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Fremde Welten: Das Buch von Incanta (#3 1/4)

Mutterliebe hat viele Gesichter
von

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Gutes Geld, schlechte Nachrichten

Mit ziemlicher Genugtuung dachte ich noch einige Stunden lang an das Gesicht von Elfirona... Efronova... Efrolina... wie auch immer, noch eine ganze Weile hatte ich das Gesicht der Gewandmeisterin vor Augen, als ich den Laden betrat und ihr das Geld überreichte. Natürlich geschah das im Rahmen eines völlig seriösen Auftritts von mir, in dessen Verlauf ich lässig verkündete, dass ich Vesuvias Vater sei und ihre Rechnung begleichen wollte. Ich vermutete stark, dass die Frau nicht damit gerechnet hatte, dass ich kam. Vielleicht hatte sie des Öfteren junge Kundinnen, die ihre Eltern in Schwierigkeiten brachten und die dann eben nicht gleich zahlen konnten. Das hatte ich schon anhand der seltsamen Konditionen angenommen, die sie mit Vesuvia ausgehandelt hatte.

Ich fühlte mich daraufhin ziemlich gut und fand dann noch einen Laden für gebrauchte Kleidung, wo ich Vesuvias restliche Kleider versetzen konnte – teilweise sogar fast zu dem Preis, den sie auf den jeweiligen Preisschildchen angegeben hatte. Eine anwesende Kundin teilte mir verschwörerisch mit, dass die Kleider der letzten Jahre manchmal gerne von Mädchen gekauft wurden, die damals die Kollektion verpasst hatten. Das entzog sich meinem Verständnis, aber ich musste an dieser Stelle auch nur verstehen, wie sich mein Geldbeutel anschließend anfühlte, nämlich ungefähr genauso schwer wie vor meinem Besuch bei Efrilina... Elfinira... egal.

Gut gelaunt kehrte ich nach Hause zurück und kam gerade recht für ein Mittagessen, bei dem ich ordentlich zulangte. Ich berichtete Basalt, Rose und Sana von Vesuvias Aktion, und wir beschlossen, das Geld zur Seite zu legen, damit es noch da war, wenn Phalae das nächste Mal zu Besuch kam.

Am Nachmittag wollte ich noch etwas auf dem Hof arbeiten, aber Basalt bat mich darum, mit seinem Buch zu einem meiner Hehler zu gehen. Er selbst wollte nicht mit, denn er meinte, dass er nicht überzeugend genug lügen konnte, um viel Geld dafür zu erhalten. Also machte ich mich mit dem guten Stück im Gepäck auf zu Jorik Silberstreif. Zwar kam Rurik der Ruchlose theoretisch auch in Frage, aber irgendwie war mir das Buch für ihn zu schade, wie auch für einige andere Leute, die ich kannte. Jorik hatte immerhin eine erlesene Kundschaft, die ein gutes Sammlerstück zu schätzen wusste, da bestand eine höhere Chance, dass Basalts Werk in die Hände von jemandem kam, der es nicht auseinandernahm und in Einzelteilen weiterverkaufte.

Ich hatte eine Reise von gut zwei Stunden zu bewältigen und ließ Burner etwas entfernt landen, um den Rest zu Fuß zu gehen. Für den Zweck hatte ich mir einfache Kleidung herausgesucht, die mich nicht gleich als Magier zu erkennen gab, und trug das Buch in einem abgenutzten Lederrucksack bei mir, den Basalt noch nicht zu irgendetwas verarbeitet hatte, weil der praktische Nutzen noch gegeben war. Vielleicht ging ich so als Abenteurer oder Vagabund durch.

Jorik besaß einen Laden in einer Kleinstadt südwestlich von meiner Farm. Offiziell handelte er mit Antiquitäten, vor allem Schmuck und Zierrat sowie kleinen Möbeln. Dazu gehörten allerdings auch einige Sachen, die er nur auf Anfrage unter dem Ladentisch hervor holte, wenn keine Zeugen zugegen waren. Natürlich kaufte er solche Dinge auch nur unter den genannten Bedingungen.

Entsprechend trat ich ein und sah mich um, bis außer mir keine Kundschaft mehr im Laden war. Das dauerte ein Weilchen, denn eine Frau mit zwei jugendlichen Töchtern sah sich ausgiebig Diademe und Halsketten an. Ich tat so, als wäre ich an gebrauchten Hüten interessiert, wobei ich tatsächlich überlegte, ob Basalt wohl irgendetwas damit anfangen konnte. Ich ermahnte mich, nicht zu großzügig mit dem Geld zu verfahren, das ich hatte, auch wenn die Situation sich zu bessern schien. Schließlich konnte sich das schnell wieder ändern.

Irgendwann hatten dann die Kundinnen genug – ich hatte nicht darauf geachtet, ob sie mit dem Verkäufer einig geworden waren, Hauptsache, sie gingen weg. Ich verlor keine Zeit und trat an den Tresen. Jorik kannte mich und wusste, wer ich war, aber er tat trotzdem immer so, als sähe er mich zum ersten Mal – nur zur Vorsicht. Er war etwa in meinem Alter und ein zierlicher Mann mit schütterem, grauschwarzem Haar, das er streng zurückkämmte, so dass sein weit über der Stirn befindlicher Haaransatz ihn kompetent wirken ließ. Die spitze Nase und die aufmerksamen Augen erinnerten mich immer an einen Lehrer, auch wenn ich diese Berufsgruppe nur vom Sehen kannte. Er trug ein einfaches, hellbeige gebleichtes Hemd mit kleinen Rüschen am Kragen und darüber eine dunkelbraune Weste. Alles andere konnte ich nicht sehen.

„Wie kann ich Euch helfen, mein Herr?“ erkundigte er sich und ließ bereits seinen Blick zu meinem Gepäck wandern.

„Ich habe etwas zu verkaufen,“ begann ich und streifte den Rucksack ab. „Es ist vielleicht etwas heikel, und ich würde mich eigentlich nicht davon trennen, da es sich um ein Familienerbstück handelt. Aber ich möchte vermeiden, dass man es in meinem Besitz findet, versteht Ihr...“

„Oh ja, vollkommen,“ sagte Jorik ernst, aber zugleich wirke er auch sehr neugierig auf mein Angebot.

Ich ließ mal offen, wer das Buch finden könnte, auch, dass es eigentlich keinen Grund zur Besorgnis gab. Schließlich befand ich mich nicht in der Gefahr, dass jemand mein Haus durchsuchen wollte. Aber das wusste er ja nicht.

