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Way Down

von

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Max | Beyond the eyes of god

Austin war einst als Wiege für wirtschaftlichen Aufschwung und kulturelle Vielfalt bekannt gewesen. Museen, moderne Einkaufszentren und dazwischen hier und da alte, ehemalige Stadtgebiete, die fast noch so aussahen wie vor hundert Jahren. Jetzt ... war alles anders. Gebäude zerfielen bis auf ihre Grundmauern, Kranke rasten durch die Gassen und fielen alles an, was sich bewegte. Und mitten drin – sie und ihr langjähriger Freund. Der Körper des viel größeren Mannes lastete schwer auf ihrer schmalen Schulter. Wäre da nicht die Erleichterung, dass Oliver nur einen Streifschuss am Oberschenkel abbekommen hatte, dann wäre nun ein Punkt erreicht, an dem Max sich vor lauter Verzweiflung am liebsten in irgendeiner Ecke zusammenrollen wollte, um dem Ende dieses viel zu unübersichtlichen Geschehens gleichgültig entgegenzublicken ... und ihrem eigenen.

Aber so ein Typ Mensch war sie nicht und auch noch nie gewesen. Sie war eine Soldatin. Keine Ausgebildete, keine Berufene ... einfach nur eine Kämpferin, die nach bestem Gewissen versuchte, in diesen Wastelands zu überleben. Als etwas anderes konnte man die texanische Hauptstadt nicht mehr bezeichnen. Bewaffnet war sie mit einem Repetiergewehr, das sie in seiner Präzision und Durchschlagskraft noch nie enttäuscht hatte, zumal sie es durch das angebrachte Zielfernrohr fast schon wie ein Scharfschützengewehr benutzen konnte. Doch das musste sie nur selten. Dafür hatte sie den großen, dunkelhäutigen Mann, der sich gerade verletzt auf sie stützte. Der übernahm stets die bösen Männer in den hintersten Reihen, deswegen waren sie so ein unschlagbares Team.

 

Doch im Moment spielte das alles keine Rolle mehr. Ihnen war die Munition ausgegangen und sie waren oben auf den Dächern entdeckt worden. Schüsse, Schritte in dem verlassenen Treppenhaus – sie waren nicht schnell genug gewesen, um es heil auf das nächste Gebäude zu schaffen. Die Landung war hart gewesen und das Brüllen von Oliver war ihr durch Mark und Bein gegangen.

Jetzt schrie ihr Freund nicht mehr. Er war ganz still, ächzte nicht einmal.

»Du stirbst mir hier nicht, nur damit das klar ist!«

Sie spürte, dass ihre Augen brannten. Sie würde jetzt ganz sicher nicht losheulen! Für solche Banalitäten hatten sie keine Zeit! Sie mussten zum Treffpunkt zurück …

»Wir … wir sind gleich bei der Leiter. Halte bitte durch! Oliver …«

»Hm …«

Er sprach nie sonderlich viel – dieser große, dunkle Mann. Es war dieser absolute Gegensatz zu ihr selbst, der ihn so attraktiv für sie gemacht hatte. Bis er ihr irgendwann nachgegeben hatte. Er war ihr zu wichtig geworden, um ihn nun in solch einem sinnlosen Gefecht zu verlieren. Auf diese Idee sollte dieser Mistkerl gar nicht erst kommen!

Sie mussten nur noch bis zum Ritz. Hinter dem Gebäude führte die Feuertreppe nach unten, dann durch eine Seitengasse und von dort zu dem Kanaldeckel, der in den sicheren Untergrund führte. In einen Teil davon. Nur sie selbst kannten den eigentlichen Zugang zum Basement des Texas State Capitols, das sie bewohnten. Er war so gut verborgen, dass die Richter bisher vergeblich danach gesucht hatten. Die meisten anderen Zugänge führten nur durch alte Abwasserkanäle zu weiteren Öffnungen, durch die man zurück an die Oberfläche gelangte, aber nicht nach New Austin – so hatten sie das Untergeschoss des wohl bekanntesten Wahrzeichens in Austin getauft. Es hatte Monate gedauert, diesen Ort zu einem Zuhause zu machen und ihn sowie die Kanalsysteme, die ihnen als Hauptwege dienten, wieder auf- und auszubauen. Der Rest des Capitols war vollkommen in sich zusammen gestürzt, was nicht bedeutete, dass nicht auch an der Oberfläche Schutzmaßnahmen ergriffen worden waren, um diese aggressiven Neuankömmlinge oder die sich immer wieder bildenden Horden von Kranken fernzuhalten. Nichts würde daran etwas ändern, aber dafür musste sie weiter machen, so schwer es ihr auch fiel.

