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Ein zweites Leben

von

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Der Schatz

Ein knappes Jahr hatte es gedauert, bis der Aufruhr wegen dem Schwarzen Ritter sich niederlegte. Dafür tauchte aber eine Sorge in der königlichen Familie auf: Der älteste Sohn und Thronfolger, Prinz Louis Joseph, erkrankte schwer und alle bangten um sein Leben. Doch die gelehrten Ärzte verstanden ihre Aufgabe gut und in wenigen Tagen ging es dem Prinzen schon wesentlich besser.
 

Oscar wich die ganze Zeit nicht von der Seite der Königin. Sie verstand sie nun mehr denn je. Eine Mutter zu sein war nicht leicht, besonders wenn gewisse Pflichten einen von dem Kind fernhielten und nicht zuließen, es oft zu sehen. Der Unterschied war nur, dass die Königin ihre Kinder nicht vor der Welt verstecken musste.
 

Nach der Verbannung hatte Marie Antoinette Oscar mit glasigen Augen und einem aufgesetzten Lächeln empfangen, alle ihre Hofdamen weg gescheucht und sie unvermittelt in ihre Arme geschlossen. Oscar war zu dem Zeitpunkt zu niedergeschlagen, um sich aus der Umarmung zu entreißen und sich an ihre Pflichten zu ermahnen. Zu tröstend und zu aufmunternd war die Geste der Königin gewesen. Marie Antoinette hatte sie dabei ausgefragt, ob alles gut verlaufen und was aus dem Kind geworden war. Oscar hatte ihr alles verstockt berichtet und musste sich eingestehen, dass sie sich dabei etwas leichter fühlte.
 

Und nun dachte sie wieder an diese Szene, während sie mit Ihrer Majestät die Gemächer des Prinzen verließ. Nebeneinander durchquerten sie stumm die langen Gänge von Versailles. „Oscar, ich stelle Euch heute von Eurem Dienst frei“, unterbrach Marie Antoinette nach einer Weile die Schweigsamkeit. „Joseph geht es doch wieder besser.“ Ihre Augen schimmerten, als sie zu Oscar schaute: „Ihr solltet Euch auch ausruhen.“
 

Oscar verstand den verbogenen Hintergrund dieser Worte. Die Königin hatte sie freigestellt, damit sie ihren eigenen Sohn besuchen konnte. Oscar war ihr dafür sehr dankbar. Wegen den Hofdamen, die Marie Antoinette immer folgten, verständigten sie sich mit solchen umgänglichen Reden. Auch so fragte die Königin sie nicht mehr wegen dem Kind aus - die Gefahr belauscht zu werden, war zu groß. Das eine Mal nach Oscars Rückkehr war eine Ausnahme.
 


 


 

„Zum Glück ist das Fieber des Prinzen zurückgegangen“, erzählte Oscar ihrem Mann bei einem Tee in ihrem Salon, nachdem sie wieder auf ihrem Anwesen war. Aber an Freude war dabei nicht zu denken. „Wir können nur beten, dass ihm mehr Jahre vergönnt sein werden, als es uns aus unserem früheren Leben bekannt ist.“
 

„Hmm.“ Andre nickte zustimmend. Er wusste, was sie damit meinte: In dem früheren Leben starb der kleiner Prinz kurz bevor die Revolution ausbrach. „Wie alt ist er schon?“
 

„Zwei Jahre älter als...“ Oscar warf ihm einen kurzen Blick zu und senkte ihn wieder auf ihre Tasse. Fünf Jahre würde ihr gemeinsamer Sohn in diesem Jahr zählen und fünf Jahre wuchs er nicht bei ihnen auf. Das schmerzte wie eine klaffende Wunde, die sich stets aufs Neue öffnete, wenn sie darüber nachdachten.
 

Oscar und Andre sahen ihren Sohn fast jeden Tag für ein paar Stunden und falls er mal krank wurde, blieb einer von ihnen solange bei ihm, bis er genesen war. Um nicht aufzufallen, besonders Oscar nicht, wechselten sie sich ab. Wenn Andre zwei oder mehrere Tage fehlte, bemerkte das kein Mensch. Nicht einmal seine Großmutter.
 