Ich machte einen großen Akt davon, das Buch aus dem Rucksack zu holen und aus dem Stück Stoff auszupacken, in das Basalt es sorgsam eingewickelt hatte. „Also... es lag lange Zeit einfach in einer Kiste im Schrank bei mir zu Hause. Es ist...“ Ich sah mich vorsichtshalber noch einmal schnell um, ob niemand da war. „Eine Abschrift des Buches von Incanta, welches, wie Ihr wisst, von Itrikaria gestohlen wurde und seither verschollen ist. Ich fand dieses Exemplar bei ihren Besitztümern, die mir von ihr geblieben sind.“

Der Händler hob die Augenbrauen, wirkte aber noch nicht allzu überzeugt. Zumindest zog er sich weiße Stoffhandschuhe über und nahm das Buch in Augenschein, wobei er es vorsichtig durchblätterte. Erfahrungsgemäß taten diese Leute ohnehin immer so, als müssten sie sich den Kauf vom Munde absparen, ohne sicher sein zu können, dass das Objekt überhaupt etwas wert war.

„Und dies gehörte Itrikaria?“ hakte er nach. „Wieso sollte sie es an sich nehmen, wenn sie das Original gestohlen hat?“

Ich zuckte mit den Schultern. „Möglicherweise handelt es sich um eine Art Sicherheitskopie, die sie ebenfalls vom Flammenbrunnen-Hexenzirkel mitgenommenem hat, weil sie beide in der Eile nicht unterscheiden konnte. Sie hat mich mit Hilfe des original Buches in der Feuermagie unterrichtet, ich kann Euch versichern, dass diese Abschrift inhaltlich identisch ist. Die Handschrift ist jedoch anders.“ Was das Buch dann eben zu einer Abschrift machte, nicht zu einer originalgetreuen Kopie.

Ich beobachtete, dass Jorik den Namen bemerkte, der ganz hinten auf der letzten Seite unten stand, und dabei kurz die Augenbrauen hob. Es war eigentlich nur ein Kürzel, das man aber, laut Basalt, in der Szene der Buchhändler kannte. Es gehörte zu einem bekannten Magier, der vor gut zweihundert Jahren umhergezogen war, um seltene und berühmte Bücher abzuschreiben und seiner Sammlung hinzuzufügen. Dabei war es ihm egal gewesen, ob er das mit oder ohne Erlaubnis tat. Er war bekannt für seinen Einfallsreichtum, um zu bekommen, was er wollte. Konnte also gut sein, dass er auch das Buch von Incanta abgeschrieben hatte, heimlich oder nicht. Wobei es dann vielleicht seltsam war, dass sein Exemplar bei Itrikaria gelandet war, aber wer konnte schon nachvollziehen, was aus dieser teilweise hochgradig illegalen Bibliothek im Einzelfall geworden war? Basalt hatte mir gesagt, dass nach dem Tod des Mannes die Bände teilweise frei verkauft, teilweise den Besitzern der Originale übergeben worden waren. War doch theoretisch möglich, dass dieses Exemplar dann wieder beim Flammenbrunnen-Hexenzirkel gelandet war.

Jorik nahm eine Lupe und sah noch einmal genauer hin. Dann betrachtete er die Tinte eingehend, indem er verschiedene farbige Glasscheiben darüber hielt und eine noch feinere Lupe einsetzte. Er sah sich die Blätter genau an, streichelte den teilweise etwas zerfransten Rand. Er untersuchte das Leder und die Art der Bindung der einzelnen Blätter. Dass er sich so viel Zeit nahm, zeigte mir eigentlich schon, dass er Feuer gefangen hatte... bildlich gesehen natürlich. Doch er blieb ganz sachlich und darum bemüht, sich nichts anmerken zu lassen.

„Naja... fünfzig Goldstücke wäre es wohl wert,“ murmelte er dann in einem sehr geschäftsmäßigen und etwas herabwürdigenden Ton. Diese Masche kannte ich aber schon und fragte mich, ob das ein Spielchen war, das er ausprobierte, obwohl er wissen musste, dass ich es kannte.

„Vergesst ihr da nicht eine Null?“ entgegnete ich in einem möglichst neutralen Tonfall. „Gewiss werdet Ihr einen interessierten Feuermagier finden, der es Euch gerne wieder abkauft.“

„Na, jetzt übertreibt Ihr aber,“ meinte Jorik und lächelte nachsichtig. „Gut, das Buch ist alt, aber fünfhundert ist doch sehr hoch gegriffen... was, wenn ich darauf sitzen bleibe?“

„Kann ich mir nicht vorstellen,“ beharrte ich. „Und fünfhundert ist noch ein Sonderpreis für ein Buch, in dem alle Inhalte des Buches von Incanta stehen. Manch einer träumt davon, das mal lesen zu dürfen, das kann ich Euch sagen.“

„Auf Seite 34 ist eine Notiz, die offenbar nicht so alt ist!“ wandte der Händler ein.

Ich seufzte theatralisch. „Ja, ich weiß. Eine Warnung, nicht wahr? Das hat vermutlich eine der Hexen dort angemerkt. Und zu Recht! Dieser Spruch ist gefährlich, ich habe damit den Wohnsitz meiner Mutter vernichtet. Außerdem ist es doch ganz normal, dass der Besitzer eines Buches manchmal etwas reinschreibt. Das ist keine Qualitätsminderung, sondern zeigt doch nur, dass es in Gebrauch war.“

Jorik gab sich immer noch unentschlossen. „Na, ich weiß ja nicht...“

„Wisst Ihr was, ich nehme es am besten wieder mit,“ sagte ich verärgert, was ich nicht einmal spielen musste, denn ich hatte wirklich keine Lust, noch zu einem anderen Händler zu gehen. „Ich frage einfach Rurik oder so, der stellt sich vielleicht nicht so an...“ drohte ich dennoch. „Ich würde es auch direkt an einen Interessenten verkaufen, Ihr habt halt nur Glück, dass ich nicht damit in Verbindung gebracht werden will.“

Ich schickte mich an, das Buch wieder einzupacken, doch da änderte er sein Verhalten: „Nein, nein, wartet... vierhundert. Das kann ich gerade noch zahlen.“

„Vierhundertsiebzig!“ schoss ich zurück.

„Ihr seid hartnäckig,“ stellte mein Gegenüber fest. „Nun gut... vierhundertfünfzig. Aber das ist mein letztes Wort.“

„Dann krieg ich aber noch den Hut dort drüben dazu,“ verlangte ich und deutete in die Richtung.

Jorik blickte nicht einmal hin. „Einverstanden.“

Wir besiegelten das Geschäft per Handschlag und Geld und Buch tauschten den Eigentümer. Ich vermutete, dass er seinen Gewinn machen würde, aber dafür, dass ich ihm gerade eine Fälschung angedreht hatte, war ich zufrieden. Das wäre ich auch mit dreihundert schon gewesen, aber ich beschwerte mich natürlich nicht.

Als ich mit klimperndem Geldbeutel und einem neuen gebrauchten Lederhut im Bauernstil auf die Straße trat, konnte ich mein Glück kaum fassen. Ich machte keine Umwege mehr, sondern begab mich schleunigst zu Burner, um meinen Geldschatz in Sicherheit zu bringen.
 

Als ich zu Hause eintraf, wurde es bereits dunkel, da die Reise einen Großteil der Zeit eingenommen hatte. Ich präsentierte Basalt meine Einnahmen und überreichte ihm den Hut.