 

Max zuckte zusammen, als sich in den Schornstein, den sie gerade passiert hatten, eine Kugel grub. Putz splitterte ab und traf sie. Oliver hustete.

»Wir … wir sind gleich da. Nur ein bisschen noch. Bitte halte durch …«

Sie bezweifelte, dass er es die Treppe hinunter schaffen würde. Das getroffene Bein blutete stark und er konnte es nicht mehr belasten. Und sie selbst … konnte ihn kaum noch tragen. Ihre Knie zitterten und ihre Lungen waren dem Bersten nahe.

 

Sie waren in den frühen Morgenstunden gekommen. Sie beide hatten gerade das Ende ihrer nächtlichen Patrouille herbeigesehnt, als Schüsse ihre Routine unterbrochen hatten. Es hatte vor etwa vier Wochen angefangen. Wie aus dem Nichts waren diese Fremden auf ihren Motorrädern aufgetaucht und waren wohl der Meinung gewesen, sie würden hier nichts als Kranke und noch nicht angerührte Vorräte vorfinden. Mit Gesellschaft hatten sie nicht gerechnet und auch wenn New Austins Anführer das Gespräch mit ihnen gesucht hatte, war alles nur noch schlimmer geworden und die Biker hatten Reyes für die Ewigkeit gezeichnet.

Kurzum … die Ereignisse überschlugen sich und auch, wenn Max nicht wusste, wie es bei den anderen Gruppen lief, so war sie sich doch im Klaren darüber, dass sie selbst längst den Überblick verloren hatte. So viele waren gestorben, so viele andere schwer verletzt worden. Und nun auch Oliver – ihr zuverlässigster Mann. Wenn sie wenigstens eine Minute ohne Sperrfeuer hätten, dann könnte sie die Wunde abbinden. Aber kaum kam ihr dieser Gedanke in den Sinn, erklangen weitere Schüsse. Max schrie auf und Oliver entglitt ihr. Ihre Finger krallten sich in ihren rechten Oberarm. Warmes Blut mischte sich mit zerfetztem Leder und sie konnte spüren, dass die Kugel noch steckte. Das war kein Streifschuss gewesen.

»Max …«

Oliver kroch in ihre Richtung, doch sie schüttelte den Kopf. »Wir … wir müssen weiter. Bitte, wir …«

Ein schweres Gewicht landete unweit von ihnen auf dem Dach. Granaten und ein Benzinkanister schlugen beim Aufprall aufeinander. Das war es, was diese Typen bei sich trugen. Flammenwerfer samt Zubehör, jede Menge Spielzeug, um ganze Barrikaden in die Luft zu jagen und irgendwelche Waffen, deren Munition sich gefühlt nie leerte. Sie wollte nicht wissen, welche Knarre der Neuankömmling bei sich hatte. Max rappelte sich auf, griff nach Olivers Arm und biss die Zähne zusammen, als scharfe Schmerzen ihren ganzen Oberkörper einnahmen. Sie konnte den Typen sehen, als sie den Größeren zur Feuerleiter zerrte. Ein blonder, blauäugiger Bastard mit einem Red Skins Basecap und einem schwarzen Halstuch über der unteren Hälfte seines Gesichts.

»Mir reicht's, du Schlampe!«, brummte er. »Jetzt wirst du gegrillt! Und dein Schokobärchen gleich mit dir.«

Max konnte hören, wie der Flammenwerfer Benzin in seine Leitung saugte. Der fette Finger schob sich über den Abzug und dann …

 

Ein Schuss.

Direkt durch die glänzende Stirn des Richters.

 

Max‘ Kopf fuhr herum. Sie konnte ihren Retter nicht sofort entdecken. Erst Momente später sah sie den vertrauten Schatten in einem der Fenster des Nachbargebäudes.

»Kato …«, hauchte sie erleichtert. Das Fenster wurde aufgerissen und der Japaner steckte seinen Kopf hindurch.

»Max! Bleibt, wo ihr seid! Ich komme sofort rüber! Was ist mit Oliver?«

»Verletzt. Und … und ich kann ihn nicht allein tragen. Beeil dich! Diese Wichser sind überall.«

»Habe ich gemerkt.«

Das Fenster schloss sich und wenig später öffnete sich weiter unten eine schäbige Tür, die man im Eifer des Gefechtes schnell übersehen konnte, weil sie auf den ersten Blick aussah wie verbarrikadiert. Doch das war nur Schein. Die Bretter waren nicht in die Wand neben der Tür geschlagen. Eines der vielen Schlupflöcher, die sie ständig benutzten, weil das hier ihre Stadt war und sie würden sie nicht aufgeben – koste es, was es wolle! Aber mit dieser Erkenntnis streifte ihr Blick abermals Oliver und innerlich schüttelte sie den Kopf.

