgedacht. Ich möchte mich operieren lassen. Und ich möchte, dass du die Operation durchführst.“

„Okay, ich hab verstanden. Dann werde ich dich in die Liste eintragen und dafür sorgen, dass du so bald wie möglich operiert wirst. Bei der nächsten Kontrolluntersuchung werden wir noch mal intensiver darüber sprechen. Aber ich finde es sehr mutig von dir, dass du dich für die OP entschieden hast.“

„Ich bin nicht mutig. Ich sehe es nur als Niederlage an, wenn ich so früh schon sterben muss.“

Damit legte Near auf und ging in den Speisesaal. Dort gab es jetzt Tee, heißen Kakao und dazu Süßgebäck. Auf Süßes konnte er zwar gerne verzichten, aber ein Tee konnte nicht schaden. Als er dort ankam, saßen dort außer Fear, Linda und Chris nur Matt und Mello. Während Near sich einen Orangentee einschüttete, überlegte er, ob er nicht vielleicht die Möglichkeit in Betracht ziehen sollte, mit Mello zusammenzuarbeiten. Immer mehr erhärtete sich nämlich sein Verdacht, dass William Chevalier etwas mit der Entführung der Kinder zu tun hatte. Beweise oder Indizien hatte er zwar nicht, aber es war doch seltsam, dass kurz nach Alices Tod Kinder verschwanden. Und kaum tauchte sie wieder auf, wurden weitere Kinder entführt. Nur was hatte William Chevalier mit den Kindern vor? Wozu brauchte er sie? Selbst wenn er nur ihre Organe brauchte, dann wären doch ihre Leichen wieder aufgetaucht. Oder waren die Kinder gar nicht tot?

Während er nachdachte, bemerkte er gar nicht, dass Oliver sich neben ihn setzte und ein Laptop auf den Tisch legte. „Heyho, Near. Ich hab mir schon gedacht, dass ich dich hier finde.“

„Hast du was gefunden?“

„Gefunden ist gar kein Ausdruck. Es gibt da einige interessante Dinge, die ich in Erfahrung gebracht habe.“ Damit öffnete Oliver eine Textdatei, in der er einige Auszüge abgespeichert hatte. „William Chevalier heißt mit Geburtsnahmen William J. Dunsley und wurde in Bukarest geboren. Seine Eltern waren beide Ärzte einer Hilfsorganisation und während seine Mutter als Sanitäterin arbeitete, führte sein Vater ein Geschäft für Prothesen. Als es zu einer heftigen Auseinandersetzung zwischen verfeindeten Zigeunerclans kam, kehrte William mit seinem Vater zurück, die Mutter starb bei den Unruhen. Sie lebten seitdem in London und William machte eine Ausbildung im Geschäft seines Vaters. Doch er entschied sich dafür, Arzt zu werden und ging an die Universität. Sein Vater verstarb kurz nach Beendigung seines Studiums an Darmkrebs und William verkaufte das Geschäft und machte eine Reise nach Frankreich, genauer gesagt nach Grenoble, wo er dann Jeanne Chevalier kennen lernte. Sie folgte ihm nach England und dort heirateten sie auch. William, der seinen Namen schon immer gehasst hatte, nahm den Namen von Jeanne an, obwohl es damals nicht üblich war. Wahrscheinlich tat er das, weil Chevalier viel schöner und gehobener klang, als Dunsley. Mit knapp 25 Jahren wurde William schließlich Chirurg und galt bereits zu dem Zeitpunkt als bester Chirurg in England. Zwei Jahre später brachte Jeanne eine Tochter zur Welt, Alice Chevalier. Jeanne überlebte die Geburt nicht und so zog William seine Tochter alleine auf.“

„Hat er irgendwelche Vorstrafen?“

„Er hat ordentlich Schlagzeilen gemacht. Knapp ein Jahr nach der Geburt seiner Tochter hat er einen Weg gefunden, den Zellwachstum aufzuhalten, um somit ewige Jugend zu ermöglichen. Es gelang ihm, einen Hundewelpen über vier Jahre im selben Zustand zu bewahren. Allerdings hatte das Zeug massive Nebenwirkungen.“

„Und welche?“

„Die Zellen verloren ihre Fähigkeit, sich zu regenerien. Bedeutet also, dass der Körper außer Stande ist, Verletzungen zu heilen. Und genau aus diesem Grunde wurde dieses Mittel gar nicht erst zugelassen. Daraufhin hat sich Chevalier nur noch seiner eigentlichen Arbeit gewidmet und seine Tochter aufgezogen.“

Ein Mittel, dass ewige Jugend versprach, gleichzeitig aber auch Verwundbarkeit bedeutete. Wenn Chevalier seiner Tochter dieses Mittel gegeben hatte um ihre Schönheit zu bewahren, dann bedeutete das auch, dass sie so oder so den Unfall nicht überlebt hätte, weil ihr Körper nicht imstande gewesen war, die Verletzungen zu heilen. Aber wie passte es mit dem Verschwinden der Kinder zusammen? „Hast du auch herausgefunden, ob es damals eine Reihe von Entführungen gab?“

„Ja, dazu habe ich einiges gefunden. Das alles fing in Bukarest an, als mehrere Zigeunerkinder verschwunden sind. Sie sind nie wieder gefunden worden, selbst ihre Leichen nicht. Es gab nur eine einzige Zeugin, eine alte Romni, die steif und fest behauptete, dass ein Europäer die Kinder zu Puppen verarbeitet und dann verkauft habe. Die Frau war allerdings geistig nicht mehr ganz auf der Höhe und starb auch kurz darauf an Altersschwäche. Die Geschichte spielte sich allerdings in den 40er Jahren ab und man nannte den Kindesentführer auch „Puppenmacher von Bukarest“. Bis heute blieb der Fall ungeklärt.“

„Gab es auch Entführungen, als William Chevalier nach England kam?“

„Es gab zu dem Zeitpunkt überall vereinzelte Entführungen. Die meisten gab es aber kurz nachdem er auf die Uni ging.“

Ein geheimnisvoller Puppenmacher, der die Kinder angeblich zu Puppen machte… ein Chirurg, der ein Mittel für ewige Jugend entdeckt hatte. Und eine Tochter, die gestorben ist und doch wieder auftauchte und immer noch so jung wie damals war. So langsam ergaben diese Fragmente ein Bild, das sich nach und nach aus Puzzleteilen zusammenfügte. Folgende Theorien waren jetzt möglich: Alice war damals nicht bei dem Unfall verunglückt bzw. ein anderes Kind wurde ins Krankenhaus eingeliefert, das Alice ähnlich sah. Vielleicht um zu verhindern, dass ans Tageslicht kam, dass Chevalier seiner Tochter diesen Wachstumsstopper verabreicht hatte. Aber was war danach mit Alice passiert und was ist mit den restlichen Kindern geschehen? Hatte er sie für seine Versuchszwecke benutzt und sie anschließend beseitigt?

Near bedankte sich für Olivers Hilfe und ließ sich alle ausgedruckten Dokumente geben. Es machte wohl keinen Sinn, er musste mit Mello sprechen und ihm eine Zusammenarbeit vorschlagen. Dass diese beiden Fälle miteinander verknüpft waren, stand inzwischen ganz außer Frage. Allerdings würde es schwierig werden, Mello davon zu überzeugen, der Zusammenarbeit zuzustimmen. Trotzdem musste er es versuchen. Da Mello gerade heiße Schokolade trank, war er meistens dann am Besten drauf. Aber ein kleines „Freundschaftsangebot“ konnte auch nicht schaden. Von Oliver ließ er sich deswegen eine Tafel belgischer Zartbitterschokolade geben und ging zum Tisch der Älteren. Mello war in einige Akten vertieft, während Matt an seiner PSP zockte. Near setzte sich Mello gegenüber und wartete, bis dieser ihn bemerkte und zuerst ansprach.

„Was willst du denn, Schneeflöckchen?“

„Das soll ich dir von Oliver geben. Extra aus Belgien bestellt.“ Damit gab er ihm die Schokolade doch Mello rührte sie nicht an. Er traute dem Braten nicht. „Ich will die Nachrichten, nicht das Wetter. Komm also direkt zum Punkt!“

„Es geht um deinen und meinen Fall.“

„Seit wann hast du einen Fall? Hat deine Puppe einen Mord begangen, oder wurde sie entführt?“

„Sie gehört einem Mädchen, das vor fünf Jahren bei einem Verkehrsunfall gestorben ist. Trotzdem stand sie vor einigen Tagen direkt vor mir und hat sich als genau jene vermeintliche Tote zu erkennen gegeben. Ihr Vater ist ein berühmter Chirurg, der ein Mittel entwickelt hat, um das Wachstum bei Kindern zu stoppen. Es steht der Verdacht, dass er hinter den Entführungen steckt und dass bereits sein Vater Kinder entführte. Ich will dir allerdings nicht den Fall vor der Nase wegschnappen und da uns beiden daran gelegen ist, sollten wir doch für einen Moment unsere Rivalität beilegen und zusammenarbeiten. Du bräuchtest meine Informationen, um etwas über den Verbleib der Kinder zu erfahren und den Täter zu überführen und ich will herausfinden, wofür Chevalier sie entführt hat.“

Mello sah ihn finster, aber auch prüfend an und hatte die ganze Zeit, in der Near redete, kein Wort gesagt. Als sein Gegenüber fertig war, sagte er immer noch nichts. Er drehte weder durch, noch machte er sich lustig über ihn. Dann aber sah er ihn noch finsterer an. „Du verlangst allen Ernstes von mir, dass ich mit dir zusammenarbeite? Dir, der du mir den ersten Platz und damit die eventuelle Nachfolge für L weggenommen hat? Ahahaha, du bist echt so was von bescheuert….“

„Jetzt lass hier nicht den gehörnten Ehemann raushängen, Mello“, schaltete sich nun Matt ein, der sich dieses Theater einfach nicht mehr anhören wollte und auch keine Lust hatte, noch eine Streiterei mitzubekommen. „Near hat vollkommen Recht. Wir stehen sowieso völlig auf’m Schlauch und haben keinen Plan, wie es weitergehen soll. Und Near kommt ohne Informationen zu den Entführungsopfern auch nicht viel weiter. Wir profitieren doch alle von einer Zusammenarbeit. Also könnt ihr beide euren Rosenkrieg auf ein anderes Mal verschieben und euch einfach mal zusammenreißen?“

„Wir führen keinen Rosenkrieg. Mir passt es einfach nicht in den Kram, dass ich mit jemanden zusammenarbeiten soll, der mir meinen rechtmäßigen Platz weggenommen hat.“

„Jetzt benimmst du dich echt wie ein beleidigtes Schulmädchen. Vergiss doch einfach mal diese Tatsache, es geht hier immerhin um Menschenleben. Um Kinder wie wir! Ein paar aus Wammys House sind immerhin auch verschwunden! Also schluck deinen falschen Stolz endlich mal runter und arbeite mit Schneeflöckchen zusammen.“ Matts Machtwort hatte seine Wirkung gezeigt. Mello seufzte und gab dann schließlich sein Einverständnis. „Okay, treffen wir uns in einer Stunde in der Bibliothek. Dann reden wir über alles, was wir bis jetzt an Fakten gesammelt haben.“

Falle

Wie vereinbart trafen sich Matt, Mello und Near in der Bibliothek des Waisenhauses und hatten alle gesammelten Dokumente und Notizen dabei. Near erzählte wirklich alles, was er bis jetzt herausgefunden hatte und erläuterte auch seine Theorien, wobei er möglichst versuchte, die Verbindung zu den Entführungen zu verdeutlichen. Nach und nach legte er den Brief, das Bilderbuch und Olivers Rechercheergebnisse auf den Tisch. Mello sagte während dieser Zeit nicht ein Wort, fragte auch nicht nach. Als Near dann fertig war, begann er nun seinerseits die Ergebnisse zusammenzufassen. „Entführt wurden stets nur Kinder, die entweder Vollwaisen waren, oder nach denen man im Zweifelsfalle keiner lange suchen würde. Ein bestimmtes Muster verfolgt der Entführer nicht und geht offenbar wahllos zu Werke. Er bricht ohne Spuren zu hinterlassen nachts in die Häuser ein, oder entführt sie auf der Straße. Bis jetzt gab es keine Zeugen, die ihn genau beschreiben konnten. Einer sagte, er sei 180cm groß, ein anderer sprach von 166cm. In beiden Fällen war der Täter blond, aber auch hier gibt es Widersprüche. Manche sagten, Sein Haar war lang und weißblond, die anderen sprachen von kürzerem goldblondem Haar. Selbst vom Geschlecht her widersprechen sich die Zeugen. Wir beide gehen also davon aus, dass es zwei Entführer gibt. Das Kennzeichen gehört einem gestohlenen Kleintransporter und der Besitzer hat definitiv nichts mit dem Fall zu tun. Was die Vorlieben der Entführer betrifft, so entführen sie hauptsächlich nur Mädchen, nur selten Jungs und sie alle sind zwischen 11 und 14 Jahre alt, allesamt Weiße. Warum er Kinder anderer ethnischer Zugehörigkeit verschont, wissen wir bislang noch nicht. Wir haben auch schon versucht, das Jagdgebiet des Entführers einzuschränken und sind zu einem interessanten Ergebnis gekommen: Und zwar befinden sich seine Jagdgebiete in London, Winchester und Brighton und Folkestone.“

Als Mello die eingetragenen Markierungen zeigte, sah Near sofort die Verbindungen zueinander. „Alle Punkte kann man innerhalb von eineinhalb bis zwei Stunden von London aus erreichen. Mit großer Wahrscheinlichkeit ist der Entführer also dort.“

In der Tat sah alles danach aus, als würde alles nach London führen, aber das war Near doch wieder zu einfach. Chevalier war doch nicht dumm und die Polizei auch nicht. Er musste doch wissen, dass es in jedem Falle auffallen würde, wenn er nur jene Orte aufsuchte, die im gleichen Zeitabstand von London aus zu erreichen waren. „Und wenn wir die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass es ein Trick sein könnte?“

„Daran haben wir auch bereits gedacht, aber dann bleibt die Frage offen, wo er sich dann aufhält. Wenn wir auch noch berücksichtigen, dass Alice einfach mal eben schnell hier in der Nähe des Waisenhauses auftaucht, ohne dass ihr Vater verdacht schöpft, dann können wir auch davon ausgehen, dass sie in der Nähe von Winchester lebt.“ In der Tat war es tatsächlich relativ wahrscheinlich, dass Alice und William Chevalier nicht weit von Winchester entfernt lebten. Vielleicht lebten sie sogar in Winchester. Immerhin war Winchester nicht weit von London entfernt. Aber auf bloße Vermutungen konnten sie ihre ihre Ermittlungen nicht stützen. „Wir müssen herausfinden, wie viele Chevaliers in den jeweiligen Städten leben und außerdem sollten wir das Haus ansehen, in dem sie früher gelebt haben, wenn es bis dahin noch unbewohnt ist. Und der Entführungssache in Bukarest muss auch jemand nachgehen. Wie sollen wir die Arbeit verteilen?“ Matt meldete sich freiwillig, die Register und Telefonadressen aller Chevaliers herauszusuchen und vielleicht auch Urkunden zu finden. Mello wollte sich um die Sache in Bukarest kümmern und so blieb für Near eigentlich nur noch das alte Haus übrig.

Da es bereits dunkel wurde, konnte er erst morgen nach London und so verbrachte er den Rest des Tages damit, sich das Bilderbuch noch mal anzusehen. Vielleicht gab es irgendwo noch einen versteckten Hinweis, den er nicht sofort entdeckt hatte. Während Matt und Mello in den Informatikraum gingen, um mit ihrer Arbeit zu beginnen, blätterte Near das Buch durch. Er war sich sicher, er hatte irgendetwas übersehen. Doch außer den Geschichten fand er nichts, zumindest noch nicht. Denn dann sprang ihm etwas ins Auge, ein kleines Detail, das ihm erst beim näheren Hinsehen aufgefallen war. An einigen Stellen änderte sich nämlich der Schreibstil der Geschichte. Genau konnte er das aber nicht sagen, da musste er einen Experten fragen um sicherzugehen. Er fragte Chris, was er davon hielt. Dieser las sich die verschiedenen Geschichten durch und stimmte Near zu. „Tatsächlich ist die Stimmung des Autors vollkommen unterschiedlich. Die meisten Kurzgeschichten sind in einem fröhlichen und unschuldigen Stil geschrieben, wie aus der Sicht eines kleinen Kindes. Aber die hier, die Geschichte des verbitterten Bildhauers, der all seine Werke zerstört, weil sie nicht perfekt sind und er dann selbst am Ende zerbricht wie seine Figuren…. Aus der kann man sehr gut herauslesen, dass der Schreiber wütend oder verletzt war, als er das schrieb. Und am Ende, als die Bruchstücke der Skulpturen mit denen des Bildhauers weggefegt werden, klingt es so als habe es sich der Autor gewünscht, dass der Bildhauer so endet. Entweder der Autor leidet unter starken Stimmungsschwankungen oder es handelt sich vielleicht um zwei.“
 

Der Wind hatte zugenommen und Near fror trotz der Daunenjacke, die er sich von Matt geliehen bekommen hatte. Nun schneite es nicht mehr aber der eiskalte Wind war noch schlimmer und lieber hätte er den Schneefall genommen. Er ging die Straßen runter, folgte der Karte und verließ schließlich die Innenstadt und kam in ein Wohnviertel. Das Haus der Chevaliers fand er sofort. Es stand abseits und alleine, das Dach war vermodert und hatte nach einem Blitzeinschlag ein Loch. Das Haus stand kurz vor dem Abriss, da durch mangelnde Instandhaltung die Grundstruktur massiv geschädigt war und es unzumutbar geworden war, dass man unter solchen Umständen hier einzog.

Das Haus war bis jetzt nicht verkauft worden und so wie Hester erzählt hatte, waren die Chevaliers oder zumindest William Chevalier über Nacht verschwunden. Demnach musste also noch ein Teil der persönlichen Gegenstände hier sein. Und vielleicht fand sich ja ein Hinweis auf seinen Aufenthaltsort.

