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Kalendertage

Der Tag, an ...
von

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25 – Der Tag, an dem ich durch den Schnee wandelte

Noch schlimmer als ein normaler Umzug war ein Umzug, auf den man sich nicht richtig vorbereitet hatte. Zwar war alles ordentlich bei mir angekommen, doch natürlich hatte ich zuvor wenig Zeit gehabt, die Wohnung oder meine Möbel auszumessen. Das musste nun nachträglich erfolgen. Vom Malern oder Teppich auslegen wollen wir gar nicht erst reden. Es lagen in jedem Zimmer Holzdielen, die noch recht ordentlich aussahen. Das musste reichen. Und die Wände schmückten sich in einem halbwegs frischen Weiß. Wie hätte es auch anders sein sollen, war diese Wohnung nicht nur sehr viel kleiner als die alte, sondern sie hatte dementsprechend sehr viel weniger Wandmeter an Stellfläche zu bieten. Und so wollte nichts so passen, wie ich es gerne hätte. Da war erst mal mein Schlafzimmer: Das Bett ragte an die linken Wand geschoben zu weit in den Raum, dass die Tür nicht mehr richtig aufging. Wenn ich es aber nach rechts schob, dann lief man direkt dagegen und fiel alle naselang drüber. Auch mein Kleiderschrank wollte weder in die eine, noch in der andere Nische passen. So entschied ich mich als einzig annehmbare Lösung, das Bett komplett vor das Fenster zu schieben. Auf diese Art passte der Kleiderschrank und ein Regal direkt zwischen Bett und Tür. Sah zwar auch irgendwie blöde aus, ging aber aktuell nicht besser. Dann kramte ich aus dem säuberlich aufgebauten Turm aus Umzugskartons das Bild aus meinem Büro hervor, dass ich schon immer so sehr mochte, weil man seine Gedanken in dem Motiv baumeln lassen konnte. Ich hängte es genau an die gegenüberliegende Seite meines Bettes. Man blickte nun direkt vom Bett aus darauf, und das Sonnenlicht machte es noch schöner. Ja, das gefiel mir.

Bei Yuuki im Zimmer sah es viel schlimmer aus. Zwar standen dort die Möbel schon an der richtigen Stelle, doch wie Kinder nun mal so sind, waren die Kartons nicht ausgeräumt, sondern der Inhalt war wahllos heraus gekramt und dann sinnlos auf dem Boden verstreut worden. Als hätte eine Bombe eingeschlagen. Seufzend nahm ich diesen Zustand zur Kenntnis. Zu Beginn hatte ich noch geschimpft, aber nach ein paar Tagen gab ich es auf, denn mein Meckern, Betteln und Bitten verhalten überall, nur nicht im Gehörgang meines Sohnes. Kinder waren ätzend.

Wenigstens wurde der Rest der Bude allmählich wohnlich, obwohl es immer noch etwas zu kramen und umzuräumen gab. So vergingen die nächsten Tage schneller als gedacht. Man war die lieben, langen Tage beschäftigt, Kartons zu leeren, unzufrieden zu sein und wieder alles umzuwerfen, was man eben noch frisch geplant im Kopfe hatte. Die verstrichenen Stunden eines Tages bemerkte ich immer erst, wenn Yuuki aus der Schule zurückkam oder ich zum Abend hin das Zimmerlicht einschalten musste. Dann hatte ich das Gefühl, den ganzen Tag über nichts geschafft zu haben.

Und ich begann, meinen Alltag ganz anders zu erleben. Ohne Arbeitsplatz hatte man plötzlich viel mehr Zeit, sich um alles andere zu kümmern, was man zuvor nie geschafft hatte. Das fing schon beim Frühstück an, wo ich nun viel ruhiger an die Sache ging, mein Kind ohne Stress und Gebrüll wecken konnte und ihn dann zum Schulweg verabschiedete. Dann las ich viele Stellenanzeigen, schlenderte durchs Dorf, entdeckte auch mal unbekannte Seiten Konohas und ließ mich dann aber doch schneller als gedacht gehen. Ich verfiel in einen lahmen Alltagstrott, den ich gar nicht gewohnt war und hatte zeitweise Probleme, mich zu motivieren.