 

Nein … sie würde nicht jeden Preis bezahlen.

 

»Das war Kato. Er kommt und hilft uns. Das ist gut, oder?« Oliver antwortete nicht. Trotz seines dunkelbraunen Teints sah sie die Blässe auf seinem Gesicht. Wie viel Blut hatte er wohl schon verloren? »Oliver?«

Seine Augenlider flimmerten. Max presste die Lippen aufeinander und obgleich die Hitze stetig anstieg, zog sie das Halstuch von ihrem Gesicht und betrachtete sich die nasse, dunkle Jeans am Oberschenkel. Sie wusste, dass sie voller Blut war. Aber die Stelle, die wirklich rot war, fand sie schnell. Ein ganzes Stück Fleisch hatte der Treffer mit sich gerissen. Da bestand keine Chance, dass der Blutfluss enden würde. Sie schlang das Tuch um Olivers Bein und verschnürte es trotz der Schmerzen in ihrem Oberarm so fest, wie es ging. Oliver zuckte zusammen, stöhnte verhalten und versuchte sich unbewusst dem Schmerz zu entziehen. Wie lange brauchte Kato denn? Max wischte sich die blutigen Finger an ihrer Jeans ab und wagte einen Blick auf ihre eigene Verletzung. Mit zitternden Fingern schob sie die Lederjacke tiefer. Im gleichen Augenblick schepperte die Feuerleiter. Sie fuhr zusammen, griff nach dem Gewehr und seufzte erleichtert, als es Katos Gesicht war, das über dem Sims auftauchte.

»Da bin ich! Nichts wie weg hier! Wir haben keine Ressourcen mehr. Das ist … als würden wir gegen eine Wand rennen. Wo kommen diese Typen immer wieder her? Warum sind es auf einmal so viele?«

Der Kerl redete schnell. Vor allem dann, wenn er gestresst oder nervös war. Aber es gab niemanden, den sie sich gerade mehr gewünscht hatte als ihn. Er konnte selbst in solchen Situationen unglaublich viel Kraft mobilisieren. Das musste an seiner Mentalität liegen. Oder daran, dass er einfach zu drahtig und trotzig war, um nachzugeben. Schnell war er bei ihnen, griff nach Oliver, der eigentlich auch für ihn viel zu groß war, und stützte ihn, als würde er nichts wiegen.

»Du bist auch verletzt«, stellte Kato fest und musterte besorgt ihren Arm. »Kannst du so die Treppe runter? Ansonsten musst du warten, bis ich ihn runtergebracht habe.«

»Es geht schon.« Das würde es nicht, aber Max war zu stur, um sich das einzugestehen. Nur die Leiter hinunter, die zehn Meter bis zum Kanaldeckel – sie musste es einfach schaffen! »Ich geh zuerst.«

Als sie sich über den Sims schwang, konnte sie sehen, wie Kato ein Seil aus seiner Tasche zog. Er hing das Scharfschützengewehr über Oliver, ehe er dessen Arme um seinen Oberkörper legte. Einen über die Schulter, den anderen unter seiner Achsel hindurch. Dann fixierte er die Hände vor der Brust mit dem Seil, damit ihm der Größere nicht von der Schulter rutschte. Das waren Dinge, die ihr nie in den Sinn gekommen wären und Max wurde klar, dass sie keine Ahnung davon gehabt hätte, wie sie ihren Freund die Leiter hätte hinunterbekommen sollen. Katos Auftauchen war Gold wert. Es wäre für sie vorbei gewesen, wäre er nicht rechtzeitig zu ihrer Rettung gekommen.

 

Als sie den Kanaldeckel über ihren Köpfen schlossen, fühlte sich Max zum ersten Mal so sicher, dass sie es wagte, sich auf den Boden sinken zu lassen und den Kopf zwischen ihren Knien zu vergraben. Die Dunkelheit unter den heißen Straßen war das einzig Sichere, das noch existierte. Bisher waren die Richter nicht bis hierher vorgedrungen. Vermutlich war es nur noch eine Frage der Zeit, bis ihnen dämmerte, dass ihre Kontrahenten irgendwo herkommen mussten. Und wenn sie ihre Truppen nicht an der Oberfläche fanden, dann würden sie anfangen, unter ihr zu suchen.

Kein schöner Gedanke.