„Wow! Echtes, abgewetztes Leder! Könnte Dunkles Zebra oder sowas sein. Dafür finde ich bestimmt Verwendung!“ Er legte den Hut zu seinen anderen abgenutzten Sachen und betrachtete erst dann den Geldbeutel. „Der sieht voll aus... wieviel ist drin?“

„Vierhundertfünfzig,“ sagte ich. „Am Anfang hat er fünfzig geboten... aber das ist so seine Masche. Vermutlich verkauft er es jetzt für achthundert weiter.“

„Vierhundertfünfzig!“ rief Basalt aus. „Das Material hat mich nichtmal zwanzig gekostet... man darf natürlich die Arbeitszeit nicht einberechnen. Hat er die Signatur bemerkt?“

„Ja, ich glaube schon, nickte ich und erzählte Basalt dann lieber gleich die ganze Geschichte, ehe er mich mit Fragen löchern konnte. „Jorik schien keine Ahnung zu haben, dass er eine Fälschung vor sich hat. Ich denke mal, dass er schon weiß, wer sich dafür interessieren könnte,“ beendete ich meine Ausführungen.

Basalt grinste breit, wie ein Schüler, der eine Klassenarbeit zurückbekam und besser abgeschnitten hatte als erwartet. Und diese Situation kannte ich tatsächlich von ihm. „Ich könnte noch eins machen, das du an einen anderen verkaufen kannst!“ bot er an.

Ich nickte nachdenklich. „Tu das ruhig, aber so schnell sollten wir das nicht wieder machen. Manche Händler kennen sich untereinander, das wäre riskant. Zwar sind nicht alle so befreundet, dass sie über sowas reden würden, aber man kann nie wissen.“ Da wollte ich dann lieber kein Risiko eingehen, jetzt wo ich endlich eine Glückssträhne zu haben schien.

„Ach ja, ich hab deine Hausschuhe fertig,“ wechselte Basalt plötzlich das Thema und deutete auf einen anderen Arbeitstisch.

Oh ja, ich hatte wirklich eine Glückssträhne – davon war ich überzeugt, als ich meine alten Latschen erfreut an mich nahm.

„Ich könnte eine Luxusausgabe von dem Buch herstellen,“ philosophierte mein Sohn. „Mit Steinen am Umschlag. Aus dem Nachlass eines reichen Gutsherrn oder so, der nie wusste, was es damit auf sich hat...“

„Übertreib es nicht gleich. Ich wollte das Geld eigentlich zur Seite legen,“ ermahnte ich ihn. „Aber gut... streng genommen ist es deins. Abzüglich einer Verkaufsprovision für mich vielleicht.“

Basalt knotete lachend den Beutel auf und nahm eine Handvoll Goldmünzen heraus, die er kurz in seiner Hand betrachtete. Ich rechnete damit, dass er diese Menge mir überreichte. Aber er legte sie in eine Schublade an seinem Arbeitstisch. Den Rest schob er mir hin. „Das waren zwanzig oder dreißig, also hab ich meine Ausgaben wieder drin und kann neue tätigen.“

Nun, da beschwerte ich mich mal nicht. Wenn Basalt wieder etwas bastelte, bekamen wir vielleicht weitere Reichtümer herein. Aber ich rief mich zur Ordnung – nicht zu weit im Voraus mit Geld rechnen. Immerhin konnte auch ein Meteor auf mein Haus fallen, das schloss ich zumindest nicht aus nach der Sache mit dem Eisdrachen.

Der Rest des Tages verlief dann recht harmonisch. Beim Abendessen langte ich wie beim Mittagessen ordentlich zu, was Sana mit Wohlwollen zur Kenntnis nahm. Danach gönnte ich mir ein entspannendes Bad nach all den Reisen heute und freute mich auf einen ereignislosen Folgetag mit normaler Feldarbeit, als ich neben Rose unter die Bettdecke kroch und sie sich an mich kuschelte.
 

Am Tag darauf konnte ich endlich meine unterbrochenen Tätigkeiten in Ruhe beenden, wie zum Beispiel Unkraut jäten zwischen den Heldenglöckchensträuchern. Später half ich Klepos, den Niwatori-Stall zu reparieren, wobei uns viele der Tiere auf seinem Grundstück entkamen, aber seine Kinder hatten Spaß dabei, sie wieder einzufangen. Zum Glück können Niwatoris nicht so recht fliegen, obgleich sie Vögel sind.

Nach dem Mittagessen ging ich aus Neugier mal kurz in Vesuvias Zimmer und warf einen Blick in den Schrank. Dieser sah... ordentlich aus. Endlich konnten all ihre Kleider wieder frei hängen, statt sich eng nebeneinander zu quetschen. Zweifellos wirkte sich das positiv auf Falten und Rüschen aus. Das neue Kleid hing ganz rechts mit einer Handbreit Sicherheitsabstand nach beiden Seiten. Auch den Schrankboden konnte ich nun wieder erkennen. Zuvor hatten sich dort mehr Schuhe gestapelt, als ein einzelner Mensch jemals tragen kann. Aber was rede ich... ich bin nur ein Mann und habe von solchen Feinheiten keine Ahnung.

Als ich das Zimmer verließ, schwor ich mir im Stillen, Vesuvia ein ganz besonders hochwertiges Kleid inklusive Schmuck und Schuhen zu kaufen, sollte ich jemals das Geld dazu haben. Hoffentlich interessierte sie sich überhaupt noch für Mode, wenn es irgendwann in ferner Zukunft soweit war. Denn zur Zeit hatte ich zwar Geld in Reserve, wusste aber auch, wie schnell sich sowas ändern konnte. Ich war zumindest für den Moment beruhigt, und wollte dieses Gefühl genießen, solange es anhielt.

Nachmittags mistete ich die Käfige meiner Ratten aus, das war längst mal wieder fällig. Ich räumte in der Scheune ein bisschen auf, reinigte unsere Arbeitsgeräte und half dann Rose, neue Vorhänge in einigen Räumen im Haus aufzuhängen, so dass die anderen gewaschen werden konnten. Anschließend sortierte ich im Büro einige Papiere und sie ergänzte die Bilanzen, indem sie unsere neuen Rücklagen als diverse Einkünfte verbuchte. Achtzehn Goldstücke gingen dafür drauf, ein paar kleinere Rechnungen zu bezahlen, die aber erst seit kurzem offen waren. Beispielsweise war es bei meinen Nachbarn normal, dass ich oft erst ein paar Tage oder auch mal eine Woche später zahlte, wenn ich zum Beispiel Gemüse oder Milch von ihnen erhielt. Schließlich hatte ich nicht immer Geld in der Tasche, wenn ich draußen arbeitete.

Während wir uns im Büro aufhielten, erschien ein Kontaktformular des Zirkels des Bösen auf der auf dem Schreibtisch befindlichen Ablage für diesen Zweck. Der Effekt verursachte ein leichtes Kribbeln in der Luft, das Außenstehende vielleicht nicht bemerkt hätten, aber ich kannte das schon.