Interessant war hingegen das Getümmel am Fluss. Nie hätte ich gedacht, wie stark frequentiert unser Abschnitt des Flusses war. Frühmorgens noch vor Sonnenaufgang joggten schon die ersten Frühaufsteher am Ufer entlang oder betrieben Gymnastik- oder Entspannungsübungen, bis sie dann allesamt zur Arbeit marschierten. Zum Vormittag hin wurde es ruhiger. Schulklassen oder Mütter mit ihren kleinen Kindern waren zu beobachten. Gegen Mittag wurde es aber richtig voll, weil viele in ihrer Mittagspause hier picknickten und einen Mittagsschlaf hielten. Dann wurde es wieder ruhiger, und spielende Kinder und ältere Menschen buhlten um die wenigen Sitzbänke. Zum Abend aber fühlte es sich dann wieder. Man ließ den Arbeitstag hier auspendeln. Oder Jugendliche trafen sich, leerten die eine oder andere Flasche Alkohol, obwohl sie das noch nicht durften, und fühlten sich total cool. Ich stellte mir vor, dass es besonders im Sommer an langen, hellen Abenden sehr schön sein musste, hier zu verweilen. Obgleich hier viele Leute waren, verliefen sich ihre Ansammlungen doch gut am Flussufer entlang. Und es war ruhig und friedlich.

Jetzt aber fielen gerade die ersten Schneeflocken vom Himmel und es wurde stiller und beschaulicher. Die Kältefront brach diese Jahr früher über uns herein. Und nun merkte ich in der Wohnung auch das Problem, welches Kakashi mir erzählt hatte: Die Wohnung wurde nicht richtig warm, sondern war irgendwie kühl und klamm. Das war so ein Moment, an dem ich an meinem Küchentisch saß, in die Ferne in den Schneeflockentanz blickte und stumm weinte. Die Dunkelheit, die Kälte und die Gesamtsituation machten mich traurig. Ich vermisste mein Kontor. Leider verhalfen mir die Tränen nicht zu einem neuen Stellenangebot. Mit dem Handrücken wischte ich sie weg und kritzelte weiter meinen Lebenslauf zusammen. Da waren viele Fragezeichen am Rande. Bei einigen Wörtern wusste ich nicht, wie man sie richtig übersetzte und an anderen Stellen wusste ich nicht, wie ich Lücken füllen sollte. Das müsste man geschickt umschreiben könne, doch da fehlten mir die wortgewandten Kniffe eines Muttersprachlers. Kakashi hatte mir versprochen, beim Schreiben zu helfen. Allerdings hatte ich den nun schon seit gut einer Woche auch nicht mehr gesehen. Aber er hatte fest zugesagt, dass er übermorgen wieder mal aufkreuzen würde. Das nervte mich auch, dass wir uns so unregelmäßig sahen. Wenigstens waren diesmal die Tage wie im Flug vergangen, weil ich mit den Überresten des Umzugs noch sehr beschäftigt gewesen war.

Noch immer fielen die Flocken wie große Daunen vom Himmel. Sie legten sich wie kleine Federn auf die Erde und bildeten schon bald eine schützende weiße Decke über den Boden. Ich seufzte. Gerne wäre ich bei meiner heißen Tasse Kaffee hier am Tisch geblieben, aber ich musste los. Raus in die Kälte. Raus in das Schneetreiben. Es war Vormittag, und Yuuki war günstiger Weise dort, wo er hingehörte: in der Schule. Also wollte ich die Gunst der Stunde nutzen und ein paar Geschenke besorgen. Bald war Yuukis neunter Geburtstag. An Kindern erst merkte man, dass man selber immer älter wurde. Mann, was raste die Zeit. Neulich war er doch noch so klein gewesen und schlief friedlich in meinem Arm. Und nun? Nun wurde er neun Jahre alt, würde bald die Aufnahmeprüfungen für die Akademie absolvieren und wurde zusehends selbstständiger.