»Hast du was von Drake und Sofie gehört? Oder vom Team Beta?«

Max hob langsam den Kopf und musterte Kato, der Oliver sanft an die Kanalwand lehnte und sich die Verletzung ansah. Seine Mimik verriet nicht, was er von ihr hielt. In diesem Moment hasste sie sein Pokerface.

»Ich habe mein Funkgerät auf der Flucht verloren. Sie haben uns flankiert. Dieses Mal sind sie mit zu vielen Leuten angerückt. Also … nein … ich weiß nicht, was mit ihnen ist.«

»Ich hoffe, es hat sie nicht erwischt. Ich kann nicht verstehen, warum uns Reyes noch einmal hinaus geschickt hat. Nach dem, was passiert ist, muss er doch wissen, dass es klüger ist, sich bedeckt zu halten.«

»Um sie gewinnen zu lassen? Niemals. Kato … wir können ihnen die Stadt nicht überlassen! Was denkst du, was sie mit uns tun, wenn sie uns finden? Du … du kennst doch die Geschichte, die uns die Addisons erzählt haben. Die Einzigen, die sie leben lassen, sind welche wie sie selbst. Diese arischen Naziarschlöcher würden uns alle töten. Bis auf die Frauen, vermutlich.«

Bei diesem Gedanken erschauderte Max tief. Die Vorstellung war furchtbar. Kato stellte sich wohl die gleichen möglichen Szenarien vor, denn er musterte sie einen Augenblick lang, ehe er den Blick abwandte und seufzte. »Du hast recht. Ich befürchte nur, dass wir bei weitem nicht so viel Feuerkraft haben, wie wir brauchen werden, um diese Typen loszuwerden.«

Max sagte dazu nichts, aber sie stimmte dem zu. Ihre Munitionslager waren erschöpft, seit die Richter aufgetaucht waren und da diese Männer hoch qualifizierte Schützen waren und außerdem diese Flammenwerfer besaßen, waren ihre Ressourcen nahezu endlos. Es gab … keine Chance auf einen Sieg – so bitter diese Erkenntnis auch schmeckte.

Trotzdem gab es Hoffnung.

»Wir kennen diese Stadt besser als sie. Sie greifen mitten am Tag nicht an. Wenn wir eine Möglichkeit finden, einige Fallen auszulegen, dann können wir sie vielleicht in die Flucht schlagen, aber … das müssen wir erst mit Reyes besprechen. Wenn es ihm wieder besser geht, versteht sich.«

Kato nickte und nachdem er sich vergewissert hatte, dass der provisorische Verband an Olivers Oberschenkel richtig saß und es nichts gab, was sie sonst tun konnten, packte er sich den schweren Körper wieder auf die Schulter und nickte in Richtung des Kanals. »Wir müssen weiter. Der Weg zum Rendezvous Punkt sollte frei sein. Wir dürfen uns nur nicht sehen lassen, wenn wir die Kirche betreten.«

 

Die St. Mary Kathedrale. Unterhalb des schweren Altars befand sich der offizielle Zugang zu New Austin. Bisher hatten sich die Männer auf den Motorrädern nicht an den hiesigen Kirchen vergriffen. Vermutlich waren diese Menschen nicht nur narzisstisch angehaucht, sondern besaßen auch noch eine gewisse Ehrfurcht vor dem Herren, was ihr ganzes Handeln unter den Scheffel einer sehr verzweifelt lachenden Ironie stellte. Wenn man sich diesen einst heiligen Ort jedoch betrachtete, konnte man kaum mehr an seinem Glauben festhalten. Die Witterung hatte auch hier nicht halt gemacht. Stürme hatten das kleine, viereckige Türmchen einstürzen lassen und die Brocken hatten das Kreuz und das große, mandalaähnliche Fenster mit sich genommen. Sie hatten den Eingang zur Kathedrale nicht frei geräumt, um keinen Verdacht zu erregen. Das Kanalsystem führte einen bis zu einer Öffnung direkt vor dem Eingang. Dann waren es nur wenige Schritte die Treppe hinauf, ein Klettern über die Brocken und dann durch die Tür ins Innere.

