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Sonorités de troi

'Carneval du Vagues'
von

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2. Triomphe

Die nächsten Tage waren grau und leise.

Ein Blick aus dem Fenster endete wenige Meter vor dem nächsten Gebäude, der Nebel war dick wie Großmutters Schneegestöbersuppe. Zumindest hatte es nicht wieder geschneit, obwohl Océan weiße Flocken deutlich lieber waren, als trübsinniges Nebelwetter. Dann konnte sie an eine schönere Zeit denken, in welcher sie draußen versucht hatte mit dem bisschen Magie, was sie beherrschte, die Eiskristalle im Flug in Wasser zu verwandeln.

Zusammen mit ihm.

Während der Zeit des Vortanzens waren die Teilnehmer vom regulären Schulunterricht befreit, um sich ganz dem Wettkampf widmen zu können. Und diese Zeit war auch mehr als nötig. Zwar waren die Schulfächer im Einklang mit dem, was beim „Carneval du Vagues“ dargeboten wurde, doch die Anwärter auf die Soloparts bekamen schon seit jeher eine Sonderbehandlung. Meist waren genau diese Auftritte nämlich das, von allen anderen Stämmen erwartete, Highlight und zu so etwas wie dem Aushängeschild der Aquamanen geworden. Es galt Erwartungen zu erfüllen.

Genau wie Cascatelle sie eigentlich zu erfüllen hatte.

Beschämt verdeckte Océan ihre Augen mit ihrem Arm, krallte sich mit der freien Hand in ihr Bettlaken, als hätte sie Angst herunterzufallen. So hatte sie sich diesen wichtigen Tag nicht vorgestellt.

Man hatte ihnen, nachdem sich der ganze Trubel ein wenig aufgelöst hatte, erklärt, Cas sei an einem Splitter am Bühnenboden hängen geblieben und hätte sich den Fuß aufgerissen. Die Wunde war tief und schmerzhaft und vermutlich lag der Junge nach wie vor im Krankenhaus. Océan wusste es nicht. Sie hatte sich nicht getraut, Cas zu sehen, auch wenn sowohl Flaque als auch ihre Familie oft genug darauf bestanden hatten. Ihr Gewissen erlaubte es ihr nicht.

Dabei wollte sie doch nicht, dass es so endet. Ein fairer Wettkampf sollte es sein und nicht...das.

Ein zartes Klopfen lies sie aufschrecken, sich schnell die Haare richten und sich aufsetzen.

„Herein?“

Ihr Bruder streckte den Kopf durch den Türspalt. Seltsam sah er aus. Die sonst so wilden, meerfarbenen Haare, die eine Art Familienerbe darstellten, waren sauber aus dem Gesicht gekämmt, der kleine Bart abrasiert und er trug eine edle Felljacke. Scheinbar war in seiner Schule heute irgendeine Festivität, Océan hatte aber keine Idee, welche. Er erinnerte sie an eine Art Zirkusbär und sie hoffte, er würde diese Kluft bald wieder ausziehen.

„Hey, Kleine.“, sagte ihr Bruder sanft und seine tiefe Stimme füllte das mädchenhafte Zimmer. „Wie geht’s dir?“

So oft sie stritten, so nahe waren sich Mer und Océan. Die Geschwister verband ein starkes Band aus Verständnis und Vertrauen, welches wohl niemand so schnell zerschneiden könnte. Sie gingen zusammen durch dick und dünn, dennoch blieben Streitereien nicht aus. Ihre Mutter hatte den Beiden einmal gesagt, dass Bruder und Schwester, die ab und zu mal zankten eine ganz besondere Art der Verbundenheit teilten. Leider nahmen Océan und ihr Bruder das oft genug als Rechtfertigung für die unterschiedlichsten Keilereien.

„Mein Kopf spielt Kreisel, aber sonst...“, antwortete Océan und zwang sich zu einem kleinen Lächeln. Sie hoffte, die geröteten Augen verrieten nicht, dass sie geweint hatte. Mer setzte sich währenddessen auf den kleinen, mit Fell besetzten Hocker gegenüber vom Bett und faltete ruhig die Hände im Schoß.