In einen dicken Mantel gehüllt stapfte ich los. Schnell hatte sich eine Schneehaube auf meiner Mütze gebildet. Als ich den kurzen Weg in die Innenstadt hinter mich gebracht hatte, war ich durchgefroren, weshalb ich mich nach einer heißen Mahlzeit umsah. Leider hatten die meisten Garküchen noch geschlossen. Es war einfach noch zu früh am Tage. Ich steuerte einen Teeladen an, von welchem ich wusste, dass man dort auch eine Tasse Tee zu trinken bekam und nicht nur losen Tee in Papiertüten verpackt. Dann ging es weiter. Yuukis Wünsche waren schnell besorgt. Mit den Tüten in der Hand trieb es mich aber noch nicht nach Hause. Ziellos streifte ich noch etwas durch die Straßen und Gassen, schaute durch die Schaufenster und bemitleidete mich selber, dass ich mir davon nichts mehr leisten konnte. Frustrierend.

Plötzlich stach mir ein Schild ins Auge. Eine Garküche suchte eine Aushilfe. Zwar nur stundenweise, aber wenigstens ohne Ansprüche an den Mitarbeiter. Es war ein glücklicher Zufall, dass just in diesem Moment die Ladeninhaberin die Rollläden aufschob. Ja, sie suchte jemanden, der täglich für zwei Stunden Zutaten vorbereiten würde. Obgleich die Bezahlung dementsprechend mau war, so sagte ich zu, schon am nächsten Tag zu einem Probetermin vorbei zu kommen. Die Arbeitszeit ließ sich gut mit Yuukis Schulzeiten vereinbaren, ich kam unter Leute und es besserte so oder so die Haushaltskasse auf. Es war definitiv nicht mein Traumjob, doch als Übergangslösung sicherlich geeignet.

Zufrieden stapfte ich weiter durch den Schnee. Längst waren meine Schuhe nass durchweicht und die eingefrorenen Füße nicht mehr zu spüren. Allmählich wurden auch die Fingerspitzen taub. Ich hatte meine Handschuhe in irgendeinem Geschäft unterwegs vergessen.

Die Straße endete an einem Platz, den ich nur allzu gut kannte. Der Wind wehte die Schneeflocken gegen die kalten Hauswände und blieb in feinen Streifen an den ortstypischen Wandrundungen hängen. Auch die rote Farbe des Hokagebüros versteckte sich darunter. Zögernd blieb ich stehen. Ja, ich vermisste Kakashi, aber einfach so ins Büro latschen, war keine gute Idee. Das war schon beim letzten Mal gründlich in die Hose gegangen. Und sicherlich hatte er ganz andere Dinge zu tun, als mir Gesellschaft zu leisten und mich zu bespaßen. Trotzdem stand ich dort wie festgewachsen und war unwillig zu gehen.

„Kann ich Ihnen helfen?“, sprach mich ein Shinobi an, der gerade mit zwei weiteren aus dem Vorhof heraus trat.

Na, an. Sah ich so orientierungslos aus? Wohl eher kaum, denn der Shinobi unbekannten Namens grinste mich an, als wären wir uns schon einmal begegnet. Ohje, der war doch wohl bei meinem letzten Auftritt hier an Ort und Stelle nicht zugegen? Peinlich, peinlich! Ich lief knallrot an, verbarg meine Gesicht hinter meinem Schal, wie Kakashi es dauerhaft mit seiner Halbmaske tat, und merkte, wie praktisch das doch war, sich so zu verstecken. Dann kam mir einen Blitzidee. Immerhin hatte ich doch noch eine Rechnung offen.