„Das wird die Nachricht sein, wann wir uns treffen, um über Sorcs zukünftige Arbeitsstelle zu beraten,“ vermutete ich. Den Mann jetzt auch noch aus seiner gewohnten Umgebung zu reißen, erschien mir grausam, wenn man bedachte, dass an seiner Geschichte eh irgendetwas faul war. Ob er jedoch in Wahrheit unschuldig war oder noch größere Schuld mit sich trug, blieb Spekulation. Ich für meinen Teil konnte mir nicht vorstellen, dass er jetzt noch etwas verheimlichte, schließlich wäre er bereits beinahe hingerichtet worden statt ausgebrannt.

„Willst du gar nicht nachsehen?“ Rose nahm das Formular an sich und warf einen Blick darauf.

„Eigentlich hab ich kein gesteigertes Verlagen, da hinzugehen, aber ich werde es wohl tun,“ grummelte ich. Irgendwie fühlte ich mich verantwortlich für mein neuestes Opfer.

Meine Frau atmete scharf ein und hielt sich die Hand vor den offenen Mund.

„Was ist?“ fragte ich sie. „Ist es nicht wegen des Treffens?“

Sie wandte sich mir mit großen Augen zu und hielt mir das Blatt hin. „Edeh ist tot... der Zirkel trifft sich noch heute in seinem Haus.“

Damit hatte ich gewiss nicht gerechnet. „Edeh? Aber wie... hatte er einen Unfall?“

Nun, das stand da freilich nicht. Die Nachricht stammte von Belial und beschränkte sich auf das Wichtige. Klar, er musste wahrscheinlich etliche davon verschicken.

Wir ließen alles stehen und liegen, zogen uns um und sagten nur schnell noch Basalt und Sana Bescheid, ehe wir abflogen. Rose wollte Fuma beistehen, der Frau von Edeh, deshalb kam sie natürlich mit.
 

Wir reisten mit zwei Drachen, was natürlich hieß, dass Rose den ihren bremsen musste, damit er Burner nicht davonflog. Doch Nachtschatten war zu klein, um uns beide über eine lange Strecke zu tragen. Er war schnell, leise und nachts fast unsichtbar.

Als wir nach einer gefühlten Ewigkeit das Arae-Anwesen erreichten, fiel mir sofort auf, dass weder der Tarnzauber noch sonst irgendetwas aktiv war. Es war schon nicht mehr ganz hell, aber hell genug, um Verwüstungen im sonst so gepflegten Garten und generell auf dem Grundstück zu erkennen. Der Turm sah aus, als wäre unter dem Dach etwas explodiert. Teile davon fehlten. Einige tote Behemots lagen herum. Waren die Tiere vielleicht durchgedreht? Oder war Edeh der Explosion zum Opfer gefallen? Soweit ich wusste, bewahrte er dort seinen Feldzauber auf. Aber dafür war eigentlich Fawarius zuständig.

Wir landeten so dicht wie möglich beim Haus, wobei ich mal nicht darauf achtete, ob Burner den Rasen beschädigte – darauf kam es nicht mehr an. Während wir eintrafen, landeten weitere Mitglieder, und ich vermutete mal, dass viele schon hier waren. Zwar war nicht jeder immer besonders erpicht darauf, irgendwo spontan hinzukommen, aber bei einem Todesfall überwog offenbar die Betroffenheit, Neugier oder Sensationslust.

Rose und ich schritten zügig zum Eingang und sahen hier und da Blutspritzer an der Wand des Hauses oder auf dem Boden, der hier mit Steinen ausgelegt war. An einer Stelle der Mauer gab es eine Kerbe, die von irgendeiner Waffe stammen musste, vielleicht einem Schwert. Woanders schien Magie aufgeschlagen zu sein und hatte ein geschwärztes Loch hinterlassen. Eine zerbrochene Lanze steckte weiter hinten im Rasen und ein verlorenes Schwert lag herum. Rose krallte sich an meinen Arm und wir tauschten einen schockierten Blick aus. Was war hier los?

Wir betraten das Haus und trafen auf Yubel, der uns zunickte und unsere Namen auf einem Klemmbrett notierte. „Damit der Koch weiß, wie viele Besucher da sind.“

Es gab aber bereits belegte Brote und Gemüsebrühe für die hungrigen Gäste, zu denen ich uns zählte, da wir vor der Abreise gar nichts mehr gegessen hatten. Die Speisen befanden sich in einem Aufenthaltsraum im ersten Obergeschoss, in dem sich aber besser jeder nur so lange aufhielt, bis der Hunger gestillt war, denn es gab dort nicht genügend Plätze für uns alle.

Auf dem Gang gab es ebenfalls Beschädigungen – eine Stelle, wo kein Teppich lag und auf dem Boden noch Reste von irgendeiner Substanz klebten, die die Bediensteten noch nicht vollständig abgekriegt hatten.

Rose und ich luden uns einige Brotscheiben auf einen Teller und zogen uns in das Gästezimmer zurück, das wir üblicherweise nutzten, wenn wir hier waren. Es war das neben der Bibliothek. Auf der anderen Seite war eine Tür mit einem Schild „nicht benutzen – Fenster defekt“ behängt.

Wir aßen zügig, denn an Ausruhen war nicht zu denken.

„Ich hoffe, Fuma ist nicht verletzt,“ murmelte Rose. „Oder Edin, der arme Junge! So wie das hier aussieht... als ob eine Armee hier eingefallen ist.“

„Von anderen Todesfällen stand nichts in der Nachricht,“ gab ich zu bedenken. Aber das hieß natürlich nicht, dass es auch keine Verletzten gab.

Wir hatten die Tür offen gelassen für den Fall, dass jemand nach uns suchte. Gelegentlich gingen weitere Zirkelmitglieder draußen vorbei. Türen wurden geöffnet, vermutlich bezogen auch andere ihre angestammten Zimmer. Wenn der ganze Zirkel inklusive Begleitpersonen anreiste, konnte es mit dem Platz aber knapp werden.

Gerade, als ich mir das überlegte, klopfte jemand an unsere offene Tür, und ich blickte auf, um Sage zu entdecken. „Hallo, Ihr zwei. Cosmea und ich haben vorgeschlagen, mit euch ein Zimmer zu teilen, wenn das für euch in Ordnung ist. Wir müssen alle ein bisschen zusammenrücken.“

„Uhm... sicherlich. Ihr könnt das Bett haben,“ sagte Rose. „Thau kann ja in seiner Rattengestalt auf einem Sessel schlafen.“

„Sehr witzig,“ grummelte ich, musste jedoch zugeben, dass die Idee was für sich hatte. So aus praktischen Gesichtspunkten. Wir hatten nicht daran gedacht, Schlafsäcke mitzubringen, und ich fragte mich, wo Rose dann nächtigen wollte. Womöglich mit der Überdecke und einem Zierkissen auf dem Boden. Sie war da recht abgebrüht.

„Ach, ihr braucht uns nicht den Vortritt zu lassen,“ winkte Sage ab.