Da die Tür verschlossen war und zudem klemmte, blieb Near nichts anderes übrig als durch ein Fenster einzusteigen. Dies gelang ihm nach einigen Versuchen und als er endlich drin war, fand er sich in der Küche wieder. Außer dem Moder, dem Staub und den Schimmelflecken sah es so aus, als wäre noch vor kurzem jemand hier gewesen. Der Kühlschrank war leer und außer Betrieb und darauf stand eine Mikrowelle. Direkt gegenüber befand sich der Herd und daneben die Spülmaschine und die Spüle. In einer Ecke stand ein stabiler Eichentisch mit vier Stühlen dran. Und auf der weißen Spitzentischdecke stand eine Vase mit Rosen, die völlig verwelkt und schwarz waren. Von der Küche aus kam er auf den Flur und ging erst mal nach rechts. Dort befand sich ein großes Wohnzimmer. Auf einem kleinen Regal stand ein völlig verstaubter Fernseher mit Anlage, etwas weiter weg ein altmodisches Grammophon. Auf dem Sofa saßen schön aufgereiht drei Puppen, die allerdings kaputt waren. Einer Puppe fehlte ein Stück des Kopfes und das dazugehörige Auge, die mittlere besaß keinen Unterleib und der dritten fehlte gänzlich der Kopf. Und trotzdem waren sie so aufgereiht, als hätten sie vor kurzem noch die Nachrichten gesehen. Und auf dem staubigen Fußboden waren Fußabdrücke. Vor kurzem war also noch jemand hier gewesen.

Irgendwie wirkte dieses Haus gespenstisch. Als würden die Geister der Vergangenheit noch so präsent sein, als wäre dieses Haus trotz seines schlechten Zustandes noch vor kurzem bewohnt worden. Aber außer diesen drei Puppen auf dem Sofa entdeckte Near sonst keine. Wahrscheinlich hatte Chevalier sie alle mitgenommen, weil er sich nicht von ihnen trennen wollte. Vom Fenster des Wohnzimmers aus konnte man den Garten sehen. Inzwischen war dort alles verwildert, aber sicher hatte er mal wirklich schön ausgesehen. Voller Blumen und Kräutertöpfen. Near öffnete die Balkontüre und stieg die Treppen runter. Die gepflasterte Terrasse besaß zwei Ebenen. Eine hochgelegene, die direkt an der Treppe angrenzte und auf der ein alter Liegestuhl stand und dazu noch mehrere Blumentöpfe, sogar eine Bambuspflanze. Kurz danach ging es eine Treppenhöhe tiefer, wo eine Art Dach aufgebaut worden war, unter dem eine Regentonne und ein Tisch mit vier Stühlen stand. Auch auf dem Tisch standen Vasen mit völlig vertrockneten Blumen.

Rechts neben der Terrasse folgte eine große grüne Wiese mit einigen Steinplatten, die zu einem Pool führten. Dieser war durch eine stabile Plane verdeckt, um zu verhindern, dass Dreck ins Wasser kam. Aus reiner Neugier schob Near die Plane ein wenig weg, um einen Blick in den Pool zu erhaschen. Zunächst sah er nichts, doch… da war doch irgendetwas auf dem Grund des Pools. Irgendein Schatten oder so. Aber ob das ein Schatten war? Es sah viel eher danach aus, als läge irgendetwas da drin. Konnte das vielleicht ein… ein Mensch sein? Near beugte sich weiter vor und versuchte angestrengt etwas zu erkennen, weswegen er gar nicht die Bewegung hinter sich bemerkte. Dann bekam er von hinten einen kräftigen Stoß und er fiel ins eiskalte Poolwasser. Er wusste, dass es lebensgefährlich war, in voller Montur ins Wasser zu fallen, wenn dieses gerade mal eine Temperatur von ein paar Grad über Null hatte. Seine Kleidung begann sich bereits vollzusaugen und zog ihn mit ihrem Gewicht nach unten. Near hingegen versuchte nach oben an die Oberfläche zu kommen, um so schnell wie möglich den Poolrand zu fassen zu bekommen, doch die Fliesen waren so glatt und mit Eis überzogen, dass er immer wieder abrutschte. Er versuchte sich irgendwie wieder zur Oberfläche vorzukämpfen und schnappte nach Luft. Er schrie um Hilfe, hielt sich wieder am Beckenrand fest, rutschte ab und wurde wieder nach unten gezogen. Sein ganzer Körper fühlte sich an, als hätte man ihn mit Millionen heißer Nadeln durchstochen und immer schneller ging ihm so langsam die Kraft aus. Das kalte Wasser lähmte seinen Körper und dieser versuchte jetzt, so viel Energie wie möglich zu sparen, indem er nur noch die lebenswichtigen Organe mit Wärme versorgte. Nears Finger waren bereits taub und bald würde er nicht mehr in der Lage sein, sich am Beckenrand überhaupt festzuhalten. Er musste schnell irgendetwas tun, bevor er zu schwach dazu war und im Pool ertrank. Nun holte er tief Luft und ließ sich unter Wasser ziehen damit er genug Bewegungsfreiheit hatte, seine Jacke und seinen Schal auszuziehen, dann auch seinen Pullover und die Schuhe. Er musste sich eine Oberfläche schaffen, die es ihm ermöglichte, sich aus dem Wasser zu ziehen. Wieder kämpfte er sich wieder nach oben vor und legte den Pullover auf den Beckenrand, drückte ihn mit aller Kraft in die Fugen um ja zu verhindern, dass er wegrutschte. Dann drückte er sich aus dem Wasser und versuchte seinen Oberkörper soweit ins Freie zu bekommen, dass er sich nach vorne fallen lassen konnte und in Sicherheit war. Doch wenn die Arme bereits taub waren und die Kälte einem jede Kraft und jeden Atem nahm, war es eine unbeschreibliche Anstrengung für jemanden wie Near. Seine Lunge schnürte sich zusammen und er bekam kaum noch Luft, seine Brust schmerzte und fühlte sich an, als würde ein unbeschreiblicher Krampf sie zusammenziehen. Sein Herz…

Trotzdem gab er nicht auf und hatte es auch fast geschafft, da rutschte der Pullover ab und Near fiel wieder zurück in den Pool. Er musste es noch mal versuchen. Dieses Mal jedoch hatte er einen anderen Plan. Wenn er den Schnee auf das Eis drückte und dann den Pullover darauf legte, dann konnte dieser nicht mehr so leicht abrutschen und Near konnte sich endlich aus dieser Todesfalle raus. Mithilfe seiner abgelegten Kleidung gelang es ihm, genug Schnee heranzuziehen und er begann nun mit seiner Arbeit. Inzwischen konnte er vor Schmerz kaum noch Luft holen und seine Beine waren schwer wie Blei und hatten kaum noch Kraft. Trotzdem gab er nicht auf, so stark war sein Überlebenswille. Nachdem alles stabil war, versuchte er erst mal genug Wasser aus dem Pullover zu drücken, damit er nicht ganz so nass war und legte ihn dann auf die provisorische Schneefläche. Und dann versuchte er es noch mal. Er drückte seinen Oberkörper mit aller Kraft aus dem Wasser, merkte schon wie der Pullover wieder zu rutschen begann, doch dann krallte er seine Finger in den Erdboden und mobilisierte seine letzten Kraftreserven. Er durfte jetzt nicht aufgeben! Zentimeter für Zentimeter kämpfte er sich nach vorne, dann hatte er es fast geschafft. Er zog ein Bein raus und drückte sich dann damit weiter vom Pool weg, bis auch das andere Bein raus war. Völlig erschöpft legte er sich auf den Rücken und versuchte Luft zu holen.

Er hatte es geschafft. Er hatte überlebt. Doch dann wurde der Schmerz in seiner Brust immer stärker und es wurde immer schlimmer. Und das Schlimme war, dass er nun gar keine Kraft mehr hatte, überhaupt aufzustehen, oder um Hilfe zu rufen. Stattdessen blieb er auf dem Boden liegen und wurde ohnmächtig, wohl wissend dass dies sein Todesurteil bedeuten konnte.
 

Mello hatte gleich den nächsten Bus geschnappt und war Near heimlich gefolgt. Eigentlich war ja verabredet gewesen, dass er sich um die Entführungsgeschichte in Bukarest kümmerte, aber ihn hatte einfach nicht das Gefühl losgelassen, als würde irgendetwas Schreckliches passieren. Für so etwas hatte er schon immer ein Gespür gehabt und auch wenn er Near auf den Tod nicht ausstehen konnte, wollte er auch nicht, dass er durch seine Unachtsamkeit starb. Sonst würde sich Mello eines Tages vielleicht mal schwere Vorwürfe machen, er habe seinen siebten Sinn ignoriert und damit den Tod eines Kindes verschuldet. Nein, bevor es dazu kam, fuhr er dieser Albino-Schnarchnase hinterher und ging auf Nummer sicher. Und wehe, da passierte die ganze Zeit lang nichts, dann konnte sich die kleine Mistkröte warm anziehen.

Etwas weiter entfernt sah er Near, der das Haus erreicht hatte und versuchte, die Haustüre aufzubekommen. Keine Chance, dachte Mello kopfschüttelnd und biss ein Stück Schokolade ab. Ohne Schlüssel war da nichts zu machen und außerdem sah die Tür ganz danach aus, als würde sie öfter mal klemmen. Und Near mit seinen dürren Ärmchen würde noch nicht einmal einen Mehlsack heben können, da bekam er auch keine solche Tür auf. Man konnte es schon fast eine kleine Schadenfreude nennen, die Mello überkam, als er ihm zusah. Near gab es dann schließlich auf und versuchte dann durch ein Fenster zu klettern. Auch hier stellte er sich ziemlich ungeschickt an. Der Zwerg war sicher noch nie irgendwo eingebrochen, das sah man sofort. Mello hatte da schon mehr Erfahrung, was das illegale Einsteigen in Häuser anbelangte aber es war einfach diese herrliche Genugtuung, Near dabei zuzusehen, wie ungeschickt er sich da anstellte. Auch als er dann ausrutschte und rücklings in den Schnee fiel, konnte sich Mello das Lachen kaum verkneifen und bereute es, dass er keine Videokamera dabei hatte. Das hätte er jetzt echt gerne aufgenommen und dann ins Netz gestellt.

Nach einigen Versuchen hatte es Schneeflöckchen dann aber doch noch geschafft, durchs Fenster einzusteigen. Okay, damit war er jetzt im Haus. Vielleicht hatte sich ja seine Vorahnung ja doch als falsch erwiesen. Wenn dem so war, konnte er ja genauso gut wieder abziehen, es passierte ja sowieso nichts Interessantes mehr.

Mello biss noch ein Stück Schokolade ab und sah sich um. Das Haus hier war das einzige, was relativ abseits stand von den anderen Häusern. Der Garten war durch einen Zaun völlig abgeschirmt und man konnte damit also nicht direkt sehen, was die Chevaliers damals so getrieben haben. Welche Leichen hatte der Chirurg bloß im Keller? Dass er welche hatte, stand für Mello fest. Near würde sich niemals in irgendetwas verrennen und irgendwelchen Hirngespinsten hinterher rennen. Nein, wenn Near sich einer Sache sicher war, dann musste es auch stimmen.

Aber trotzdem war ihm nicht ganz klar, wie diese beiden Fälle zusammenhingen. Selbst wenn Alice Chevalier diesen Wachstumsstopper verabreicht bekommen hatte und selbst wenn sie den Unfall überlebt hätte, warum waren so viele Kinder lange Zeit nach diesem Unfall entführt worden, wo sie schon wieder auf der Bildfläche erschienen war? Da passte etwas nicht ganz zusammen. Eigentlich hätten diese Kinder alle verschwinden müssen, kurz nachdem der Unfall geschah, wenn William Chevalier die Kinder als „Ersatzteillager“ für seine Tochter brauchte. Nein, es musste etwas anderes sein. Oder aber es gab ein entscheidendes Detail, was Near übersehen hatte? Er musste etwas übersehen haben, anders war es doch gar nicht zu erklären. Während Mello so nachdachte, sah er nur ganz flüchtig eine dunkle Gestalt aus dem Haus kommen und es war nicht Near. Und er hörte vom Garten her Schreie. Er ahnte, dass der oder die Unbekannte was im Schilde führte und eilte auf sie zu. „Hey! Sofort stehen bleiben!!“ Sofort eilte die Gestalt davon und sprang dabei über Zäune und legte ein unglaubliches Lauftempo an den Tag. Und Mello, der trotzdem der Sportlichste in Wammys House war, konnte da nicht mithalten. Er hörte noch Nears Schreie und entschied sich dann, nicht dem Unbekannten zu folgen, sondern umzukehren und zu sehen, was mit Near los war und warum er wie ein Wahnsinniger herumschrie. Da es von außen her keine Möglichkeit gab, über den Zaun zu klettern, stieg er durchs Fenster und eilte durch den Flur ins Wohnzimmer und dann auf die Terrasse. Dort sah er Near regungslos am Beckenrand eines Swimmingpools liegen. Er war vollkommen durchnässt und hatte Jacke, Schuhe und Pullover ausgezogen. Dieser verdammte Kerl hatte Near wohl in den Pool gestoßen, um ihn umzubringen. Mello stieg die Treppen runter und eilte zu dem Bewusstlosen, der keinerlei Lebenszeichen von sich gab. Selbst als er ihn ansprach und ihn durchrüttelte, reagierte er nicht. Und es war auch kein Puls zu spüren.

Mello begann mit der Reanimation, wie er sie im Erste-Hilfe-Kurs gelernt hatte und tatsächlich kam Near wieder zu sich und schnappte nach Luft. Er hustete und würgte den Rest Wasser hervor, den er verschluckt hatte. Sehr gut, Near war schon mal am Leben, jetzt musste er irgendwie warmgehalten werden, bis ein Rettungswahn eintraf. Zu allererst hieß es, raus aus der Kälte und dann raus aus den nassen Klamotten. „Kannst du aufstehen?“ Doch Near reagierte nicht. Kein Wunder. Er war inzwischen so stark abgekühlt, dass man da unmöglich lange bei Bewusstsein bleiben konnte geschweige denn in der Lage war, noch vernünftig denken und antworten zu können. Also hob Mello ihn hoch und trug ihn ins Haus und zog ihm die nasse Kleidung aus. Jetzt musste er nur noch eine Möglichkeit finden, ihn zu wärmen und zwar ganz schnell. Nur das Problem war, dass es kaum etwas gab, das wirklich wärmen konnte. Es gab hier keine richtigen Decken, die Heizungen funktionierten nicht und hier etwas anzuzünden war gefährlich. Direkte Wärmezufuhr wie zum Beispiel Reiben der unterkühlten Körperstellen war jedenfalls falsch, das wusste er. Auch das Aufheizen des Raumes (wenn es überhaupt möglich gewesen wäre), würde zu einer Erweiterung der Blutgefäße führen, woraufhin sich das kalte mit dem warmen Blut vermischt und eine Auskühlung nur beschleunigte.

Erst einmal musste er dafür sorgen, dass Near zu Bewusstsein kam und das gelang ihm nur mit Mühe. Er gab ihm die Schokolade und wies ihn an diese zu essen. Das half zumindest schon mal, dass der Körper mit Energie versorgt wurde. Und in der Zwischenzeit verständigte Mello schon mal den Notarzt.

Als er wieder nach Near sah, war er vollkommen neben der Spur und auch schon wieder weggetreten. Sein Körper zitterte und zog sich immer mehr zusammen. Was er jetzt brauchte war etwas, um Near aufzuwärmen. Aber was gab es da noch mal? Da er ihn durch den Transport viel zu viel bewegt hatte, war Near schwer unterkühlt und wenn er nicht schnellstens aufgewärmt wurde, bevor der Notarzt ankam, würde es noch böse enden. Wo bekam er schnellstmöglich eine geeignete Wärmequelle her?

Aber ja doch. Es gab doch eine.