Diese dachte meistens ihr Enkel trieb lieber Unsinn mit seinen Freunden wie Alain und Bernard, als seinen Pflichten im Haushalt nachzugehen. Jedes Mal, wenn er nach vier oder fünf Tagen heimkehrte, hielt Sophie ihm eine Predigt und drohte ihm mit ihren kleinen Fäusten. Aber das nützte nichts. Sie hatte auch schon Lady Oscar darauf angesprochen, aber diese meinte nur in ihrer kühlen Art: Andre sei ein erwachsener Mann und konnte tun, was er wollte. Sophie hatte danach ihren Schützling vorsichtig gefragt, ob sie und Andre sich gestritten hätten und bekam noch eine kühlere Antwort von ihr: Sie beide seien keine kleinen Kinder mehr und könnten auf sich alleine aufpassen. Das hatte der alten Dame sehr geschmerzt. Was war nur aus ihnen geworden? Oscar, so unnahbar und distanziert wie immer, war in den Jahren noch hartherziger und kälter geworden. Andre, so krank vor Liebe, suchte Trost bei finsteren Gesellen wie Alain und betäubte seinen Kummer mit etlichen Krügen Bier. Eine andere Erklärung für sein mehrtägiges Verschwinden konnte Sophie nicht finden. Die Zuneigung ihres Enkels zu Lady Oscar ahnte sie schon längst. Nur konnte sie ihm nicht helfen, weil er immer abblockte und so tat, als wäre alles in Ordnung.
 

Andre seinerseits schämte sich, vor seiner Großmutter die Wahrheit zu verbergen, aber das tat er nur zum Wohle seiner zwei Oscars. Seine Frau trafen der Trug und die Heimlichkeiten am Schwierigsten. Sie gab das niemals zu, aber er sah es ihr immer an und spürte innerlich, wie sie darunter litt.
 

Im Gegensatz zu ihm konnte Oscar nicht jeden Tag und auch nicht mehrere Tage bei ihrem gemeinsamen Sohn verbringen. In ihrer hohen Position als Kommandant war sie angesehen und man erwartete vieles von ihr. Wenn sie für eins, zwei Tage verschwinden würde, würde das jedem sofort auffallen und deshalb bestand die Gefahr, aufzufliegen. Und so drehte sich ihr zweites Leben in einem Kreis, den sie sich selbst erschaffen hatte.
 


 


 

Andre seufzte schwer und stellte seine ausgetrunkene Tasse auf das Tablett. „Oscar, möchtest du vielleicht fechten?“
 

„Ich möchte eher nach Paris.“ Auch sie stellte ihre Tasse beiseite und erhob sich.
 

„In Ordnung“, hörte sich Andre sagen. Eigentlich war er heute schon in Paris, aber sie nicht. Er begann schnell das Geschirr abzuräumen und es auf das Tablett zu stellen.
 

„Lass das stehen.“ Oscar fasste ihn unverhofft am Handgelenk. „Das kann auch jemand anderes tun. Bevor wir nach Paris reiten, möchte ich noch mit dir unseren Schatz unter der alten Eiche ausgraben und ihn ihm schenken.“
 

„Er wird sich bestimmt freuen.“ Andre richtete sich auf und lächelte seine Frau an. Sie sprachen fast nie laut den Namen ihres gemeinsamen Kindes aus. Aber sie verstanden sich schon von der Wortwahl und dem Blickkontakt.
 


 

- - -
 


 

Es herrschte früherer Nachmittag - noch genügend Zeit, um den Schatz auszugraben, den kleinen Sohn zu besuchen und spätestens um Mitternacht nach Hause zurückzukehren. Mit einer Schaufel bewaffnet fanden Oscar und Andre die alte Eiche und den genauen Platz, wo der Schatz begraben lag.
 

„Hier müsste es sein“, meinte Andre und stieß die Schaufel in die weiche, grasbewachsene Erde.
 

Oscar kniete ihm gegenüber und schob mit behandschuhten Händen die ausgehobene Erde auseinander. Die kleine Kiste war nicht tief vergraben. Mit leuchtenden Augen holte sie Oscar aus der Grube und stellte sie auf ihre Oberschenkel. „Sie ist noch ganz, Andre!“ Sie sah nicht seinen ernsten Gesichtsausdruck und seinen Blick, der in die Ferne gerichtet war. „Wir bekommen Besuch“, warnte er.
 

Oscar überhörte ihn. Sie strich die restliche Erde von der alten, modrigen, aber immer noch stabilen Holzkiste und öffnete vorsichtig den Deckel. „Es ist noch alles da!“
 

„Ihr seht als Gärtner genauso gut aus, wie als Kommandant, Lady Oscar!“, amüsierte sich eine Männerstimme hinter ihrem Rücken.
 