 

Max war vom Blutverlust so schwindelig, dass ihr Körper dem Gestank unterhalb der zerfallenen Stadt nicht so lange standhalten konnte wie sonst. Als sie aus dem Kanal kletterten, hatte die frische, wenn auch sehr heiße Luft keine befreiende Wirkung, sondern verursachte eine solche Übelkeit, dass sie nicht an sich halten konnte. Sie übergab sich direkt hinter einem stehengebliebenen Wagen und entließ so noch mehr Energie aus ihrem angeschlagenen Körper. Nur ein paar Meter noch …

»Max, komm schon! Kotzen kannst du später!«

»Reizend«, kommentierte sie Katos Forderung und kam wieder auf die Beine. Ihre Knie bebten so stark, dass sie sich wie betrunken fühlte, als sie die ersten Schritte machte, doch je schneller sie ins Capitol zurückkamen, desto besser würde sie sich fühlen. Sie folgte dem ehemaligen Austauschstudenten jedoch nicht, ohne sich dabei nicht immer wieder aufmerksam umzusehen. Sie konnte keinen der Richter erblicken, aber das hieß nichts. Irgendeiner ihrer Scharfschützen konnte sie längst ins Visier genommen haben und sie würden es nicht einmal bemerken. Hinter der Kirche gab es genügend hohe Gebäude, auch wenn jeder Fremde sie aufgrund der Einsturzgefahr mied. Aber diesen Mistkerlen traute sie alles zu. Max schüttelte den Kopf. Wann hatte sie ihren verdammten Optimismus verloren? Solange konnte das noch nicht her sein. Ab und zu blinzelte er noch aus den Untiefen ihres Daseins hervor. Aber gegenwärtig hatte er sich wie ein geprügelter Hund davon geschlichen. Sie hatte keine Kraft mehr. Sie brauchte Wasser, was zu essen und dann Schlaf.

Ganz viel davon.

 

Der einzige Zugang zum Untergeschoss des Texas State Capitols wurde von Patrouillen bewacht. So machte die Meldung über ihre Rückkehr schnell die Runde und die verbliebenen Krankenschwestern nahmen sich Oliver an. Max wies sie ab, als sie ihr nahelegten, ebenfalls mitzukommen. Sie musste erst Bericht erstatten. Reyes, der seit der lebensgefährlichen Attacke nicht mehr an der Oberfläche gewesen war, musste erfahren, was dort vor sich ging. Als Olivia und Theresa sie nicht gehen lassen wollten, schüttelte sie die beiden älteren Frauen vehementer ab und beschleunigte ihre Schritte.

Ihr ging es gut!

Ihr musste es gut gehen …

Es waren viel zu wenig von ihnen übrig. Aus den Augenwinkeln heraus entdeckte sie nur ein paar der anderen Trupps. Einige fand sie selbst beim genaueren Hinsehen nicht wieder. Verluste. Max wollte die genauen Zahlen nicht erfahren. Alles in ihr sträubte sich dagegen.

Aber es war nichts, wovor sie sich verschließen konnte.

 

Als sie Reyes‘ Quartier betrat, regte sich der Ältere sofort bei ihrem Anblick.

»Max … Gott sei Dank! Du bist zurück.«

»Reyes …«

Ein frischer Verband verdeckte seine linke Gesichtshälfte. Die braunen, schulterlangen Haare hatte er sich über ihn gelegt, um so das Schlimmste zu verbergen, aber es gelang nicht wirklich. Die schnell durchnässten Mullbinden konnten nicht alles abdecken. Man sah, dass er verbrannt worden war und wie viele Schmerzen ihm die Wunden verursachten. Jedes Wechseln der Verbände musste Höllenqualen auslösen, aber sie hatte ihn noch kein einziges Mal schreien gehört. Vor dem Angriff auf ihn war er für seine bald vierzig Jahre ein sehr attraktiver Mann gewesen, doch jetzt … sah er gebrochen aus. Krank. Nicht mehr so entschlossen und stattlich. Wie sehr sie hoffte, dass es nur Äußerlichkeiten waren. Alle machten sich Sorgen um Reyes, aber keiner wollte von einem Rückzug seinerseits sprechen. Ohne ihn war dieser Ort verloren. Nur seine engsten Vertrauten wussten, dass er seit der Bekanntschaft mit dem Flammenwerfer nicht mehr derselbe war. Im Moment wirkte er erleichtert, aber sie konnte die Leere in seinem verbliebenen, braunen Auge sehen. Der Mut schien ihn verlassen zu haben und Max wusste – ohne, dass er es aussprach – um die schweren Verluste, die sie seit dem Morgengrauen erfahren hatten. Ihr wurde noch schlechter davon.

