Zum Inhalt der Seite

Abgründig

von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Es war ein merkwürdiges Gefühl. David blinzelte.
 

Er schaute sich selbst in die Augen. Er wusste, dass das nur eine Zeichnung war, dennoch wirkte sie so lebendig.
 

Das Lächeln kehrte auf Gabriels Gesicht zurück, doch er sagte nichts. Stattdessen legte er den Zeichenblock so ab, dass David ihn weiterhin sehen konnte, und zündete sich eine Zigarette an. David war bisher gar nicht aufgefallen, dass in diesem Zimmer offenbar öfter geraucht wurde. Das mochte daran liegen, dass der Raum relativ groß und vor allem auch hoch war, keine Vorhänge oder Teppichböden aufwies und dass ein leichtes Aroma von Farben in der Luft hing. Und er hatte auch überhaupt nicht auf irgendwelche Gerüche geachtet. Nun konnte er beobachten, wie sich dunkelblauer Rauch in sanften Wellen in Richtung Decke wand.
 

Die Person auf dem Blatt Papier warf ihm einen abwesenden Gesichtsausdruck zu. Sie wirkte fast ein bisschen traurig. Einerseits erkannte David sich inmitten der Bleistiftstriche wieder, andererseits auch gar nicht. Hatte er wirklich derart geschwungene Wimpern? Und eine solch gerade Nase? Diese gezeichnete Person sah so makellos aus, was sie regelrecht unnahbar erscheinen ließ. Das war doch nicht er?
 

In diesem Moment stand Gabriel auf, drückte die halb gerauchte Zigarette im Aschenbecher auf dem Tisch aus und kam ein paar Schritte auf David zu. Und David wurde das Gefühl nicht los, dass dieser Maler seine Irritation genoss.
 

„Hab dich gut getroffen, nicht wahr?“
 

Davids Blick schnellte vom Sofatisch mit der Zeichnung hin zu Gabriel, der nun lässig an der Rückwand des Sofas lehnte. Was war denn jetzt auf einmal los? Wieso wurde er geduzt? Davids Puls beschleunigte sich und der Drang fortzulaufen wurde stärker. Trotzdem konnte er sich nicht rühren, sondern war unter Gabriels belustigt dreinblickenden Augen wie festgenagelt.
 

„Gleich so überwältigt, David?“ Gabriel stieß sich vom Sofa ab.
 

Ein Stalker!, schoss David der erstbeste Gedanke durch den Kopf. Meinen Vornamen habe ich ihm nie genannt!
 

Er holte tief Luft, nahm allen Mut, den er noch besaß, zusammen und fragte so ruhig wie möglich, auch wenn er selbst merkte, dass seine Stimme zitterte: „Was wollen Sie?“
 

Er hätte nicht herkommen sollen. Hätte einfach sein Leben weiterleben sollen wie bisher. Hätte sich von diesem Menschen zu nichts überreden lassen sollen.
 

Sein Blick glitt zu den Fenstern. Über der mit Wein und Efeu berankten Mauer erkannte er den Himmel, auf dem sich die Sonne an diesem Sonntagvormittag immer höher schob. Im Licht, das durch die Glasscheiben hereinfiel, konnte David die feinen Staubkörnchen ausmachen, die in der Luft schwirrten.
 

Dann wurde seine Aufmerksamkeit wieder auf den Maler gelenkt, der nun ganz nahe war. David konnte das fremde Aftershave riechen, außerdem einen leichten Nachhall der eben gerauchten Zigarette. Er wich einen Schritt zurück, doch Gabriel kam noch näher. Noch ein Schritt zurück und er stieß mit dem Rücken an der Bücherwand an. Gabriel grinste.
 

„Was denn?“ Ihre Gesichter waren nur noch Zentimeter voneinander entfernt, die Nasenspitzen berührten sich beinahe. „Du hast doch nicht etwa Angst?“ Gabriel stütze sich mit beiden Armen links und rechts von Davids Kopf an der Wand ab.
 

David schluckte. Er sah zwar das Lächeln auf Gabriels Lippen, allerdings funkelten die Augen des Malers kalt und unbarmherzig. Wie der Vollmond, der sich auf einer klaren Wasseroberfläche spiegelte. Dieser Anblick jagte ihm ein Kribbeln über den Rücken.
 