„Öhm, ja...“, tat ich ganz unschuldig. „Ich soll etwas bei Maito Gai abgeben. Bin ich hier richtig?“

Überraschtes Nicken beantwortet meine Frage. Eine kurze Wegbeschreibung durchs Haus folgte. Den kannte ich zwar schon, aber das brauchte ja keiner wissen. Wie dem auch sei, es stand mir Tor und Tür offen. Ich schlenderte los und erreichte problemlos die offene Tür von dem Doppelbüro von Gai und Shikamaru. Zu meinem Erstaunen stand Shikamarus Schreibtisch aber nicht mehr dort, sondern Gai hatte den ganzen Raum für sich. Noch ehe Gai auch nur einen Pieps von sich geben konnte, polterte ich schon los:

„Was sollte das mit dem finsteren Gebräu?“

„Finsteres Gebräu?“, fragte der nur entgeistert und starrte mich an wie ein Gespenst.

Hm, der grüne Clown wusste nicht worum es ging? Dem würde ich gedanklich auf die Sprünge helfen.

„Die Flasche, die ich von dir zu trinken bekam. Die hat mich in ziemliche Schwierigkeiten gebracht!“, polterte ich im selben Tonfall aufgebracht weiter.

Die Gemüter beruhigten sich wieder halbwegs, als im Laufe des Streits Gai glaubhaft versicherte, er hätte mit der Flaschenbestellung nichts zu tun gehabt. Er wäre davon ausgegangen, ich hätte die schon im Vorfelde geordert und beschwor sogar, dass er die Flasche nicht bestellt hätte. Keiner von uns beiden konnte sich einen Reim darauf machen. Als Entschuldigung wurde mir ein Mittagessen angeboten. Ich seufzte und verdrehte innerlich die Augen. Mit Gai in den Straßen gesehen werden, war so etwas ähnliches wie Fremdschämen pur. Aber ich hatte keine passende Ausrede parat, ihm dieses Angebot abzuschlagen, zumal wir beide dann wieder quitt wären. Mein Magen knurrte und redete mir zu, dass ich mich richtig entschieden hätte. Nervös kaute ich auf der Unterlippe. Mir brannte eine Frage auf der Zunge, doch mir fehlte eine passende Überleitung.

„Warum sitzt du hier allein? Letztes Mal war doch Shikamaru noch hier...“, startete ich unsicher.

„Der saß nur hier, weil in seinem Raum ein Wasserschaden war. Defekte Dachrinne.“

„Du sag mal... Is' Kakashi da?“

„Klar, der hockt im Büromief oben. Ich finde der bräuchte auch mal wieder frische Luft. Die letzten Mittagspausen habe ich den gar nicht mehr gesehen. Wir sollten ihn mitnehmen!“

Gai war von seinem Vorschlag mächtig überzeugt. In meinen Augen war es selbsterklärend, dass sich Kakashi und er nicht über den Weg gelaufen waren. Auch wenn es zwischen ihm und Kakashi ein besonderes Verhältnis untereinander gab, so hätte ich an seiner Stelle zeitweise auch einen Bogen um ihn gemacht. Und ganz so blöde war die Idee zu einem Dinner for three an sich auch nicht: Mit Kakashi anbei wäre Mr. Sporty-Green vielleicht besser zu ertragen. Ich versprach, ihm Bescheid zu geben und hatte endlich einen Grund, mich wieder aus Gais Büro zu verziehen. So viele positive Schwingungen waren selbst mir zu viel. Außerdem behagte mir die schneeweiße Zahnputzkauleiste, die Pilzkopffrisur und die die Augenbrauen so dick wie ein Fuchsschwanz überhaupt nicht. Selten war ich Menschen mit solch einem äußeren Erscheinungsbild begegnet.

Fix war ich ein Stockwerk höher gelaufen. Diesmal war ich höflich, trat nicht mit dem Fuße die Türe ein, sondern klopfte an. Auch in mir klopfte es. Und zwar total heftig, dass ich meinte, mein Herz würde gleich vor Aufregung zerspringen. Warum war ich denn so durcheinander? Ich besuchte doch bloß meinen Freund. Eine Antwort von Innen hatte ich gar nicht abgewartet. Zitternd drückte ich die Klinke herunter und schob ängstlich meinen Kopf durch die Tür. Mensch Nina, es ist bloß Kakashi!