Kraftlos ließ sie sich auf die Bettkante fallen und machte Anstalten, nach seiner Hand zu greifen, doch auch sie war bandagiert und zuckte hin und wieder, wenn sie eine Welle aus Schmerz durch seinen Arm schickte. »Es sind so viele, Reyes … so viele …«

»Ich weiß, Kleines … ich weiß.« Er schob sich auf seinem Bett etwas höher, zupfte an der Wolldecke herum und schüttelte den Kopf. »Ich hätte euch nicht losschicken sollen. Ich … ich hätte …«

»Sie sind wild entschlossen. Vor ein paar Wochen waren es nur vereinzelte Späher, aber es werden immer mehr. Heute sind Oliver und ich allein schon gut fünfzehn von denen begegnet. Und ihre Feuerkraft übersteigt unsere bei weitem. Wenn wir sie zentral irgendwo erwischen könnten …«

»Aber sie kommen aus allen Richtungen«, beendete ihr Anführer den Satz für sie. »Sofie hat mir bereits davon berichtet.«

»Sofie ist hier? Was ist mit Drake?«

Er zögerte mit der Antwort, dann schüttelte er langsam den Kopf und Max … sank noch mehr in sich zusammen. »Nein ...«

»Ein Kopfschuss. Er hat nicht lange gelitten. Aber Sofie …«

»Ich … werde dann nach ihr sehen. Reyes … was machen wir denn jetzt?«

Seine verbundenen Hände gruben sich in die Decke, als würde sie die Schuld an ihrer Misere tragen. Darauf wusste er keine Antwort und wenn Max ehrlich zu sich selbst war, hatte sie auch keine erwartet. Sie nahm wieder etwas mehr Haltung an, strich sich fahrig die Haare zurück und bewegte ihre Schulter leicht. Sie musste sich um diese verdammte Kugel kümmern!

»Ich … muss nach Oliver sehen. Er hat einen Streifschuss abbekommen und viel Blut verloren. Mich haben sie auch erwischt. Sie … haben uns in eine Sackgasse getrieben. Vermutlich durchschauen sie unser Patrouillensystem langsam. Ich weiß nicht, wie lange wir uns noch hier unten verkriechen können. Ich … weiß nicht, wie lange unsere Vorräte noch reichen werden. Ich … ich weiß gerade gar nichts mehr …«

»Es liegt nicht in deiner Verantwortung, Kleines«, murmelte Reyes leise. »Geh und ruh dich etwas aus. Warten wir die Rückkehr der Anderen ab. Ich brauche auch ihre Berichte. Ich muss darüber nachdenken. Es tut mir leid. Ich … ich wünschte, die Dinge wären anders gelaufen und wir hätten … eine andere Lösung gefunden.«

»Nein. Dir muss nichts leidtun. Ich habe es auch Kato gesagt. Wir dürfen die Stadt nicht verlieren. Aber mit der Brechstange erreichen wir nichts. Wir müssen uns etwas anderes einfallen lassen.«

Zu einem anderen Zeitpunkt.

 

Mit dem Aufstehen kehrte die Dunkelheit vor ihren Augen für ein, zwei Atemzüge zurück, bis sich ihr Kreislauf wieder gefangen hatte. Sie verließ den Raum und tapste in die Richtung, in die Oliver gebracht worden war. Man konnte es nicht einmal als richtigen Krankenflügel bezeichnen. Es war ein etwas größeres Zimmer mit Bahren, die sie aus dem nahen Krankenhaus hatten mitgehen lassen. Sie durch die engen Kanäle zu bekommen, war ein interessantes Unterfangen gewesen, aber es war gelungen, auch wenn sich kaum mehr jemand daran erinnerte, wie sie das geschafft hatten. Auf einer lag Oliver, auf der anderen Jelena. Team Alpha. Sie waren jeden Tag aufs Neue immer die Ersten dort draußen. Sie brachen auf, sobald die Nachtschicht zurückkehrte. Heute waren sie nicht lange in der Stadt gewesen. Wo war der Rest des Trupps? Da die junge Frau gerade schlief, sparte sich Max die Frage für später auf. Oliver sah noch immer blass aus, als sie an die Bahre herantrat. Der Verband war erneuert worden und wirkte sehr viel fachmännischer als der von Kato. Auch die nackte Brust hob und senkte sich nicht mehr so hastig wie zuvor. Oliver schien das Bewusstsein verloren zu haben.

Gerade, als sie sich zu ihm hinunterbeugen und einen Kuss auf seine Stirn setzen wollte, wurde sie unterbrochen. »Max ... dein Arm.«

Sie drehte den Kopf in die Richtung der Stimme, wischte sich fahrig eine dunkle Haarsträhne aus dem Gesicht und bekam die Augen schon nicht mehr richtig auf. »Olivia … es … es geht schon.«

»Kind! Du bist kreidebleich. Hier … setz dich hin! Zieh die Jacke aus! Lass mich das ansehen!«

Einen Arzt hatten sie nicht. Seit ein paar Wochen schon nicht mehr. Als sich ihre medizinischen Vorräte dem Ende geneigt hatten, war Dr. Johannson mit einer Gruppe in die Stadt gegangen, um die entfernteren Krankenhäuser und Apotheken abzuchecken. Sie waren einer Horde Kranker zum Opfer gefallen. Nur zwei waren zurückgekommen und einer von ihnen hatte sich angesteckt und nur wenige Tage später völlig den Verstand verloren. Sie hatten ihn erschossen – zum Wohl aller. Es waren Dinge, die Reyes entschieden hatte, so wie er über alles die Kontrolle behielt. Er war gut in dem, was er tat. Aber das, was da draußen vor sich ging, überstieg diese Fähigkeiten und Max wusste nicht, was sie mehr beunruhigte. Ihn so hilflos zu sehen oder nicht zu wissen, was geschehen würde, wenn sie hier unten gefunden wurden.

