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Abgründig

von

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Die Ausstellung lief unter dem Motto „Der Mensch in all seinen Facetten“ und zeigte Werke von insgesamt drei verschiedenen Künstlern. David schlenderte zunächst durch den größeren Hauptraum der Kunstschau im Erdgeschoss des Gebäudes, einer umgebauten, alten Jugenstilvilla. Hier waren die meisten Werke ausgestellt. Zwei kleinere Nebenräume auf demselben Stockwerk gehörten ebenfalls noch zur Ausstellung. Die breite Treppe, die auf eine Galerie nach oben führte, war mit einem roten Seil abgesperrt.
 

Die Skulpturen der ersten Künstlerin entsprachen nicht so sehr seinem Geschmack. Sämtliche Gliedmaßen der Bronzefiguren waren merkwürdig gestreckt modelliert, sodass die dargestellten Figuren eher Spinnen ähnelten. Die Oberflächen der Köpfe und Körper waren durchweg uneben und körnig gearbeitet. Trotzdem konnte er nicht leugnen, dass die Darstellungen ausdrucksvoll waren und, obwohl die Machart stets dieselbe war, jede einen einzigartigen Charakter hatte.
 

Der zweite Künstler hatte Gemälde ausgestellt, die von der Motivwahl zwar nicht besonders waren, in ihrer Ausführung dafür aber umso experimentierfreudiger. Der Stil war modern, ein Puzzle aus farbigen Flächen, die aber, je nachdem, was sie darstellten, unter anderem mit echtem Lippenstift, Wimperntusche oder Rasierschaum gearbeitet waren. Auch für die Hintergründe waren, soweit möglich, die dargestellten Materialien auf der Leinwand verwendet worden. Für eines der Bilder hatte sich David die Mühe gemacht und den Beschreibungstext, der daneben hing, durchgelesen. Das meiste davon konnte er nicht nachvollziehen. Entweder ihm gefiel ein Bild, wenn er es sah, oder nicht. Die Intention des Künstlers war für ihn zweitrangig.
 

Vor den Bildern des dritten Künstlers verweilte er jedoch länger. Es waren ausschließlich Porträts, klassisch gearbeitet, in drei Serien, von der jede jeweils ein und denselben Menschen zeigte. Der Unterschied war nur, dass sie Porträtierten auf jedem Bild einen komplett unterschiedlichen Gesichtsausdruck zeigten. Dabei war die Mimik so detailverliebt und glaubhaft dargestellt, dass man fast meinen konnte, die Gemälde wären Fotografien. Eine der Serien zeigte einen jungen Mann, auf dem ersten Bild freundlich lächelnd, auf dem nächsten regelrecht ausgelassen jubelnd. Das dritte Bild präsentierte ihn müde und ausgelaugt, das vierte wütend und das fünfte, das letzte in dieser Serie, in regelrechter Todesangst. Vor diesem blieb David fasziniert stehen und blickte in die weit aufgerissenen Augen des Dargestellten.
 

Die Gespräche seiner Kollegen und der anderen Ausstellungsbesucher um ihn herum rückten in immer weitere Ferne und schienen langsam zu verstummen. Stattdessen griff die Emotion des porträtierten Mannes auf ihn über. Es war keine bestimmte Situation, die David in den Sinn kam, doch er spürte, wie die dargestellte Angst auch ihn erfüllte. Als wäre er in einen Strudel geraten, wurde er mit dem Gefühl, das das Bild vermittelte, fortgerissen. Und das machte ihm nun wirklich Angst, war eine reale Furcht. Angewidert riss er sich von dem Anblick des Bildes los und sofort kehrten auch die Stimmen im Raum wieder zurück. Es war bloß ein Bild.
 

David bemerkte erst nach einiger Zeit, dass jemand neben ihn getreten war. Aus dem Augenwinkel glaubte er zunächst, dass der Besucher ihn beobachtete, doch als er den Kopf wandte, um dem nachzugehen, starrte der andere, wie er zuvor, lediglich auf das ausgestellte Kunstwerk.
 