Es mochte an der Umgebung liegen, die mich so kirre machte. Ich kannte nun schon einige Facetten meines Freundes, wenn auch nur oberflächlich. Neulich bei einem Bummel durch die Straßen blieb mein Blick an einer großen Anzeigentafel kleben, auf welcher der örtliche TV-Sender seine Nachrichten öffentlich übertrug. Eine Reporterin interviewte Kakashi zwei oder drei Fragen lang. Das Thema hatte ich gar nicht mitbekommen. Es war mir eh egal. Ich starrte nur auf die Leinwand und wunderte mich über mich selbst, wie fremd mir mein Freund vorkam. Mit seinem weißen Mantel und dem roten Hut. Er wirkte so distanziert und unnahbar. Fern von meiner Welt. Und dass er die Fragen so höflichst und unpersönlich beantwortet, verstärkte diese Beobachtung noch etwas mehr. Obwohl es doch ein und derselbe Mann war, so war ich eindeutig in den Kerl verschossen, der bei mir zuhause unmaskiert am Küchentisch einen Pott Kaffee trank und nicht in denjenigen, der hier im Dorfe den Oberchef für die Ninja-Bande spielen musste. Noch immer haderte ich mit seiner Position und diesen zwei Leben, die er führte. Aber war Doppelleben nicht doch etwas zu weit hergeholt?

„Was ist?“, kam es müde vom anderen Ende des Raumes.

Kakashi hatte gar nicht aufgesehen, als er nur die Tür leise knarren hörte. Im Gegensatz zu meinem letzten Besuch hatte sich nun deutlich mehr Papierkram im Zimmer gestapelt, mit welchem sich Hokage-sama aber aktuell wenig beschäftigte. Seine Nase steckte in ganz anderem Papierkram. Ein Wunder, dass nach der ständigen Dauerdurchblätterung das Flirtparadies noch nicht zur losen Blattsammlung auseinandergefallen war. Da müsste doch über die Jahre schon so viel UV-Licht auf die Seiten eingestrahlt sein, dass die Druckerschwärze bereits ausgeblichen wäre. Man gut, dass es dieses kostbare Kulturgut auch im ePaper-Format gab. Ich musste grinsen und kämpfte hart mit mir, nicht laut loszulachen. Das hier war eine so was von ernste Angelegenheit.

„Sammelst du Anregungen, wenn du mich wieder besuchen kommst?“ fragte ich und konnte nur schwer ein Prusten unterdrücken.

Kakashi, der gar nicht mit meiner Stimme und schon gar nicht mit meiner Person gerechnet hatte, zuckte zusammen wie ein Kind, dass man auf frischer Tat beim Äpfel stehlen erwischt hätte. Dabei fiel ihm seine heißgeliebte Lektüre aus der Hand. Entgeistert blickte er auf und brachte dann geistesgegenwärtig in einem Affenzahn seinen Schreibtisch in Ordnung, dass die Tischplatte komplett leer war. Ich verstand den Wink mit dem Zaunpfahl sofort.

„Keine Sorge, ich hab nichts getrunken...“, beschwichtigte ich.

„Das hatte ich gehofft.“

„... und ich krabbele heute auch nicht über Schreibtische.“, ergänzte ich noch.

„Das hatte ich auch gehofft.“

Erleichtert stellte er Kaffeetasse und Kanne wieder auf der Tischplatte ab. Dann strahlte er mich an, als wäre ich die aufgehende Sonne und erkundigte sich bei mir, ob etwas passiert wäre, weil ich hier so plötzlich aufgekreuzt wäre. Ich verneinte und erzählte kurz meine Geschichte mit Gai.

„... wollte er sich unbedingt mit einem Mittagessen bei mir entschuldigen und meinte, du solltest auch mit.“, beendete ich seufzend meinen kurzen Bericht.