»Die Kugel steckt noch«, unterbrach Olivias raue Stimme mit diesem reizenden, mexikanischen Akzent ihre Gedanken. »Ich muss sie rausholen.«

Max schaffte es gerade noch rechtzeitig, sich einen der Jackenärmel zwischen die Zähne zu schieben. Olivia nutzte eine Pinzette, um in der Wunde nach der Kugel zu tasten. Die Beleuchtung hier unten war nur mäßig gut. Es dauerte so lange, dass Max kurz vor der Ohnmacht stand. Von ihr eingeholt wurde sie in dem Augenblick, als Olivia triumphierend die blutige Kugel in die Höhe hielt.

  

 
 

-
 

 

 

Es war lauter Tumult, der sie aus dem dunklen Reich der süßen Bewusstlosigkeit holte. Max dröhnte der Kopf, als sie sich langsam aufsetzte und sich erst einmal orientieren musste. Sie lag auf der Matratze in ihrem und Olivers Zimmer, das eher die Größe einer Abstellkammer hatte, aber für ihre Bedürfnisse ausreichend war. Wie sie hergekommen war, wusste sie nicht, aber das spielte im Moment keine vorrangige Rolle. Menschen strömten draußen an der offenen Tür vorbei in Richtung Abwasserzugang. Was war da los? Waren die Anderen zurück?

Sie schwankte etwas, als sie ihr Lager verließ und dem Strom folgte. In der Ferne konnte sie Leute mit Waffen erkennen und als sie die Gesichter sah, erkannte sie den Beta Trupp unter Josés Leitung. Der in die Jahre gekommene Mexikaner sah sich hektisch um, während Olivia und die anderen Schwestern die Verletzten entgegennahmen. Max kämpfte sich durch die Menge und die kantigen Gesichtszüge des Latinos entspannten sich, als er sie erblickte.

»Max! Max! Wir … wir haben einen fremden Wagen gesehen! Vier Männer. Und ich glaube, einer von ihnen ist Jack. Durch das Zielfernrohr habe ich gesehen, wie einer immer wieder was auf einen Block geschrieben hat.«

»Was?«

Jack war vor ein paar Wochen gegangen. Aus Gründen, die vermutlich nur er selbst kannte. Sie selbst hatte so ihre Theorien, aber sie waren alle nebensächlich. Warum war der Kerl nun doch zurückgekommen? Und wen hatte er da bei sich?

»Wo habt ihr ihn gesehen?«

»Sie haben vor etwa einer Stunde die westliche Stadtgrenze von der 290 aus überquert. Die Richter sind gerade im Osten zugange. Vielleicht schaffen sie es unentdeckt hierher. Oder spätestens heute Nacht. Ich glaube, sie haben sich in ein Parkhaus zurückgezogen, aber wir mussten aufbrechen. Wir … wir hatten keine Zeit mehr.«

Max runzelte die Stirn. Sie verstand es nicht, aber das waren doch eher … gute Nachrichten, nicht wahr? Waren sie es? Sie hatte furchtbare Kopfschmerzen. Mit tränenden Augen überblickte sie den Trupp und seufzte. »Das sind nicht alle.«

»Zwei … mussten wir zurücklassen. Wir sind von einer Horde überrascht worden. Das Gute daran ist, dass wir nicht die Einzigen waren, die sie entdeckt haben. Wir haben uns im Kreuzfeuer befunden, als sie aus einer Seitengasse strömten. Ich nehme an, die Schüsse haben sie angelockt. Wir haben sofort die Chance ergriffen und die Beine in die Hand genommen, während sich die Biker mit dem Angriff auseinandersetzen mussten. Sie waren näher dran. Hoffentlich schleppen sie den Virus in ihre eigenen Reihen! Dann sind wir sie los.«

»Das wäre schön.«

 

Max wünschte niemandem diese schreckliche Krankheit, doch diese Richter hatten es verdient. Wer solch einen darwinistischen Mist abzog, gehörte bestraft. Sie lebten nicht mehr im 19. Jahrhundert. »Zu schön, um wahr zu sein. Idioten haben leider immer einen Schutzengel. Genau wie Betrunkene.«

»Si ... vermutlich hast du recht. Wo ist Reyes?«

»In seinem Quartier.«

Max deutete in die Richtung und nickte, als sich José von ihr verabschiedete. Dann setzte sie sich auf eine Lagerkiste und wartete. Eigentlich hatte sie nach Sofie sehen wollen, doch die Aussicht darauf, einen ihrer besten Freunde wiederzusehen, drängte dieses Vorhaben in den Hintergrund.