Oscar hob ihren Kopf und sah sich nicht allzu überrascht über ihre Schulter. „Schön Euch zu sehen, Graf von Fersen.“
 

„Und ich freue mich, euch beide ebenfalls zu sehen. Eure einstiges Kindermädchen sagte mir, wo ich Euch finden kann.“ Von Fersen lächelte freundlich, aber in seinen Augen lag eine tiefe Traurigkeit. Bestimmt wegen der verbotenen Liebe zu der Königin. „Was habt Ihr da ausgegraben, wenn Ihr mir die Frage erlaubt?“
 

Oscar richtete sich wieder auf und gewährte ihm einen kurzen Einblick in die Kiste. „Ich war sieben, als ich es vergraben habe und jetzt wollte ich wissen, ob es noch da ist.“
 

„Eine Erinnerung aus Kindheit ist wahrhaftig ein großer Schatz.“ Von Fersen betrachtete flüchtig den Inhalt, bevor Oscar den Deckel zuklappte. „Eine Erinnerung fürwahr, obwohl sie nur aus einem Kreisel aus Blei, einem roten Messer und den Zinnsoldaten besteht.“
 

„Das stimmt“, gab ihm Andre recht. Er schüttete die kleine Grube wieder mit der Erde zu und stampfte darauf mit seinem Fuß. „Wenn man Erwachsen ist, sieht man das ganz anders und es kommt einem unwichtig vor. Aber mit Kinderaugen betrachtet, ist es mehr, als nur ein gewöhnlicher Schatz.“
 

„Warst du auch dabei, als Oscar es vergraben hat?“, hakte von Fersen neugierig nach.
 

„Ja, ich war dabei. Ich habe Oscar beim Vergraben geholfen. Das war in meiner ersten Zeit im Hause de Jarjayes.“ Andre beendete seine Arbeit und gesellte sich zu Oscar, mitsamt der Schaufel. Er unterdrückte dabei den Impuls, seinen Arm um Oscars Mitte zu legen. Stattdessen fragte er in die Runde: „Wollen wir nicht besser ins Haus gehen?“
 

Oscar nickte zustimmend. Ein Besuch in Paris würde heute leider nichts mehr werden. Aber morgen war auch noch ein Tag. Unbewusst krallten sich ihre Finger um die Holzkiste. Dass sie noch die Handschuhe trug, merkte sie auch nicht. Nein, bis morgen würde sie es nicht aushalten! Sie musste ihn sehen! Heute noch! „Graf...“, sprach sie beherrscht auf dem Weg ins Haus: „Andre und ich müssen in spätestens zwei Stunden nach Paris aufbrechen. Bis dahin lade ich Euch auf ein Glas Wein ein.“
 

„Ich will Euch keineswegs länger aufhalten, Oscar. Aber auf ein Gläschen Wein mit Euch bleibe ich gerne.“ Graf von Fersen nahm es gelassen hin.
 

Im unteren Stockwerk bog Oscar in die Küche ein, um sich die Hände zu waschen. „Oh, Ihr habt Euren alten Schatz ausgegraben!“, bemerkte Sophie, als Oscar die Kiste auf dem Tisch abstellte und ihre Handschuhe auszog.
 

„Ich war neugierig, was aus ihm geworden ist“, meinte ihr Schützling darauf nichtssagend.
 

Sophie holte eine Waschschüssel, frische Tücher und einen Krug Wasser. Die Schüssel stellte sie vor Oscar auf dem Tisch ab und goss das Wasser auf ihre ausgestreckten Hände. Dabei fiel ihr die Schaufel ins Blickfeld. Mit einer Hand stellte sie den Krug ab, mit der anderen reichte sie Oscar ein Tuch zum Hände abtrocknen und zeitgleich fixierte sie streng ihren Enkel. „Andre! Eine Schaufel hat in der Küche nichts zu suchen!“
 

„Ich räume sie gleich weg, Großmutter.“
 

„Sofort!“, beschied Sophie ihn noch strenger und ihre Stirn legte sich in Falten.
 

Andre verdrehte die Augen und brachte die Schaufel, um sich weiteren Ärger von seiner Großmutter zu ersparen, auf ihren geordneten Platz zurück. Als er wieder in die Küche kam, war Oscar mit der Schatzkiste und von Fersen nicht mehr da. Seine Großmutter bereitete eine Flasche Wein und zwei Gläser auf einem Tablett vor. „Du läufst in dein Verderben, mein Junge“, sagte sie dabei leise zu ihrem Enkel. Kein verärgerter Ton mehr wie vorhin.
 