Nur ein paar Minuten später zogen wir zu dritt durch die mittäglichen Straßen. Der Schneefall hatte sogar zugenommen. Es schneite so sehr, dass man nicht einmal mehr die nächsten zwanzig Schritte weit sehen konnte. Menschen wimmelten wie Ameisen mit Besen und Schneeschippen umher, schaufelten emsig die Wege frei und häuften große, weiße Berge auf. Das war auch gut so, denn Gai hatte sichtlich Mühe, mit seinem Rollstuhl voranzukommen. Das würde er zwar niemals zugeben, sondern überspielte das Problem mit sportlicher Akrobatik, als er auf Händen davon balancierte. Doch seine blau anlaufenden Hände im Schnee sprachen eine ganz andere Sprache. Kakashi kommentierte die Szene mit einem Seufzen der absoluten Hoffnungslosigkeit. Gai wäre nun mal beratungsresistent. Man müsste das so ertragen, wurde ich aufgeklärt. Stumm schob er den leeren Rollstuhl vor sich her, während ich einen Funken an Bewunderung für diesen grenzenlosen Optimismus hegte. Aber der beste Optimismus kam nicht gegen physikalische Gesetzmäßigkeiten an, wenn man sie zu spät durchschaute. Schon in der nächsten Schneewehe sackte der grüne Clown so ungünstig ein, dass er beinahe kopfüber darin steckengeblieben wäre, hätte Kakashi dem Rollstuhl nicht einen beschleunigenden Tritt verpasst. So rollerte der Stuhl gegen Gais Magenkuhle, traf diesen empfindlich und sammelte ihn in verrenkter Haltung wieder ein. Jeder andere hätte wohl über diese schmerzende Prozedur geschimpft, nicht aber Gai:

„Ha, mein Rivale hat nach all der Büroarbeit noch hervorragende Reflexe. Wie wär's noch mit einem kleinen Wettkampf zwischendurch?“

Wettkampf zwischendurch? Ich war sprachlos. Wie konnte man eine nur so sehr verschobene Wahrnehmung seiner Umwelt haben? Kakashi winkte dankend ab und erinnerte an das versprochene Essen. Ihm war nicht entgangen, dass ich wie ein Schneiderlein fror. Die eine Hand hatte ich in der wärmenden Manteltasche verstaut, doch die andere, welche die Einkaufstüten hielt, lief schon vor Kälte genauso blau an wie die von Gai. Wenigstens hatten sich die beiden Herren schnell auf ein Restaurant geeinigt, das wir schon in wenigen Gehminuten erreichen müssten. Das Essen war köstlich und Gai trotz seines permanent redenden Mundwerkes erträglich. Es mochte wohl daran liegen, dass Kakashi wie eine Pufferzone zwischen ihm und mir saß. Wie hatte Kakashi den grünen Clown eigentlich alle die Jahrzehnte überlebt? Irgendwann würde ich ihn bei passender Gelegenheit danach fragen.
 

Kakashi konnte seinen Rivalen relativ schnell überzeugen, dass er mich bei diesem Schneetreiben noch sicher nach Hause geleiten müsste. Wir verabschiedeten ihn an seiner Haustür und schlugen den Weg ein, der in die grobe Richtung zu meinem Wohnklotz führte.

„Hier, nimm! Und keine Widerworte!“

Er hielt mir seine Handschuhe entgegen und fingerte geschickt die Einkaufstüten aus meiner zu Eis erstarrten Hand. Die angewärmte Stoff war eine Wohltat.

„Danke!“, bibberte ich leise.