Obwohl es jede seiner Prinzipien widersprach, blieb ihm keine andere Wahl. Bevor Near noch über den Jordan ging, musste er seinen Stolz runterschlucken und versuchen, ihn warmzuhalten. „Wag es bloß nicht aufzuwachen bevor der Notarzt eintrifft. Sonst dreh ich dir eigenhändig den Hals um!“

Puppenzimmer

Es war angenehm warm und im Kamin des Wohnzimmers brannte ein knisterndes Feuer. Auf dem Sofa saßen Puppen, die miteinander redeten und lachten, manche tanzten auch miteinander und von irgendwoher hörte er Walzermelodien auf einem Cembalo, begleitet von Violinen und einem Contrabass. Als würde hier eine Art Puppenball stattfinden. Near sah sich um, hörte von weit her eine Stimme, die eine Melodie vor sich hin summte. Irgendwoher kannte er diese Stimme. Aber woher bloß? Ja genau, es war Alices Stimme und sie kam aus dem oberen Stockwerk. Er erinnerte sich, dass im Flur eine Treppe nach oben führte, allerdings hatte er sich dort noch nicht umgesehen gehabt. Je näher er der Treppe kam, desto lauter wurde auch der Gesang. Es war ein Lied, welches ihm seine Schwester vorgesungen hatte, kurz bevor… bevor seine Heimat zerstört wurde:
 

„Come Little Children, I’ll Take Thee Away

Into A Land Of Enchantment

Come Little Children

The Time’s Come To Play

Here In My Garden Of Shadows
 

Follow Sweet Children, I’ll Show Thee The Way

Through all the Pain and the Sorrow

Weep Not Poor Children

For Life Is This Way

Murdering Beauty and Passion
 

Hush Now Dear Children, It Must Be This Way

To Weary Of Life And Desceptions

Rest Now My Children, For Soon We’ll Away

Into The Calm And The Quiet
 

Come Little Children, I’ll Take Thee Away

Into A Land Of Enchantment

Come Little Children

The Time’s Come To Play

Here In My Garden Of Shadows”
 

Vorsichtig stieg Near die Treppen hoch, die unter seinen Füßen laut knarrten. Oben war es stockfinster aber er konnte deutlich laute dumpfe Schritte hören. „Alice?“ rief er vorsichtig hinauf und erklomm ganz langsam eine Treppe nach der anderen. Er war fast oben, aber da war es so furchtbar dunkel, dass selbst alles Licht geschluckt wurde. Und dunkle Orte waren unheimlich…. „Alice, bist du da oben?“ Als er die letzten paar Stufen erklomm, hielt er sich oben am Geländer fest, doch dann blieb er stehen. Irgendetwas war ganz dicht bei ihm, er konnte es atmen hören. Er sah zur Seite, sah aber nichts. Dann sah er nach vorne und erschrak. Auf einmal stand Alice vor ihm, aber… sie hatte plötzlich kein Gesicht mehr. Near erschrak über diesen Anblick so sehr, dass er nach hinten stolperte und beinahe die Treppen hinunterfiel. Doch er konnte sich festhalten und ging ganz langsam rückwärts die Treppen wieder runter, während die gesichtslose Alice näher auf ihn zukam. Erst jetzt sah er, dass sie über den Boden kroch und ihre Hände nach Near ausstreckte. Blutverschmierte Finger, die mehr Vogelkrallen ähnelten und langsam aber sicher kroch sie die Stufen hinunter. Als sie vollständig aus der Dunkelheit raus war, sah Near, dass sie gar keinen menschlichen Unterleib hatte, geschweige denn normale Beine. Es waren Porzellanbeine wie bei einer Puppe, schneeweiß und makellos schön. Und doch hatte dieser Anblick einer Halb-Puppe etwas so Groteskes und Bizarres an sich, dass er es nicht mit Worten hätte beschreiben können. Schließlich bekam sie ihn zu fassen und zog ihn mit unglaublicher Kraft zu sich heran, als wolle sie sich an ihn hochziehen. Und dann riss ihre Haut auf, die das fehlende Gesicht überzog und eine Art Mund bildete sich. Es war ein riesiger Schlund mit langen rasiermesserscharfen Zähnen und mit einer furchtbar rauen und tiefen Stimme brachte das Wesen gequält hervor: „Papa, hast du mich jetzt lieb? Kannst du mich jetzt lieben, wo ich doch jetzt endlich eine Puppe bin? Ich werde auch immer schön hübsch und artig sein. Sag, dass du mich lieb hast, Papa!“
 

Blitzartig riss Near die Augen auf und wusste erst mal nicht wo er war. Seltsam, war das gerade eben bloß ein Traum gewesen? Langsam drehte er den Kopf und sah, dass er in einem Krankenhausbett lag. Warum war er hier? Er versuchte sich zu erinnern, was passiert war und so langsam aber sicher fiel ihm wieder ein, dass er in den Pool gestoßen wurde und erst nach einem langen Kampf wieder rausgekommen war und um ein Haar noch ertrunken wäre. Und danach hatte er das Bewusstsein verloren und konnte sich nur noch ganz undeutlich an eine Stimme erinnern, die er gehört hatte. Ihm war so kalt gewesen, aber dann… dann war es auf einmal warm geworden. Seltsam. Was genau war denn passiert, als er weggetreten war?

Die Tür öffnete sich und Hester Holloway kam herein. Sie sah ziemlich fertig und überarbeitet aus, doch die Erleichterung stand ihr ins Gesicht geschrieben. „Hey Near, wie fühlst du dich denn?“

„Etwas benommen, aber ansonsten… was ist denn passiert?“

„Wir haben einen Anruf bekommen, dass du in einen nicht zugedeckten und auch noch gefüllten Pool gestürzt bist und danach völlig unterkühlt warst. Als der Rettungswagen ankam, hatte jemand bereits Erste Hilfe geleistet, allerdings ist er kurz nach dem Eintreffen der Sanitäter spurlos verschwunden. Ich weiß also nicht, wer es gewesen sein könnte, aber du hast unglaubliches Glück gehabt. Was hast du dir nur dabei gedacht, bei fünf Grad unter Null an einem Pool herumzuspielen?“

„Ich hatte da etwas auf dem Grund des Pools gesehen und bin auf der eisigen Fläche ausgerutscht. Es war ein Unfall.“ Dass er hineingestoßen wurde, wollte Near vorerst lieber für sich behalten. Er wusste nämlich, dass Hester dann sofort zu L und Watari rennen würde und ihnen das erzählte. Dann würde man Near von dem Fall abziehen, weil es dann zu gefährlich war und genau das wollte er verhindern. Wenn man schon versuchte, ihn umzubringen, bedeutete das, dass er ganz nah an der Wahrheit dran war und jetzt durfte er nicht locker lassen. „Wie lange muss ich hier bleiben?“

„Du bleibst erst mal noch zwei Tage zur Beobachtung da, dann kannst du wieder zurück. Aber lass dir das wirklich eine Lehre sein, nie wieder so eine Dummheit zu machen.“ Near gab sein Wort, dass er nie wieder etwas so Leichtsinniges machen würde aber er wollte diese zwei Tage auch nicht tatenlos im Bett verbringen. Er musste Mello anrufen und mit ihm besprechen, wie es jetzt weitergehen sollte. Aber Hester kam ihm da zuvor. „Mello ist krank. Offenbar hat er sich über Nacht ziemlich verkühlt und liegt nun mit einer Halsentzündung und Fieber im Bett. Das kommt davon, wenn man den Starken rauslassen will und bei offenem Fenster schläft. Musste ja so kommen.“ Mello krank? Das kam nicht oft vor, eigentlich so gut wie nie. Dann müsste er ja quasi nackt bei offenem Fenster geschlafen haben, wenn er sich dermaßen verkühlt hatte. Naja, auch mal jemand wie Mello wurde hin und wieder krank.

Zwei Tage vergingen quälend langsam und als Near wieder zurück war, erzählte er Matt und Mello sofort von dem Mordversuch an ihm und wie zu erwarten kam ein bitterböser Kommentar von Mello. Dieser war aufgrund seines Schnupfen und seiner Heiserkeit ziemlich schlecht auf Near zu sprechen und brummte nur „Der Kerl, der dich gerettet hat, soll an einem Spieß rotieren und in der Hölle schmoren.“ Eigentlich war Mello noch krank, doch er hatte keine Lust, noch weiter das Bett zu hüten wenn Near schon wieder fit war.

„Wenn dich also jemand umbringen will, dann können wir von der Wahrheit nicht weit weg sein. Aber wer genau war das? Hast du einen Plan?“

„Hm, also ich bin mir nicht ganz sicher. Er kam ja von hinten und hat mich reingestoßen. Ich weiß nur, dass der Kerl nicht sehr groß war. Ich schätze mal 1,66m.“

„Dann haben wir es entweder mit einem Kind, oder einem klein geratenen Erwachsenen zu tun. Kann vielleicht deine tolle Alice versucht haben, dich ins Jenseits zu befördern?“

„Das würde doch keinen Sinn machen. Warum sollte sie mich umbringen, wenn sie doch will, dass ich die Wahrheit herausfinde?“ „Vielleicht…“, schaltete schließlich Matt ein, der wegen seiner defekten Spielkonsole dazu verdonnert war, Sudoku zu lösen und binnen zehn Minuten vier geschafft hatte, „vielleicht hat Mello nicht ganz unrecht. Bedenken wir die Tatsache, dass Alice wollte, dass wir die Machenschaften ihres Vaters aufdecken. Was wenn Near aber in dem Haus auf etwas hätte stoßen können, dass sie in ein schlechtes Licht gerückt hätte? Irgendwie hat doch jeder Mensch Dreck am Stecken. Und um zu verhindern, dass du ihr schmutziges Geheimnis aufdeckst, hat sie dich in den Pool gestoßen.“

„Und was wäre das für ein Geheimnis?“

„Vielleicht der anonyme zweite Autor des Bilderbuchs.“ Der zweite Autor des Buches. Ja genau, da war doch was gewesen. Matt, der sich während der Erholungszeit der beiden alleine weiter um die Nachforschungen gekümmert hatte, holte das Buch heraus und schlug die erste Seite auf. „Als ich mir das Buch noch mal zusammen mit Chris angesehen habe, ist mir aufgefallen, dass da etwas zusammengeklebt wurde. Und zwar direkt an der Buchklappe vor der ersten Seite.“ Vorsichtig schnitt Matt mit seinem Taschenmesser das Papier auf und zog etwas hervor, das offensichtlich beim Buchbinden versteckt worden war. Er faltete es auf und eine Buntstiftzeichnung kam zum Vorschein. Es zeigten zwei Mädchen, die vollkommen gleich aussahen und sich an der Hand hielten. Beide waren mit Namen versehen „Ich“ und „Amara“.

„Amara? Was ist das denn für ein komischer Name?“

„Das ist ein Name aus dem Biblischen, Arabischen, Italienischen, Persischen und Jüdischen“, erklärte Near. „Er bedeutet so viel wie „ewige Schönheit“, „von Gott gesegnet“. Im Italienischen bedeutet er entweder „bitter“ oder lässt sich von „amare“ für „lieben“ ableiten. Wahrscheinlich hatte Alice tatsächlich eine Schwester.“ Eine Schwester… das würde so einiges erklären. Zumindest die Tatsache, warum Alice nach ihrem Unfalltod wieder aufgetaucht war. Diese Amara musste Alices Rolle nach dem Unfall weitergespielt haben und gab sich perfekt als diese aus. Aber… warum wusste niemand von dieser Amara? Hester hatte doch betont gehabt, dass William nur eine Tochter hatte und diese war Alice. Wie passte das bloß zusammen? Warum hielt William seine zweite Tochter geheim? Irgendetwas war da doch faul.

„Wir müssen mehr über diese Zwillingsschwester herausfinden“, sagte Mello entschlossen und schlug auf den Tisch. „Irgendwo muss es doch Dokumente über sie geben. Und wenn wir sie finden, haben wir Beweise für ihre Existenz.“

„Das Haus müssen wir auch noch mal unter die Lupe nehmen“, ergänzte Matt und legte sein Sudokuheftchen wieder weg. „Allerdings sollten lieber zwei dorthin gehen. Bevor wieder einer im Pool landet. Mello fällt schon mal weg, der ist noch total erkältet. Near, fühlst du dich fit genug?“

„Klar. Dann gehen wir beide zum alten Haus der Chevaliers und Mello kümmert sich in der Zwischenzeit um Amara Chevalier.“
 

Near und Matt gingen daraufhin in ihre Zimmer um sich warm anzuziehen. Noch immer herrschten eiskalte Minusgrade und es würde zum Wochenende sogar bis zu -15°C werden. In London war die Themse bereits vollständig zugefroren und der Schiffsverkehr in großen Teilen Englands vollständig lahm gelegt. In Schottland soll es sogar schwere Schneestürme gegeben haben. Der Zugverkehr wurde in Winchester aufgrund zugefrorener Gleise bis aufs Weitere eingestellt, aber dafür bot Hester an, die beiden mit dem Auto zu fahren. Auch sie wollte unbedingt herausfinden, ob ihr ehemaliger Kollege kriminell war und ob er über all die Jahre eine Tochter verschwiegen hatte. Mit ihrem staubgrauen Renault fuhren sie über Landstraßen und über die Autobahn, bis sie nach fast zwei Stunden Fahrt das Haus der Chevaliers erreichten. „Wonach genau müssen wir noch mal suchen?“

„Alle möglichen Hinweise, die auf eine Existenz von Amara Chevalier hindeuten. Seien es signierte Bilder von ihr, Fotos oder zurückgelassene Dokumente.“ Dank Hesters Hilfe konnte die Tür gewaltsam geöffnet werden und kaum waren sie drin, begannen sie sich aufzuteilen. Near und Matt wollten sich oben umsehen, während Hester unten alles absuchte. Matt, der zur Sicherheit sein Taschenmesser und Mellos Elektroschocker dabei hatte, ging als Erster die Treppe hoch. Vorsichtig sah er sich um, konnte aber außer einer Maus und einer toten Katze nichts Besonderes finden. „Hier oben scheint keiner zu sein.“ Sie gingen zuerst nach rechts und öffneten die Tür zu einer Art kleinen Werkstatt mit Regalen, wo noch Puppenteile lagen und in einer Ecke saß eine Puppe in einem schwarzen Kleid mit weißen Rüschen und da es vom Dach her ein wenig hineintropfte, sah es so aus als ob die Puppe weine, dass man sie zurückgelassen hatte.

In der Mitte stand ein großer stabiler Tisch und daneben stand eine Schreibtischlampe mit starker Leuchtkraft. Aber… da gab es noch etwas, das Matt und Near beunruhigte: Unzählige Blutflecken auf dem Tisch und auf dem Boden, so als hätte hier ein Massaker stattgefunden. Und obwohl das Haus seit fünf Jahren verlassen war, hing hier ein unsagbarer Verwesungsgeruch in der Luft und trotz der kalten Jahreszeit schwirrten überall Fliegen umher. „Das stinkt hier ja, als ob ein Tier verwesen würde. Dabei ist die tote Katze noch ein Witz.“

„Anscheinend hatte Chevalier wirklich Leichen im Keller. Irgendwo muss es eine Verbindung zwischen diesem Raum und dem Keller geben.“ Sie klopften den Boden ab und fanden direkt unter dem Tisch eine gut versteckte Falltür und als Matt sie öffnete, kam ein widerlicher Gestank nach oben, der ihnen den Atem nahm und ihre Augen tränen ließ. „Anscheinend hat er die Kinder hier raufgebracht und ihre Überreste einfach in diese Falltür geworfen. Wir müssen gleich mal nachsehen gehen, was da unten genau ist.“ Schnell verschloss Matt die Falltür wieder und hustete. Der Gestank war einfach unbeschreiblich und sein Magen begann zu rebellieren. Danach ließ er erst mal frische Luft rein, indem er ein Fenster öffnete. In der Werkstatt selbst fanden sie sonst nichts mehr. Das ganze Werkzeug hatte Chevalier mitgenommen. Nachdem sie das Zimmer auf den Kopf gestellt hatten, gingen sie ins nächste und fanden ein Badezimmer vor, wo sogar noch Badewasser drin war. Es war aber inzwischen vollkommen mit einer grünen Schicht überzogen und roch unangenehm. Hier hatte auch der Blitz ein Loch ins Dach gerissen, woraufhin hier der Schimmel und Grünalgen nur so blühten. Etwas weiter befand sich eine weiß gestrichene Tür, an der ein Schild hing wo mit schöner Schrift „Alice’s Room“ geschrieben stand. Diese war verschlossen aber mit ein wenig Geschick gelang es Matt, das Schloss zu knacken und doch noch reinzukommen. „Wo hast du das eigentlich gelernt?“

„Man lernt so einiges, wenn man eine Zeit lang auf der Straße gelebt hat.“

Anders als die anderen Räume war dieses Zimmer noch in einem sehr guten Zustand. Der Staub war an einigen Stellen aufgewirbelt, ein Zeichen dafür, dass vor kurzem jemand hier war. Stellte sich nur die Frage ob er gefunden hatte, wonach auch immer er gesucht hatte. Der Dielenboden war hell gestrichen und ein großer Teppich lag in der Mitte des Zimmers. Die Tapeten waren weiß mit Rosenmuster und auf den Regalen waren Spieluhren, Elfenfiguren und Puppen aufgereiht und es fanden sich im Kleiderschrank neben diversen Kleidern auch Ballettschuhe und Bänder fürs Bodenturnen. Aber auch sehr teures Make-up, Parfüm und Accessoires. Und an dem Spiegel des Schminktisches hing ein Foto, wo ein Mädchen im Alter von ungefähr 9 oder 10 Jahren zu sehen war. Sie trug ein aufwendig geschneidertes Kleid und saß anmutig wie eine Prinzessin auf einem Thron und trug ein silbernes Diadem. Sie sah wunderschön aus, wie ein Engel. „Das muss wohl Alice sein“, vermutete Near als er sich das Foto ansah. Matt nahm weiter den Schrank unter die Lupe und bemerkte schließlich „Ich kann hier nichts finden, was auf ein Leben außerhalb ihrer Familie hinweisen könnte. Zum Beispiel Klassenfotos, Mitbringsel, Freundschaftsfotos oder Auszeichnungen von Vereinen. Hat Chevalier alles mitgenommen?“

„Nein, ich vermute mal, dass sie vollkommen isoliert gelebt hat. Er wollte ihre Schönheit ganz für sich alleine haben und sie mit niemandem sonst teilen. Und wenn man bedenkt, dass sie aufgrund dieser Wachstumsstopper sehr eingeschränkt leben musste, konnte sie auch nicht wie normale Kinder draußen spielen gehen. Eine Kratzwunde würde nie wieder verheilen und ein Knochenbruch wäre katastrophal gewesen.“

„Dann war sie fast so wie ein Bluter. Aber auf dem Foto hier sieht sie dafür ziemlich glücklich aus. Ihr schien es wohl doch gefallen zu haben, wie eine Puppe zu leben. Nur da sitzen und schön aussehen…. So etwas ist doch kein Leben. Ich an ihrer Stelle wäre längst durchgedreht oder abgehauen.“

„Wahrscheinlich hat sie es einfach akzeptiert, weil sie sich nur so Zuwendung von ihrem Vater erhoffen konnte. Dafür war sie bereit, ein solches Schicksal anzunehmen und auf ein Leben als freier Mensch zu verzichten. Dafür lebte sie wie eine Puppe.“

„Schön und gut, aber wo ist denn Amaras Zimmer? Ich sehe hier nur ein Bett und ich glaube kaum dass die beiden in einem Bett geschlafen haben. Und hier oben haben wir schon alle Zimmer abgesucht. Oder hast du im Erdgeschoss etwas gefunden?“

„Nein. Vielleicht war Amara ja auch keine Schwester, sondern eine enge Freundin. Noch steht gar nicht fest, ob sie wirklich eine Schwester hatte. Das können wir erst sagen, wenn wir Beweise gefunden haben.“ Sie durchsuchten die Schränke und Regale als auch die Matratze, die Kissen und sogar die Stofftiere nahmen sie unter die Lupe. Aber es fand sich nirgendwo etwas.