„Cascatelle kommt schon wieder auf die Beine, der ist eine zähe Haut.“, sprach Mer, eine angenehme Wärme in der Tonlage. „Aber du solltest ihn wirklich mal besuchen gehen, Freunde sind die beste Medizin.“

„Hm...“

Unfähig eine Antwort zu formulieren, die sie selbst zufriedenstellte, beobachtete Océan den Holzboden zu ihren, in bequeme Socken gehüllten, Füßen. Sie konnte und wollte mit niemandem über ihre Gedanken sprechen, sogar mit Mer nicht und das hatte einiges zu bedeuten. Selbstverständlich bemerkte der junge Mann, dass etwas ganz und gar nicht in Ordnung war. Noch weniger, als er vermutet hatte, sobald er die heiligen Räumlichkeiten seiner kleinen Schwester betrat. Sicherlich hatte sie ihre Gründe, nicht reden zu wollen, aber wenn es etwas war, dass die sonst so lautstarke und fröhliche Océan zum Schweigen brachte, musste eine ernste Sache dahinterstecken.

„Machst du dir solche Sorgen um den Wettbewerb, dass dir dein Sandkastenfreund egal geworden ist?“, hakte er nach, doch seine Schwester schüttelte augenblicklich vehement den Kopf.

„Nein! So ein Blödsinn, seit wann bin ich denn in deinen Augen so gefühlskalt? Ich...“, sie stockte kurz. „Ich weiß noch nicht, wie ich über das reden kann, was gerade mit mir los ist.“

Fragend legte Mer eine Hand an sein Kinn und lehnte sich etwas auf dem Hocker zurück, dabei überschlug er die Beine. Sein Blick wechselte zwischen den nervösen Fingern Océans und der Zimmerdecke hin und her.

„Hattest du mir nicht mal irgendwann erzählt, dass du Cas total süß findest? Stehst du auf ihn?“

Was für eine Ansage. Sie riss die unsichere Océan mit einem unerwarteten Schwung auf den Boden der Tatsachen zurück und ihre wirren Gedanken waren mit einem Mal nüchtern. Errötend sprang sie auf.

„Da war ich neun, Mer! NEUN! Das ist ewig her.“ Sie seufzte. „Es ist was anderes...“

Eine drückende Stille bildete sich nun um die Beiden, in welcher jeder wohl erwartete, etwas Wichtiges würde gesagt werden. Doch ihre Lippen blieben wie mit Wachs versiegelt.

Nachdem Mer eine Augenbraue gehoben und kurz den Kopf geschüttelt hatte, stand er auf und tätschelte liebevoll das gesenkte Haupt seiner kleinen Schwester. Seiner kleinen, jetzt so stillen Schwester.

„Du weißt schon, was für dich das Beste ist. Wenn was ist, kommst du zu mir, in Ordnung?“, sagte er.

Océan nickte kurz, als Mer sich beim Verlassen des Zimmers noch einmal umdrehte, als sei ihm etwas eingefallen.

„Maman hat bald das Essen fertig. Es gibt dein Lieblingsgericht, also komm gleich runter.“

Er war unheimlich froh, als sich nach dieser Aussage Océans Gesichtszüge wieder erhellten, wie eine kleine Sonne, die aufgegangen war.

Ein Lächeln passte einfach viel besser zu ihr.
 

~
 

Am späten Abend hatte sich der Nebel etwas gelichtet und schwebte nun bedrohlich, wie ein Geist über dem kalten Boden. Die Menschen in Batist hatten sich größtenteils in ihre warmen Behausungen zurückgezogen und als Schutz gegen die nordische Kälte und die Dunkelheit einen Holzscheit mehr auf den treuen Ofen gelegt. Auf den feinen Sandstraßen, die mehr Trampelpfaden glichen und in der Schneelandschaft wie gelblich braune Adern wirkten, war es so still wie in einer Götterstätte und Océan fühlte sich beinahe beobachtet, als sie sich geräuschlos aus der Haustür schlich.

Mit Kapuze und einem kleinen Zettel bewaffnet huschte sie durch den gepflegten Vorgarten voller Schneeblumen und schwang sich beherzt über den Zaun. Der Weg war nicht sonderlich lang, aber um diese Zeit noch draußen zu sein, konnte gefährlich sein. Immer wieder durchstreiften Banditen oder sonstiges Gesindel die kleine Händlerstadt auf dem Weg zur Hauptstadt und gerade für ein junges, unachtsames Mädchen war das tückisch. Sie bekamen Reichtum, Berühmtheit oder dergleichen versprochen, doch letztlich landeten sie dann in einem der Bordelle in einer der Hauptstädte der fünf Kontinente. Gerade bei den, sonst so prüden, Pyromanen waren die exotischen Aquamanen-Mädchen vom anderen Ende der Welt eine willkommene Abwechslung vom Bücherschreiben.