Schweigend ließen wir die Innenstadt hinter uns. Es ging nun quer durch den Stadtpark. Es schien, als hätte der Schneefall ein wenig nachgelassen. Oder es lag an den Bäumen, deren laubfreie Kronen nun wie schwarze Zeigefinger sich gen Himmel bohrten. Es war fast unheimlich mit den dicken, grauen Wolken, den kahlen Ästen und der Stille. Nur die Schneedecke knirschte unter unseren Schuhen. Doch bei Kakashi fühlte ich mich sicher. Ich musste dennoch mal eine Lanze für Konoha brechen: Kriminalität war hier ein Fremdwort. Als der Parkweg am Fluss sich gabelte, bog Kakashi in die entgegengesetzte Richtung ein. Ich war von Beginn an verwundert, dass er mich nicht untergehakt hatte und wir von Baum zu Baum gehüpft waren. Das wäre besonders bei diesen frostigen Temperaturen eine reisefreundliche Alternative zum Gehen gewesen. Stattdessen hatte er aber stumm mit mir zusammen die Kälte ertragen und war durch das kalte Weiß gestapft. Jetzt aber an der Weggabelung setzte mein logisches Denken aus.

„Es ist nur ein ganz kurzer Umweg. Danach beeilen wir uns. Versprochen!“

„Hm...“, war meine ausdrucksarme Antwort.

Natürlich war ich voller Neugier, wohin der Umweg führte, doch vor dem Ziele würde ich sicherlich erfroren sein. Der Wald lichtete sich schon nach wenigen Metern. Der Schnee hatte tatsächlich nachgelassen. In der Ferne erkannte ich sogar meinen Wohnklotz. Wir waren in der Tat nicht so weit ab vom Schuss, wie ich befürchtet hatte. Allerdings glühte nun über meinem Kopf ein großes Fragezeichen. Kakashi hatte angehalten und wir standen in weiter Flur im Nirgendwo. Hier war nichts. Nur ein paar Reisfelder. Weit weg lag die Innenstadt. Den Hokagefelsen konnte man gerade noch so hinter den Häusern erahnen. Dafür aber war der Schutzwall, der Konaha wie einen Ring umgab, zum Greifen nahe. Was zum Teufel wollten wir hier?

Stille, absolute Stille. Einzelne Schneeflocken waren die einzige Bewegung an diesem Ort. Gedankenverloren starrte mein Freund über die Felder, die unter einer weißen Decke im Winterschlaf lagen. Die Fröhlichkeit von vorhin war aus seinen Augen verschwunden. Er sah so traurig und müde aus, doch ich getraute mich nicht, ihn anzusprechen. Ich hatte das Gefühl, dass es vollkommen falsch wäre, ihn nun in seinen Gedanken zu stören. Er begann von ganz allein, mich an seiner Traurigkeit teilhaben zu lassen. Dabei wandte er keine Sekunde die Augen von dem Flecken Erde vor ihm ab.

„Wir werden uns gleich bei dir zuhause an deine Bewerbungsunterlagen setzen. Das hatten wir ja so besprochen. Da werde ich ganz viel über dich lesen. Ist das Ok für dich?“

„Ja, klar. Sonst hätte ich dich nicht gefragt. Und weißt du nicht so wie so schon ganz viel über mich?“

Seine Frage hatte mich überrascht und ich fand es nett, dass er das ansprach. Es dämmerte mir aber auch, dass ich über ihn so rein gar nichts wusste.

„Jeder Lebenslauf fängt irgendwo an. Meiner genau hier.“

Hier? Aber hier ist doch überhaupt gar nichts? Ich erinnerte mich, dass Konoha ja vor ein paar Jahren zerstört worden war. Standen hier mal Häuser? Und als hätte Kakashi meine Gedanken lesen können, ergänzte er:

„Seit ich lebe, ist Konoha dreimal zerstört worden. Genau hier stand einmal früher mein Elternhaus.“

„Erzählst du mir auch deinen Lebenslauf?“, bat ich leise.

„Willst du das wirklich? Ich bin mir nicht sicher, ob du das alles so genau wissen willst.“

Der Zweifel in seiner Stimme war nicht zu überhören.

„Ja, gerne!“, bat ich noch einmal.

„Na schön, aber nicht hier und jetzt. Sonst schleppe ich gleich einen Eiszapfen mit mir herum.“

Er sah erleichtert aus. Warum auch immer. Und ich war gespannt auf eine sehr, sehr lange Geschichte.



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