Schließlich rollten sie den Teppich ein, um den Boden näher abzusuchen. Es konnte ja nicht schaden, nach einem losen Dielenbrett zu suchen. Manche Kinder versteckten vorzugsweise unter den Dielen irgendwelche Sachen, die sie als ihren persönlichen Schatz betrachteten. Vielleicht hatte Alice ja Fotos oder irgendwelche Andenken aufbewahrt und sie vor ihrem Vater versteckt. Sie suchten wirklich jede einzelne Diele ab, bis sie nach einer Weile unter dem Bett tatsächlich ein Brett herausnehmen konnten. Und darunter befand sich eine kleine Kiste, deren Vorhängeschloss fehlte, sodass sie sich problemlos öffnen ließ. „Da bin ich ja mal gespannt, was da drin ist.“

Tragödien

Vorsichtig öffnete Matt das Kästchen und holte zusammengefaltete bunte Papiere heraus, die mit Seidenbändern zusammengebunden waren. Einige davon waren Briefe an den Weihnachtsmann, die Alice nie abgeschickt hatte, oder Briefe an Gott. Sie alle beinhalteten Bitten, die aber niemals erhört worden waren. An wen hätte Alice sich denn sonst wenden können? Ihr Vater war kein Vater in dem Sinne, er war nur an ihre Schönheit interessiert, nicht aber an eine Tochter. Und da er sie von der Außenwelt abgeschirmt hatte, hatte sie auch keine Freunde, oder andere Bezugspersonen, geschweige denn überhaupt so etwas wie eine Bezugsperson. Deswegen schrieb sie Briefe an irgendwelche Fantasiefiguren, die jeder kannte und an die man sich auch wenden konnte, wenn man Kummer oder Sorgen hatte. Manchmal schrieb sie fast täglich solche Briefe an Gott und einer war trauriger als der andere. Da bekam selbst der völlig in sich gekehrte Near Mitleid mit diesem armen Kind. Dann fand Matt schließlich den ersten Brief, in dem der Name Amara erwähnt wurde und las ihn vor:
 

„Lieber Gott,

ich weiß dass du sehr beschäftigt bist und bitte entschuldige, wenn ich dich störe. Aber es gibt da etwas, um das ich dich bitten möchte. Es geht nicht um mich, sondern um eine böse Hexe! Amara hat nämlich gesagt, eine böse Hexe habe ihre Beine verzaubert, sodass sie nicht richtig laufen kann. Und solange dieser Fluch auf ihr liegt, hat Papa sie nicht lieb. Er sagt, dass solche Beine nicht schön sind und was nicht schön ist, das mag er nicht. Könntest du die böse Hexe vielleicht finden und ihr sagen, sie soll Amaras Beine wieder normal machen? Sie ist ganz unglücklich damit und dabei würde ich so gerne zusammen mit ihr tanzen.
 

Deine Alice“
 

Es gab diese Amara also doch. Und Alice hatte sie gut gekannt. „Was hältst du davon, Near?“ „Offenbar kam Amara mit deformierten Beinen zur Welt und konnte aufgrund dessen nicht richtig laufen. Das war wahrscheinlich der Anlass für ihren Vater, sie zu verstoßen.“ Und es fanden sich noch mehr Briefe. In einem bat Alice, dass sie mal mit anderen Kindern spielen durfte, oder dass sie mit ihrer Familie einen Ausflug unternahm. Diese Briefe schrieb sie alle im Alter von sechs bis acht Jahren, danach folgte kein Brief mehr. Bis auf einen, der dem Datum nach kurz vor dem Unfall geschrieben wurde. Zu dem Zeitpunkt war Alice 13 Jahre alt gewesen.
 

„Lieber Gott,

ich habe dir schon lange nicht mehr geschrieben. Dabei ist so viel passiert. Die böse Hexe hast du sicher nicht gefunden, dafür aber hat Papa Amara neue Beine geschenkt. Ich habe ihn so lange darum gebeten, bis er einverstanden war. Er sagte, er würde Amara neue Zauberbeine schenken, dann kann sie genauso schön tanzen wie ich. Endlich können wir beide zusammen spielen und ich hätte vor Freude fast geweint, als ich sah, wie glücklich Amara war. Doch trotzdem will Papa nicht mit ihr reden. Gestern habe ich sogar gehört, wie Papa mit Amara geschimpft hat. Danach hat sie ganz lange geweint und hat kein Wort mit mir geredet. Ich glaube sie ist böse auf mich, weil Papa sich immer um mich kümmert, anstatt um sie. Lieber Gott, kannst du mir nicht sagen was ich tun soll? Ich möchte doch, dass wir alle eine Familie sind und ich will nicht, dass Amara so weinen muss. Wenn du nichts tust, dann muss ich selber etwas tun. Da ich Papa jeden Tag im Krankenhaus besuchen komme, werde ich zusammen mit Amara hingehen und ihm sagen, dass ich möchte, dass wir eine Familie sind. Vielleicht ändert er ja seine Meinung und lernt dann endlich, Amara zu lieben. Wünsch mir Glück!
 

Deine Alice“
 

Near musste das erst mal verdauen, als er diesen allerletzten Brief von Alice durchgelesen hatte. Er fühlte sich mit einem Male sehr schlecht und brauchte erst einmal frische Luft. Matt sah ihn fragend an. „Was ist, Near?“

„Amara und Alice waren zusammen unterwegs als der Unfall passiert ist. Alice wollte ihren Vater überreden, Amara als seine Tochter zu akzeptieren, wurde aber dann von dem Kleintransporter erfasst und starb. So wie es aussieht, hat Amara dann den Platz ihrer Schwester eingenommen.“

„Und warum das Ganze?“

„Ich denke, Amara hat ihre Schwester dafür gehasst, dass diese bevorzugt wurde. Sie wollte wie Alice sein und hat sich selbst gehasst, weil sie nicht mit gesunden Beinen zur Welt kam. Was blieb ihr also übrig? Sie nutzte den Unfalltod ihrer Schwester und nahm ihre Identität an. Sie glaubte, sie könnte für ihren Vater perfekt sein, wenn sie zur neuen Alice wird.“

„Was für ein Wahnsinn“, murmelte Matt kopfschüttelnd und zündete sich eine Zigarette an. Mit einem nachdenklichen Blick blies er den Nikotinqualm aus und sah zu Near, der am Fenster stand, um frische Luft zu schnappen. Diese Geschichte war einfach nur tragisch, anders konnte man es nicht beschreiben. Ein Mann, der nur Augen für Schönheit hatte und von der Perfektion besessen war, benutzte seine Töchter, um aus ihnen lebende Puppen zu machen. Da aber Amara mit verkrüppelten Beinen geboren wurde, war sie in seinen Augen nur eine defekte Puppe, die man genauso gut hätte wegwerfen können. Er hatte zwar versucht, sie zu „reparieren“, indem er ihre verkrüppelten Beine amputierte und dafür Prothesen anfertigte, aber selbst eine geflickte Puppe war nicht perfekt. Ein Mal kaputt, war sie immer kaputt. Also konzentrierte er sich einzig und allein auf Alice, die für ihn das perfekte Zusammenspiel zwischen Eleganz, Schönheit und Unschuld war und damit auch Perfektion verkörperte. Aber Alice selbst fühlte sich vollkommen einsam und litt darunter, dass sie von der Außenwelt abgeschottet wurde und kein eigenes Leben besaß. Diese Einsamkeit und Traurigkeit kompensierte sie dadurch, dass sie sich auf ihre Schwester Amara konzentrierte, der es noch viel schlimmer ging und kümmerte sich stattdessen um deren Leid. Amara aber konnte ihrer Schwester nicht verzeihen, dass sie ihretwegen von ihrem Vater als kaputte Puppe und damit als lästiger Müll und Abfall angesehen wurde. In ihren Augen war Alice die Wurzel allen Übels und damit auch Schuld an ihrem Unglück. Vielleicht war es sogar möglich, dass…. Near sah Matt an, der offenbar den gleichen Gedanken hatte und diesen schließlich aussprach: „Amara war es, die für den Unfall verantwortlich war. Sie hat Alice vor den vorbeifahrenden Kleintransporter gestoßen.“ Ja genau, so und nicht anders musste es gewesen sein. Amara, die Alice als die Ursache ihres Unglücks ansah, konnte niemals selbst zur Alice werden, wenn die echte noch am Leben war. Sie musste verschwinden und zwar schnell. Und auf der Straße hatte sie die nächste Gelegenheit genutzt, um sie zu beseitigen, indem sie sie vor ein Auto stieß. Denn sie wusste, dass Alice durch den Wachstumsstopper nicht überleben würde. Dann nahm sie ihren Platz ein.

„Aber können wir wirklich hundertprozentig davon ausgehen, dass Amara den Mord geplant hatte? Sonst hätte sie es doch viel früher tun können. Ein Messerstich oder ein Sturz von der Treppe hätten doch schon ausgereicht, um Alice früher oder später zu töten.“

„Es kann auch eine Kurzschlussreaktion gewesen sein. Vielleicht hat Alice Amara ungewollt in dem Moment mit irgendeiner Bemerkung provoziert. Ich glaube in der Situation hätte wirklich jedes Wort Amara zu dieser Tat provozieren können. Sie muss eine unglaubliche Wut auf ihre Schwester gehabt haben.“ Matt legte die Briefe wieder ins Kästchen und verstaute dieses als Beweismittel in den Rucksack. Dieses Zimmer hier sah wie ein ganz normales Kinderzimmer aus und doch hatte hier nie wirklich ein Kind drin gelebt sondern nur eine lebende Puppe. Die Tragödie der Chevaliers kam viel zu spät ans Tageslicht und hätte man damals etwas unternommen, hätte so vieles verhindert werden können. Ein Mann wie William Chevalier hätte niemals aber auch wirklich niemals ein Vater werden dürfen.

Als sie das Zimmer verließen, blieb Matt noch mal an der Treppe stehen. „Wir haben immer noch nicht wirklich eine Antwort gefunden, wofür William Chevalier die Kinder gebraucht hat. Oder glaubst du, dass er sie als Testobjekte für seine Chemieküche benutzt und dann aus ihren Knochen Puppen gebastelt hat?“

„Das glaube ich kaum. Sonst wären die Kinder allesamt viel früher verschwunden. Ich glaube, dass er mit ihnen etwas ganz anderes bezweckt hatte. Aber was genau, das kann ich nur ganz vage vermuten und dazu brauche ich mehr Indizien. Dazu müssen wir uns den Keller ansehen. Und da wird uns wohl kein besonders schöner Anblick erwarten.“ Sie richteten alles wieder so her, wie es vorher aussah und gingen zurück ins Erdgeschoss, wo Hester auf sie wartete. Sie hatte leider keine Ergebnisse vorzuzeigen, da anscheinend alle Dokumente mitgenommen worden waren, ebenso wie Fotos. Sie hatte nur eines unter dem Sofa gefunden und das zeigte Alice. Sie hatte auf diesem Bild ein orientalisches Kleid an, war mit vielen Ketten und Armreifen geschmückt und lag auf einem Boden, auf dem man viele durchsichtige Tücher gelegt hatte und mit einem geheimnisvollen Blick sah sie in die Kamera.

„Das Einzige, was sie jemals gekannt hatte war, wie man eine perfekte Puppe spielt“, murmelte Near kopfschüttelnd, als er das Foto sah. „Vielleicht hat sie eines Tages selbst angefangen zu glauben, sie sei eine Puppe.“

Bevor sie Hester über ihre Ergebnisse aufklärten, entschlossen sie sich erst mal dazu, den Keller schnellstmöglich aufzusuchen. Irgendwohin mussten ja die ganzen Überreste verschwinden, wenn Chevalier sie nicht mehr brauchte. Sie stiegen die Treppen hinunter, öffneten die erste unverschlossene Tür und standen wenig später vor drei verschiedenen Türen und einen Seitengang, der in den Waschraum führte.

Unten hing aber keine Wäsche, sondern durchsichtiges leicht gummiartiges Material, das ein wenig hautfarben aussah und sich auch danach anfühlte. Jedoch war es dafür viel zu dick und stabil. „Was ist das?“

„Da bin ich mir nicht ganz sicher. Vielleicht hat William Chevalier dieses Material als eine Art Hautersatz für seine Puppen benutzt. Es sieht so aus, als könne es einiges aushalten.“ Sie öffneten die erste Tür und fanden eine Art Gefängniszelle vor. Der Raum war sehr schmal und das Bettgestell in der Ecke war rostig und alt, die Matratze längst vermodert. An den Wänden hingen Bilder, eines schöner gemalt als das andere. Etwas weiter weg lagen Gehhilfen und spezielle Vorrichtungen, die man an die Beine befestigte, um sie zu begradigen. Hier also, in einem dunklen Raum aus grauen und nackten Betonwänden mit einem kleinen vergitterten Fenster hatte also Amara gelebt. Hester standen die Tränen in den Augen, als sie die Krücken und die kleinen Kinderschuhe sah. „Wie schrecklich. Wie kann man ein kleines Kind hier nur über Jahre hier einsperren? Wer tut denn nur so etwas?“

„Jemand, der keine Kinder lieben kann, sondern nur Puppen im Sinn hat. Amara war für ihn bloß eine kaputte Puppe und deswegen hat er sie auch wie eine behandelt.“ Auf dem Bett lag ein zerschlissener Teddybär mit nur einem Knopfauge. Der einzige Trost, den dieses vollkommen vernachlässigte Kind damals hatte. Sie verließen diesen unsagbar traurigen Ort wieder und versuchten die nächste Tür zu öffnen, doch sie war verschlossen. Da hing sogar ein Vorhängeschloss dran. Ohne Werkzeug war sie nicht aufzubekommen. Darum gingen sie vorerst wieder nach oben, dann raus in den Garten zum Häuschen in der Hoffnung, dort etwas zu finden. Tatsächlich fanden sie eine Axt, die noch gut in Schuss war. Near und Matt überließen die Arbeit lieber Hester, die mit kräftigen und gezielten Hieben die Kette zerstörte und das Schloss der Tür dermaßen demolierte, dass sie sich aufstoßen ließ. Doch bevor sie die Tür öffnete, riet sie den beiden, bloß nichts anzufassen. Man könne nicht wissen, was für Parasiten, Schimmelpilze und andere Krankheitserreger da lauerten. Dann öffnete sie langsam die Tür und wie zurückgehaltene Wassermassen stürzten die bestialischen Verwesungsgerüche auf die drei ein. Sie konnten nichts sehen, dieser Gestank brannte wie Säure in ihren Augen und überall lagen tote Fliegen, einige schwirrten umher. „Aasfliegen, offenbar haben sie sich hier eingenistet und legen hier auch ihre Eier ab.“ Near hatte das Gefühl zu ersticken und hielt sich ein Taschentuch vor Mund und Nase. So etwas hatte er noch nie erlebt gehabt und insgeheim wollte er lieber nicht wissen, was diesen infernalischen Gestank auslöste. Unter der Falltür, die sie von oben gesehen hatten, stand eine Art riesiger Bottich, der ziemlich stabil gebaut war. Und darin schwamm eine dickflüssige fast schwarze Brühe, die beißende Dämpfe erzeugte. Matt wollte rangehen um zu sehen, was das für ein Zeug war doch Near und Hester hielten ihn zurück. „Was ist das da drin für eine Brühe?“

„Vermutlich Säure. Chevalier hat die Überreste der Toten die Falltür hinuntergeworfen und wenn der Bottich voll war, hat er ihn mit Säure gefüllt und dann gewartet bis das Fleisch vollständig aufgelöst war. Danach hat er alles in die Kanalisation abgepumpt.“

„Ein Mörder und ein Umweltkrimineller. Der Kerl ist doch echt krank.“

„Aber nur so konnte er die Leichen vollständig loswerden, ohne Spuren zu hinterlassen. Es war also die effektivste Methode, ohne dass man ihm auf die Schliche kam.“ Das Gesumme und das Umherschwirren von über tausend Fliegen und der Gestank waren kaum zum Aushalten. Deswegen ließen sie eine Durchsuchung lieber sein und verschwanden so schnell wie möglich wieder. Hester schloss die Tür hinter sich und die drei holten erst einmal tief Luft.