„Was glauben Sie, ist dieses Gefühl echt, oder nur eine geschickte Illusion des Künstlers?“, fragte der Mann neben ihm, ohne seinen Blick von dem Bild abzuwenden. David erkannte ihn. Es war der Straßenmaler, der ihn an jenem Regentag vor dem Café, unter dessen Markise er sich geflüchtet hatte, angesprochen hatte. Doch genau wie damals wusste David nicht so recht, was der andere von ihm wollte. Warum er ihn überhaupt ansprach. Galt die Frage dem Bild, also dem Gefühl, das der Porträtierte widerspiegelte, oder dem, was es in seinem Betrachter, in ihm selbst, auslöste?
 

David zuckte mit den Schultern und antwortete genau das, was er sich dachte. „Ich verstehe Ihre Frage nicht.“
 

In dem Moment ging ein Pärchen, ein Mann in mittleren Jahren und eine etwas jüngere Frau, vorüber und blieb ebenfalls vor der fünfteiligen Bilderserie stehen. Es waren keine von Davids Kollegen. „Diese Bilder schauen so echt aus“, hörte David die Frau zu ihrem Begleiter flüstern. „Auch die anderen beiden Reihen da drüben.“
 

„Ich weiß nicht“, erwiderte er. „Das ist doch wahrscheinlich einfach von einem Foto abgemalt, oder? Und die Personen sind Schauspieler, würde ich sagen. Aber technisch gesehen sind sie gut gemacht.“
 

„Als ob du was davon verstehst. Trotzdem, irgendwie …“ Sie warf einen kurzen Blick zu David und dem Straßenmaler, ehe sie mit ihrem Begleiter im Arm weiterzog.
 

Der Straßenmaler blickte den beiden kurz mit einem unergründlichen Ausdruck im Gesicht hinterher, wandte sich dann direkt zu David um und lächelte. „Gefällt Ihnen das Bild?“
 

„Warum fragen Sie das?“ David wich unwillkürlich etwas zurück, denn dieser Mensch verwirrte ihn. Er benahm sich im Augenblick nicht übermäßig zudringlich, doch David hatte trotzdem den Eindruck, dass sich hinter diesem Lächeln noch eine andere Absicht verbarg als die, sich ungezwungen in einer Kunstausstellung über ein Werk auszutauschen.
 

„Sie haben es so lange angesehen, deshalb.“
 

David blinzelte. Der andere verlangte eine Rechtfertigung von ihm, doch mit welchem Recht? Wollte er sich lustig machen? Mit zusammengekniffenen Augen machte er einen weiteren halben Schritt nach hinten. „Ich wüsste nicht, was …“, begann er seinen Satz, wurde jedoch gleich unterbrochen.
 

„Nicht doch, ich wollte Sie nicht in Verlegenheit bringen. Hier“, der Straßenmaler reichte David ein rechteckiges Stück weißen Kartons, „die habe ich neulich vergessen, Ihnen zu geben. Meine Karte. Nun können Sie mich einmal in meinem Atelier besuchen. Dann können wir uns ungestört unterhalten und vielleicht kann ich Sie doch noch überzeugen, Modell zu stehen.“ Er zwinkerte verstohlen.
 

„Gewiss.“ David griff zwar, wie es die Höflichkeit gebot, nach der Karte, steckte sie aber ohne einen eingehenderen Blick in sein Jackett. „Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen.“ Er wandte sich um und eilte schnurstracks in Richtung Toiletten davon. Nach diesem merkwürdigen Menschen drehte er sich dabei nicht ein einziges Mal um. Auf halbem Weg begegnete er Frau Meier.
 

„Herr Keller, gleich ist es so weit. Der Empfang mit den Künstlern … Wie finden Sie die Ausstellung?“
 

„Welcher Empfang?“ Von Neuem durcheinander gebracht, unterbrach David seine Flucht und blickte Frau Meier fragend an.
 