Gleichzeitig stand er stocksteif da, konnte sich nicht rühren. Er sollte den Maler wegstoßen und abhauen. Schleunigst. Doch sein Körper gehorchte ihm nicht. Als ob ihn das Ganze nichts anginge, stand er einfach nur da. Dann brachte Gabriel seinen Mund ganz nah an Davids Ohr, flüsterte: „Keine Sorge, ich bin nicht wie der Alte. Ich könnte dir niemals etwas tun.“
 

Dieser Satz ließ David das Blut in den Adern gefrieren. Er brauchte ein paar Sekunden, ehe die volle Bedeutung der Worte zu ihm durchdrang. Mit aufgerissenen Augen – durcheinander, verstört, entsetzt – starrte er Gabriel an, der sich nun wieder etwas zurücklehnte und scheinbar voller Entzücken Davids Reaktion abwartete.
 

„Was?“ Mehr als eine gehauchte Frage brachte David nicht hervor. Bilder tauchten in seinem Kopf auf. Bilder, die er eigentlich aus seinem Gedächtnis gestrichen hatte – die er um alles in der Welt hatte vergessen wollen. Nun reichte ein Satz von Gabriel und sie waren wieder da. „Woher …?“, stammelte er weiter. Ihm war, als drehte sich alles vor seinen Augen. Halt suchend stützte er sich mit einer Hand auf ein paar Büchern ab.
 

Das Grinsen verschwand aus Gabriels Gesicht. Er wandte sich um und schlenderte durch den Raum. „Ich hab dich gleich wiedererkannt vor dem Café, selbst nach all den Jahren“, gab er ungerührt zurück.
 

David warf ihm einen schnellen Blick zu, blinzelte, atmete einmal bewusst ein und aus. Übungen, die ihm halfen, die innere Panik niederzuringen, an die er aber in den entsprechenden Situationen selbst meist nicht dachte. Jetzt beruhigte ihn das tatsächlich. Außerdem hatte Gabriel durch seine eigenen Worte dafür gesorgt, dass er weniger bedrohlich auf David wirkte. Das war das eine. Aber selbst wenn es wahr war, was Gabriel soeben angedeutet hatte. Selbst wenn sie sich jetzt wiedergesehen hatten, änderte das nichts. Vergangenheit war Vergangenheit. David schüttelte sich innerlich, versuchte sich an das zu erinnern, was er, außer dem bewussten Atmen, noch in der Therapie gelernt hatte. Er beruhigte sich, gewann Distanz zu den Ereignissen damals. Er war nicht mehr in diesem Raum, er war hier, bei Gabriel, in dessen Atelier.
 

„Oh Mann, siehst du fertig aus“, stellte Gabriel nüchtern fest, ließ sich zurück auf das Sofa fallen und fixierte David mit seinen blauen Augen.
 

David löste sich von der Wand, bemühte sich, ruhig zu wirken. Gabriel war schließlich auch ruhig. Um genau zu sein, war der Maler sogar vollkommen gelassen, legte die Füße auf den Sofatisch und zündete sich erneut eine Zigarette an.
 

„Findest du das witzig?“, fragte David jetzt, nachdem ihm langsam dämmerte, dass dieser Kerl ihn die ganze Zeit schon im Unklaren gelassen hatte.
 

„Was meinst du? Was soll ich witzig finden?“ Gabriel machte ein Gesicht, als wäre er die Unschuld in Person. David schüttelte nur leicht den Kopf. Er wollte sich ebenfalls setzen, aber nicht aufs Sofa zu diesem Menschen.
 

„Ich beiß dich schon nicht“, bemerkte der Maler, nachdem er Davids Unentschlossenheit offenbar entlarvt hatte. „Setz dich, ich hol was, das dich wieder auf Vordermann bringt.“
 

Gabriel verschwand in der Küche und David nahm Platz. Jetzt nach draußen zu gehen könnte er nicht ertragen. Er stieß einen tiefen Seufzer aus und presste für ein paar Sekunden die Handflächen auf seine Augen. Dieser Tag verlief so gar nicht in den Bahnen, wie er es sich vorgestellt hatte.



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (0)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.

Noch keine Kommentare



Zurück