Er holte aus seiner Reisetasche zwei Betten in der Größe von Puppenmöbeln, stellte sie nebeneinander an eine Stelle mit viel Platz und murmelte einen kurzen Spruch. Die Betten wuchsen zu normaler Größe heran, und ich erkannte die Bauart der Möbel aus dem Schwarzen Turm.

„Den Trick muss ich mir unbedingt auch aneignen,“ stellte ich fest.

„Erinnere mich bei Gelegenheit mal dran,“ lächelte der alte Magier. Er stellte seine Tasche auf eins der Betten. „Ich gehe mal nach Cosmea sehen, sie wollte was zu essen besorgen.“

„Wir werden wohl mal nach Fuma suchen gehen,“ entgegnete ich mit einem Blick auf Rose, die zustimmend nickte.

Wir teilten uns also erst einmal wieder auf und trafen unterwegs viele andere Mitglieder, die ebenfalls so aussahen, als wären sie gerade angekommen. Einige hatten wesentlich mehr Gepäck dabei als wir, vielleicht hatten sie an Schlafsäcke gedacht.

„Ihr könnt dieses Zimmer haben, ich werde zum Schlafen ins Dorf fliegen, wo ich den Wirt ganz gut kenne,“ hörten wir im Vorbeigehen Lord Belial sagen.

Für die Geflügelten unter uns bot sich das Dorf natürlich an, da dauerte der Weg nur eine Minute. Edehs Haus war groß, aber nicht groß genug für so viel Besuch. Allerdings verlangten es die Zirkelregeln, in Fällen wie diesem am Ort des Geschehens zu verweilen, schon um bei Aufräumarbeiten zu helfen und dem Verstorbenen Respekt zu zollen. Ansonsten hätten wir wohl das Hauptquartier vorgezogen, aber dieses bot ebenfalls nicht den Komfort vieler Gästezimmer, sondern diente vor allem als Versammlungsplatz. Dafür konnte man leicht Zelte auf dem Grundstück errichten. Hier war das eher schwierig, weil das Gelände etwas abschüssig war, und derzeit bot es sich auch nicht an, weil es vor kurzem offenbar noch als Kampfschauplatz gedient hatte.

Wir fanden Fuma zunächst nicht, dafür begegnete uns Vanis, der im Moment den Vorsitz des Zirkels inne hatte, ein Job, der immer mal wechselte. Ich versuchte stets, mich davor zu drücken.

„Ah, Thau, dich habe ich gesucht,“ begrüßte der Unterweltler mich, doch bevor er zur Sache kam, küsste er Rose die Hand. „Du siehst wie immer bezaubernd aus, Röschen. Thau, da draußen liegen ein paar tote Behemots, und wir vermuten, dass noch mehr im Wald sind. Im Wald wird sie vermutlich irgendein Viechzeugs auffressen, aber auf dem Gelände ist das nicht so schön. Du beherrschst doch so starke Feuerzauber, könntest du die Kadaver entsorgen?“

„Das wird sich wohl machen lassen,“ stimmte ich zu. „Ich kümmere mich im Laufe des Abends darum. Hast du Fuma gesehen?“

„Ich glaube, sie hilft im Erdgeschoss bei der Zuteilung der Zimmer und sucht Bettzeug heraus.“

Dieser Information folgend, gingen Rose und ich unten nachsehen. Hier rannte uns der kleine Edin fast über den Haufen, gefolgt von seiner Kinderfrau. Wenigstens schien es ihm gut zu gehen, denn er kicherte ganz vergnügt, als wäre nichts geschehen. Kinder konnten manchmal auch ganz gut verdrängen, oder Fuma hatte ihm noch nichts gesagt...

Wir folgten dem Gang zu Edehs und Fumas privaten Räumen und einigen weiteren Gästezimmern, als uns ein blonder Mann entgegen kam, der einen Stapel ordentlich gefalteter Laken trug. Er blieb stehen und starrte uns an. Ich wollte einfach vorbei gehen, doch er folgte uns mit Blicken.

„Ähm... stimmt etwas nicht?“ fragte ich deshalb.

Er schien aus einem Tagtraum zu erwachen. „Verzeihung... wo bleiben meine Manieren. Ich bin Ray... ich meine, Lichal. Prinz der Eisigen Inseln. Aber man nennt mich Ray.“

Er klemmte sich die Laken etwas umständlich unter den linken Arm, nahm galant Roses Hand und hauchte einen Kuss darauf, etwas, das Männer anscheinend gerne bei ihr machten. „Verehrte Dame. Wer auch immer Ihr seid, ich freue mich, Eure Bekanntschaft zu machen.“

Rose gab sich verlegen. „Ich bin einfach nur Rose.“

„Wie passend. Eine schlichte Bezeichnung für eine edle Blume.“ Ray stellte seine Schmeicheleien ein und wandte sich mir zu, wobei sein Blick ernst, ja gar furchtsam wurde. Doch als ich seine Hand schüttelte, war sein Griff fest. „Ihr seid Thaumator.“

Ich hatte schon Luft geholt, um meinen Namen zu nennen, doch nun öffnete sich mein Mund in wortlosem Erstaunen. Kannte ich diesen blonden Schönling? Ganz nebenbei... wenn er ein Prinz war, warum trug er dann hier Wäsche herum? Hatte ihn eine der Damen aus dem Zirkel als Begleitung dabei? Gleichzeitig hatte ich das Gefühl, dass die Eisigen Inseln mir bekannt vorkamen, aber ich konnte den Begriff nicht einordnen.

Seine Hoheit schloss kurz die Augen und stieß einen leisen, leidenden Laut aus, während er noch immer meine Hand hielt. Er hob sie näher an sein Gesicht und drehte sie etwas, als gäbe es auf dem Handrücken etwas zu sehen. „Ja, kein Zweifel. Ihr habt meinen Bruder ausgebrannt.“

Iiihks! Wie unangenehm! Ich zuckte zurück, doch er hielt mich immer noch fest. „Ihr seid Sorcs... oh.“ Na kein Wunder, soweit ich wusste, war dessen wahre Identität auch von herrschaftlichem Blut, allerdings behandelte der Zirkel ihn stets nur als Sorc, den Chaoshexer. Deshalb ging das Prinzliche an ihm immer irgendwie unter.

Schließlich erinnerte sich Ray wohl daran, dass er mich loslassen sollte. Er öffnete die Finger und lächelte entschuldigend. „Tut mir Leid. Ich habe es gespürt, sobald ich Euch sah. Und Euch zu berühren, brachte mir... Einblicke.“

Nun war es an mir, ihn anzustarren, wobei ich mir begriffsstutzig vorkam. Was redete der da?

„Thau, der Mann ist offenbar ein Seher,“ übersetzte Rose für mich.