„Nur wo kommen diese ganzen Fliegen her? Wie konnten die so lange überleben?“

„Ich vermute mal dass einige Leichenteile, die Chevalier hier entsorgt hatte, aus dem Bottich gefallen sind. Und er hatte sich auch nicht die Mühe gemacht, sie wegzuwerfen und das war ein perfekter Nährboden für die Fliegen. Außerdem gibt es da drin keine Fenster und die Temperatur ist ideal. Dadurch konnten sich die Fliegen ungehindert ausbreiten.“

„Ich versteh das nicht. Wenn Chevalier doch so eine Schönheitsobsession hatte, warum hat er dann hier so eine Teufelsküche zugelassen?“

„Bedenke, dass das alles seit fünf Jahren verlassen ist“, erinnerte Near und musste sich erst einmal setzen, da ihm durch den Gestank schwindelig geworden war. „Ich bezweifle, dass es vor fünf Jahren so gewesen ist. Er hat sicher alles lange Zeit sauber gehalten und dadurch ist der Gestank auch nicht so stark gewesen.“

Nach einer kurzen Pause gingen sie wieder nach oben und waren heilfroh, endlich wieder an der frischen Luft zu sein. Matt zündete sich eine Zigarette an und ließ sich den kalten Wind ins Gesicht wehen. „Der Kerl muss aber ne ganz schön starke Säure genommen haben, die so etwas packt. Ne normale Salzsäure würde doch ewig brauchen. Was meinst du Near, könnte es vielleicht Perchlorsäure sein?“

„Zu gefährlich. Bei zu starker Erwärmung gäbe es eine Explosionsgefahr, außerdem ist sie stark brennbar. Ich vermute eher Flusssäure. Das würde den beißenden Gestank miterklären. Flusssäure ist höchstgiftig und schädigt nicht nur die Haut, sondern auch das Nervensystem und kann zu multiplen Organversagen führen, da sie eine hohe Lipidlöslichkeit besitzt. Flusssäure wird also direkt vom Körper aufgenommen und kann alles bis in die Knochen verätzen, ohne dass sichtbare Stellen auf der Haut zu sehen sind.“

„Und warum vermutest du Flusssäure?“

„Weil es zum Reinigen von Stein, Glas, Silikon und Porzellan benutzt wird.“ Das leuchtete Hester und Matt ein und sie mussten zugeben, dass es sich der Puppenmacher wirklich gut überlegt hatte. Wenn es wirklich Flusssäure war, erklärte das auch das Brennen in den Augen und in der Lunge. Aber wie konnten die Fliegen dann überleben? Hatten diese vielleicht eine Möglichkeit gefunden, in dieser Giftküche zu überleben? Wahrscheinlich hatten sie sich über die fünf Jahre ja bereits an diese Lebensbedingungen angepasst. Doch was genau hatte Chevalier mit den Kindern gemacht? Wofür brauchte er sie? Das war noch die große Frage. Und warum brauchte er auch jetzt Kinder, nachdem Alice gestorben war? Warum ausgerechnet Kinder? Warum denn keine Jugendlichen oder Erwachsenen? Vielleicht fanden sie ja eine Antwort, wenn sie wieder im Waisenhaus waren, wo Mello noch mit den Recherchearbeiten zugange war. Vielleicht würden sie auch noch diese Antwort finden und dann würden sie auch schnellstmöglich herausfinden, wo sich der Puppenmacher versteckt hatte. Lange konnte er sich jedenfalls nicht mehr verstecken. Sie setzten sich in den Renault und fuhren zurück ins Waisenhaus. In Gedanken versunken sah Near aus dem Fenster, beobachtete die an ihn vorbeiziehende triste Winterlandschaft. Irgendetwas störte ihn noch an dieser Geschichte. Zum größten Teil hatte er das, was damals passiert ist, zwar verstanden aber es gab noch ein paar Ungereimtheiten. Insbesondere die Frage, warum William Chevalier Amara operiert hat, obwohl er sie doch als fehlerhaft und kaputt angesehen hatte und wusste, dass sie niemals nach seinen Maßen perfekt sein würde. Und wie konnte er an Amara die Operation durchführen, wenn sie genauso wie Alice diesen Wachstumsstopper verabreicht bekam? Gab es etwa eine Möglichkeit, die Wirkung des Mittels rückgängig zu machen, oder zumindest aufhalten zu können? Brauchte er dafür die Kinder? Und was ist damals in Bukarest geschehen? Welches Geheimnis umgab die Familie Dunsley und Chevalier bloß?

Traumwelt

Hester setzte Matt und Near vor dem Waisenhaus ab und fuhr selbst nach Hause. Sie hatte am nächsten Tag noch eine sehr lange Schicht vor sich und wollte sich deswegen so früh wie möglich aufs Ohr hauen. Auch Near und Matt waren müde, was aber hauptsächlich am kalten Wetter lag. Sie waren trotz der warmen Kleidung durchgefroren und erschöpft. Da die Teezeit längst vorbei war, gab es nichts Warmes mehr aber als sie in der Küche nachfragten, bekamen sie doch noch einen Tee. Doch sie setzten sich nicht in den Speisesaal, sondern gingen in den Salon, wo Mello im Sessel saß und auf der Tastatur eines Laptops herumtippte. Als er Matt und Near sah, war ihm seine Ungeduld trotz seines angeschlagenen Gesundheitszustands deutlich anzusehen. In kurzen und knappen Sätzen schilderten sie ihm das, was sie in Erfahrung bringen konnten. Angefangen von Amara, die mit deformierten Beinen zur Welt kam und im Keller hausen musste bis hin zu der geheimen Giftküche, wo der Puppenmeister die Kinderleichen entsorgt hatte. „Damit ich das richtig verstehe“, sagte Mello schließlich mit heiserer Stimme „dann ist Amara also für Alices Unfalltod verantwortlich. Dann hat sie versucht ihre Schwester zu kopieren, um die Aufmerksamkeit ihres Vaters zu gewinnen und als seine Tochter akzeptiert zu werden.“

„Davon gehen wir aus“, stimmte Matt zu und nickte. „Allerdings ist immer noch nicht ganz geklärt, was der Kerl mit den Kindern gemacht hat. Was hast du zu dem Puppenmacher aus Bukarest gefunden?“

„Es war ziemlich schwierig und hundertprozentig beweisen kann ich meine Theorie nicht. Sie ist auch etwas abenteuerlich, aber anders kann ich mir das nicht zusammenreimen. Also hört gut zu, ich wiederhole es nämlich nicht gerne.“ Bevor Mello mit seiner Geschichte begann, trank er erst mal einen Schluck Tee und wartete, bis Near und Matt sich setzten. Die Geschichte um den Puppenmacher aus Bukarest begann wahrscheinlich im Jahre 1939 in einer kleinen Siedlung, in der sich unzählige Zigeunergruppen niedergelassen hatten um durch Feldarbeit ein wenig Geld zu verdienen. Das Land war erschüttert durch Kriege und Unruhen, besonders die Juden- und Zigeunerverfolgung durch die Nazi hatten vielen sehr zugesetzt und man lebte ständig in der Angst, als nächstes verschleppt zu werden. In dieser Zeit der Gewalt ließen sich aber auch Organisationen nieder, um den Außenseitern der Gesellschaft zu helfen. Sanitäter, Krankenschwestern und Lazarettärzte halfen der Bevölkerung, verarzteten die Verletzten und versuchten dabei auch die Versorgung aufrecht zu erhalten. Besonders im leidgeprüften Bukarest ließ sich eine Organisation nieder, zu der auch die Arztfamilie Dunsley gehörte. Thaddeus Dunsley, ehemaliger Militärarzt unterstützte seine beiden Söhne Robert und Malcolm, die beide Prothesenmacher waren, indem er seine Patienten an sie verwies. Robert starb jedoch im Alter von 25 Jahren an einem bösartigen Gehirntumor, sodass sein jüngerer Bruder Malcolm das Geschäft alleine weiterführte. Im Alter von 33 Jahren heiratete er eine jüdische Deutsche namens Sarah Stern, deren Familie im Konzentrationslager getötet wurde. Sarah starb während der Geburt ihres Sohnes William, der mit einem Kaiserschnitt zur Welt gebracht wurde. Der Krieg fand schließlich ein Ende, doch die Ausmaße waren unvorstellbar. Der kleine William Dunsley wuchs in einer Welt des Leids und der Zerstörung auf. Er war umgeben von Verletzten, Entstellten und Verkrüppelten und das hatte ihn für immer gezeichnet. Sein Vater Malcolm arbeitete wie ein Besessener, doch das Material für die Prothesen war nach dem Krieg unglaublich teuer geworden und die Leute, die Prothesen brauchten, hatten alle kein Geld. Auf finanzielle Unterstützung des Landes konnte Malcolm Dunsley nicht hoffen, der Wiederaufbau verschlang Unsummen und es mussten Kredite aufgenommen werden. Da Metall- und Holzprothesen also Luxusgut geworden waren, musste der Prothesenmacher sich etwas einfallen lassen und kam nach einiger Zeit schließlich auf eine Idee: Er modellierte Keramikprothesen. Das Material unterschied sich je nach dem, wer sie trug. Robuste und grob gefertigte Kunstgliedmaßen für die ärmeren Leute, feine und ausgefallene Modelle für die Wohlhabenden. Um die gleiche Zeit verschwanden immer mehr Menschen, insbesondere Kinder. Keines ist jemals wieder aufgetaucht und man verdächtigte zunächst die Zigeuner, aber diese waren am allermeisten betroffen. Es kam daraufhin zu Auseinandersetzungen zwischen den einzelnen Clans. Dabei wurde auch Thaddeus Dunsley getötet, als ein Gewehrschuss ihn zwischen die Augen traf. Der damals 15-jährige William Dunsley musste das alles mit ansehen und floh mit seinem Vater Hals über Kopf aus Rumänien und ließ sich mit ihm in England nieder, genauer gesagt in einem kleinen Vorort von London. Dort eröffneten sie wieder ihr Prothesengeschäft und trotz anfänglicher Schwierigkeiten blühte das Geschäft auf. Wieder verschwanden Kinder, die meisten stammten aus der unteren Mittelschicht. Allerdings waren es nicht mehr so viele wie in Bukarest, trotzdem erregte dieser Fall großes Aufsehen. Malcolm Dunsley erlitt schließlich drei Jahre später einen Schlaganfall und starb, William führte eine Weile das Geschäft weiter und war berühmt dafür, dass er hochwertige Prothesen herstellte. Dabei war seine Ausbildung noch nicht beendet und eigentlich war er mehr darauf erpicht, Arzt zu werden. Schließlich verkaufte er das Geschäft, beendete sein Studium und reiste mit dem Doktortitel in der Tasche nach Paris. Dort lernte er Jeanne Chevalier kennen, die beiden kehrten zusammen nach London zurück, heirateten und der Rest der Geschichte war bereits bekannt.

Da Mello aufgrund seiner Halsentzündung immer wieder husten und pausieren musste, dauerte sein Bericht dadurch um einiges länger, aber nachdem er fertig war, waren sich alle drei wortlos einig in ihrer Vermutung, was mit den Kindern passiert war, die in einem Zeitraum von über sechzig Jahren verschwunden waren: Der Puppenmacher von Bukarest, der nun seit Jahren auch hier in England sein Unwesen trieb, verarbeitete die Knochen der Kinder zu Knochenporzellan um daraus Prothesen oder Puppen anzufertigen. Es war so unglaublich bizarr und verrückt, als entspringe dies aus einer uralten Geistergeschichte oder einem Märchen, aber es war die grausame Wahrheit. Dutzende wenn nicht sogar hunderte Kinder mussten sterben, damit die wohlhabenden Menschen edle Prothesen aus feinster und edelster Keramik bekamen. Damals hatte es Malcolm Dunsley getan, weil er sich nicht mehr die herkömmlichen Mittel für die Prothesen leisten konnte. Und damals gab es eine sehr hohe Zahl an Waisenkindern, nach denen im Zweifelsfalle keiner mehr fragte. Und da sich diese Prothesen bewährten, führte er dieses blutige Geschäft auch in England weiter bis zu seinem Tode. William, der in einer Welt voller Schmerz, Hässlichkeit und Schrecken aufgewachsen war, hatte so viele Leute sterben sehen. Hatte miterlebt, wie sein Großvater getötet wurde und er hatte von klein auf die schrecklichen Verletzungen gesehen. Die abgerissenen Arme und Beine unzähliger Menschen und wollte dieser schrecklichen Alptraumwelt entfliehen. Traumatisiert durch diese ganzen Erlebnisse flüchtete er sich in seine heile und kontrollierte Welt der Schönheit und Perfektion. Dort wo es kein Leid und keine Hässlichkeit mehr gab. Die Puppen wurden sein einziger Lebenssinn, da diese unvergänglich und schön waren. Sie wurden nicht alt und hässlich. Sie starben nicht an den Folgen grausamer Verletzungen und wenn sie kaputt waren, konnte man sie jederzeit wegwerfen. Und mit dieser Tatsache radikalisierte sich auch sein Denken über die menschliche Gesellschaft. In den Menschen begann er nur noch unvollständige und hässliche Puppen zu sehen, Marionetten ohne Schnüre. Er begann die Menschen für diese ihm widerfahrenen Hässlichkeiten selbst zu hassen und versteckte sich hinter der Maske eines perfekten Gentlemans, einem tadellosen Mann. Und als seine Frau bei der Geburt seiner Töchter starb, fühlte er sich an sich selbst und seinen Vater erinnert. Auch seine Mutter verstarb bei seiner Geburt. Diese beiden Kinder waren für ihn wie ein Spiegel und wenn er sie sah, sah er sich selbst in dieser Welt aus seiner Kindheit, in die er niemals hineingehören wollte. Er wollte sich eine perfekte Welt der Schönheit und Eleganz erschaffen und darum machte er Alice zu einer lebenden Puppe. Amara, die mit entstellten Beinen zur Welt kam, strafte er mit Verachtung und Abweisung, da sie ihn zu sehr an diese Menschen erinnerte, die allesamt unvollständig waren und auf Prothesen angewiesen waren. Diese grausamen Erinnerungen wollte er wegsperren und damit sperrte er auch Amara weg. Doch Alice, die ihre Schwester liebte und Mitleid mit ihr hatte, versuchte etwas dagegen zu tun und bat ihren Vater darum, Amara eine Chance zu geben. So nahm ihr William Chevalier ihre verkrüppelten Beine und gab ihr dafür Prothesen, die wahrscheinlich auch aus speziellem Knochenporzellan gefertigt worden waren. Aber noch immer erinnerte Amara ihn zu sehr an diese Menschen in Bukarest und so weigerte er sich weiterhin, Amara auch nur anzusehen. Stattdessen widmete er sich mit voller Hingabe seiner anderen Tochter, die keine körperlichen Gebrechen hatte und in seinen Augen das widerspiegelte, was er sich so sehr wünschte: Eine makellose Puppe.

Aber dann sollte sich das alles ändern. Amara, die eifersüchtig auf ihre Schwester war, fühlte sich zu Recht ungerecht behandelt und stieß sie vor ein Auto, als sie beide auf den Weg ins Krankenhaus waren. Alice überlebte den Unfall nicht und Amara nahm ihren Platz ein. Sie tat alles, um eine perfekte Alice zu sein, doch die Tatsache, dass sie keine menschlichen Beine mehr besaß, machten ihr dies unmöglich. So blieb ihr nur noch, ihrem Vater dabei zuzusehen, wie er seiner geliebten Alice nachtrauerte und weiterhin Puppen bastelte, die aus den Knochen der entführten Kinder hergestellt worden waren. Um diesem Teufelskreis ein Ende zu bereiten, stahl Amara ihm eine seiner Puppen und suchte dann nach jemandem, der ihrem Vater auf die Schliche kommen würde.

„Puh, also das nenne ich mal einen Fall, der es in sich hat“, sagte Matt schließlich und putzte die Gläser seiner Fliegerbrille. „Nur stellt sich hier die Frage, inwiefern William Chevalier überhaupt ein Täter ist. Der scheint mir eher vollkommen krank im Kopf zu sein. Oder sehe ich das falsch?“

„Krank im Kopf oder nicht“, sagte Mello mit heiserer Stimme, „dieser Bastard killt unschuldige Kinder und macht aus ihren Knochen Prothesen. Wie abartig ist das denn bitteschön? Der muss doch wissen, was er tut. Da kann der mir nicht mit psychisch krank kommen.“ Near war sich da nicht ganz so sicher. William hatte als Kind sehr viele schlimme Dinge erlebt und wurde sicherlich auch gezwungen, seinem Vater bei der Herstellung dieser Knochenporzellanprothesen zu helfen. Es wäre also nicht verwunderlich, wenn sich dadurch im Laufe der Jahre schwerwiegende psychische Krankheiten bei ihm entwickelt hätten. Das zeigte sich allein schon dadurch, welch bizarre Weltansichten er hatte und auch noch daran glaubte. Ohne Zweifel war dieser Kerl ein Psychopath. Aber es gelang ihm bis heute perfekt, seine Rolle als guter Mensch zu spielen. Für ihn gab es nur Schönheit, Eleganz und Perfektion. Alles andere war verachtenswert, hässlich und gehörte nicht in seine heile Welt, in die er sich als Kind geflüchtet hatte und seitdem nie wieder verlassen konnte. Dieser Mann gehörte nicht ins Gefängnis, sondern in eine geschlossene Psychiatrie. Dann aber stellte Matt eine wichtige Frage: „Warum hat er sich eigentlich die Mühe gemacht und erst das ganze Fleisch und so weiter von den Knochen getrennt, obwohl der Körper sowieso nur zum größten Teil aus Wasser besteht?“

„Chevalier ist Perfektionist. Er will nur die Knochen dafür haben, alles andere würde sein Werk nur verunreinigen. Nachdem er das Fleisch von den Knochen getrennt hat, warf er die Überreste durch die Falltür in den Keller. Mit der Flusssäure hat er diese dann aufgelöst und das ganze in die Kanalisation gekippt. Damit konnte er restlos alle Beweise vernichten.“ Sie saßen noch eine Weile schweigend zusammen und begannen schon mal nachzudenken, wo sich Chevalier aufhalten könne. Dass er noch in London lebte, war gar nicht mal so unwahrscheinlich. Inzwischen hatte er aber sicher einen anderen Namen angenommen und machte mit seinem grausamen Hobby weiter.

Als es schließlich spät wurde und alle nun auf ihre Zimmer zu gehen hatten, mussten sie ihre restliche Besprechung auf den Tag darauf verschieben. Mello war müde und ihm tat der Hals weh und Matt musste erst einmal eine Nacht schlafen, um diese ganze Geschichte zu verdauen.

Near fröstelte es auf dem Weg ins Zimmer, dabei waren überall Heizungen an und es war angenehme Raumtemperatur. Es war ein inneres Frösteln und er musste sich an seine eigene Vergangenheit erinnern. Auch er hatte Leid, Tod und Zerstörung gesehen, genau wie William Chevalier. Sie beide waren sich also gar nicht mal so verschieden und doch waren sie verschiedene Wege gegangen. Während William sich in seiner eigenen Welt verloren hatte, konnte Near diese Realität ertragen. Er hatte es sich zur Aufgabe gemacht, gegen das Hässliche in der Welt anzukämpfen, indem er dem Pfad der Gerechtigkeit folgte. Er wusste, dass es so etwas wie Perfektion nur in der Vorstellung der Menschen gab. William konnte sich auf Biegen und Brechen darum bemühen, dass er ein perfektes Wesen erschuf. Er würde am Ende nur scheitern und daran zerbrechen. Wie der Eisbildhauer aus Alices Bilderbuch, der am Ende genauso in Scherben zerbrach wie die Skulpturen, die er mit dem Hammer zerschlagen hatte weil sie nicht perfekt waren. Nachdenklich öffnete er die Zimmertür und schloss sie bevor er den Lichtschalter betätigte. Normalerweise machte er das ja nicht aber er war so in Gedanken versunken, dass er im Dunkeln zu seinem Bett ging und erst im letzten Moment ein Geräusch hinter sich hörte. Dann packten ihn zwei Arme von hinten und hielten ihn fest, dann wurde ihm ein Taschentuch ins Gesicht gedrückt. Near versuchte noch, sich zu befreien, doch dann verlor er das Bewusstsein und es wurde schwarz um ihn herum.
 