„Zur Vernissage hatten offenbar nicht alle Künstler Zeit, deswegen wurde für heute noch einmal ein kleiner Empfang mit allen dreien eingerichtet. Sehen Sie, da hinten wird ein Sektbuffet aufgebaut. Es muss jeden Moment losgehen.“
 

„Ach, so ist das. Dann beeile ich mich wohl besser. Bis gleich.“ David ging weiter. Ein Empfang mit den Künstlern? Davon hatte er nichts gewusst. Aber vermutlich hatte Frau Meier deswegen genau diesen Termin für ihren Ausflug ausgesucht. Es würde wohl keinen guten Eindruck machen, wenn er sich jetzt, vor diesem Ereignis, verabschiedete. In der Herrentoilette angekommen wusch er sich die Hände und kehrte dann in den Ausstellungsraum zurück. Seine Kollegen hatten sich bereits, wenig überraschend, nahe der provisorischen Bar positioniert.
 

David stellte sich zu ihnen, um nicht als Außenseiter aufzufallen, allerdings achtete er darauf, so interessiert wie möglich im Raum umher zu blicken, sodass niemand auf die Idee kam, ihn anzusprechen. Der Straßenmaler war im Moment nicht mehr zu sehen, was David erleichtert zur Kenntnis nahm. Die Treppe, deren Absperrung mittlerweile entfernt worden war, würde offenbar gleich für die Vorstellung der Künstler als Bühne dienen. Eine Frau in einem goldfarbenen Etuikleid stieg zwei Stufen hinauf, damit jeder im Raum sie sehen konnte, und das Gemurmel ebbte ab. Es war eine Verantwortliche der Ausstellung. Sie begrüßte alle anwesenden Gäste und bedankte sich bei den Sponsoren, den Mitwirkenden und allen, die zum Gelingen der Veranstaltung beitrugen. David hoffte, dass er immer noch einen aufmerksamen Eindruck machte, doch innerlich wünschte er sich nichts sehnlicher, als hier rauszukommen. Er merkte, wie ihm schwindlig wurde. Die Luft war stickig und der Scheinwerfer, der neben der sonstigen Beleuchtung völlig unnötigerweise auf die Treppe strahlte, verbreitete eine unangenehme Hitze.
 

„Und zu guter Letzt möchte ich Ihnen, werte Gäste, diejenigen natürlich nicht vorenthalten, die diese Ausstellung erst möglich gemacht haben“, kündigte die Sprecherin mit enthusiastischem Tonfall an. „Begrüßen Sie mit mir die drei Künstler: Regine Schwinder-Huff, Antonio Peso und Gabriel Felbinger.“ Sie begann zu klatschen und die meisten der anwesenden Besucher taten es ihr gleich – ob aus Höflichkeit oder echter Begeisterung war nicht zu erkennen. David hob ebenfalls gerade seine Hände, als er nach einem kurzen Blick nach vorn mitten in der Bewegung innehielt. Den einen der drei angekündigten Künstler hatte er auf den ersten Blick wiedererkannt. Es war niemand anderes an der Straßenmaler.
 

Während der kurzen Vorstellung der drei Kunstschaffenden konzentrierte sich David ausschließlich auf den Straßenmaler. Die lobenden Worte der Sprecherin interessierten ihn dabei nur zweitrangig, stattdessen beobachtete er den Menschen, sein Auftreten, seine Körperhaltung, genauer. Obwohl dieser das Spiel des freundlichen, umgänglichen Gebarens oberflächlich mitmachte, konnte David auch eine Spur Selbstgefälligkeit ausmachen. Ganz so, wie er diesen Menschen kennengelernt hatte. Es war egal, ob die anderen Gäste das ebenfalls erkannten, er selbst fühlte sich bestätigt. Und so verließ er auch, sobald der offizielle Teil vorüber war und er sich notwendigerweise von seinen Kollegen verabschiedet hatte, so schnell wie möglich die Veranstaltung. Er wollte diesem Kerl nicht noch einmal über den Weg laufen.



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