„So würde ich das nicht nennen,“ wehrte Ray ab. „Es ist nur eine schwache Gabe. Jedoch erscheint sie mir stärker und präziser seit einigen Tagen... zumindest immer dann, wenn es um meinen Bruder geht. Aber Ihr...“ Er schloss erneut die Augen. „Ihr habt mit ihm zu tun, deshalb sehe ich wohl auch Dinge über Euch...“

Das passte mir natürlich gar nicht, dass jemand einfach so in meinem Leben herumschnüffeln konnte. „Lasst das gefälligst!“ verlangte ich etwas unwirsch.

„Ich mache es nicht mit Absicht,“ versicherte Ray eilig. „Aber ich will auch gerne wissen, was aus meinem Bruder wird, daher nutze ich Möglichkeiten aus, die sich bieten. Im Grunde glaubt mir eh selten jemand. Manchmal wollen die Leute nur hören, was sie ohnehin zu wissen glauben.“

Ich war unentschlossen, ob ich ihn nach Einzelheiten fragen oder als Spinner abtun sollte. Dass die Leute ihm nicht glaubten, konnte ich mir lebhaft vorstellen. Zugleich wollte ich aber auch nichts wissen, weswegen ich mich dann zweifellos verrückt machen würde. Ehe ich Zeit hatte, zu einer Entscheidung zu kommen, wurde mir diese abgenommen.

„Ray? Bist du schon zurück? Oh!“ Aus der übernächsten Tür kam Fuma auf uns zu. Sie legte mehrere Kissen und Decken am Boden ab, um uns zu begrüßen. „Rose! Hallo! Und Thau... wie schön, dass ihr kommen konntet.“ Sie umarmte meine Frau und drückte mir die Hand. „Habt ihr Ray schon kennen gelernt?“

„Oh, äh... ja, gerade eben,“ antwortete ich und fragte mich noch mehr, was er hier zu suchen hatte. Allerdings fehlte uns ja generell noch die Information zum Anlass dieses Treffens.

„Fuma, Liebes, was ist denn nur hier passiert?“ ergriff Rose das Wort. „Wir wissen nur, dass Edeh... also... dass ihm etwas zugestoßen sein muss.“

Fuma seufzte. „Das kann man so sagen. Er... hat sich in etwas verrannt, und das hat ihn das Leben gekostet... Die Einzelheiten solltet ihr euch lieber von euren Kollegen erklären lassen, Angelus und Belial waren in der Frühe hier und haben Protokolle aufgenommen. Jedoch solltet ihr das mit Ray vielleicht lieber von mir erfahren... Er, ähm... ist mein neuer Mann.“

Das hatte ich gewiss nicht erwartet, und Rose wohl auch nicht. Wir tauschten einen Blick aus und ich erkannte auf ihrem Gesicht denselben Ausdruck des Unglaubens, den ich auf meinem vermutete. „Hab ich das richtig verstanden... ihr habt den Bund geschlossen? Quasi direkt nach Edehs Ableben?“

„Nun ja... die Umstände machten diese Maßnahme nötig. Ich bin gewissermaßen Kriegsbeute. Ray hat befürchtet, dass seine Mutter mir und Edin etwas antun könnte, aber wenn ich seine Frau bin und Edin damit auch zur Familie gehört, tut sie das natürlich nicht.“

„Meine Mutter hat, wie Ihr vielleicht wisst, den Thron der Eisigen Inseln von einem tyrannischen Herrscher übernommen, den sie entmachtet hat,“ schaltete Ray sich wieder in das Gespräch ein. „Dessen Frau und Sohn zeigte sie Gnade – und dieser Sohn war Edeh Arae. Da die Gnade von damals sie nun fast den Sohn gekostet hätte, wäre es dieses Mal wahrscheinlich anders verlaufen und es hätte keine Gnade für die Familie des Mörders ihres Sohnes gegeben.“

„Ich komme nicht mehr mit,“ stöhnte ich. „Wieso Mörder?“

„Edeh hat versucht, Prinz Soach zu ermorden,“ verriet Fuma uns in leiserem Tonfall. „Er war wie besessen von der Idee, dass er der rechtmäßige Herrscher der Eisigen Inseln war. Außerdem hat seine Mutter ihm eingeredet, dass Soach sein Halbbruder ist... dass also Lady Charoselle sich mit dem Tyrannen eingelassen hat, um von ihm schwanger zu werden, bevor sie ihn tötete, und so ihren Herrschaftsanspruch zu legitimieren. Sein Plan sah vor, Soach zu töten und die Lady verwundbar zu machen in ihrer Trauer, damit er dann den Thron an sich reißen konnte.“

„Also war das auch der Grund, weshalb er schon immer für die Todesstrafe plädiert hat... ich dachte, er macht das nur, um es den Verteidigern nicht ganz so leicht zu machen,“ murmelte ich.

„Ich war leider nicht in alles eingeweiht,“ fuhr Fuma fort. „Aber soweit ich Bescheid wusste, dachte ich natürlich, er sei im Recht... schließlich war er mein Mann... auch wenn er sich in letzter Zeit sehr von mir entfremdet hat.“

Sie schlang die Arme um sich und senkte den Blick, scheinbar den Tränen nahe. Rose legte einen Arm um ihre Schultern und zog sie tröstend an sich. Ray hielt sich hingegen eher zurück... was ich auch verstehen konnte, immerhin konnten die beiden nach dieser kurzen Zeit keine besonders herzliche Beziehung aufgebaut haben. Da ließ er lieber der Freundin den Vortritt.

„Ich denke, Genesis und Belial werden schon bald alles genauer erklären, soweit es die Vorgänge hier betrifft, wobei ich hoffe, dass auf die privaten Details nicht so sehr eingegangen werden muss,“ sagte der blonde Prinz. „Ich muss diese Bettwäsche nach oben bringen, entschuldigt mich...“ Er drehte sich schon um, zögerte dann jedoch. „Ihr werdet mit meinem Bruder noch zu tun haben, Thaumator,“ prophezeite er. „Mehr als Euch vielleicht lieb ist. Aber sorgt Euch nicht deswegen.“

Nach dieser Botschaft setzte er sich in Bewegung, und ich sah ihm noch hinterher, bis er um die Ecke verschwand. Was sollte dieses kryptische Geschwafel jetzt schon wieder? Wenn ich irgendwas nicht wollte, dann mit Sorc beziehungsweise Prinz Soach zu tun zu haben.

„Ich sollte wohl auch mal gehen und mich um die, äh... um der Bitte von Vanis nachzukommen.“ In Fumas Gegenwart sollte ich wohl lieber nicht die toten Behemots erwähnen. Sie hatte einige der Tiere selbst trainiert.

Rose nickte mir zu, und ich überließ die Frauen sich selbst. Die Neuigkeiten wollten sich nicht so ganz in meinem Hirn in eine vernünftige Ordnung bringen lassen, aber vielleicht musste das einfach warten, bis die restlichen Informationen dazu kamen.

Folglich konzentrierte ich mich auf etwas, das ich konnte, nämlich mit Feuer hantieren.