Océan schüttelte sich bei diesem Gedanken und zog sich die schützende Kapuze gleich noch ein Stück tiefer ins Gesicht. Sie durfte auch nicht zu lange fort bleiben. Nachts wurde es oft unmenschlich kalt und ohne passende Schutzkleidung präsentierte man sich dem frostigen Tod quasi auf dem Silbertablett. Deswegen beschleunigte sie ihren Schritt und bald war das große Gebäude mit dem roten Kreuz und Ziel dieser Aktion in Sichtweite.

Mit einem erleichterten Seufzer betrat sie die Eingangshalle des Krankenhauses, befreite kurz ihre Stiefel von Schnee- und Sandresten und stellte sich an das Pult, hinter welchem eine brummige, mollige Schwester ihre Nachtschicht angetreten hatte.

Océan mochte keine Krankenhäuser. In ihnen roch es immer so steril und ordentlich und vor allem ungemütlich. Genauso emotionslos wirkte das Foyer mit den hellblauen Vorhängen, der Sitzgelegenheit mit den weißen Möbeln und dem nichtssagenden Gemälde an der weißen Wand. Schrecklich.

„Ehm...ich suche Cascatelle Brouillard, er wurde hier vor zwei Tagen mit einer Fußverletzung eingeliefert und ich würde ihn gerne besuchen.“, erkundigte sich Océan mit einem raschen Blick auf ihren Zettel. Dort hatte sie zur Vorsicht alles aufgeschrieben, was sie vielleicht an Informationen angeben musste, um Zugang zu Cas' Zimmer zu bekommen.

Ihre Antwort war ein müdes Schnauben und ein Blick, der einen zum Einschlafen verleiten konnte.

„Um die Uhrzeit? Bist du eine Familienangehörige, Kindchen?“

„Nein, ich bin...eine Freundin.“ Erschreckend, wie schwer ihr dieses Wort über die Lippen kam. „Mein Name ist Océan Mireille.“

Die Schwester hob ihre wulstigen Augenbrauen, bückte sich und holte nach einigen Augenblicken eine dünne Akte aus einem der Schränke. Mit einer unnötig raschen Geste schlug sie den Ordner auf und fuhr mit dem Finger über die blauen Tintenbuchstaben, bis sie gefunden hatte, was gesucht wurde.

„Hier stehst du...Der Junge hatte den Ärzten gesagt, dass man dich durchlassen sollte. Also mach, dass du in Zimmer 408 kommst. Ich hab hier noch zu tun!“ Woraufhin sie sich lautstark räusperte und sich ihrem Groschenroman widmete, welcher neben ihr bei den Unterlagen wartete.

Océan bedankte sich knapp und schüttelte auf dem Weg zum Treppenhaus dezent den Kopf. Eigentlich dachte sie, Krankenschwester sei eine Profession der man aus Nächstenliebe nachging. Die Dame am Empfang überzeugte sie nun vom Gegenteil.

Auf den Gängen war es ruhig, ab und zu kam ihr ein Arzt oder eine Schwester entgegen, von Patienten fehlte aber jede Spur. Scheinbar war bereits die Nachtruhe angebrochen, kein Wunder bei dieser Uhrzeit.

Es dauerte nicht lange, bis sie vor der dunkelgrauen, kahlen Tür zum Zimmer 408 stand. Sie zögerte. In ihr tobte ein verzweifelter Konflikt. Die Tür öffnen und sich dem Menschen stellen, vor dessen Reaktion sie am meisten Angst hatte? Oder wieder gehen? Ihre Füße zuckten bei dem Gedanken sich wieder zurück in ihr wohl behütetes Heim zu schleichen, doch sie wusste, dass das nicht der richtige Weg war. Nach tiefem Luftholen klopfte sie erst zart und drückte dann die Klinke herunter.

„Cas?“, flüsterte sie vorsichtig, während sie mit pochendem Herzen weiter in den Raum trat. Keine Antwort, dann sah sie ihn. Blass lag er schlafend in dem sauberen Bett, den dick verbundenen Fuß auf einem speziellen Kissen platziert und einen friedlichen Ausdruck auf dem Gesicht. Auf Zehenspitzen schlich sie bis an die hölzernen Bettpfosten, an welchen eine Tafel mit medizinischen Daten hing und setzte sich auf den kleinen Hocker am Kopfende. Bedacht darauf, Cas nicht zu wecken, beugte sich Océan etwas vor.

„Wenigstens scheinst du in Ruhe schlafen zu können, du Doofkopf...“

Ihre Stimme war fein, wie die Seide einer Raupe, aber trotzdem klar und hell, wie frisch gefallener Schnee. Sie schluckte kurz.