„Was meint Ihr damit?“ Andre tat ahnungslos, wobei ihm durchaus bewusst war, was sie meinte. Ungerührt goss er sich selbst das Wasser in die Schüssel und wusch darin seine Hände.
 

Sophie warf einen mitleidigen Blick auf ihn. „Du kannst mich nicht täuschen, Andre! Ich merke es jedes Mal, wie liebevoll du Lady Oscar ansiehst!“
 

„Ich sehe sie ganz gewöhnlich an, Großmutter.“ Andre schaute lieber auf seine Hände, die er jetzt nach dem schnellen Waschen, abtrocknete. Es war ihm unwohl im Herzen. Er fühlte sich miserabel.
 

„Du richtest dich selbst noch zugrunde, mein Junge“, hörte er den weichen Ton seiner Großmutter nicht weit von ihm: „Sie sieht dich nur als Freund und bemerkt nicht deinen Kummer!“
 

„Ich leide nicht, seid versichert!“, brummte Andre und warf achtlos das Tuch auf den Tisch. In Hast schnappte er nach dem Tablett und verließ die Küche beinahe überstürzt. Er hatte sich kein einziges Mal getraut, seine Großmutter anzusehen. In diesem Leben waren ihre Sorgen um ihn unbegründet und sein Kummer anders. Er litt nicht wegen Oscar, sondern mit ihr. Das konnte er aber seiner Großmutter nicht erklären. Sie durfte nichts von der erwiderten Liebe, der Heirat und dem Kind wissen! Noch nicht, aber irgendwann würde sie es erfahren. Er erreichte Oscars Zimmer und trat ein.
 

Sie plauderte mit von Fersen am Tisch im Salon. Oder besser gesagt, sie hörte ihm zu. Er erzählte von sich: „....ich diene der Armee und Ihr in der königlichen Garde und trotzdem haben sich unsere Wege seit Jahren nicht mehr gekreuzt...“
 

„Es gibt immer etwas zu tun“, meinte Oscar ausweichend und dann kam schon Andre an den Tisch. Er stellte wortlos das Tablett ab und schenkte den Wein ein.
 

„Wie dem auch sei...“ Graf von Fersen nahm sein Glas und hielt es ihr zum Anstoßen entgegen. „Trinken wir auf unser Wiedersehen.“
 

„Und mögen wir weiterhin Freunde bleiben“, fügte Oscar hinzu und stieß mit ihrem Glas ganz leicht an das seine.
 

Andre musste dabei schmunzeln. Heute war also der Tag, an dem Oscar in ihrem früheren Leben die Freundschaft mit von Fersen beendet hatte. Er erinnerte sich noch genau an den umgekippten Tisch, die vielen Glassplitter am Boden und wie sie Oscar mit verweinten Augen einsammelte. Andre schüttelte die Erinnerung ab und betrachtete seine Oscar, wie sie an dem Wein nippte; wie sie das Glas von ihren Lippen absetzte und zu ihm hinauf sah. Sie dachte an das Gleiche und für eine Sekunde, war von Fersen vergessen. Dieser bemerkte ihren Blickaustausch, stellte sein Glas ab und schmunzelte leicht. „Wisst Ihr was, Oscar, manchmal frage ich mich, wer von uns beiden den richtigen Weg gewählt hat.“
 

Oscar und Andre sahen ihn fragend an. Von Fersen wechselte zwischen ihnen seinen Blick und verharrte wieder bei Oscar. „Ehrlich gesagt, bin ich bisher zu keinem Entschluss gekommen. Aber ich sehe Euch an, dass Ihr in Eurem Liebesglück besser dran seid.“
 

„Wie meint Ihr das?“ Oscar zog missverständlich ihre Augenbrauen zusammen. „Wieso sagt Ihr, dass ich mit meinem Liebesglück besser dran bin, wenn Ihr nicht die geringste Ahnung davon habt, ob das überhaupt stimmt?!“
 

„Versteht mich bitte nicht falsch, Oscar, ich will nur ehrlich mit Euch sein.“ Von Fersen schielte zu Andre und richtete sein Augenmerk gleich wieder auf Oscar. „Wenn ich euch beide zusammen sehe, muss ich immer an die Liebe zwischen Marie Antoinette und mir denken. Vor vielen Jahren habt Ihr mir gesagt es gibt verschiedene Formen der Liebe und man muss nur wissen, wie man damit fertig wird und welche die Richtigste ist, um nicht in Verruf zu geraten. Damals hattet Ihr recht, aber jetzt ist alles anders geworden. Marie Antoinette und ich haben uns um Zurückhaltung bemüht, aber trotzdem weiß das ganze Land über die Liaison zwischen uns. Aber Ihr, Oscar, seid immer noch nicht enttarnt worden. Deswegen sage ich, dass Ihr besser dran seid als ich. Und ich wünsche Euch von ganzem Herzen, dass Ihr mit Andre glücklich seid.“
 