Die Kadaver waren nicht zu übersehen, und ich schritt auf den nächsten zu. Vielleicht lag er dicht genug bei einem anderen, um mit einer Anstrengung gleich beide zu beseitigen. Letztendlich sah ich mir erst einmal alle an, um zu entscheiden, welche Reihenfolge sinnvoll wäre.

Beim vierten kam plötzlich jemand hinter dem Kopf des Geschöpfes hervor auf meine Seite. „Hey. Das ist mein Loot, verschwinde!“

„Wie bitte?“ Ich erkannte den blonden Kerl, der mit Sorc zusammen festgenommen worden und dann dem Drachenhauchorden überstellt worden war – Malice, wenn ich mich recht erinnerte.

„Na die Krallen und Zähne! Diverse Stacheln, Haare, Schuppen... kann ich alles verscherbeln! Du warte schön, bis du dran bist!“

Okay, es war an der Zeit, den Zirkelmagier rauszukehren. Soviel Unverschämtheit musste ich mir als solcher von so einem Rehabilitanden-Jungspund nicht gefallen lassen!

„Bürschchen, wenn du dich nicht gleich eines angemesseneren Tonfalls befleißigst, bleibt von deinem Loot in wenigen Sekunden nur noch Asche übrig, denn ich bin hier, um die toten Tiere zu beseitigen. Und ich werde bestimmt nicht hier rumstehen und warten, bis so ein Grünschnabel den Viechern alle Zähne rausgebrochen hat!“

„Schon gut, schon gut, bleib mal locker!“ wechselte der Typ seine Taktik. Er schien sein Haar jetzt kürzer zu tragen, stellte ich fest. „Statt hier großzukotzen, könntest du mir lieber helfen, dann geht’s schneller! Das Zeug bringt voll Geld ein, besonders die großen Hörner und diese Stachelfortsätze an den Gelenken. Das kann ich mir doch nicht entgehen lassen!“

Oh, so war das also. Darauf hätte ich auch kommen können, aber ich kannte mich mit dieser Thematik nicht so aus wie ein Abenteurer, der so seinen Lebensunterhalt verdiente. Diese Gelegenheit ließ ich mir dann aber ebenfalls nicht entgehen.

„Fein, ich sehe über deine Unverschämtheiten hinweg und gehe dir sogar zur Hand, wenn ich dafür von zweien das ganze Zeug für mich kriege!“

Malice schien kurz zu rechnen. „Na gut... es sind insgesamt sechs, mit einem bin ich schon fertig. Hier...“ Er reichte mir eine blutige Zange. „Zieh dem da alle Zähne raus. Schneid dich nicht an den restlichen.“

Was folgte, war eine ziemlich eklige und anstrengende Arbeit, für die ich mir vorsorglich einfacherer Klamotten herbeizauberte. Wir zogen den Behemots alle Zähne, schnitten die Mähnen ab und entfernten die Hörner und Krallen. Da es inzwischen dunkel war, ließ ich Flammen zur Beleuchtung der schaurigen Szene umherschweben. Dabei hoffte ich, dass nicht jemand vom Haus herkam und uns zur Rechenschaft zog. Am widerlichsten war zweifellos das Abtrennen der Haut. Das konnten wir auf die Schnelle nur an einigen großflächigeren Stellen machen, da alles andere zu lange gedauert hätte. Außerdem, so erfuhr ich, nahmen Händler generell lieber große Stücke. Ich war da zwar recht abgebrüht, denn in meiner Nachbarschaft half ich manchmal, ein Tier zu schlachten, aber diese Größenordnung war eigentlich nicht dabei. Außerdem gehörte diese Tätigkeit nicht zu meinen Lieblingsbeschäftigungen. So gut es ging, reinigten wir die Haut von Fleischresten. Zu meinem Erstaunen hatte der Heldenpraktikant für fast alles ein passendes Werkzeug dabei. Nun ja. War vermutlich nicht das erste Mal.

Malice stopfte das ganze Zeug in seine Taschen, bei denen es sich offenbar um magische Heldenausrüstung handelte, und bedauerte, dass er keine Gefäße dabei hatte, um noch die Augen und Zungen mitzunehmen.

Ich überlegte mir, dass Basalt diese Sachen wohl gut würde verwerten können, daher ließ ich meinen Anteil fachmännisch in eine abgenutzte Decke einschnüren, die Malice mir im Austausch für einen Zahn überließ. Er versicherte mir, dass sie diesen Preis wert sei, weil sie verhinderte, dass darin eingewickelte Sachen verdarben. Gut, dann fingen die Häute wohl nicht an zu zu stinken, wie ich hoffte. Schließlich wusste niemand, wie lange das hier dauern würde.

Nachdem alles zu Malices Zufriedenheit gelootet war – was wohl so viel hieß wie abgeerntet – schickte ich den Burschen weg, damit er sich wusch und mir nicht im Weg rumstand bei meiner nun folgenden Arbeit. Er brachte ein bisschen Entfernung zwischen uns, guckte aber. Na schön.

Ich flüsterte den Zauberspruch, den Basalt in seinem gefälschten Buch mit einem Warnhinweis versehen hatte. Laut sprach man den lieber nicht aus, wenn Zeugen anwesend waren, denn man musste kein Magier sein, damit der Spruch wirkte. Eigentlich genial, wenn er nicht so gefährlich gewesen wäre.

Ich hielt meinen Blick auf den Kadaver gerichtet, den ich zuerst verbrennen wollte, und dirigierte das Feuer dorthin. Es schien in er Luft zu entstehen und stürzte sich hungrig auf das Ziel. Dadurch wurde die restliche Szene so gut erhellt, dass ich problemlos den nächsten toten Behemoth sehen konnte, um diesen danach in Angriff zu nehmen.

Eingeweihte nannten diesen Zauber das Epische Todesinferno. Laien dachten, es sei ein falscher oder alternativer Begriff für das epische Todesfeuer, einen alchemistischen Trank, der Brände auslöste. Letzteres war aber harmlos dagegen.

Das Todesinferno ließ innerhalb weniger Minuten nichts als Asche von den großen Viechern übrig, welche größenmäßig immerhin einem Drachen Konkurrenz machen konnten. Und das bezog sich nicht auf ein kleines Exemplar wie Burner. Die Hitze versengte mir beinahe die Haut, obwohl ich als Feuermagier etwas besser dagegen gefeit war als andere. Es gelang mir, alle sechs nacheinander zu verbrennen, ohne etwas zu beschädigen, das heile bleiben sollte. Wo die Behemoths gelegen hatten, würde man morgen nur noch versengte Erde finden, die möglicherweise eine Weile kahl bleiben würde, wenn sie nicht rekultiviert wurde. Als ich fertig war und die Flammen mit einiger Willensanstrengung zum Erlöschen zwang, obwohl sie weiter wüten wollten, hing der Geruch von verbranntem Fleisch in der Luft.