„So sollte das nicht laufen, Cas...das weißt du auch. Ich wollte das nicht, du dummer Kerl. So wollte ich das nicht.“

Viel zu schnell wanderte ihr Blick zu den zitternden Fingern in ihrem Schoß und sie merkte, wie sie mit den Tränen zu kämpfen hatte. Wie schwach sie doch in seiner Gegenwart sein konnte. Dann ergriff sie behutsam Cascatelles Hand.

„Warum musstest du auch sowas Dummes sagen? Und sowas Dummes tun? Es ist alles deine Schuld...“, schluchzte Océan leise und wische sich einmal über die rote Nase. „Ich wollte das doch nicht tun. Ich wollte dir doch nicht weh tun. Nicht so.“

Und damit war es ausgesprochen.
 

~
 

Es vergingen einige Tage, in denen sich die Sonne endlich wieder öfter zeigte. Zwar lies der Sommer noch auf sich warten, aber die ersten warmen Tage kündigten sich bereits durch laue Winde aus dem Westen an. Schmelzen würde der Schnee nicht, aber milde Luft tat der Seele und dem Gemüt gut.

Die Verkündung der Solotänzer und Sänger sollte heute stattfinden, also hatte sich Familie Mireille einmal mehr herausgeputzt und war zur Festhalle der Hauptstadt gepilgert.

Auf der steinernen Bühne mit dem kunstvoll verzierten Podium standen die vier Juroren und beratschlagten, wie das weitere Vorgehen ablaufen sollte. Vor ihnen breitete sich eine beeindruckende Masse an Aquamanen aus, hauptsächlich bestehend aus Verwandten, Freunden und Familie der Teilnehmer, alle wild durcheinander plappernd. Lediglich Océan blieb schweigen zwischen ihrer Mutter und ihrem Bruder stehen und behielt den Blick lieber nach unten gerichtet.

Nie hätte sie gedacht, dass sie gerade an diesem Tag so empfinden würde, sie hatte ihm doch so entgegengefiebert. Nicht mal Flaque und deren Familie konnten sie aufheitern und das schafften sie sonst mit Leichtigkeit. Cas hatte sie noch nicht entdeckt, aber sie wollte in der Menge auch nicht nach ihm suchen.

Endlich dämmte sich das Licht und einer der Juroren, ein bärtiger, alter Mann mit schweren Linien im Gesicht, trat an das Podium, hob die Hände, woraufhin sich die Menschen langsam beruhigten.

„Liebe Aquamanen, wir haben uns hier heute, nach reiflichen und anstrengenden Überlegungen, versammelt, um die Solotänzer des herrlichen 'Carneval du Vagues' preiszugeben. Wie in jedem Jahr ist es uns sehr schwer gefallen, die Auserwählten zu bestimmen, welche uns bei dieser wichtigen Festivität vertreten sollen, denn ausnahmslos alle Teilnehmer haben beeindruckende Leistungen erbracht.“

Ein kurzer Applaus ging durch die Reihen.

„Ohne lange Verzögerung fangen wir jetzt mit der ersten Altersgruppe an. Die Zehn- bis Zwölfjährigen der Tänzer.“

Es folgten zwei Namen, die Océan irgendwo schon einmal gehört hatte, aber nicht einsortieren konnte. Vielleicht würde sie später ihre Mutter nach den beiden Mädchen fragen, welche nun auf die Bühne huschten und etwas verschüchtert ihre Urkunden entgegennahmen. In dieser Altersgruppe war es üblich, zwei Tänzer auszuwählen, da den Kleinen durch einen Partner ein Teil der Aufregung genommen wurde.

„Kommen wir zur nächsten Gruppe: den Dreizehn- bis Sechzehnjährigen.“

Océan hielt den Atem an. Jetzt war er da, der Moment. Der wichtige Moment. Ihre Augen schweiften vor Nervosität nach recht und links, sie wollte nicht mehr hier sein. Nein, sie gehörte nicht mehr hierher.

Dann trafen sich ihre Blicke. Müde sah er aus. Stützte sich schwach auf die Krücken unter seinen Achseln und schenkte ihr ein wunderschönes Lächeln, nickte ihr aufmunternd zu. Wie hübsch er aussah, auch mit seiner, von ihr zugefügten, Verletzung. Am liebsten hätte Océan zu weinen begonnen, doch ihr Bruder gab ihr einen Klaps auf den Rücken.

„Hey! Nun geh schon!“, sagte er laut und euphorisch.

„Was..?“, stammelte Océan als Antwort.

„Du hast es geschafft, du Dummerchen! Du hast den Solopart!“

Taub starrte Océan Richtung Bühne, dann auf ihren Bruder und ihre Mutter, dann auf die jubelnden Menschen um sie herum.

Nie hatte sie sich inniger gewünscht, jemand anders zu sein.



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