Es war eine Melodie, die ihm bekannt vorkam. Irgendwie… französisch. Ja genau, es war das Lied „J’y Suis Jamais Alle“ von Yann Tiersen. Warum spielte auf einmal diese Musik? Und wo war er? Träumte er etwa gerade? Near setzte sich auf und glaubte sich vage zu erinnern, dass er in seinem Zimmer von irgendjemandem überfallen wurde und dann mit Chloroform betäubt wurde. Doch nicht etwa von dem gleichen Kerl, der ihn in den Pool gestoßen hatte, um ihn umzubringen? Das fehlte gerade noch. Aber dann wäre er doch nicht auf dutzende Kissen gebettet worden wie ein kleiner Prinz und unter solchen Umständen wäre er doch zumindest gefesselt worden. Aber wer machte sich den extra die Mühe, wenn er ihn nicht wirklich aus bösen Absichten kidnappen wollte? Also ein bloßer Spaß konnte das sicherlich nicht sein. Dafür war er viel zu schlecht. Near sah sich um und sah sich von unzähligen Puppenaugen angestarrt. Überall waren Puppen, auf den Tischen, Regalen einfach überall. Etwas weiter weg stand auf einem altmodischen Tisch ein Grammophon, das mit einem CD-Spieler verbunden war.

Das Fenster war mit purpurnen Vorhängen versehen und der Blick war auf eine grüne Landschaft freigegeben. Häuser waren sonst nirgendwo zu sehen. Es war bereits Tag. Wie lange hatte er also geschlafen?

Es gab nur einen Weg herauszufinden, wer ihn entführt hatte und wo er sich befand. Er musste nachsehen, was sich hinter dem Zimmer befand. Zu seiner Überraschung war nicht einmal die Tür verschlossen und er war auch nicht an den Füßen festgekettet. Seltsam, wirklich seltsam. Im Flur war ein Teppich ausgelegt und an den Wänden hingen Gemälde, auf denen blondgelockte Mädchen in Spitzenkleidern posierten. Es waren aber auch hübsch gekleidete zarte Jungen mit rosigen Wangen zu sehen. Es gab insgesamt drei vier weitere Türen. Drei links, eine weiter hinten rechts und eine direkt am Ende des Flures. Die Tür direkt am Ende des Flures stand ein wenig offen und von dort hörte er ein Summen. Near trat langsam näher und lugte durch den Spalt ins Zimmer. Es war eine Art Werkstatt und jemand saß an einem Tisch und war dabei die Gliedmaßen und Kugeln miteinander zu verbinden. Als er das Knarren der Tür hörte, drehte er sich um und Near sah einen Mann, der nicht älter als 30 Jahre sein konnte. Er hatte blondes Haar, das er ordentlich zurückgekämmt hatte, er trug unter der Arbeitsschürze die Kleidung eines Kaufmanns aus dem 19. Jahrhundert und sein Gesicht war blass und makellos. Wie ein Dorian Gray sah er aus. Und sein Lächeln war sehr charmant und zugleich geheimnisvoll. „Guten Morgen, kleiner Near. Ich hoffe doch, du hattest eine angenehme Nacht.“ Der junge Mann legte die Puppenteile beiseite, legte die Schürze ab und ging auf Near zu. Jede Bewegung war perfekt. Ohne Zweifel, es musste sich um William Chevalier handeln, den Sohn und Erben des gefürchteten Puppenmachers aus Bukarest. Obwohl fünf Jahre ins Land gegangen waren, schien er noch so jung, vital und lebensfroh als hätte er nie geheiratet oder Kinder gezeugt. Er war kein wenig gealtert. „Warum haben Sie mich entführt?“

„Aber wer redet denn hier von „entführen“? Das ist so ein schreckliches Wort. Ich habe dich nur nach Hause gebracht. Mir war nämlich nicht bewusst, dass meine geliebte kleine Alice noch einen bezaubernden kleinen Bruder hat. Das war mir sofort klar, als ich dich zum ersten Mal gesehen habe. Du erinnerst dich vielleicht nicht, aber es war im Spielzeugladen gewesen. Ich habe dich gesehen, als du dir die Bausteine gekauft hast. Von da an wusste ich einfach, du bist Alices Bruder!“ Was redete der da für einen Unsinn? Near hatte seine Eltern zwar früh verloren, aber er wusste hundertprozentig, dass er nicht mit William Chevalier verwandt war. Wahrscheinlich war er so fasziniert wegen seiner schneeweißen Haare und seiner ebenfalls blassen Haut. Wie Near richtig vermutet hatte, war der ehemalige Chirurg psychisch krank und gehörte dringend in Behandlung. Aber wenn Chevalier ihn wirklich als sein eigen Fleisch und Blut ansah, dann konnte Near davon ausgehen, dass er ihm nichts Schlimmeres antun würde. „Dr. Chevalier, ich bin nicht Alices Bruder. Ich bin…“

„Nenn mich ruhig Vater, mein kleiner Near. Wir gehören doch alle zu einer Familie. Du erkennst mich nur nicht, da wir uns so lange nicht gesehen haben. Aber ich habe sofort gesehen, dass du mein Sohn bist. Ach, lass uns doch nicht in der Werkstatt über so etwas sprechen. Lass uns lieber an einen angenehmeren Ort gehen.“ Und damit führte Chevalier ihn aus der Werkstatt heraus. Und noch hatte Near keine Ahnung, was sich noch für eine Katastrophe anbahnen würde.

Obsession

Near wurde die Treppen hinuntergeführt in eine riesige Empfangshalle, wo überall wertvolle Kunstgegenstände und Möbel im viktorianischen Stil in einer perfekten Anordnung platziert waren. Der auf Hochglanz polierte Boden lag ein roter Teppich und überall huschten Kinder umher. Die meisten trugen Dienstmädchenuniformen und waren mit Putzen, Polieren oder Entstauben zugange. Und wiederum gab es ein paar Kinder in eleganten Ballkleidern. Sie alle starrten mit einem nichts sagenden Blick geradeaus und sprachen kein Wort. Eines der Mädchen erkannte Near sofort. Es war Patty aus dem Waisenhaus, die vor einiger Zeit entführt wurde. Was zum Teufel machte sie denn in einer Dienstmädchenuniform im Haus ihres Entführers? Near eilte zu ihr hin und fasste sie an der Schulter an. „Patty, hey Patty! Was machst du denn da? Erkennst du mich nicht?“ Doch Patty reagierte gar nicht, sondern war damit beschäftigt, den vergoldeten Rahmen eines Portraits zu polieren. Sie ignorierte ihn völlig, dabei konnte sie vorher gar nicht den Mund stillhalten und redete immerzu in einer Tour. Was war bloß mit ihr passiert? Near wandte sich zu Chevalier und sah ihn finster an. „Was haben Sie mit Patty gemacht?“

„Sie heißt nicht mehr Patty, sondern Claire“, erklärte William. „Und sie ist dank meiner Großzügigkeit und meiner Fähigkeiten eine meiner vielen wunderschönen Töchter geworden.“

„Was haben Sie ihr angetan?“

„Angetan habe ich ihr überhaupt nichts. Im Gegenteil, ich habe ihr die ewige Jugend und Schönheit geschenkt. Aber komm erst mal mit, ich beantworte gerne all deine Fragen, mein Sohn.“ Near konnte nicht fassen, was dieser Kerl mit Patty gemacht hatte. Sie war doch immer so lebensfroh und unternehmungslustig gewesen. Und jetzt war sie vollkommen leer und schien nur noch zu funktionieren wie eine Maschine. Was war ihr nur widerfahren, dass jegliches Leben aus ihr gewichen war und sie tatsächlich nur noch eine lebende Puppe war? William öffnete eine weiße Doppeltür und führte Near in einen großen Salon. Dort setzten sie sich auf viktorianische Sessel und ließen sich von zwei kleinen Dienstmädchen Tee bringen. Auch hier erkannte Near eines der verschwundenen Kinder aus Wammys House. Es war Trudy, die aber jetzt Annelise hieß. Das andere Mädchen hieß jetzt Madeleine. „Wie gefallen dir meine Töchter? Ich habe mir nur die schönsten Namen für sie ausgesucht. Es soll ja auch alles perfekt sein. Sie sind wirklich perfekt.“

„Ich möchte viel mehr wissen, was mit ihnen geschehen ist, dass sie so verändert sind.“

„Ach, was bist du doch ungeduldig, mein lieber Near. Na gut, ich erkläre es dir. Ich habe eine Operation durchgeführt und ein Teil ihres Gehirns entfernt. Dadurch verlieren sie den Zugang zu ihren persönlichen Erinnerungen und gleichzeitig auch ihren eigenen Willen. Ein äußerst schwieriger und komplizierter Eingriff und die Erfolgsrate liegt auch nicht sehr hoch, aber dafür lässt sich das Ergebnis alle Male sehen.“

„Was machen Sie mit den Kindern, bei denen der Eingriff fehlgeschlagen ist?“

„Ich unterziehe sie einer Metamorphose. Indem sie ihren alten sterblichen Körper verlieren, werden sie zu wirklichen Puppen, oder sie werden ein Teil von Alice.“ Das bedeutete also, dass er die Kinder, bei denen die Operation fehlgeschlagen war, zu Knochenporzellanpuppen verarbeitet wurden. Aber was meinte er damit, dass sie ein Teil von Alice werden würden? „Was meinen Sie mit dem letzten Teil?“

„Wie ich es sagte.“

„Ich dachte, Alice wäre ums Leben gekommen.“

„Nein, sie schläft nur sehr tief.“

„Darf ich sie sehen?“

Doch William Chevalier zögerte. „Für gewöhnlich lasse ich niemanden sonst zu ihr. Aber… da du ihr Bruder bist, können wir eine Ausnahme machen. Ich bin mir sicher, sie wird sich sehr darüber freuen, dass du sie besuchen kommst. Komm, ich bringe dich zu ihr hin.“ Und damit stand der Puppenmacher auf und führte Near aus dem Salon heraus und ging mit ihm in einen Seitenflügel zu einer großen Tür mit goldenen Verzierungen. William schloss sie auf und ließ Near zuerst hineingehen. Der Raum war groß und aufgrund der großen Fenster fiel besonders viel Licht herein. Links an der Wand stand ein Himmelbett mit purpurnen Vorhängen. Langsam trat er näher um zu sehen, wer da in dem Bett lag. Und als er nah genug davor stand und das schlafende Mädchen sah, hielt er den Atem an. Er fühlte einen stechenden Schmerz in der Brust, der aber nicht durch sein krankes Herz verursacht wurde. Es waren seine tief verschlossenen Gefühle und hätte er nicht so eine Willensstärke besessen, dann hätte er sogar geweint. Das Mädchen war schöner als alles andere, was er jemals in seinem Leben gesehen hatte. Sie hatte hellblondes fast weißes langes Haar, eine sehr blasse makellose Haut und trug ein schneeweißes Kleid. Sie trug um den Hals eine Silberkette und auf den Kopf ein Diadem. Vom Alter her war sie nicht älter als 12 oder 13 Jahre und Near erschien sie noch schöner als eine weiße Rose und noch reiner als ein Kristall. Sie sah aus wie ein schlafender Engel. Doch dann sah er die Schläuche, an denen sie angeschlossen war und die sie am Leben hielten. Alice war nicht tot, sie lag im Koma.

„Wunderschön, nicht wahr? Meine kleine Alice ist mein ganzer Stolz. Ich habe sie wieder so schön hergerichtet, wie sie vor dem Unfall war.“

„Wie ist das möglich? Ich dachte, durch den Wachstumsstopper können ihre Wunden nicht heilen.“

„Es gibt natürlich Wege. Man kann den Hormonblocker durch ein Gegenmedikament neutralisieren, allerdings nicht permanent. Trotzdem hat es nicht ausgereicht, um solch schwerwiegende Verletzungen zu heilen.“

„Aber wie haben Sie die Ärzte davon überzeugt, dass Alice tot ist?“

„Durch ein Gift, das einen Scheintod hervorruft. Wie in Shakespeares „Romeo und Julia“. Danach habe ich Alice so schnell wie möglich mitgenommen und bin hierher gezogen. Zweieinhalb Jahre lang habe ich an ihr operieren müssen. Mehrere Organtransplantationen waren nötig und dann habe ich damit begonnen, ihre zerstörten Knochen durch Keramikprothesen zu ersetzen.“

„Und die haben sie durch die Kinder bekommen, bei denen die Operation nicht angeschlagen hat.“

„Genau. Und jetzt warte ich darauf, dass meine kleine Alice schon bald aufwachen wird.“ Near stand ganz dicht am Bett und nahm Alices Hand. Sie war jetzt 18 oder 19 Jahre alt, war aber nicht einen einzigen Tag lang gealtert und sie würde es auch nicht. Sie würde niemals alt werden und wahrscheinlich ein längeres Leben besitzen, als ein normaler Mensch. Aber zu welchem Preis? Sie lag im Koma und würde wahrscheinlich niemals wieder aufwachen. Da konnte keine Operation der Welt ihr helfen. „Eines Tages werde ich eine Welt erschaffen, in der es weder Alter noch Gebrechen gibt. Eine schöne und vollkommene Welt, in der die Fehler der Menschen allesamt ausgemerzt sind. Ich besitze den Schlüssel zu einer perfekten Welt und schon bald werden die Menschen durch meine Fähigkeiten zu vollkommenen Wesen gemacht werden, indem ich ihr altes Selbst auslösche und sie zu meinen Kindern mache.“ Near hatte genug gehört, er wollte auch nichts mehr hören. Der Anblick von Alice war für ihn genug und er wollte dem Puppenmacher endlich die Augen öffnen. „Hören Sie sich eigentlich selbst reden? Das ist doch völliger Unsinn, den Sie da erzählen. Es wird niemals eine perfekte Welt geben. Und man kann auch keine Welt erschaffen, in der es nur Schönes gibt. Verstehen Sie denn nicht? Wie kann es Vollkommenheit und Schönheit überhaupt geben, wenn es Unvollkommenheit und Hässlichkeit nicht gibt? Ohne das eine, kann es das andere nicht geben. Und wenn die Begriffe Perfektion, Vollkommenheit und Allmacht von der Vorstellung einer Gottexistenz abstammen, dann existieren sie genauso wenig wie ein Gott. Perfektion und Vollkommenheit gibt es gar nicht. Die Natur hat alles auf dieser Welt mit Stärken und Schwächen erschaffen, weil es nun mal zum Leben dazugehört. Der Mensch hat Gott in seiner Vorstellung erschaffen, weil er einen Kontrast zu sich selbst gesucht hat. Gott ist ein Sammelbegriff der Dinge, die für uns für immer unerklärlich und unerreichbar sein werden. Und dieser Traum von ewiger Jugend und Schönheit ist doch nur aus der Urangst vor dem Tode entsprungen. Aber es ist nun mal ein unantastbares Gesetz, dass alles, was geboren wurde, auch irgendwann mal sterben muss. Wir alle müssen eines Tages dem Tode ins Auge blicken und oft können wir uns nicht aussuchen, wann, wo und wie es geschehen wird. Auch ich habe oft Angst vor dem Tode, weil ich mir immer wieder einrede, dass es doch so viel gibt, das ich noch tun möchte. Ich kann mir aber aussuchen, ob ich mein Leben lang Angst davor habe zu sterben, alt und gebrechlich und damit nicht mehr für die Gesellschaft von Nutzen zu sein, oder ob ich die Zeit nutze, die mir bleibt. Jedes Leben ist kostbar und wenn wir die Macht hätten, es immer weiter zu verlängern, würden wir das Leben nicht mehr zu schätzen wissen.“ Dr. Chevalier war auf einmal sehr still geworden und offensichtlich schienen Nears Worte etwas in ihn bewegt zu haben. Near seinerseits fuhr mit seiner Rede fort. „Haben Sie jemals das Bilderbuch ihrer Töchter angesehen? Alice hat viele Geschichten geschrieben und eine davon hat mich besonders zum Nachdenken gebracht. Sie schrieb über einen Bildhauer, der einen Engel aus Eis und Diamanten erschaffen wollte, aber seine Werke waren niemals perfekt genug. Aus Wut und Verzweiflung zerstörte er seine fehlgeschlagenen Werke und lange Zeit sah man ihn nicht mehr. Als man den Bildhauer suchte, war es bereits Winter und man fand ihn schließlich an einem abgelegenen Platz, mit einem Hammer in der Hand. Er stand direkt vor einer Figur, die unvergleichbar schön war. Als man den Bildhauer berührte, zerbrach er in tausend Stücke wie seine Eisfiguren, die zusammen mit seinen Überresten weggefegt wurden. Verstehen Sie den Sinn dahinter? Alice war jung, aber sie wusste selbst, dass sie niemals perfekt sein konnte und dass Sie, Dr. Chevalier, irgendwann an ihrer Obsession zerbrechen werden. Aber gleichzeitig hat Alice Sie sehr geliebt und hat ihr eigenes Leben aufgegeben. Genauso wie Amara sich lieber für Sie entschieden hat als für sich selbst. Und denken Sie doch mal daran, wenn Ihre geliebte Alice aufwachen sollte. Sie wäre doch furchtbar traurig, wenn sie erführe, dass unzählige Kinder sterben mussten, nur damit sie lebt.“

„Alice… meine geliebte kleine Alice…“ Der Puppenmacher trat näher an seine Tochter heran, nahm ihre Hand und sank auf die Knie. Endlich schien ihm bewusst zu werden, was er getan hatte und besonders was er seiner Tochter angetan hatte. Er begann zu weinen und hielt ihre Hand ganz fest. „Ich wollte doch nur, dass mein kleiner Engel für immer einer bleibt.“

„Sie wollten Sie nicht gehen lassen, nicht wahr? Sie hatten Angst, Alice genauso zu verlieren, wie Sie Jeanne verloren haben. Aber Puppen sind kein Ersatz für einen Menschen. Puppen sind leblose Gegenstände und was nützt es Ihnen in einer Welt zu leben, in der alles vollkommen und kontrollierbar ist, wenn Sie ganz alleine sind? Hören Sie endlich auf, Menschen als Puppen zu sehen und hören Sie auf, vor der Realität zu fliehen. Sie müssen endlich einsehen, dass Sie die Welt nicht nach Ihren Vorstellungen verändern können. Niemand kann das, weil die Menschen ihren eigenen freien Willen besitzen. Egal ob dieser freie Wille von Gott gegeben wurde, oder durch Evolution gekommen ist, er macht uns Menschen einzigartig. Das unterscheidet uns von Puppen und macht uns zu Individuen. Es ist schon wahr, niemand in dieser Welt kann Alice ersetzen. Aber auch Amara kann niemand ersetzen. Und sie kann nichts dafür, dass sie mit deformierten Beinen zur Welt gekommen ist. Sie hat alles Mögliche getan, sie hat sich selbst aufgegeben und Alices Rolle gespielt, damit Sie sie nur ein einziges Mal ansehen und in den Arm nehmen. Amara ist genau wie Sie, Dr. Chevalier. Auch sie ist in einer kalten und traurigen Welt aufgewachsen und wurde grausam behandelt. Hören Sie mit diesem Wahnsinn auf und seien Sie ein einziges Mal ein Vater für sie.“

„Alice… Amara….“ Die charismatische Ausstrahlung und das perfekte Erscheinungsbild war wie ein uraltes Gemäuer in sich zusammengestürzt und zum Vorschein kam ein alter gebrochener Mann, gefangen in einem jungen Körper, der niemals alt werden würde. In all den Jahren hatte sich der Puppenmacher eine perfekt wirkende Fassade aufgebaut und hatte sich immer weiter der Realität entfremdet. Jetzt holte sie ihn wieder ein und innerlich war er genauso zerbrochen wie der Bildhauer in Alices Buch.