Früher oder später würde Jack hier auftauchen.

Bis dahin konnte sie sich überlegen, was sie zu ihm sagen würde, wenn es so weit war.



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  Votani
2018-05-29T22:17:12+00:00 30.05.2018 00:17
So... ich weiss gar nicht, wo ich anfangen soll? Ich werde super ehrlich sein. Das hier ist bei weitem das allerbeste Kapitel, das ich von dir schreibtechnisch je gelesen habe! Deinen Schreibstil mag ich immer, aber hier stimmte einfach alles. Gleich vom ersten Absatz ist Spannung drin und das zieht sich durch das gesamte Kapitel. Trotzdem nimmst du dir die Zeit, um Umgebungsbeschreibungen einzufuegen und allgemein die Situation zu erklaeren. Als Leser ist man einfach richtig drin in den Geschehnissen, was unheimlich toll ist.
Das amerikanische Setting kriegst du ebenfalls gut hin. Du hast diversity in den Charakteren drin, aber auch die Beschreibungen von Austin sind gut gemacht. Gefaellt mir, dass du so mit dem Setting spielst und dir da so viele Gedanken drueber machst. Das macht die ganze Story gleich viel lebendiger.
Auch Max' Sicht kriegst du sehr gut hin. Als ich den Namen im Kapiteltitel gelesen habe, hab ich automatisch an einen Mann gedacht, war aber umso erfreuter, dass es eine Frau ist. Es ist immer toll, wenn man weiblichen Charas Namen gibt, die auf beide Geschlechter hindeuten kann. :D Max find ich interessant, aber auch Kato. Ich bin auf seinen Hintergrund gespannt, weil er ja scheinbar ein Austauschstudent gewesen ist. Der Arme kann einem leid tun. *lach* Einen Oliver hast du auch drin. Man kann nie genug Olivers haben. :')
Ich muss sagen, dass mir die Gruppe gleich noch sympathischer als Joels Gruppe ist. *hust* Aber vielleicht bin ich auch einfach so davon ueberwaeltigt, wie gut mir das Kapitel gefallen hat.
Kleine stilistische Verbesserungsvorschlaege, die mir beim Lesen eingefallen sind: Du hast sehr viele "..." im Dialog, was sinnvoll ist, aber eben etwas an Bedeutung verliert, wenn man es zu oft benutzt. Gerade bei der Unterhaltung zwischen Max + Reyes ist es mir aufgefallen.
Beim José im letzten Absatz hast du das Apostroph ueber dem "i" vergessen. Mein Spanischlehrer hat mich so sehr damit gefoltert, dass mich das stoert und ich hasse ihn dafuer. XD
Keine Ahnung, ob ich dir das jemals gesagt habe oder nicht, aber was mir beim Lesen ebenfalls aufgefallen ist (also nicht bei diesem Kapitel, weil das toll war!), manchmal klingen ein paar deiner Charas in Unterhaltungen etwas aehnlich. Gerade bei den maennlichen Charas ist das der Fall, wie z.B. Joel und Neal gelegentlich. Ist nichts Schlimmes, weil man das ja manchmal hat, aber ich wollte es einfach mal anmerken. Ich glaube, das passiert bei Charaktertypen, die du haeufiger schreibst. Andere Charaktere haben ihre vollkommen eigene Stimme, darunter fallen z.B. Max, Kato, Dave, Tali und selbst Oliver, der ja kaum was sagt.
Aber all das aendert absolut nichts daran, dass das mein Lieblingskapitel ist. Ich bin sehr zufrieden damit und hatte super viel Spass beim Lesen. *-* Mehr von Max + ihrer Gruppe, bitte. :3

Von:  SamAzo
2018-05-13T21:42:19+00:00 13.05.2018 23:42
Ich frag mich ja schon, warum die da so viele rausgeschickt haben, statt lieber mal nen anständigen Plan zu machen, wie sie die Typen loswerden, während sie nur wenige zum spähen rausschicken, um auf dem laufenden zu bleiben.
Spätestens nach der Sache mit Reyes...


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