„Danke, Graf.“ Oscar senkte ihren Blick auf die kleine Schatzkiste, die neben ihr links auf dem Tisch stand. Andre bemerkte das nicht. Er starrte baff den Grafen an. Oscar legte ihre Hand auf den Deckel und fuhr mit ihren Fingern hauchfein über die raue Oberfläche. „Ich schätze Eure Offenheit sehr, Graf von Fersen. Daher werde ich auch ehrlich sein: Um vollkommen glücklich in unsere Liebe zu sein, fehlt uns noch etwas...“
 

Andre horchte auf und erwachte schnell aus seiner Starre. Seine Hand fasste ihre Schulter und seine Lippen bewegten sich mechanisch: „Nein, Oscar!“
 

„Schon gut, Andre. Ihm können wir doch vertrauen.“ Oscar entriss ihren Blick nicht von der Kiste. Die Finger ihrer linken Hand ruhten weiterhin auf dem Deckel, ihre Rechte bedeckte Andres Handrücken und umschloss seine Finger auf ihrer Schulter. Sie senkte ihre Stimme zum Flüsterton und stellte von Fersen eine Frage: „Erinnert Ihr Euch an das Mädchen Rosalie? Sie hat früher bei mir gewohnt.“
 

„Ich erinnere mich nur vage an sie, aber ich weiß schon, wen Ihr meint.“ Von Fersen spitzte aufmerksam seine Ohren. Er bekam so ein mulmiges Gefühl, dass Oscar ihm etwas entsetzliches und mit Leid verbundenes beichten würde.
 

Oscar sprach leise, bemüht um ihre Fassung, aber klar und deutlich: „Rosalie wohnt schon seit fast acht Jahren in Paris. Sie zieht bei sich einen kleinen Jungen groß...“ Ihre Stimme stockte, ihre langen Wimpern wurden feuchter und ihre zartgliedrige Hand drückte kräftiger Andres Finger. Sie würgte ihre Empfindungen krampfhaft herunter und zwang sich zur Ordnung. „Dieser Junge...“, fand sie wieder ihren Leitfaden: „Er ist fünf Jahre alt... Andre und ich, haben ein Jahr vor seiner Geburt heimlich geheiratet... Die Königin hat uns ihre Zustimmung gegeben... Wir haben ihn nach mir benannt... Das blonde Haar hat er von mir und die grünen Augen von seinem Vater...“ Oscars Mundwinkel zuckten unmerklich, ihr trüber Blick entriss sich von der Schatzkiste und heftete sich schneidend auf den Grafen: „Jetzt wisst Ihr alles. Und sagt bitte nicht, dass ich in meinem Liebesglück besser dran bin!“
 

Von Fersen war wie versteinert. Er schluckte mehrmals einen dicken Kloß herunter. Seine Gedanken schlugen Purzelbäume: Oscar hatte Andre geheiratet? Und sie beide haben einen Sohn? Aber wie konnte man so etwas jahrelang überhaupt geheim halten?! Die Verbannung fiel ihm ein! Einzelne Höflinge in Versailles sprachen manchmal noch heute darüber. Auch die Königin erwähnte es einmal. Also musste das Kind in diesem Jahr der Verbannung geboren worden sein! Und wie es aussah, wusste Ihre Majestät auch darüber Bescheid, denn sie hatte alles so arrangiert!
 

Von Fersen fand langsam seine Fassung zurück und stand von seinem Platz auf. „Vergebt mir, Oscar. Ich wusste nicht wie schwer Ihr und Andre es habt. Ich werde dieses Geheimnis selbstverständlich für mich behalten und rate Euch, Frankreich zu verlassen, bevor es jemand herausfindet.“
 

„Ich danke Euch, Graf. Aber ich verlasse dieses Land nicht.“ Oscar stand auch auf und sah ihm geradewegs ins Gesicht. „Es ist mein Schicksal, hier zu leben und zu sterben. Doch für den Notfall habe ich schon gesorgt. Ich werde noch heute meinen Dienst im Garderegiment quittieren und mich nach Paris versetzen lassen, um den Kleinen näher zu sein und sofort handeln zu können, wenn etwas passiert.“
 

„Oscar...“ Andre war fassungslos. Seine Hand rutschte matt von ihrer Schulter herab und er hielt sie jetzt lose an ihrem Handgelenk. Wann hatte sie das eigentlich beschlossen? Gerade eben?
 