„Ich wollte doch nur eine perfekte Welt, in der es kein Leid und keinen Schmerz mehr gibt….“

„Aber ohne Leid und Schmerz würden wir die glücklichen Momente in unserem Leben nicht mehr zu schätzen wissen. Wir machen Fehler aber diese machen uns eben zu Menschen. Alice und Amara brauchen keinen Puppenmacher, sie brauchen einen Vater.“

„Ein Vater… ein Vater… ja.“ William stand nun auf, streichelte sanft die leichenblasse Wange seiner Tochter Alice und nickte nachdenklich. „Ich habe wirklich schlimme Dinge getan.“ Einsicht war schon mal der erste Schritt in die richtige Richtung. Und Near wusste, dass William Chevalier nicht von heute auf morgen geheilt werden würde. Es würde Jahre brauchen aber wenigstens hatte der Puppenmacher endlich verstanden, dass es so nicht weitergehen konnte. „Sie sollten zu Amara gehen und mit ihr reden. Das sind Sie ihr schuldig.“

Sie machten sich auf die Suche nach Amara, von der William glaubte, dass sie sich wie sonst im Tanzraum aufhalten würde aber dort war sie nicht. Sie stellten fast das ganze Haus auf den Kopf aber nirgendwo war eine Spur von ihr. „Wann haben Sie Amara das letzte Mal gesehen?“

„Das war knapp zehn Minuten bevor du in meine Werkstatt gekommen bist.“ Eine böse Vorahnung stieg in Near auf. Wenn Amara vor fünf Jahren Alice vor den Kleintransporter gestoßen hatte weil sie ihren Platz einnehmen wollte, dann war es nicht sehr unwahrscheinlich, dass sie es gewesen war, die ihn, Near, in den Pool gestoßen hat. Ihr Vater hatte doch mit ihm geredet wie mit einem Blutsverwandten und er hatte auch gesagt gehabt, dass er glaube dass er Alices Bruder sei. Folglich musste sie sich von ihm hintergangen gefühlt haben und hatte versucht, ihn umzubringen weil sie Angst hatte, endgültig verstoßen zu werden. Near, der zuvor noch ihre letzte Hoffnung war, war nun für sie eine ernsthafte Bedrohung. Sie war eine tickende Zeitbombe und dass sie jetzt verschwunden war, bedeutete nichts Gutes. Wahrscheinlich wollte sie jetzt mit der Abrechnung beginnen. Aber… das würde bedeuten, dass…. Sofort blieb Near stehen. „Dr. Chevalier, wir müssen sofort zu Alice zurück. Ich fürchte sie ist in ernsthafter Gefahr!“

„Um Himmels Willen. Meine kleine Alice!“ So schnell sie konnten eilten sie zurück und sahen, dass die Tür zu Alices Zimmer offen stand. Der Puppenmacher war so durcheinander gewesen, dass er völlig vergessen hatte, die Tür abzuschließen. Bitte lass es noch nicht zu spät sein, betete Near und versuchte mit William mitzuhalten, doch seine schlechte Kondition ließ das kaum zu. Sie mussten schnell genug sein um das Schlimmste zu verhindern.

William war der Erste im Zimmer und dann folgte Near, der völlig außer Atem waren. Und sie sahen Amara, die sämtliche Schläuche aus dem Körper ihrer Schwester herausgerissen und ihr ein Kissen ins Gesicht gedrückt hatte. Es war schwer festzustellen, ob Alice noch lebte, aber die Chancen waren gleich null. Amaras Augen waren gerötet von Tränen und sie sah ihre tote Schwester hasserfüllt an. „Warum?“ fragte sie und wandte den Blick schließlich zu ihrem Vater und rieb sich die Tränen aus dem Gesicht. „Warum hast du mich nie in den Arm genommen? Warum nur wolltest du mir niemals in die Augen sehen? Warum liebst du die da mehr als mich? Ich bin hier die bessere Alice! Ich bin perfekter als sie!“ Das war nicht gut. William Chevaliers Zustand war alles andere als stabil und er konnte schnell wieder ins alte Verhaltensmuster zurückfallen und Amara war kurz davor zu explodieren. Near sah abwechselnd beide Parteien an und war sich nicht sicher, was er jetzt machen sollte. Eine falsche Bemerkung konnte Amara unnötig provozieren und auch wenn das nicht wirklich zu seinen Stärken zählte, musste er versuchen, zwischen den beiden zu vermitteln.

Doch als Amara dann auch noch eine Pistole auf ihren Vater richtete, wurde die Situation erst richtig kompliziert. „Ich habe wirklich alles getan, um perfekt zu sein. Während ich meine Beine nicht gebrauchen konnte, habe ich jedes erdenkliche Instrument spielen gelernt und mir Kalligraphie, Zeichnen und Singen selbst beigebracht. Und als ich endlich meine Prothesen hatte, habe ich laufen und tanzen gelernt, bis ich Blut gespuckt habe. Ich habe alle Schmerzen der Welt erduldet, nur damit du mir ein einziges Mal etwas Nettes sagst. Nur ein Mal wollte ich hören „Ich bin froh, dass du geboren wurdest“. Aber du hattest nie etwas anderes als Verachtung für mich übrig gehabt. Und Alice hat immer auf braves Mädchen gemacht, sie war ja immer perfekt. Sie hatte wirklich alles und sie konnte von Anfang an alles perfekt. Irgendwann habe ich das einfach nicht mehr ertragen können und hab bei der nächstbesten Gelegenheit versucht, sie mir endlich vom Hals zu schaffen! Ich wollte einfach nur, dass sie endlich verschwindet.“ Fassungslos starrte William Chevalier sie an und schüttelte den Kopf. „Du warst es? Du hast meiner kleinen Alice das angetan?“ Der reuevolle Vater, der vorhin noch da gewesen war, war nun verschwunden und Wut und Hass loderten in seinen Augen. Wut über die grausame Tat, die seiner Lieblingstochter widerfahren war und Hass gegen das Mädchen, das nicht in seine Welt hineinpasste und ihm sein größtes Juwel genommen hatte. Die Ruhe war nun endgültig vorbei, jetzt war der Sturm gekommen.

Missverständnis

„Du hast Alice vors Auto gestoßen?“

„Ja und ich hätte es schon viel früher tun sollen!“ rief Amara und hielt nach wie vor die Pistole auf ihren Vater gerichtet, doch der schien die Waffe gar nicht zu bemerken. Er fiel wieder in die Rolle des perfektionsbesessenen Puppenmachers zurück und das konnte nur böses Blut geben. Eine Schlichtung war hier wohl nicht mehr möglich. „Jahrelang habe ich im Keller gehaust wie ein Tier, während Alice alles hatte. Sie konnte wie eine süße kleine Prinzessin leben und hat dann auch noch die Frechheit besessen, bei mir den barmherzigen Samariter raushängen zu lassen. Zuerst hatte ich noch geglaubt gehabt, sie würde mich wirklich lieben, aber im Grunde hat sie mich doch genauso als Missgeburt angesehen wie du. Sie hat mich die ganze Zeit nur belogen und sich hinter meinen Rücken über mich lustig gemacht.“

„Du lügst, Alice war perfekt und besaß einen reinen Charakter Sie hätte so etwas…“ Amara feuerte einen Schuss ab und traf das linke Bein ihres Vaters. Doch anstatt dass eine Schmerzreaktion folgte oder Blut floss, war nur ein knackendes Geräusch zu hören. Zuerst glaubte Near, sich irgendwie verhört zu haben, aber als er genau hinsah und bemerkte, dass tatsächlich kein Blut floss, dämmerte es ihm allmählich. Dr. Chevalier hatte auch Prothesen. „Wie kann das sein?“ fragte er und sah den Puppenmacher erstaunt an. Dieser sah ein wenig beschämt zu Boden und sagte nichts. Dafür aber gab Amara eine Antwort. „Als Vater noch ein kleiner Junge war, hat er sich bei einer Operation im Krankenhaus mit Staphylokokken infiziert, die zu einer schweren Entzündung der Kniegelenke geführt haben. Beide Beine wurden amputiert und durch Prothesen ersetzt.“

„Woher hast du davon gewusst?“

„Zufällig bin ich auf deine Krankenakte gestoßen. Es hat zwar gedauert, bis ich dieses Kauderwelsch entziffern konnte, aber als ich dann gelesen habe, dass auch du mit kaputten Beinen leben musstest, dachte ich, ich les nicht richtig! Du hast genau das Gleiche durchgemacht wie ich und hast mich wie Dreck behandelt. Wie konntest du mir das nur antun?“ Doch William antwortete nicht und sah Amara nicht an. Dann aber ballte er die Fäuste und sah sie wütend an. „Du hast hier nicht das Recht, so mit mir zu reden! Du hast mir mit Respekt gegenüber zu treten. Ich bin dir keinerlei Rechenschaft schuldig und du solltest mir dankbar sein, dass ich dich überhaupt geduldet habe. Immerhin hast du Jeanne umgebracht! Nur deinetwegen musste sie sterben.“

„Ich kann für Mamas Tod überhaupt nichts und ich habe sie nicht umgebracht. Für dich bin ich doch nur ein Sündenbock für alles, was dir Schlechtes widerfahren ist. Und ich halte das einfach nicht mehr aus! Schlimm genug, dass ich deinetwegen für immer ein Kind bleiben muss, dass ich in diesen Puppenkörper gefangen bin. Und dann bist du auch noch gekommen und sagst, du hast einen Bruder für Alice gefunden. Ich dachte, jetzt schlägt’s zwölf. Jetzt reichte es dir nicht nur, Alice künstlich am Leben zu erhalten und sie wie ein Dornröschen im Zimmer einzuschließen, jetzt willst du dein eigenes Kind auch noch durch ein fremdes ersetzen.“

„Dann hast du mich in den Pool gestoßen?“

„Ja, ich habe es getan, weil ich verdammt noch mal Angst hatte. Ich hatte Angst, dass Vater mich umbringen würde wie all die anderen Kinder, die er zu Prothesen oder Puppen verarbeitet hatte. Ich bin jetzt Vaters einziges Kind. Ich alleine habe das Recht an seiner Seite zu bleiben. Das wirst du mir nicht kaputt machen, Near!“

„Ich hatte niemals vor, dich oder jemand anderen zu ersetzen.“

„Halt die Klappe“, schrie Amara und feuerte noch einen Schuss ab, der Near am Arm streifte. „Du hast mich verarscht und wolltest mir in den Rücken fallen. Aber ich lass mich nicht so einfach auslöschen.“

„Hör auf, du darfst ihm nichts tun. Er ist Alices Bruder. Siehst du denn nicht, dass er genau wie sie ist?“ Die Situation geriet immer weiter außer Kontrolle. Dieser verdammte William Chevalier hatte all seine Vorsätze schon wieder vergessen und machte mit seinen Kommentaren alles nur noch schlimmer. Near ermahnte ihn, augenblicklich die Klappe zu aber der Kerl hörte gar nicht zu, im Gegenteil: Er legte noch einen drauf. „Aber ich könnte noch etwas an dir arbeiten, dann besteht eine Chance, dass du perfekt wirst. Du musst dich nur einer Operation unterziehen lassen. Ich werde nur ein klitzekleines Teil von deinem Gehirn entfernen und dann wirst du perfe… AAAAAAAAH!!!“ Bevor er zu Ende sprechen konnte, hatte Amara einen weiteren Schuss abgefeuert und direkt seine Handfläche getroffen. Blut spritzte und schreiend hielt sich William seine verletzte Hand. „Was denn? Damit du mich zu einer Puppe ohne eigenen Willen machen kannst? Nein danke, du wirst mir nicht auch noch das nehmen. Und mit so einer Verletzung wirst du so schnell niemanden mehr auseinandernehmen.“ Ein eiskaltes Lächeln der Genugtuung spielte sich auf Amaras Lippen, die nun endlich in der Position war, andere herumzuschubsen, zu quälen und über ihr Schicksal zu entscheiden. Was für ein tragischer Teufelskreis. Aus dem kleinen vom Leben gezeichneten Jungen von damals wurde ein gefährlicher Verbrecher und aus der verstoßenen und gequälten Tochter, die ihren kriminellen und wahnsinnigen Vater in die Knie gezwungen hatte, war nun selbst eine verbitterte Mörderin geworden. „Na los, versuch doch, versuch an mir herumzuschnibbeln. Worauf wartest du denn noch?“ Es war ein Phänomen, wie es immer wieder auftrat, auch wenn man nicht glauben konnte, dass es so war. Das tragischste Beispiel waren immer noch Pädophile. Diese waren selbst in ihrer Kindheit missbraucht worden und obwohl man rein logisch davon ausgehen konnte, dass diese Opfer das nicht anderen antun konnten, war dem eben nicht so. Man konnte mit bloßer Logik nicht an so etwas rangehen. Die gepeinigten Opfer versuchten diese Traumata zu verarbeiten, indem sie selbst anderen Schmerzen zufügten. Und nichts anderes lag hier bei Amara vor. Die Augen eines Opfers, die Hände eines Täters.