Im Anschluss wünschte ich mir ein Bad, denn ich sah vermutlich genauso verdreckt aus wie Malice nach unserer Loot-Aktion. Zum Glück kannte ich mich auf Edehs Gelände und im Haus aus und winkte dem Heldenpraktikanten, mir zu folgen. „Wäre vielleicht nicht schlecht, wenn wir uns waschen.“ Ich hoffte nur, dass in der Zwischenzeit keine Versammlung ohne mich anfing.

Ein Hintereingang führte in ein Bad, das meist von den Angestellten genutzt wurde, wenn sie von der Arbeit im Freien zurückkehrten. Ich ließ Malice von draußen Wasser in das Becken pumpen und heizte das Wasser von drinnen auf. Das hatte den Vorteil, dass ich natürlich auch als Erster mit Baden drankam, was ich in meiner Stellung als Zirkelmitglied auch für mich beanspruchte. Fast hätte ich meine Kleidung zurück in den Schrank gezaubert, hielt mich aber gerade noch zurück, denn Sana würde das sicherlich nicht befürworten, wenn blutige und verdreckte Sachen zwischen meinen guten Stücken hingen.

Ich hielt mich nicht lange auf, sondern wusch mich methodisch, wobei Malice dazukam, als ich halb fertig war. Nun war ich kein Freund davon, andere meine Narben sehen zu lassen, doch wir ignorierten uns mehr oder weniger gegenseitig – was jemand wie er wohl auch lernte, wenn er mit einer Gruppe unterwegs war. Ich stieg aus der relativ kleinen Wanne, schnappte mir ein Handtuch und ließ ihn direkt rein. Er befasste sich demonstrativ mit der Seife, und wenn er irgendetwas von meinem entstellten Körper gesehen hatte, behielt er es für sich. Ich zauberte die Kleidung von vorhin wieder herbei, sobald ich trocken genug war. Mit meinem Loot-Bündel und den dreckigen Sachen unterm Arm machte ich mich dann auf den Weg in mein Zimmer, wobei ich nicht auf Malice wartete.

Als ich in den Gang mit den Gästezimmern einbog, kamen mir zahlreiche andere Mitglieder entgegen, die mir fast alle sagten, dass es gleich eine Versammlung in der Eingangshalle geben sollte. Das fand ich seltsam, denn Edeh hatte unter dem Dach einen Saal, der sich für sowas besser eignete. Ich packte mein Gepäck in das Zimmer, wo ich zu schlafen gedachte, und folgte dann den anderen nach unten. Nun würde ich hoffentlich endlich erfahren, was hier los war.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  jyorie
2018-04-17T14:08:57+00:00 17.04.2018 16:08
(づ。◕‿‿◕。)づ Hi,

hm ... ja, das könnte wirklich sein, nach der Reaktion der Gewandmeisterin und den seltsamen Konditionen, das sie versucht junge Mädels anzulocken bei ihr zu kaufen und dann hinterher mehr bekommt als vorher, weil nicht gezahlt wird. Eine fiese Masche.

Der Buchverkauf war toll geschrieben, die Vorsichtsmaßnahmen die die beiden getroffen haben hast du dir gut ausgedacht. Ich war ja zu Beginn etwas skeptisch, aber Basalt scheint nicht sehr nostalgisch zu sein, oder an Gütern zu hängen, das er (zumindest nach außen hin) so locker mit dem Weggeben seines ersten Werkes umgeht. Tau muss ziemlich stolz auf seine Kinder sein :)

Ray´s Begegnung auf dem Arae Anwesen war ebenfalls gut gemacht. Ich wäre echt neugierig, was er jetzt alles weiß nach dem Handschlag. Tau war es sichtlich unangenehm so gelesen zu werden, ob er jetzt auch etwas von seinen Gedanken und Gefühlen kennt, das es ihm nicht so einerlei ist, das er jemand ausbrennen musste. (Die Stelle hat mich an das Buch Open Mindes – Mindjack Geschichten erinnert. Eine Mutation bewirkt das die Menschen Gedanken lesen können und wenn sich die Leser berühren ist das sehr sehr intim und tiefgehend was dabei alles ausgetauscht wird. Ich habe mich an der Stelle gefragt ob Ray dadurch einfach nur ein paar Bilder empfangen hat oder ob es mehr war was er an Info bekommen hat).

Ein Treffen mit Marlice – cool :-D ... Wenn er noch da ist, heißt das auch, dass Chrimson und Sorg noch garnicht lange weg sind, oder? Die Armen Behemots Tiere, das sie jetzt ausgeschlachtet werden, erinnert mich ein bisschen an die Elefanten oder Nashörner, wenn sie gewildert werden. Die Decke von Marlice mit der eingebauten Haltbarkeit fand ist super. Sowas hätte ich auch gern.

Liebe Grüße, Jyorie
Antwort von:  Purple_Moon
13.05.2018 18:36
Hallo!

So, hoffentlich krieg ich jetzt mal die Antwort hin. Hatte schonmal angefangen, war dann abgelenkt und hab aus Versehen den PC runtergefahren, ohne fertig zu sein.^^°

Vielleicht schaffe ich es nochmal, die Gewandmeisterin einzubauen und dann zu klären, ob das wirklich eine Masche ist, aber du kannst davon ausgehen, ja. XD So kann sie sich noch mehr Geld erschleichen, als das KLaid kostet, so als Strafzahlung, und das alles ganz legal, weil es ja vereinbart war. Das Reich der Schatten hat ja nun keinerlei Kundenschutzgesetze.

Das erste Werk nicht zu verkaufen, ist so eine sentimentale Macke von mir... aber eigentlich unsinnig, da ja spätere Werke besser sein müssten, dann hat man ja schon mehr Erfahrung. Basalt sieht das wohl auch eher so, vor allem aber ist es ihm wichtiger, dafür Geld zu bekommen. Wenn es gegangen wäre, hätte er es aber gerne behalten - zumindest hab ich drüber nachgedacht, das so zu schreiben, dass er es behält, mich dann aber anders entschieden.

Also ganz so viel weiß Ray jetzt nicht über Thau, es ist nicht so heftig, wie du beschreibst. Klingt aber nach ner guten Anregung. :) Ray kann ja nun keine Gedanken lesen, hat aber ein bisschen die Zukunft gesehen und weiß zum Beispiel, dass Thau noch weiter mit Fire als seinem Schüler und damit Soach zu tun bekommen wird. Und ein paar andere Sachen, die ich jetzt nicht verrate. Außerdem hat er ein paar Bilder von der Ausbrennung gesehen und fand das nicht gerade toll. Nun ja.

Eigentlich hab ich in FW geschrieben, dass alle abreisen, aber Malice ist nochmal (heimlich) zurückgekehrt, um sich den Loot zu holen. Das erfährt man allerdings nicht so genau, weil ihn keiner fragt.
Es gibt auch im Reich der Schatten die Unsitte, Tiere wegen ihrer Hörner oder anderen Bestandteilen zu töten, ja. Aber die Behemots waren ja nun eh schon aus anderen Gründen tot, so haben sie dann irgendwie noch einen Nutzen. Hätte ich sonst schade gefunden.
Die Decke erwähne ich bald nochmal XD

LG
Anja


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