„Ich kann Euch nur meinen Rat geben, Oscar...“, empfahl von Fersen höflich weiter: „...aber falls es doch zum Äußersten kommen sollte, dann bringe ich Euch und Eure kleine Familie höchstpersönlich aus Frankreich heraus, zu mir nach Schweden. Das verspreche ich Euch.“
 

„Graf von Fersen!“ Oscar wusste nicht, was sie noch sagen sollte. Ausgerechnet bei ihm sollte ihre kleine Familie Unterschlupf finden? Bei ihm, den sie in ihrem früheren Leben zu lieben glaubte?! Was würde wohl Andre dazu sagen? Würde er damit einverstanden sein? Sie schielte vorsichtshalber zu ihrem Mann und dieser nickte ihr nur stumm zu, als hätte er ihren Gedankengang gelesen. Er war also einverstanden. Also gut, dann war sie das auch. Oscar schenkte ihre Aufmerksamkeit wieder dem Grafen. „Ich werde über Euren Vorschlag nachdenken.“
 

„Es wäre mir eine Ehre, Euch helfen zu können, Oscar.“ Von Fersen lächelte leicht und reichte ihr seine Hand. „Ihr gehört doch zu meinen engsten Freunden.“
 

„Ganz meinerseits, Graf.“ Oscar drückte ihm die Hand wie Mann zu Mann und ließ sie sogleich wieder los. „Jetzt entschuldigt mich. Ich muss noch schnell meine Uniform anziehen und dann können wir nach Versailles aufbrechen.“



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Kommentare zu diesem Kapitel (4)

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Von:  Madame_Malou
2015-03-09T00:05:05+00:00 09.03.2015 01:05
Schön das auch von Fersen hinter den beiden steht. :) Sein Freundschaftsangebot war sehr rührend und authentisch zu Ikeda Charakter von dem Grafen. Oscar tut mir wie immer unendlich leid, wie schrecklich muss es sein sein eigenes Kind nicht "richtig" aufwachsen zu sehen...
Antwort von:  Saph_ira
09.03.2015 20:06
Dankeschön. Es freut mich, dass es mir so authentisch und rührend gelingt. ;-) Ja... Oscar tut mir schon selbst leid... aber keine Sorge, schon bald wird sich alles ändern... :-)
Von:  hunny123
2014-08-05T15:28:49+00:00 05.08.2014 17:28
juchuuuu auch von Fersen ist ein Freund.Toll. Oh mann ich bin jetzt schong espannt, wie alles ausgehen wird. :)
Antwort von:  Saph_ira
05.08.2014 19:34
Vielen, lieben Dank. Jep, ich glaube wenn Oscar zu von Fersen die Freundschaft nicht beendet hätte, so ähnlich wie in dieser FF, dann wäre er auch im Anime ein guter Freund geblieben. :-)
Von:  FeelLikeParadise
2014-06-26T20:47:40+00:00 26.06.2014 22:47
Ich finde es einfach immer wieder total toll, dass so viele Leute hinter Oscar und Andre stehen. Die Zwei haben es echt nicht leicht, worüber man da sich gleich noch mehr freut, dass sie so treue Freunde haben:)
Du gibst jeder Person seinen ganz eigenen Charakter, was die Geschichte so liebenswert macht.
Mach weiter so!
LG:)
Antwort von:  Saph_ira
27.06.2014 19:39
Ein herzliches Dankeschön für deine lieben Worte. ;-)
Liebe Grüße :-)
Von: abgemeldet
2014-06-21T20:19:18+00:00 21.06.2014 22:19
Oh, ich liebe dieses Kapitel! Oscars Worte für von Fersen sind so berührend! Sie sind mir so nahe gegangen. Mittlerweile weiß ich gar nicht mehr, was ich an Lob noch Neues schreiben kann. Ich kann mich nur noch wiederholen und Kritik - ich wüsste nicht, wo man bei deiner Geschichte etwas zu bemäkeln finden könnte!

Mach weiter so!
Antwort von:  Saph_ira
21.06.2014 22:38
Dankeschön aber trotzdem für deine Worte, ich freue mich immer wieder darüber. ;-)


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