Wie ein Todesengel baute sich nun Amara vor ihrem verletzten Vater auf und schoss erneut. In die andere Hand, in die Hüfte und sogar in den Schritt. Sie wollte ihn leiden sehen. Er sollte das gleiche Maß an körperlichen Schmerzen zu spüren kommen, wie sie seelischen erlitten hatte. „Na los doch, sag dass du mich lieb hast. So schwer ist es doch gar nicht. Wenn du es sagst, kann ich mich vielleicht noch überreden lassen, dich am Leben zu lassen.“

„Amara, tu das nicht“, rief Near und stellte sich dazwischen. Er musste verhindern, dass noch mehr Menschen getötet wurden. Wenn er irgendwann mal L’s Nachfolger werden wollte, dann musste er auch bereit sein, Risiken einzugehen. „Denk doch mal nach. Was würde es denn ändern, wenn du ihn tötest? Oder würde sich etwas ändern, wenn du ihn leiden lässt? Es stimmt schon, niemand kann das wieder gutmachen was dir widerfahren ist. Und du kannst tun und lassen was du willst, es ist nun mal die Wahrheit, dass dein Vater schwer krank ist. In seiner Jugend hat er vieles mit ansehen müssen. Er ist der Realität entflohen und ist in seiner Welt gefangen. Und solange er dort gefangen ist, kann er niemals ein Vater für dich sein.“

„Aber warum hat er mir das alles angetan, warum hat er das mit den Kindern gemacht? Das macht doch keinen Sinn.“

„Er hat sich selbst als eine Art Bestimmer in seiner Welt angesehen. Jemand, der alles kontrollieren und entscheiden kann. Damit wollte er aus seiner Opferrolle heraus und sein eigenes Leid auf andere aufbürden. Genau das, was du gerade tust.“ Amara schien ein wenig nachdenklich zu werden, doch noch immer war ihre Wut auf ihren grausamen Vater groß. „Er hat mich immer verachtet. Immer! Lange Zeit hat er mich nur ignoriert, mich wie Luft behandelt und das war für mich viel schlimmer, als wenn er mich schlägt. Manchmal habe ich mir sogar gewünscht, dass er es tut. Ja, lieber hätte ich mich von ihn durchprügeln lassen, denn dann hätte ich wenigstens eine Art der Zuwendung bekommen. Er redete nur von Alice. Alice hier, Alice da…. Ich habe das nicht mehr ertragen können und habe ihm vor Alices Unfall genau das gesagt.“ Near erinnerte sich an den letzten Brief von Alice, der ein oder zwei Tage vor dem Unfall geschrieben wurde. Da hatte Amara sich mit ihrem Vater gestritten und sie hatte furchtbar geweint gehabt. „Was hat er dir gesagt?“

„Er hat mich gefragt, warum er mir wohl den Namen „Amara“ gegeben hat. Er sagte, er käme vom lateinischen Wort „Amarus“ und bedeutet so viel wie „verhasst“, „bitter“ oder „widerlich“. Wortwörtlich sagte er mir: So etwas Missgestaltetes wie dich kann man ja nur verabscheuen.“ William, der durch die schweren Verletzungen bereits einiges an Blut verloren hatte, sank zu Boden und gab nur Schmerzgewimmer von sich, sonst nichts mehr. Amara, die vollkommen verzweifelt und durcheinander war, konnte ihre Tränen kaum zurückhalten, geschweige denn klare Worte fassen. „Kein Kind auf der Welt will vom eigenen Vater hören, wie sehr es gehasst wird, obwohl es gar nichts dafür kann. Aber das Schlimmste war für mich immer noch, dass Alice mich die ganze Zeit genauso verachtet hat wie Vater.“

„Wie kommst du darauf?“

„Sie hat mich immer im Keller besucht oder mir die Stufen raufgeholfen, wenn ich nach oben wollte. Ich habe Vater jeden Tag eine Blume hingestellt, wenn er auf den Weg zur Arbeit war. Jeden Tag eine neue.“

„Du… du warst… es? Ich dachte… es war Alice.“

„Nein. Um fünf Uhr morgens kam sie zu mir nach unten und hat mir die Stufen hinaufgeholfen. Dann sind wir zusammen losgegangen, um dir eine Blume zu suchen. Auch wenn ich Alice dafür oft gehasst habe, dass sie dein Lieblingskind war, so war sie immer für mich da gewesen, wenn ich jemanden brauchte. Kurz nachdem Vater mir diese Sachen gesagt hat, kam Alice an und hat mich getröstet. Sie wollte sich für mich bei Vater stark machen und sie schlug vor, zusammen mit mir ins Krankenhaus zu gehen.“

„Und was ist dann passiert?“

„Ich habe ihr gesagt, dass Vater sagte, ein missgestaltetes Kind wie mich wird niemals jemand lieben können und wie sehr ich meinen Namen hasse.“ Amaras Hand ballte sich zur Faust und Near konnte die Wut und die Enttäuschung in ihren Augen deutlich erkennen. „Alice hat mir so unschuldig ins Gesicht gelächelt und gesagt „Also ich finde dass der Name zu jemanden wie dir passt.“ Und da habe ich erkannt, dass sie mich die ganze Zeit nur verarscht hatte. Sie hat mir diese ganze Nettigkeit nur vorgespielt und mich genauso verachtet wie Vater. Da habe ich einfach nur rot gesehen und sie auf die Straße gestoßen. Ich wollte, dass sie einfach verschwindet!“ So war das also…. Near erkannte nun endlich, was zu all dem hier geführt hatte. Es war eine furchtbare Tragödie, aufgebaut auf Missverständnissen, blinder Eifersucht, Realitätsverlust und schweren Kindheitstraumata, unter denen die folgenden Generationen zu leiden hatten. Amara hatte die Aussage ihrer Schwester vollkommen falsch gedeutet und geglaubt, Alice würde sie verachten. Dabei hatte sich Alice so liebevoll um sie gekümmert, weil sie jemanden brauchte, der ihr das Gefühl gab, noch ein Mensch zu sein. Jemand, der ihre Aufmerksamkeit und Zuwendung brauchte, damit sie sich nicht selbst in der Welt ihres Vaters verlor. Und Amara brauchte ebenfalls eine Bezugsperson, hatte aber nur ihre Schwester und dieser hatte sie blind vertraut. Sie fühlte sich von ihr verraten und betrogen. Ein schrecklicher Irrtum hatte zu dieser Situation geführt, in der sie jetzt steckte. Und Near musste es ihr einfach sagen. „Amara, wusstest du denn nicht, dass dein Name mehrere Bedeutungen hat?“

„Wie… wie meinst du das?“

„Amara bedeutet im arabischen „ewige Schönheit“ und im biblischen „von Gott gesegnet“. In Nigeria bedeutet er sogar „Wunder Gottes“. Alice hat dich immer sehr geliebt und als sie sagte, dass der Name zu dir passe, meinte sie gar nicht die lateinische Bedeutung.“

Fassungslos ließ Amara die Waffe fallen und wich zurück. Sie schüttelte den Kopf und sank in die Knie. „Du lügst. Du lügst!“

„Alice hat Briefe an Gott geschrieben, um ihre eigenen Wünsche und Bitten mitteilen zu können. Sie hat kaum von sich selbst gesprochen, dafür hat sie immer wieder darum gebeten, dass du normale Beine bekommst und ein Teil der Familie wirst. Niemals hat sie auch nur ein einziges Mal schlecht von dir geredet. Sie dachte wohl, dein Name bedeutete lediglich „von Gott gesegnet“ oder „ewige Schönheit“.“

Allmählich wurde Amara bewusst, welch schrecklicher Irrtum zu all dem geführt hatte und wie sehr sie ihrer Schwester Unrecht getan hatte. All die Jahre hatte Alice zu ihr gehalten und sich um sie gekümmert, obwohl sie selbst zu leiden hatte. Sie beide konnten niemals wie normale Kinder leben und als ihr Vater ihnen diese Medikamente verabreicht hatte, waren sie für immer in ihren Kindkörpern gefangen, unfähig jemals ein normales Leben zu führen. Sie beide teilten im Grunde das gleiche Schicksal und doch hatten die unterschiedlichen Beziehungen zu ihrem Vater sie nach und nach entzweit und schließlich hatte ein furchtbares Missverständnis dazu geführt, dass Amara zur Mörderin wurde.

Amara eilte zum Bett ihrer Schwester und schluchzte. „Alice… ist das wirklich wahr? Sag schon, hat er Recht? Bitte Alice, wach auf… Alice!!!“ Doch so sehr Amara auch versuchte ein Lebenszeichen ihrer Schwester zu bekommen, es war bereits zu spät. Selbst wenn Alice nicht erstickt worden wäre, sie wäre wahrscheinlich nie wieder aufgewacht. Im Grunde genommen war sie schon seit fünf Jahren tot, nur ihr Körper wurde künstlich am Leben erhalten. Hätte es dieses Missverständnis nicht gegeben, dann wäre es sicher nicht dazu gekommen. Aber wäre Alice damit wirklich geholfen gewesen? Früher oder später wäre sie sicher an den Wahnvorstellungen ihres Vaters kaputt gegangen und dann hätte es keinen Unterschied gemacht, ob sie jetzt lebte, tot war oder im Koma lag.
 

Die Polizei und der Notarzt trafen noch rechtzeitig genug ein. William Chevalier, der selbst den Wachstumsblocker genommen hatte, um nicht altern zu müssen, konnte dank der Herstellung eines Gegenmittels notoperiert werden und wurde einer medikamentösen Therapie unterzogen. Als er schließlich das Krankenhaus verlassen konnte, stellte man ihn vor Gericht und verurteilte ihn nach knapp 30 Behandlungstagen zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe mit anschließender Sicherheitsverwahrung. Amara, die eigentlich eine wichtige Zeugin sein sollte, hatte einen Tag vor Beginn der Gerichtsverhandlung Selbstmord begangen, indem sie eine Überdosis Schlaftabletten schluckte. Allerdings tötete dies sie nicht sofort. Es war ein äußerst qualvolles, 6 Stunden andauerndes Sterben und als man sie schließlich im Haus ihres Vaters fand, kam jede Hilfe bereits zu spät. Sie wurde neben ihrer Schwester Alice beerdigt.

Der Fall William Chevalier sorgte auf der ganzen Welt für Schlagzeilen und unzählige Schriftsteller befassten sich mit seiner Vergangenheit, seiner Familiengeschichte und seiner Krankheitsgeschichte. Selbst Jahre darauf erschienen Bücher über den Puppenmacher und seine Töchter. Man nannte ihn eines der größten Monster des Jahrhunderts und es wurden ihm diverse Titel gegeben. Angefangen vom „blutrünstigen Perfektionisten“ bis hin zum „Puppenmörder“, aber keine dieser Namen trafen nicht genau auf das zu, was er eigentlich verkörperte. Die einzige Bezeichnung, die vielleicht ein wenig an ihn heranreichte, war immer noch „Der Puppenmacher“.

William selbst wurde in eine geschlossene Psychiatrie eingewiesen, als ein Gutachten erstellt wurde, das seine Unzurechnungsfähigkeit belegte. Ihm gelang jedoch zweieinhalb Jahre später die Flucht und trotz polizeilicher Großfahndung konnte er erst ein Jahr später in einem Haus in Sheffield ausfindig gemacht werden, als ein Nachbar ihn erkannt hatte. Bevor die Polizei das Haus jedoch stürmen konnte, legte Chevalier es in Brand und das Haus brannte bis auf die Grundmauern nieder. Da das Haus schließlich einstürzte, konnte man seine Überreste nicht finden. Man ging davon aus, dass der Rest von ihm unter den Trümmern zerschmettert wurde. Dies sorgte für einige Gerüchte in der Bevölkerung, dass er gar nicht tot sei, sondern seinen Tod lediglich vorgetäuscht hatte. Ob er wirklich noch am Leben war, oder ob er in seinem Haus bei lebendigem Leibe verbrannt war, konnte nie geklärt werden.
 

Das alles wusste Near noch nicht, als er nach seiner Verarztung im Krankenhaus und nach einer polizeilichen Befragung in Wammys House zurückkehrte. Er war einfach nur froh, dass er zumindest verhindern konnte, dass es nicht noch weitere Tote gab. Er, Matt und Mello wurden von L höchstpersönlich (zumindest über Computer) gelobt und nahmen an der Beerdigung jener Kinder teil, die von dem Puppenmacher getötet wurden. Schließlich kam für Near der alles entscheidende Tag. Der Tag, an dem endlich ein Spenderherz für ihn gefunden wurde. Er selbst wusste, dass sich an diesem Tag entscheiden sollte, ob er nun weiterleben, oder ob er sterben sollte. Trotzdem war er bereit, diesen Schritt zu gehen. „Geht es dir soweit gut?“ fragte Hester, als sie noch mal die letzte Untersuchung machte, um Near auf die Operation vorzubereiten. „Ja, ich will es nur so schnell wie möglich hinter mich bringen.“

„Keine Sorge, ich persönlich werde die Operation durchführen. Die anderen Kinder drücken dir alle die Daumen.“

Nachdem Near sich schließlich umgezogen hatte, wurde er von Hester auf direktem Wege zum Operationssaal gebracht. Und obwohl er es sich selbst nicht wirklich gerne eingestehen wollte, so hatte er Angst. Denn nur ein Fehler genügte, um ihn umzubringen. Diese Herztransplantation würde sein Leben für immer verändern und solch schwer wiegende Veränderungen waren schon beängstigend. Doch bevor sie den Saal erreichten, blieben sie noch ein Mal stehen, denn es warteten niemand anderes als Matt und Mello auf ihn. Und besonders mit Mello hätte Near nun überhaupt nicht gerechnet. „Hey Near. Wenn du wirklich besser sein willst als ich, dann beweise es auch. Wenn du es wagen solltest, so eine Kleinigkeit wie die hier nicht zu überleben, dann werde ich dir die Hölle heiß machen.“

„Danke, Mello.“ Mit einem unguten Gefühl in der Magengegend sah er, wie Near und Hester hinter der Tür verschwanden und auch wenn er diesen miesen kleinen Pseudo-Albino nicht leiden konnte, hoffte er doch irgendwie insgeheim, dass er die Operation gut überstand. Matt hingegen hatte ein zuversichtliches Lächeln auf den Lippen und stieß seinem Freund scherzhaft in die Seite. „Auch wenn du ihn nicht leiden kannst, sorgst du dich um ihn.“

„Erzähl keinen Schwachsinn. Der Kerl kann mir echt gestohlen bleiben. Mir wäre lieber, er wäre im Pool ersoffen. Hätte ich das aber vor Hester gesagt, hätte sie mir die Fresse poliert.“

„Jaja, der Kerl, der ihn gerettet hat, soll am Spieß rotieren. Aber ist es nicht ein kleines bisschen merkwürdig? Du haust zum selben Zeitpunkt wie unser Schneeflöckchen ab und kommst total durchgefroren und ohne Jacke wieder und behauptest auch noch, du hättest dir die Grippe geholt, weil du nachts bei offenem Fenster geschlafen hast. Und Nears heldenhafter Retter in Not verschwindet kurz bevor der Notarzt eintrifft und da ist er schon halbwegs wieder aufgetaut.“

„Bloßer Zufall.“

„Und die Schokolade?“ Als Mello das hörte, wurde er knallrot im Gesicht und am liebsten wäre er vor Scham im Boden versunken. „Wenn du das irgendjemandem erzählst, dann…“

„Keine Sorge, dein kleines schmutziges Geheimnis ist bei mir sicher.“

„Dann hör gefälligst auf, so dreckig vor dich hinzugrinsen. Ich will mir gar nicht vorstellen, was du wieder für kranke Fantasien hast.“ Sie machten sich auf den Weg zurück zur Eingangshalle, wo sie sich am Automat was zu trinken holten. Und die ganze Zeit über hatte Matt ein Grinsen im Gesicht, welches mehr als zweideutig war. „Ach ja, Körperwärme wirkt wahre Wunder gegen Erfrierung.“

„Hör auf mit deinen zweideutigen Bemerkungen. Ich habe nur Erste Hilfe geleistet, mehr nicht.“

„Jaja, das sagen sie alle…“

„Irgendwann bringe ich dich um, du Perversling!“



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Kommentare zu dieser Fanfic (9)

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Von:  Ann-chen
2017-08-17T11:20:27+00:00 17.08.2017 13:20
Guten Tag :)

Deine Geschichte war sehr spannend :)
Alles war sehr logisch und spannend aufgebaut ( es war ein roter Faden vorhanden, der sich durch die ganze Geschichte zog) ich konnte garnicht mehr aufhören zu lesen ;)
Außerdem fand ich es gut, dass fu dich an einem "Fall" versucht hast.
Der Fall war sehr gut aufgebaut und ergab am Ende eine logische Erklärung. Hut ab - das bekommt nicht jeder hin.
Außerdem fand ich es gut, dass du die Vorgeschichte und die Gefühle der Personen eingebaut hast.
Dadurch konnte man mit den Figuren leiden, sich freuen usw.
Jede Figur hatte sein eigenen Charakter und wurde gut dargestellt.
Was ich mir persönlich noch gewünscht hätte..wäre ein weiteres Kapitel.
Wo near aus dem Krankenhaus kommt (gesund) und mit den beiden Mello und Matt redet.
Trotzdem war es eine sehr gelungene Geschichte :)) die Geschichte ist schon was älter aber ich kommentiere sie trotzdem..

Lg ann-Chen
Von:  Kira_Yagami
2013-12-23T23:57:10+00:00 24.12.2013 00:57
Ich muss sagen, deine FF hat mich irgendwie total gefesselt. Sie ist echt klasse geschrieben.
Von:  RK9OO
2012-07-16T13:44:37+00:00 16.07.2012 15:44
Och nee, schon zuende... D:
Ist ein recht gutes Ende, wenn auch ein bisschen dramatisch

"Dann hör gefälligst auf, so dreckig vor dich hinzugrinsen. Ich will mir gar nicht vorstellen, was du wieder für kranke Fantasien hast." - Rawr... *es Matt gleichtut und dreckig dahergrinst XD* Hehehe... Also bei mir ist Mellos schmutziges Geheimnis jedenfalls nicht sicher *eg*
Von:  RK9OO
2012-07-14T02:28:50+00:00 14.07.2012 04:28
Hach, ich liebe es, wenn Near entführt wird... XD
Dachte ich mir irgendwie schon, dass William ihn als 'Sohn' ansehen würde; immerhin sieht Near ja auch aus wie ne lebende Puppe
Wird er dem Schneeflöckchen jetzt was antun? *-*
Von:  RK9OO
2012-07-14T02:13:28+00:00 14.07.2012 04:13
Whoah... die Giftküche ist ja mal krass!
Erinnert ein wenig an die Horrorfilme, wie Texas Chainsaw Massacre, wo Masken aus Menschenhaut hergestellt werden
Von:  RK9OO
2012-07-14T02:00:17+00:00 14.07.2012 04:00
"[...]und auf ein Leben als freier Mensch zu akzeptieren" - du meinst wohl zu verzichten :P

Ansonsten wieder, wie immer, ein gutes Kap; und gemein, an einer so spannenden Stelle auszuhören D:
Von:  RK9OO
2012-07-13T16:01:27+00:00 13.07.2012 18:01
Uuuhh, das ist ein geiles Kap! *-*
Die Sache mit dem in-den-Pool-fallen hast du super beschrieben, konnte man sich bildlich vorstellen, wie Schneeflöckchen versucht, aus dem kalten Wasser rauszukommen
Und ich liebe es ja sowieso, wenn meine Schatzis in Gefahr sind... *hüstl XD* Das macht das Ganze noch besser >D
Ah, ah, ah! Jetzt bin ich aber mal gespannt, wie Mello ihn wärmen wird... hab ich die Hoffnug auf ein bisschen Yaoi? XDD
Von:  Ashlie
2012-07-11T16:00:21+00:00 11.07.2012 18:00
Mir hat die Geschichte bisher sehr gut gefallen.
Mach weiter so.

Von:  RK9OO
2012-07-11T14:53:34+00:00 11.07.2012 16:53
Huff... endlich komm ich auch mal zum kommentieren x.x

Aww... 'Schneeflöckchen'... das ist mein Lieblingsspitzname für Near, hihi <3 *giggle*
"„Jetzt lass hier nicht den gehörnten Ehemann raushängen, Mello“, schaltete sich nun Mello ein", du meinst wohl, Matt schaltet sich ein :P

Hm, ich glaub ja mittlerweile, dass der Puppenmacher die Kinder entführt, um an denen sein Mittelchen zu testen und zu verbessern... und dann macht er sie zu Puppen, um das Alles zu vertuschen o.o


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